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Rocker und kriminelle Ex-Cops - Johanna di Napolis Undercovereinsatz endet in einem Fiasko. Die Zürcher Stadtpolizistin Johanna di Napoli versucht, mit ihrer ersten stabilen Beziehung seit Langem zurechtzukommen, ihren Alkoholkonsum zu reduzieren und sich nicht mit zu vielen Vorgesetzten gleichzeitig anzulegen. Dann wird sie für einen verdeckten Einsatz nach Deutschland geschickt, wo sie eine Rockerbraut mimen und dadurch einem im Milieu ermittelnden Beamten zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen soll. Der Einsatz endet in einem Fiasko: Johannas Tarnung fliegt auf, als ein Mann im Dunstkreis der Rocker sie als Polizistin identifiziert und Johanna in Verdacht gerät, ein Verhältnis mit einem skrupellosen Gangster zu haben. Johanna ihrerseits erkennt, dass die heiße Spur in dieser Ermittlung nicht nur zurück in die Schweiz führt, sondern direkt zu einer unrühmlichen Episode in der Geschichte der Stadtpolizei Zürich. Ein gefährliches Detail übersieht sie allerdings …
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Seitenzahl: 409
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Michael Herzig
Frauen hassen
Thriller
© 2014 by GRAFIT Verlag GmbH
Chemnitzer Str.31, D-44139 Dortmund
Internet: http://www.grafit.de
E-Mail: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Dorothea Posdiena
Umschlagfoto: ›verletzt‹ © frau.L./photocase.com
eBook-Produktion: CPI – Clausen & Bosse, Leck
eISBN 978-3-89425-153-6
Der Autor
Michael Herzig, 1965, ist in Bern geboren und im Emmental aufgewachsen. Nach dem Abitur hat er zunächst als Musikjournalist und Schallplattenverkäufer gearbeitet, sich als Rockmusiker versucht und schließlich das Studium in Geschichte, Staatsrecht und Politologie abgeschlossen. Heute lebt er in Zürich, wo er fünfzehn Jahre im Sozialbereich gearbeitet hat.
Frauen hassen ist Michael Herzigs vierter Roman. Für den zuletzt erschienenen Thriller Töte deinen Nächsten hat er die mit 10.000Franken dotierte Zürcher Auszeichnung für herausragende literarische Neuerscheinungen erhalten.
Und wir hatten uns nichts mehr zu sagen,
es gab keine Antwort, denn es gab keine Fragen.
Hildegard Knef,
1.
»Wenn ich nichts sage, ist alles gut.«
Kerzengerade saß der Chef am Besprechungstisch. Vor ihm lag ein aufgeschlagener Bogen Papier. Das Zielvereinbarungs- und Beurteilungsgespräch. Ein Deckblatt für die Formalitäten. Eine Seite für die Leistung. Eine für das Verhalten.
»Du bist ruhiger geworden. Stellst nicht immer alles infrage. Das ist besser für die Arbeit und das Arbeitsklima.«
Neben dem Papier auf dem Tisch lag der Füller. Montblanc. Ein Geschenk des Polizeibeamtenverbandes. Auf dem Blatt waren die Kreuze für die Beurteilung bereits verteilt. Was noch fehlte, war Johanna di Napolis Unterschrift.
»Intern könntest du dich stärker engagieren. Man sieht dich kaum bei Personalanlässen.«
Für die Qualifizierung gab es fünf Kategorien. Ein A bedeutete, dass man auf dem aktuellen Posten unterfordert war. Ein B erhielten Lieblinge und Schleimer. Ein D rief die Gewerkschaft auf den Plan. Ein E erforderte eine Versetzung oder ähnlich drastische Maßnahmen. In der Praxis angewendet wurde C. Das bedeutete, dass es nichts zu diskutieren gab.
»Auf der Wache Aussersihl arbeiten noch andere Leute als Köbi Fuhrer. Ihr beide benehmt euch wie ein Detektivposten im Detektivposten.«
Alle paar Jahre erhielt jeder eine Prämie für herausragende Leistungen. In der Reihenfolge des Dienstalters. Manchmal wurden sie auch zu gleichen Teilen verteilt, bevorzugterweise in Form von Naturalien, Gutscheinen für ein Fitnesscenter oder einer edlen Flasche Wein.
»Für die anderen bist du unnahbar. Du hast den Ruf einer Eigenbrötlerin. Das ist nicht gut für die Karriere, Jo!«
Wichtige Dinge wurden niemals schriftlich festgehalten. Das Risiko, dass die Unterlagen in die falschen Hände gerieten, war zu groß, der Personalverband scharf, die Anwälte unbarmherzig.
»Der Korpsgeist macht eine gute zu einer hervorragenden Polizistin!«
Vor dem Gespräch war Johanna die Beurteilung durchgegangen. Charlie attestierte ihr, dass sie ihre Tätigkeit als Revierdetektivin selbstständig, eigeninitiativ und taktisch geschickt ausübte. Ihre Aktenführung war korrekt, obwohl sie eigenwillige Formulierungen verwendete. Die Sofortmaßnahmen an einem Tatort leitete sie vorausschauend ein, sie beherrschte die Grundsätze der bürgernahen Polizei und sie hatte viele Nacht- und Wochenendeinsätze geleistet.
»Möchtest du meine Rückmeldung zu deinem Führungsverhalten jetzt gleich hören?«
Stille, dann Räuspern. »Schick mir eine E-Mail!«
Das Lebendigste an Charlie war das Muster seiner Krawatte. Lauter ineinander verkeilte Giraffen in Braun- und Beigetönen. Dazu ein sandfarbener Anzug, der um seine mächtigen Schultern spannte.
Es war lange her, seit Charlie Brunner linksautonome Demonstranten eingekesselt hatte. Massenkundgebungen, Straßenkämpfe, Räumungen und Fußballspiele hatten seinen Ruf als knallharter Einsatzleiter gefestigt, seine Karriere hingegen verzögert. Zu erfolgreich war er im unfriedlichen Ordnungsdienst gewesen, als dass man ihn an irgendeinem Schreibtisch hätte verrosten lassen wollen. Für einen geschmeidigen Kripobeamten wiederum war er ein zu ungehobeltes Frontschwein geblieben. Weshalb er deutlich älter als fünfzig war, als man ihn endlich mit einer Kaderposition belohnt hatte, auch wenn es nur stellvertretender Detektivpostenchef war. Seither widmete sich Charlie Brunner Arbeitseinsatzplänen, Überstunden, Essensvergünstigungen, Büroeinrichtungen und dem Vermeiden von Problemen. Letzterem mit Leib und Seele.
»Da ist noch was.« Charlie fixierte Johanna.
Angespannt fragte sie sich, was sie verbockt haben könnte, hatte sie sich in den vergangenen Wochen doch zusammengenommen wie selten zuvor, die Dienstvorschriften befolgt, im Büro nicht geraucht, Parktickets bezahlt, keine eigenmächtigen Untersuchungen durchgeführt – und sie war mit keinem einzigen Journalisten auf Sauftour gewesen.
»STAPO-Intern will einen Beitrag von uns!«
Charlies Mienenspiel hätte vermuten lassen, dass Yoga zur Pflichtausbildung erklärt worden war.
»Einen Artikel aus dem Polizeialltag in Aussersihl. Du weißt schon: Wir schlagen uns mit Drogenhändlern herum, Huren, Zuhältern, Jugendbanden und helfen trotzdem jeder Großmama über die Straße.« Treuherzig schaute er Johanna an. »Wir haben einen neuen Departementsvorsteher. Zu seiner Einführung gibt die Medienstelle der Stadtpolizei eine Sondernummer unserer Mitarbeiterzeitung heraus. Darin wird jeder Bereich der Polizeiarbeit beleuchtet und wir müssen als Vorzeigebeispiel für einen Detektivposten herhalten.« Einen Augenblick hielt Charlie inne. Er wirkte verlegen. »Das musst du übernehmen, Jo. Du bist Akademikerin. Und die einzige Frau hier.«
Matura und Dolmetscherausbildung machten Johanna zur Intellektuellen.
»Kein Problem«, meinte sie. »Ich könnte zum Beispiel beschreiben, wie ich auf Reviergang Menschen filze, die mein Vorgänger noch unverblümt ›Neger‹ genannt hat und die meine Kollegen als ›vormals Neger genannt‹ bezeichnen. Zum besseren Verständnis unserer Arbeitsweise würde ich ein Glossar verfassen, damit der politische Chef weiß, dass ›Neger verwursten‹ bedeutet, einen Afrikaner der Staatsanwaltschaft vorzuführen. Authentischer kann es der Stadtrat nur haben, wenn er sich selbst schwarz anmalt und an die Langstrasse stellt.«
»Hör auf mit dem Blödsinn, Jo! Du weißt, was ich meine.« Charlie Brunner kannte Johannas Sprüche.
»Ich werde die Polizeisprache für mich behalten.«
»Gut, dann melde dich bei der Medienstelle.« Zufrieden schob der Chef den Papierbogen über den Besprechungstisch. Der Füller blieb liegen.
Johanna sah sich nach einem Kugelschreiber um.
Es dauerte eine Weile, bis Charlie reagierte. Er stand auf, ging zu seinem Arbeitsplatz und kam mit einem Stift zurück.
Hastig kritzelte Johanna ihre Unterschrift oberhalb der dafür vorgesehenen Linie auf das Blatt. Dann schob sie Papier und Schreiber zurück.
Ohne sich zu setzen, schraubte Charlie den Füller auf. Um zu unterschreiben, musste er sich tief nach vorn beugen. »Du bist ausgeglichener als früher.« Charlie ging wieder zu seinem Schreibtisch. Die Beurteilung landete auf einem Stapel. »Hast du einen Freund?«
Die Wand hinter ihm strahlte weiß. Er setzte sich. Durch das Fenster schien die Herbstsonne auf seine Glatze.
Johanna blinzelte. Ihr schien, als prange hinter Charlies Kopf ein Kruzifix an der Wand. Etwas Unverständliches murmelnd erhob sie sich. Das Kreuz entpuppte sich als Bajonett.
Charlie strich sich über den Schnurrbart. »Du musst dich nicht mit jedem anlegen, der einen Streifen auf der Schulter trägt, um eine gute Polizistin zu sein, Jo.«
Johanna wandte sich zur Tür.
»Du kommst doch zu Trübs Verabschiedung?«
»Sicher.« Sie trat auf den Gang hinaus.
Im Sitzungszimmer gegenüber klingelten Gläser. Die Sekretärin bereitete das Büfett zu. Fleischkäse und Schwarzbrot aus dem Entlebuch, Weißwein vom Genfer See und Bier von Denner. Der Polizeichef ging in Rente, seine Frau half beim Auftischen.
Johanna fragte sich, wo die Schaufensterpuppe in der Uniform der Royal Canadian Mounted Police hinkommen würde, die seit Jahren in Hanspeter Trübs Büro stand. Die Dienstreise zu der internationalen Betäubungsmittelsachbearbeiterkonferenz in Kanada war der Höhepunkt seiner beruflichen Laufbahn gewesen. Johanna hoffte, dass Trüb die Puppe irgendwo hinstellen würde, wo seine Frau sich beim Abstauben nicht verrenken musste.
Sie eilte durch den Gang zu ihrem Büro. Auf halbem Weg warf sie einen Blick auf die Kaffeemaschine. Darüber hing das Foto eines Kampfjets der Schweizer Luftwaffe. Vor vielen Jahren aufgenommen. Im Cockpit befand sich Trübs Sohn. Einige Flüge später hatte er einen Jet im Genfer See versenkt. Nach der geglückten Rettung aus dem eiskalten Wasser war er endgültig auf dem Boden geblieben und Sachbearbeiter im Verteidigungsministerium geworden. Der Vater hatte die Armeebilder seines Sohnes nach und nach durch Fotos der Enkelkinder ersetzt. Mit Ausnahme desjenigen über der Kaffeemaschine.
Ihr Büro war leer. Eine Duftnote aus Alkohol und Tabak lag in der Luft. Lange konnte Köbi Fuhrer nicht wegbleiben. Für eine schnelle Zigarette im Hof vielleicht. Damit sollte er sich beeilen, denn gleich war er an der Reihe für die diesjährige Urteilsverkündigung.
An der Stuhllehne hing Johannas Umhängetasche. Vergeblich durchsuchte sie sie. Hastig wühlte sie in dem Wirrwarr auf ihrem Tisch, doch da lagen keine Zigaretten, dafür aber ein Briefumschlag.
Sie holte eine Packung Nikotinkaugummi aus ihrer Gesäßtasche und steckte sich einen in den Mund. Danach setzte sie sich. Konzentriert kauend starrte sie das Kuvert an. Sie atmete tief durch. Dann öffnete sie es.
Ein Foto flatterte auf den Tisch. Darauf war Johanna zu sehen. Sie stand vor dem Geldautomaten am Helvetiaplatz, die Aufnahme musste von der Tramhaltestelle aus gemacht worden sein. Das Bild war scharf, wenn auch mit wenig Kontrast, denn es war ein trüber Tag gewesen. Johanna hatte ihren neuen roten Mantel getragen – eine eher unübliche Farbe in ihrer Garderobe und ein unüblicher Preis für ihre Verhältnisse.
Sie überlegte, wann sie das letzte Mal Geld abgehoben hatte. Vor zwei Tagen hatte es geregnet. Zeitlich kam das hin. Sie hörte auf zu kauen. Unter ihren Schläfen pochte es.
Nach einer Weile steckte sie das Bild zurück in den Umschlag und legte ihn dann zu den anderen in die unterste Schreibtischschublade. Drei waren es mittlerweile. Drei Umschläge, drei Fotos, drei Fragezeichen in ihrem Kopf. Sie schob die Lade zu.
»Wenn du nichts sagst, ist alles gut«, brummte sie.
2.
Er huschte durch die Wohnung. Viel Zeit blieb ihm nicht. Trotzdem wollte er ein letztes Mal sehen, wie sie gelebt hatte. Die Schlampe von Mann, die er kaltgemacht hatte.
Der Flur war mit Möbeln vollgestellt, hauptsächlich Vitrinen, in denen Geschirr aufgetürmt war. Teller, Tassen, Schüsseln, Gläser. Ansonsten Dinge, von denen er keine Ahnung hatte, wozu sie gut waren. Auf einem Glasschrank stand eine Uhr, die einen Scheißlärm machte. Daneben saßen zwei nackte Engel. Die hätte er stundenlang anstarren können.
Im Wohnzimmer dufteten frische Blumen. Über dem Tisch hing ein Kronleuchter, an dem Tropfen aus Glas baumelten. Alles bewegte sich und funkelte. Auch die Vase glitzerte im Licht. Kerzenhalter standen herum und allein in diesem Raum befanden sich drei Uhren, die alle mit nackten Tussis verziert waren. Dabei hatte die Schwuchtel nie im Leben einen hochgekriegt. Garantiert nicht.
Er ging zurück zum Arbeitszimmer, das voller Bücher war. Am Ende des Raumes stand der Schreibtisch vor dem Fenster, darauf der Computer. Der Vorhang war zugezogen. In der Diele leuchteten drei ineinander verdrehte Lampen mit weißen Schirmen.
Der Tresor war versteckt gewesen, doch dafür hatte er eine Nase. Es war nicht sein erster Bruch.
Mit einem Kerzenständer hatte er die Memme bewusstlos geschlagen, dann gefesselt und geknebelt. Anschließend hatte er sich umgesehen. Nach dem gesucht, was so auffällig war, dass man es nicht sah.
Rascher, als der am Boden liegende Schwanzlutscher sich selbst vollpinkeln konnte, hatte er den jämmerlichen Weichling durchschaut: die Bücher! Kein Mensch brauchte so viele Schmöker, doch als Versteck war das Papiergewichse perfekt. Also hatte er begonnen, die Regale auszuräumen. Hinter dem dritten hatte er den Tresor entdeckt, der in die Wand eingelassen war.
Den Schlüssel zu suchen, hatte noch mehr Spaß gemacht. Wo versteckte ein Medienfuzzi in einer Wohnung voller altem Plunder den Tresorschlüssel? In einem Kerzenständer, einer Lampe, hinter einem Bild? Er hatte auf die blöden Engel getippt. Volltreffer.
Die Leiche lag neben dem Eingang vor einem Regal. Ein jämmerlicher Anblick: fleckiges T-Shirt, kurze Hosen, tuntige Schlappen.
Den Vollidioten zum Reden zu bringen, war so locker gewesen wie ficken. Einfach Vollschub. Mitzuschreiben hingegen war scheiße, so schnell hatte das Weichei alles ausgekotzt. Die Passwörter, die Namen. Im Nu war der Notizblock vollgekritzelt. Am Ende hatte er die Memme umgelegt, den Tresor ausgeräumt und den Computer auseinandergeschraubt.
Er überprüfte, ob er hatte, was er brauchte: das Geld, den Schmuck, den dicken Packen Papier, die Harddisk, die anderen Datenträger, die Kamera, das Silberbesteck für seine Mutter.
Er packte alles in den Rucksack. Vor einem riesigen Spiegel überprüfte er, ob die Sturmhaube saß. Anschließend legte er ein Ohr an die hölzerne Tür. Im Treppenhaus schien alles ruhig. Er öffnete, horchte wieder. Daraufhin machte er sich auf den Weg.
Im zweiten Stock trat eine Oma in den Flur. Sie versuchte zu schreien, als sie ihn wahrnahm. Er zog ihr eins über.
Unten angekommen, riss er sich zunächst die Sturmhaube vom Kopf, die Handschuhe erst, als er auf den Bürgersteig hinausgetreten war.
Gegenüber stand ein Möbelwagen. Ein Mann lud einen Sessel auf die Schultern. Der Name des Transportunternehmens war türkisch, die Kundschaft nicht, denn in der Tür zum Haus stand ein Deutscher, eine modische Brille auf dem Kopf, teure Lederschuhe an den Füßen.
Die Gegend war still und beschaulich. Die Straßen waren sauber, die Geschäfte edel, die Häuser strahlend weiß und die Balkone begrünt. Der perfekte Ort für Schwulis und Omis.
Neben dem Haus befand sich ein Café. Vor dem Eingang zickten aufgemotzte Bräute herum. Immerhin.
Er lief um die Ecke. Zwei Blöcke weiter stand das Motorrad. Frisch geklaut am anderen Ende der Stadt.
3.
Was für ein doofer Auftrag!
Sie hatte gerade mal einen Abschnitt geschrieben. Darin stand, dass eine Revierdetektivin den direktesten Kontakt zur Bevölkerung hatte, dass sie aber meistens nur einen ganz kleinen Teil einer Ermittlung erledigte und eine Untersuchung selten zu Ende führte. Dass aber gerade der Anfang entscheidend war, dass sie als Polizistin ihren Job für die Menschen machte, die in dieser Stadt lebten, und dass jeder Detektivposten eine Visitenkarte war für die Polizei und ein Seismograf für die Sorgen und Ängste der Leute.
Die Sätze klangen fremd. Das war nicht sie. Entnervt holte sie die letzte Ausgabe der Mitarbeiterzeitung hervor. Vielleicht fand sie so den richtigen Dreh.
Zuvorderst stand das Editorial der Kommandantin. Darin war von Ressourcen die Rede, von Optimierung und Professionalität. Anschließend folgten die Anleitung zum korrekten Ausfüllen von Rapportformularen, die Ankündigung der neuen sicherheitspolizeilichen Weiterbildung, die Veranstaltungsagenda mit den Treffen des polizeilichen Motorradklubs, der Blue-Light-Party, welche die Stadtpolizei gemeinsam mit Feuerwehr und Sanität durchführte, dem STAPO-Angeln, die Gratulation für Beförderungen in der Armee, die Dienstjubiläen, die Neueintritte, die Austritte, die Geburten, die Pensionierungen, die Todesfälle und die schönsten Bilder aus dem Diensthundewesen.
Johanna di Napoli legte das Heft zur Seite. Langsam dämmerte ihr, warum Charlie gerade ihr diesen Job gegeben hatte. In professioneller Ressourcenoptimierung war er Weltklasse.
4.
Es sah aus wie im Krieg. Maschinenpistolen lagen auf dem Tisch, daneben schusssichere Westen. An der Wand hingen Handfunkgeräte. Vor dem Tor stand ein Audi RS 6. Voll fett. Dazwischen tummelten sich die Männer.
Einer fehlte, wahrscheinlich der Späher. Zwei blödelten in Unterhosen herum. Derjenige, der ihn eingelassen hatte, war barfuß in schwarzen Kampfhosen.
Zeki trug Vollmontur. Er war der Boss und in allem immer der Erste.
Der Schuppen stand in einem Hinterhof, in dem es nach Pisse stank. Hausmüll lag herum.
Das Motorrad hatte er in einem anderen Stadtteil stehen lassen und war mit dem Bus weitergefahren. Das letzte Stück hatte er zu Fuß zurückgelegt, im Zickzack durch die Häuserblocks.
»Ey, Issam!« Zeki klatschte ihn ab. »Wie geht es Schwesterchen?«
Issams Herz machte einen Satz. Er hatte panische Angst, dass Zeki es klopfen hörte, und presste ein Lächeln hervor. »Ich trage sie auf Händen!«
Issams Schwager täuschte einen Karateschlag an. »Sie ist meine Schwester, aber deine Frau. Lass sie dir nicht auf der Nase herumtanzen!« Er zeigte in den Raum hinein. »Sieh dir das an! Sind wir nicht brutale Profis?«
Daran zweifelte Issam keine Sekunde. Er legte seinen Rucksack ab. »Das Geld und den Schmuck kann ich behalten?«
»Logo.« Zeki nahm eine Knarre vom Tisch. »Habe ich dich jemals betrogen?« Eine Frage, die keine Antwort erforderte. »Was ist mit der Journalistenfotze?«
»Kaltes Fleisch.«
Zeki nickte anerkennend, was bedeutete, dass Issam fünfzehntausend Euro verdient hatte. Zusätzlich zu dem Bargeld und dem Schmuck aus der Wohnung. Zeki würde mindestens das Doppelte kriegen.
Issam nahm die Kamera hervor. »Ich habe alles fotografiert. Den toten Schweinefresser, den leeren Safe, den zerlegten Computer.«
Doch dafür interessierte sich Zeki nicht. »Das Geschreibsel?« Er deutet auf den Rucksack.
Issam steckte die Kamera zurück und überreichte Zeki das Papierbündel. Direkten Blickkontakt vermied er.
Der Boss hängte die Maschinenpistole um. Dann nahm er die Unterlagen entgegen und legte sie auf den Tisch neben die Schutzwesten. Kopfschüttelnd blätterte er die Papiere durch. »Ich verstehe nichts von dem Scheiß.« Er gab das Bündel zurück. »Diese Kacke ist verdammt viel Geld wert. Hast du die Festplatte?«
Issam nickte.
»Bring alles ins Versteck!«
Er verstaute das Papier im Rucksack. Issam hatte keinen Schimmer, wer der Auftraggeber war. Zeki weihte niemanden in seine Geschäfte ein. Er war der Kopf, er verteilte die Jobs. Dafür gab es richtig Kohle. Ansonsten musste man Handtaschen rauben.
Zeki reichte ihm ein Handy. Danach legte er einen Arm um Issams Schulter. Sie liefen zum Ausgang.
»Du bleibst beim Güterschuppen! Ich werde dich ein einziges Mal anrufen. Wenn die Luft rein ist, sagst du ›ja‹, wenn nicht ›fick dich‹. Ansonsten kein Wort!«
»Sicher, Mann.« Der Arm auf seiner Schulter lastete schwerer auf seinem Gewissen als der Mord an dem Journalisten.
Zeki sah ihn scharf an. »Alles klar?« Er war ein Brocken aus Muskeln und Stolz.
»Klar, was denkst du denn?«
Zeki umarmte ihn. Dann schloss er die Tür hinter Issam.
Eine Wand aus zum Trocknen aufgehängter Wäsche und Parabolantennen umgab den Hinterhof. In der Passage zum nächsten Hof pinkelte er an die Wand. Danach ging er weiter. Im Durchgang zwischen den Häusern hingen Werbeplakate, die lange nicht mehr ausgewechselt worden waren.
Issam trat auf die Straße hinaus. Vor dem Spätkauf auf der anderen Straßenseite lungerte Zekis Aufpasser herum. Rauchend starrte der Mann ins Nichts.
Aus der Schule weiter vorn kam ein bleicher Junge gerannt, eine Horde Halbwüchsiger an seinen Fersen.
Issam stellte dem Käsegesicht ein Bein. Der Junge überschlug sich. Die anderen fielen über ihn her. Issam ging weiter.
5.
»Sollen wir ein paar Leute filzen?« Johanna di Napoli deutete auf die Bushaltestelle, wo eine Gruppe getriebener Gestalten herumhing: einige mit eingefallenen Wangen, andere mit aufgedunsenen Gesichtern. Die wenigsten benötigten den Bus für ihren nächsten Trip.
»Ach was, die kennen wir doch alle!« Routiniert hatte Köbi die Gesichter überflogen. Es waren nicht viele, vielleicht zehn Personen. Nichtsdestotrotz wirkten sie wie ein undurchschaubares Gewühl. »Da werden wir nichts finden. Ein paar Fläschchen Methadon vielleicht oder eine Schachtel Rohypnol.« Er ging weiter. »Vermutlich auch noch mit Rezept. Dafür findet sich immer ein Doktor.«
»Dann bleiben wir heute halt clean!« Johanna hatte den Vorschlag auch nur gemacht, weil sie dringend Stoff für ihren Artikel brauchte, nicht weil sie Lust darauf hatte, Mikroportionen irgendwelcher Substanzen zu konfiszieren, die sich am Schluss womöglich noch als legal verschriebene Medikamente herausstellten. »Wie läuft eigentlich die Brandermittlung?«
Am Wochenende war ein Keller ausgebrannt. Köbi hatte Dienst gehabt und war als Erster am Tatort gewesen.
»Ach, da reden zu viele Leute mit heutzutage.« Er steckte sich eine Zigarette in den Mund. »Schau dir diese Kinder an!«
In der Umgebung der Lugano-Bar warteten Prostituierte auf Kundschaft. Blutjung, aber zumindest auf dem Papier nicht minderjährig. Die Ausweise waren nicht gefälscht, sondern in Ungarn, Bulgarien oder Rumänien gekauft worden. Eine Kontrolle erübrigte sich auch in diesem Fall.
»Und diese Lümmel dort drüben markieren die großen Gangster!«
Köbi zeigte auf die andere Straßenseite, wo sich Türsteher vor einem Lokal aufgebaut hatten. In schwarzen Bomberjacken, Jeans und Turnschuhen. Dazu Kampfsportlerposen. Schläger waren sie zweifelsohne, muskelbepackt und durchtrainiert, die Haare kurz, der Blick grimmig.
»Der IQ eines Knäckebrots.« Köbi spuckte auf den Boden. Türsteher waren seine Lieblingsfeinde, weil sie die Kontrolle hatten über die Drogen und die Frauen.
Johanna sah, dass sie von der Gruppe bemerkt worden waren. Man kannte Köbi Fuhrer und Johanna di Napoli. Das war der Sinn der bürgernahen Polizei, spöttische Grimassen und obszöne Gesten mit inbegriffen.
»Gehen wir eine Wurst essen!« Köbi stand der Sinn nicht danach, sich mit vorlauten Rüpeln herumzuärgern. »Oder möchtest du lieber nach einer Rentnerin Ausschau halten, der wir den Heimweg zeigen können? Den Weg ins Heim vielleicht?«
Köbi Fuhrer stapfte davon. Und mit ihm verflüchtigte sich auch der Stoff für Johannas Artikel in der Mitarbeiterzeitung.
6.
Frauen und Kinder zuerst. Ein bescheuerter Name für ein Modegeschäft, ein blöder Ort für eine Schießerei.
»Bist du sicher, dass die das hier durchziehen, Raph?« Kopfschüttelnd schaute er zwei Frauen nach. Grau melierte Haare, elegante Kleidung. Hand in Hand schlenderten sie über die Straße. Auf der anderen Seite waren Fahrräder unterwegs und Kinderwagen, die nicht selten von Männern geschoben wurden. »Das ist schlimmer als im Seefeld.« Manfred Iten legte beide Hände auf das Lenkrad. Durch die Windschutzscheibe musterte er die oberen Stockwerke der Häuserzeile. »Die Fassaden sind genauso herausgeputzt.«
Die meisten Typen sahen jünger aus, als sie waren. Erwachsene Männer trugen hautenge Jeans und Wollmützen. Nur wenige Anzugträger waren zu sehen. Die Frauen wirkten, als wären sie in Paris und New York aufgesammelt und hier ausgesetzt worden.
Raphael Gerber setzte seine Wasserflasche ab. »Der Unterschied zu Zürich ist, dass die Reichen in Berlin herumlaufen wie Penner.« Er deutete auf einen Mann, der aus einem Juweliergeschäft kam. Ausgelatschte Stiefel, abgegriffener Ledermantel, altmodische Brille, Zipfelmütze. Der Dandy schlenderte stadteinwärts an einem griechischen Restaurant vorbei. Im nächsten Gebäude befand sich ein gut besuchtes Kaffeehaus. Er setzte sich zu einer langbeinigen Asiatin an einen Tisch im Außenbereich.
»Aber sie leisten sich die gleichen Bräute«, murmelte Iten.
»Global investieren, lokal bumsen.« Mit dem Kopf deutete Gerber auf die Kneipe. »Wenigstens stammt der Homeboy aus einem anderen Dorf.«
Am Tisch neben dem Paar saß ein Mann mit der Figur und der Haltung eines Kampfsportlers, massig und beweglich zugleich. Er hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen und trug eine Sonnenbrille, sodass sein Gesicht kaum zu sehen war.
»Der denkt nicht weiter als bis zu seinen Eiern. Wenn er nicht am Handy herumfingern müsste, würde er sich gleich mit beiden Händen am Sack kratzen.« Manfred Iten nahm ein Sandwich von der Ablage unter der Windschutzscheibe. Daneben lagen eine Colaflasche und eine Tüte Kartoffelchips.
Es war ein schöner Herbsttag. Allerdings beschien die Sonne die andere Straßenseite, während das Boulevardcafé im Schatten lag. Das Auto von Iten und Gerber stand in einer Parkbucht gegenüber dem Bekleidungsgeschäft, mit dem Heck zu der Häuserzeile geparkt. Es war ein beschrifteter Lieferwagen: Beusser Haustechnik. Zwei Handwerker, die Pause machten.
»Möchte nicht wissen, was die da im Mund hat«, brummte Iten kauend.
Über die Straße schlenderte eine Frau. Rote Stoffmütze, schwarzer Wollmantel, türkisfarbener Schal, zweifarbige Designerbrille. Sie ging ausgesprochen langsam. Anscheinend konzentrierte sie sich darauf, Essensreste aus ihren Zähnen herauszupulen. In gemächlichen Bewegungen buchtete ihre Zunge die Wangen aus. Vor dem Lieferwagen blieb sie stehen. Offenbar sollte der kleine Finger vollbringen, was die Zungenspitze nicht zustande gebracht hatte. So diskret wie möglich stocherte sie zwischen ihren Zähnen herum. Bis sie die Männer entdeckte.
Der eine hielt sich das Sandwich vors Gesicht. Der andere wühlte in einer Plastiktüte zu seinen Füßen.
Die Frau steckte die Hände in die Manteltaschen. Dann ging sie zügig an dem parkenden Auto vorbei und betrat den Laden eines Herrenausstatters.
Selbst nachdem sie in dem Geschäft verschwunden war, starrte Manfred Iten noch argwöhnisch in den Rückspiegel.
»Sie hat gesehen, was wir zeigen wollen, nichts weiter«, beruhigte ihn sein Partner.
Direkt gegenüber lag das Kinder- und Frauenmodegeschäft. Rechts daneben befand sich noch ein Laden mit Kinderkleidung. Dann kam die Bijouterie. Ein protziges Gebäude: ockerfarben, fünfstöckig, zur Straße hin drei breite Balkone. Das Erdgeschoss wurde von der Einfahrt dominiert. Das Tor war solide und wurde von Videokameras überwacht. Links neben der Zufahrt befand sich ein Schaufenster, rechts der Eingang, beides erhöht und nur über eine kurze Treppe zugänglich.
»Sie werden bald kommen, Fred.« Die Wasserflasche absetzend, blickte Raphael Gerber auf seine Armbanduhr.
Manfred Iten beobachtete zwei junge Frauen, die gestikulierend an dem Lieferwagen vorbei auf das Café zustöckelten. Farbige Leggins und schwindelerregend hohe Absätze verlängerten ihre Beine.
»Es geht los!« Gerber schraubte die Wasserflasche zu und deutete auf das Restaurant.
Der Kapuzenmann stand auf. Mit gesenktem Kopf eilte er zu einem geparkten Volvo, stieg ein und setzte zurück. Anschließend fuhr er an dem Juwelier vorbei bis zu der Kreuzung am Ende der Straße. Dort stoppte er.
Von der Straßenkreuzung her rollte ein schwarzer Kleinbus an dem Volvo vorbei. Die Scheiben waren getönt, was das einzige Außergewöhnliche war. Nichts deutete darauf hin, dass der Transporter gepanzert war.
Vor dem Juweliergeschäft bog das Fahrzeug von der Straße in die Einfahrt zur Tiefgarage ein und wartete, bis das Tor nach oben gerollt war. Langsam fuhr der Transporter hinunter. Sofort wurde der Eingang wieder geschlossen.
»Sobald die Karre ladebereit ist, wird im ersten Stock der Tresor geöffnet. Das ist der Moment, in dem ich zugreifen würde. In spätestens drei Minuten.«
»Darum solltest du jetzt schleunigst auf deinen Posten gehen!«
Raphael Gerber hob die rechte Hand. »Wer Wind sät, wird Sturm ernten!« Seine Stimme klang feierlich.
»Alles oder nichts!« Grimmigen Blickes schlug Manfred Iten ein. Auch seine Stimme hatte ein sonderbares Timbre angenommen. »Pass auf dich auf, Raph!«
Gerber erwiderte den Händedruck. Nach einigen Sekunden ließ er Itens Hand los, stieg aus und holte aus dem Fond des Autos einen Motorradhelm und eine Lederjacke. Beides zog er an. Danach spurtete er in dieselbe Richtung, in welche der Volvo gefahren war.
Der Kapuzenmann saß in seinem stehenden Fahrzeug, während der Motor lief.
Raphael Gerber, der eben noch in pathetischem Ernst das Alte Testament zitiert hatte, spurtete zu der Straßenkreuzung. Während er den Helm aufsetzte, wetzte er links um das Eckhaus. Ein Fußgänger hielt überrascht inne, die anderen Passanten beachteten ihn nicht. Neben dem Eingang zu einer Kneipe stand Gerbers Motorrad. Er saß auf.
Die Ampel an der Kreuzung schaltete auf Rot. In diesem Moment fuhr der Volvo aus der Seitenstraße hupend gegen die Fahrtrichtung. Fußgänger sprangen kreischend zur Seite. Der Fahrer stoppte den Volvo vor den wartenden Autos auf dem Zebrastreifen, wobei er um Haaresbreite ein die Straße überquerendes Kind verfehlte. Es fiel vor der Kühlerhaube auf den Asphalt. Eine Frau nahm es behutsam auf den Arm, während eine andere wütend auf die Fahrertür des Volvos zulief. Doch noch bevor sie ihrem Ärger Luft machen konnte, wurde die Autotür aufgestoßen und der Kapuzenmann stieg aus. Mittlerweile trug er eine schwarze Sturmhaube. Er stieß die Frau beiseite. Sie schrie um Hilfe, doch das ging in dem einsetzenden Hupkonzert unter.
Der Maskierte rannte zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Über der Kapuzenjacke trug er eine schusssichere Weste. Zudem hatte er eine Maschinenpistole umgeschnallt. Den Kastenwagen von Beusser Haustechnik am rechten Straßenrand beachtete er nicht. Dessen Fahrer hingegen beobachtete ihn.
Bislang realisierten nur wenige Passanten, was hier soeben vor sich ging. Zwei Frauen blieben stehen. Ein Vater nahm seinen kleinen Sohn auf den Arm und flüchtete stadteinwärts. Aus dieser Richtung näherte sich zeitgleich ein Kombi, deutlich zu schnell für eine Flaniermeile wie diese.
Der Wagen hielt genau vor der Einfahrt des Juweliergeschäfts. Ein dunkelroter Audi älterer Fabrikationsart: wenig beachtet, leistungsstark, keine Alarmanlage, keine elektronische Wegfahrsperre, Hannoveraner Nummernschild. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war er in einer ruhigen Wohngegend gestohlen worden, weitab von jeglichem Latte-macchiato-Schick.
Die Türen wurden aufgerissen. Vier Männer hechteten heraus, allesamt bullige Erscheinungen.
»Mal sehen, ob ihr was im Hirn habt«, murmelte Manfred Iten. Dabei räumte er die Essensreste weg und entsorgte sie in einer Plastiktüte.
Die vier Männer trugen Armeehosen, Kapuzenjacken, Sturmhauben und Schutzwesten, alles in Schwarz. Drei von ihnen hatten Stofftaschen umgeschnallt. Alle waren mit Maschinenpistolen bewaffnet.
»Heckler & Koch«, mutmaßte Iten. »Deutsche Wertarbeit.« Er drückte auf einen Knopf an seiner Armbanduhr.
Drei der Gangster preschten zum Eingang des Juweliergeschäfts, wo sie auf den Volvofahrer trafen. Hintereinander hasteten alle vier die Stufen zu dem Geschäft hinauf. Der letzte blockierte die Eingangstür mit einem mitgebrachten Holzstück. Der Mann, der bei dem Audi zurückgeblieben war, öffnete zunächst die Hecktür des Wagens und sprintete dann zur Fahrerseite, stieg aber nicht ein.
Die Schießerei begann, nachdem der erste Räuber den Laden betreten hatte. Mehrere kurze Salven waren zu hören.
Iten stellte sich vor, was im Innern des Gebäudes gerade geschehen mochte. Die meisten Angestellten und Kunden hatten sich vermutlich nach den ersten Schüssen auf den Boden geworfen. Zweifellos würde jemand den Alarm ausgelöst haben. Den vier Männern blieb wenig Zeit. Die ersten beiden würden in die hinteren Räume eindringen, möglicherweise besaßen sie Schlüssel. Dort würden sie sich dann des Altgoldes bemächtigen, das für den in der Tiefgarage wartenden Werttransporter bestimmt war. Dieser hatte zuvor in anderen Bijouterien Waren abgeholt, die zur Wiederverwertung in ein Recyclingwerk gebracht werden sollten. Womöglich würden die beiden Männer sogar noch Zeit finden, sich der Ladung dieses Transporters zu bemächtigen, während ihre Komplizen die Auslage in den vorderen Räumen des Schmuckgeschäfts plünderten.
Zwei Überfälle auf einmal! Ein genialer Plan. Das musste Manfred Iten zugeben, trotz aller Verachtung für die Bande, die er zusammen mit seinem Partner seit Langem überwachte. Die Mitglieder hatten libanesische Wurzeln und waren alle irgendwie miteinander verwandt. Der Boss war ein Drogenhändler, Zuhälter und notorischer Schläger namens Zeki Karam, was sich Iten im Gegensatz zu den anderen Namen gut merken konnte, weil es wie ›Zecke‹ klang. Ihn und seine Kumpane hatte Manfred Iten bisher für großmäulige Hinterhofkriminelle gehalten, nicht für kaltblütige Profis. Darum war er gespannt auf den weiteren Verlauf des Überfalls, von dessen Ausgang auch für ihn und seinen Partner viel abhing.
In der Umgebung des Juweliers brach Panik aus. Der Mützenträger und seine Freundin waren in das Kaffeehaus geflüchtet. Andere folgten ihnen. Gleichzeitig drängten Neugierige auf den Bürgersteig. Wer realisierte, was soeben geschah, rettete sich in eine der Nebenstraßen, aus denen bereits Polizeisirenen zu hören waren.
Ein Einsatzwagen bog um die Ecke. Der Maskierte stand schussbereit auf seinem Posten neben der geöffneten Fahrertür des vor dem Juwelier parkenden Audis. Ohne zu zögern eröffnete der Mann das Feuer. Eine Scheibe zerbarst. Das Polizeiauto stoppte und versperrte dadurch die Straße stadteinwärts. Drei Beamte sprangen heraus, während sie weiterhin beschossen wurden. Mit gezogenen Waffen hechteten sie in Deckung, ohne jedoch zurückzuschießen. Für die Polizei war das Risiko zu hoch, Unschuldige zu treffen.
Rundum rannten Menschen davon, um sich in Sicherheit zu bringen. Einige warfen sich auch einfach auf den Boden. Viele schrien, Erwachsene und Kinder gleichermaßen. Sirenen heulten. Schüsse hallten. Scheiben klirrten. Weiter entfernt hupten Autofahrer wild durcheinander.
Auch Manfred Iten hatte sich auf seinem Beobachtungsposten kleingemacht. Bis jetzt war sein Auto nicht getroffen worden. Wohlweislich hatte er einen Parkplatz gesucht, der weit genug vom Tatort entfernt lag. Über das Armaturenbrett hinweg spähte Iten das Geschehen aus. »Es wird Zeit, Leute«, zischte er. Als hätten sie auf sein Zeichen gewartet, stürmten die vier Maskierten aus dem Juweliergeschäft. Er blickte auf die Uhr. Drei Minuten und neunundvierzig Sekunden hatte der Überfall gedauert.
Einer der Räuber ging hinter einem parkenden Fahrzeug in Deckung und schoss ebenfalls sofort auf das Polizeiauto. Die drei anderen Männer schleppten dicke Taschen mit sich und schmissen sie in den Laderaum des Kombis. Fahrer und Beifahrer stiegen ein, der Dritte kroch in den Laderaum und zog die Heckklappe zu. Dann erst hechteten die beiden noch draußen kauernden Männer ebenfalls in den Wagen. Der Fahrer gab Gummi.
Als die Gangster an seinem Kastenwagen vorbeirasten, fuhr auch Manfred Iten los. Er bemerkte, wie die Polizisten hinter ihrem Auto hervorsprangen. Im Rückspiegel sah er jemanden auf die Straße laufen. Wahrscheinlich wurde soeben seine Autonummer auswendig gelernt.
Vorn an der Kreuzung bog das Fluchtauto rechts um die Ecke. Auf dem Bürgersteig links herrschte Chaos. Ein Auto steckte mit der Kühlerhaube im Eingang eines Restaurants. Dahinter lugten Gaffer hervor, davor erkannte er Raphael Gerber auf dem Motorrad.
»Jetzt bist du am Zug, Raph«, knurrte Iten, während er geradeaus über die Straßenbahnschienen fuhr und danach links abbog. Hinter ihm preschte ein Polizeiauto aus der Straße, in welcher der Überfall stattgefunden hatte. Angespannt beobachtete Manfred Iten im Rückspiegel, ob es ihm folgen würde, doch die Polizei nahm die Verfolgung des Fluchtautos auf, während Gerber in einigem Abstand dem Streifenwagen hinterherfuhr.
Iten blickte sich um. Auf der Gegenfahrbahn lief gar nichts mehr. Ein Polizeifahrzeug stand im Stau. Der Beamte versuchte, über den Bürgersteig auszuweichen. Weiter vorn war ein Personenwagen auf die Gleise geraten und blockierte die Straßenbahn.
Seine Spur hingegen war frei. Vor ihm fuhren mehrere Fahrzeuge, während hinter ihm Autos an der Ampel warteten. Niemand schien ihn zu verfolgen.
An der nächsten Querstraße bog Manfred Iten rechts ab. Daraufhin schaltete er das Navigationsgerät ein. Zunächst zeigte es ihm einen Weg, den er ganz bestimmt nicht fahren würde. Zu viele große Kreuzungen, an denen die Polizei Sperren einrichten würde. Darum tastete er sich durch Nebenstraßen nach Norden vor, an Boutiquen, Weinhandlungen, Feinkostläden und Szenekneipen vorbei. Das Navi berechnete die Route laufend neu.
Nach fünfzehn Minuten bog Manfred Iten in Richtung Osten ab. Nach und nach wurden die Fassaden älter, die Graffiti häufiger, die Geschäfte preisgünstiger, die Gegend leerer.
Am Ende eines Backsteingebäudes führte eine schmale Einfahrt zu einem Autohandel. Lauter Lieferwagen standen in einer Reihe, vorwiegend Mercedes, einige VW. Hinter den Autos waren Industriecontainer zu erkennen. Das Gelände war von einem hohen Zaun umgeben, Wachhunde streunten herum.
Unter einem Torbogen hindurch bog Iten auf einen gut besetzten Parkplatz vor mehreren riesigen Verkaufshallen ein. Plötzlich herrschte reger Betrieb, was man in einer so abgelegenen Gegend kaum erwarten würde. Einzelpersonen und Familien schlenderten zu den Hallen, andere strömten mit prallen Einkaufstüten auf den Parkplatz und luden ihre Taschen in die Wagen. Das Gewusel stand in krassem Kontrast zu den abgewrackten Industriebauten, die das Areal umgaben und als Werbefläche dienten für Maniküre, Pediküre, Beauty Massage, Waxing und andere Torturen.
Er parkte in einer einsam gelegenen Ecke und stieg aus. Nachdem er sich versichert hatte, dass niemand zuschaute, entfernte Manfred Iten die Magnettafeln mit der Werbung für Beusser Haustechnik von der Karosserie. Hinterher räumte er den Wagen aus, nur den Schlüssel ließ er stecken. Dann holte er Putzmittel und Lappen aus dem Laderaum und wischte sorgfältig alles ab, was Spuren von ihm oder seinem Partner haben könnte. Zuletzt verstaute er den ganzen Kram in einer großen Tüte. Danach ging er zur letzten Markthalle auf der linken Seite, hinter der sich Müll stapelte. Iten warf die Tüte auf den Haufen.
An einem roten Schornstein vorbei gelangte er zu einer Reihe Container, neben denen Lieferwagen geparkt waren. Nach einer weiteren Halle stand auf einem menschenleeren Parkplatz ein verbeulter Kleinlaster. Er kramte einen Schlüssel aus seiner Jacke hervor, blickte sich aus Gewohnheit rasch um, öffnete die Hecktür und schlüpfte in das Wageninnere.
Auf dem Boden hinter der Fahrerkabine lag eine Frau. Hände und Füße mit Kabelbinder gefesselt, den Mund mit Isolierband zugeklebt, um die Augen eine schwarze Binde. Was man von ihrem Gesicht noch sehen konnte, war verschmiert mit Blut, Schminke und Tränen. Sie trug einen Trainingsanzug.
Manfred Iten betrachtete die gefesselten Hände. Wenn hier jemand neue Fingernägel benötigte, dann sie.
Neben der Frau auf der Ladefläche lagen Jeans, eine Lederjacke und Turnschuhe. Gebückt streifte Iten Arbeitsschuhe und Overall ab und zog die anderen Kleidungsstücke an. Die ganze Zeit über bewegte die Frau sich nicht.
Als er fertig war, kniete Iten neben der Gefesselten auf den Boden. Ein Zucken ging durch ihren Körper. Sie atmete noch. Erst jetzt zog er die Handschuhe aus und fühlte den Puls der Frau. Vermutlich war sie bei Bewusstsein.
Iten griff zwischen ihre Beine. Blitzartig wand sie sich wie ein Regenwurm an der Angel. Sie hatte eine Ohnmacht vorgetäuscht, er zeigte ihr, wie ohnmächtig sie tatsächlich war. Verzweifelt versuchte sie, seinem Griff zu entkommen und zu schreien. Doch der Knebel ließ nicht mehr als ein dumpfes Jammern zu. Am lautesten war ihr Schnaufen.
Manfred Iten ging mit dem Mund an ihr rechtes Ohr, fuhr mit der Zunge darüber, atmete tief ein, roch ihre Angst. »Ist alles bestens gelaufen«, flüsterte er. »Dein Stenz kann stolz auf dich sein.«
Als er von ihr abgelassen hatte, verließ Iten den Laderaum, ging zur Fahrerseite und setzte sich hinter das Steuer. Dass er noch nichts von seinem Partner gehört hatte, beunruhigte ihn. Trotzdem widerstand er der Versuchung anzurufen. Man wusste nie, was man mit einem Klingeln zum falschen Zeitpunkt anrichtete. Außerdem ließen sich Handys orten.
Durch das Gitter zum Laderaum hörte er unterdrücktes Schluchzen. Iten stieg wieder aus, verriegelte die Tür und horchte. Aus dem Wageninneren hörte man hier draußen kaum etwas, von weiter weg schon gar nicht. Und selbst wenn sie mit ihren Füßen gegen die Wand schlagen würde, wäre niemand da, der das bemerken könnte.
Manfred Iten kehrte zu der nächstgelegenen Halle zurück, öffnete eines der Tore und gelangte durch einen Vorhang aus Plastikstreifen in einen Gang. Auf beiden Seiten lagen Verkaufsräume: Schuhe, Kleider, Lederwaren, Möbel, Unterhaltungselektronik, Kunstblumen, Lebensmittel. Auch der Korridor selbst war mit Verkaufsartikeln zugestapelt. Wo trotzdem Platz war, saßen Männer, vornehmlich Asiaten.
Am anderen Ende des Ganges befand sich ein Friseur, der gut besetzt war, daneben war ein Lebensmittelgeschäft. Es roch nach Gewürzen, die er lieber nicht kosten mochte. An einer Pinnwand hingen Zettel voller asiatischer Schriftzeichen.
Direkt gegenüber lag das Restaurant. Iten ging hinein und setzte sich mit dem Rücken zur Wand an einen Tisch.
Er hoffte, nicht lange warten zu müssen, denn er brannte darauf zu erfahren, wie es gelaufen war.
Wie die Chancen der Schickse in dem Laster standen, wusste er bereits.
7.
Mein erster Tag bei Turicum.
Die Sonne brennt. Ich schwitze. Wir tragen die Uniform für den Ordnungsdienst. Sie ist schwer. Die Wasserflasche fällt nicht mehr ins Gewicht. Ich trinke, so viel es geht. Die anderen grinsen.
Jetzt wird es ernst, sagt Raph.
Raphael Gerber passt auf mich auf. Damit ich nichts Dummes mache. Damit mir nichts passiert.
Die Neuen bauen immer Scheiße, sagt er. Erst wenn du genug davon angehäuft hast, gehörst du zur Mannschaft.
›Scheiße‹ werde ich oft hören. Es ist sein Lieblingswort.
Wir gehen an den Letten. In der Gülle wühlen, die die Politiker ausscheißen, sagt Fred.
Wir sind zu viert, Raph, Fred, Pedro und ich. Jedes Team muss höchstens eine Neue aufnehmen. Schadensbegrenzung.
Raphael ist seit fünf Jahren Polizist, Pedro seit drei. Am längsten ist Fred dabei. Er hat den Platzspitz erlebt, die Jugendunruhen. Politikerkacke, sagt er dazu.
Pedro ist der Fahrer. Er parkt das Einsatzfahrzeug auf dem Trottoir am Sihlquai, einen blauen Ford Transit. Darin Schilder, Tränengas- und Gummischrotgewehr. Am Straßenrand liegt Abfall, sodass man den Boden kaum sehen kann. Die Sauerei zieht sich bis ans Wasser hinunter.
Raph drückt mir ein Gummischrotgewehr in die Hand. Ohne gehen wir nie in die offene Drogenszene rein, sagt er.
Der Fahrer muss das Auto bewachen. Wir wollen nicht zu Fuß zur Hauptwache zurückkehren.
Auf dem Lettensteg liegen Fixer am Boden. Wir steigen über sie hinweg. Es liegt ein grauenhafter Gestank in der Luft. Ich brauche Wasser, doch mit dem Gewehr in der Hand trinkt man nicht. Mir wird schwindelig. Ich blicke in ein Gesicht. Die Augenhöhlen sind tief und schwarz, die Haut ist grau, der Mund ein giftiges Loch. Ich kann nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.
Nimm dich zusammen, sagt Raph. Er schubst die abgewrackte Gestalt weg, die verwirrt davontaumelt.
Vor dem Kraftwerk am Ende der Brücke bleiben wir stehen. Ab da watet man knöcheltief im Dreck. Darin stehen, hocken und liegen sie zu Hunderten. Sie sehen aus wie Zombies und sie bewegen sich auch so. Ich stelle mir vor, wie Raph einem von ihnen mit dem Gewehrkolben den Kopf abschlägt.
Unter der Brücke stehen die Dealer. Am Rand, wo es weniger dreckig ist.
Die lachen uns aus, sagt Fred. Eine gottverdammte Schande ist das.
Am Brückenpfeiler hat das Sozialamt eine Anlaufstelle eingerichtet, in der saubere Spritzen verteilt werden.
Die Sozialarbeiter tragen Warnwesten, sonst könnte man sie nämlich nicht von dem anderen Gesindel unterscheiden, sagt Fred.
Raph deutet mit dem Kopf auf eine Frau, die uns vom Brückenpfeiler aus entgegenkommt. Sie ist kein Junkie, das sehe ich auf den ersten Blick.
Raph stellt sich ihr in den Weg. Sie reicht ihm kaum bis unters Kinn. Fred bringt sich hinter ihr in Position, während ich mich nicht rühre.
Sie holt einen Ausweis aus ihrer Handtasche: Sozialarbeiterin. Für sie ist der Arbeitstag zu Ende. Ihr Zug fährt in zehn Minuten.
Auspacken!, sagt Raph.
Sie versteht nicht.
Die Tasche! Auspacken!
Man sieht ihr an, dass sie überlegt, was sie tun soll.
Fred geht um sie herum. Langsam. Jetzt steht er gemeinsam mit Raph vor ihr.
Sie reicht Raph ihre Tasche.
Auf den Boden!
Sie ist konsterniert, lacht ungläubig und schüttelt den Kopf. Ihre Haare glänzen in der Sonne.
Raph zuckt nicht einmal mit der Wimper.
Sie kniet sich hin und leert ihre Tasche aus. Vor Raphs schweren Schuhen mit den darübergeschnallten Gamaschen.
Mit seinem Fuß verteilt Raph den Tascheninhalt auf dem Beton.
Ich sehe ein Portemonnaie, einen Schlüsselbund, ein Taschentuch, ein Buch, Tampons, ein Paar Latexhandschuhe und eine Flasche Desinfektionsmittel. Das gleiche, das wir auch haben.
Raph und Fred laufen weg.
Die Frau blickt mich an.
Das Gewehr liegt schwer in meinen Händen. Ich schaue hinauf zur Kornhausbrücke. Man kann den Straßenverkehr hören, wenn man sich anstrengt.
Die Frau packt ihre Sachen zusammen. Dann steht sie auf und geht. Ihr Zug ist abgefahren.
Raph und Fred kehren zurück. Sie starren der Frau nach.
Am alten Bahnhof Letten hält ein Krankenwagen mit Blaulicht und Martinshorn.
Zeitverschwendung, denke ich.
8.
»D?« Johanna di Napoli hatte sich verschluckt. Hustend stellte sie das Wasserglas ab. »Du hast echt eine D-Quali erhalten?«
»Nicht so laut, Jo! Charlie steht da drüben.« Köbi Fuhrer balancierte ein Stück Fleischkäse zu seinem Mund. »Einem alten Sack wie mir kann das egal sein. Mehr Geld ist sowieso nicht drin, Leistungslohn hin oder her. Ich bin am Ende der Skala angelangt. Vor Jahren schon.« Er biss ab.
Johanna schaute sich um. Eine beachtliche Anzahl Leute war erschienen zur Verabschiedung eines Mannes ohne bemerkenswerte Eigenschaften.
In gewohnter Steifheit stand Hanspeter Trüb am oberen Ende des Raumes. Neben ihm der Chef des Kommissariats Industrie, im Plaudermodus. Höflich lächelnd hörte Trüb zu, wie sich sein Vorgesetzter und sein Nachfolger unterhielten.
Der neue Postenchef hieß Eduard Leuenberger. Seine Laufbahn war im letzten STAPO-Intern gewürdigt worden: Lehre als Feinmechaniker, einige Jahre Berufstätigkeit, Polizeischule, Streifenwagendienst, Seepolizei, Revierdetektiv und nun Chef des Detektivpostens Aussersihl. Er war eine Kopie seines Vorgängers, lediglich fünfzehn Jahre jünger: schlecht sitzender Anzug, leicht gebeugte Körperhaltung, faltiges Gesicht. Angestrengt folgte Leuenberger den Ausführungen des Kommissariatsleiters, was er von nun an bis zum Karriereende tun würde. Auch so verging ein Polizistenleben.
Hinter den dreien stand Charlie Brunner, aufrecht wie ein Feldherr. Ab und zu nippte er an einem Weißweinglas, das in seiner Pranke wie ein Fingerhut wirkte. Er hatte die Situation im Griff. Chef hin, Chef her.
»Außerdem ist das abgemacht.« Köbi spülte mit Bier nach.
»Ihr habt die Quali abgesprochen, Charlie und du?« Erneut schenkte sich Johanna Wasser ein.
Die Tische waren an die Wand gestellt worden. So bot der Raum genug Platz für die Gäste. Trübs Ehefrau hatte nicht nur Tischtücher mitgebracht, sondern auch Blumen. Es sah aus wie in einer Altersheimkantine.
Instinktiv hatten sich Köbi und Johanna den ersten Tisch ausgesucht, nahe am Eingang und weit entfernt von ihren Vorgesetzten. Dort standen die beiden, seit der Apéro begonnen hatte. Johanna reduzierte den Wasservorrat, Köbi kümmerte sich um das Bier. Ab und zu holte er bei Trübs Frau ein Stück heißen Fleischkäse, sein Sonntagslächeln im Gesicht.
»Bist du sicher, dass du nichts Anständiges trinken willst?« Köbi prostete Johanna zu.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte kürzertreten, was Alkohol und Nikotin angeht.«
»Was die Liebe aus einem Menschen machen kann!« Augenzwinkernd setzte er die Flasche an.
»Ach, du meine Güte!« Johanna stöhnte. »Das höre ich nun schon zum zweiten Mal heute. Charly und du, ihr glaubt beide, dass es einen Mann braucht, um mein Leben zu verändern.«
»Schon gut, war nicht persönlich gemeint!«
Allmählich wurde es eng in dem Raum, denn immer mehr Gäste tröpfelten herein. Vorwiegend ältere Semester, die meisten ehemalige Kollegen aus Trübs Zeit bei der Sicherheitspolizei und in der Betäubungsmittelsachbearbeitung. Nachdem sie vom Frontdienst abgezogen worden waren, hatte es sie auf alle möglichen Posten verschlagen, auf denen sie die Zeit bis zur Rente absaßen.
Johanna stupste Köbi mit dem Ellbogen in die Seite. »Jetzt stell dich nicht so an, erzähl mir mehr über deinen Kuhhandel mit dem Boss!«
»Ach«, meinte Köbi gleichgültig. »Vor einem Jahr hat die Kommandantin die Offiziere zusammengestaucht. Wegen der Mitarbeiterbeurteilungen. Die gesamte Truppe hat mehr oder weniger dieselbe Note erhalten hat: lauter C.« Er runzelte die Stirn. »Dabei ist doch klar, dass niemand D oder E verteilt. Aber du kennst die Alte: immer mit dem Kopf durch die Wand. Also hat sie Quoten eingeführt. Höchstens so und so viele C, mindestens so und so viele D und so weiter.« Er lachte verächtlich. »Dreimal darfst du raten, was die feinen Herren gemacht haben.«
»D und E verteilt?«
»Das glaubst du nicht im Ernst, Mädchen! Natürlich wurden die schlechten Noten weiterdelegiert. Immer schön der Fresskette entlang nach unten. Als der Fisch bei Charly angelangt ist, hat er bereits mächtig gestunken.« Köbi stellte die leere Flasche auf den Tisch und griff nach einer vollen. »Also habe ich ihm angeboten, freiwillig ein D zu übernehmen. Damit war er beinahe schon aus dem Schneider. Klar, bei einem so kleinen Team! Wenn er im Sekretariat noch ein D loswird, hat er seine Quote erfüllt.« Listig grinsend setzte er die neue Flasche an. »Und das, ohne jemandem wehzutun, der zur Gewerkschaft rennen könnte.«
»So läuft das also.« Johanna beobachtete, wie die Sekretärin am Büfett Brot schnitt. »Der alte Mann und die Tippse bezahlen die Rechnung für die Feigheit der Bosse.« Sie boxte Köbi in die Seite. »Was hast du dafür gekriegt?«
»Nichts Besonderes.« Köbi gluckste verschmitzt. »Lediglich ein paar freie Wochenenden.«
»Schlitzohr!« Johanna deutete auf die Sekretärin. »Und sie?«
»Keine Ahnung. Jeder muss sich selbst wehren.«
»Was du nicht sagst!«
Im Eingang erschienen alte Bekannte: Sebastian Schürch und Erich Müller von der Kripo in Begleitung einer jungen Frau. Johanna hatte sie einige Male in Uniform gesehen. Die drei begannen die Begrüßungsrunde auf der Chefseite.
»Was schenken wir Trüb zum Abschied?«
»Das weiß ich doch nicht.« Abermals schlenderte Köbi zum Tisch mit dem Fleischkäse.
Johanna musterte Schürchs und Müllers Begleitung. Blond, sportlich, beinahe athletisch. Kein Gramm zu viel am Leib. Sie wandte den Blick von der Kollegin ab und starrte in ihr Glas. Was wie Wasser aussah, war Wasser. Weniger Kalorien konnte man gar nicht zu sich nehmen. Trotzdem würde sie übers Wochenende schwimmen gehen. Das tat sie seit Monaten. Seit sich ihr Verhältnis mit Max vom One-Night-Stand über die Affäre zu einer veritablen Beziehung entwickelt hatte. Sie hatte nicht vor, auseinanderzugehen wie eine Matrone, nur weil sie endlich einen festen Freund hatte.
Begonnen hatte es damals mit einer alkoholdurchtränkten Nacht, von der ihr nur das Kopfweh in Erinnerung geblieben war. Später hatte sie ihn zufällig wiedergetroffen. Erstaunlicherweise hatte es ein zweites Mal gefunkt.
Zur Probe hatten sie ein komplettes Wochenende im Bett verbracht. Dann noch eins. Und noch eins. Anschließend waren sie ausgegangen. Essen, ins Kino, auf eine Vernissage, sogar zu einer Podiumsdiskussion über Stadtentwicklung. Mittlerweile kannte Johanna Freunde ihres Freundes. Wenn es in diesem Tempo weiterging, würde sie bald seinen Eltern vorgestellt werden. Sie war gespannt, wie diese darauf reagieren würden, dass ihr Sohnemann mit einer älteren Frau zusammen war.
»Gut siehst du aus, Frau!«
Johanna schreckte aus ihren Gedanken auf. Grazia della Putta stand vor ihr, fröhlich strahlend und mit ausgebreiteten Armen. Sie herzten sich.
»Lange nicht gesehen! Wo hast du gesteckt? Bei der SoKo bist du jedenfalls nicht mehr.«
Grazia zog die Augenbrauen hoch. »Also zuerst habe ich am Polizeiinstitut in Neuenburg eine Weiterbildung in Jugendpolizei gemacht, danach ein Praktikum beim Jugenddienst in Bern, nachher eines im Tessin. Und jetzt mische ich die Kids in Zürich auf. Die finden das super!«
»Das glaube ich sofort.« Johanna grinste. »Ich kann mir ganz genau vorstellen, wie du einen Möchtegerngangster beim Autoknacken erwischst und ihn am Kragen packst. Dann wird er vor Ehrfurcht im Boden versinken.« Sie machte eine dramatische Geste. »Aber was passiert, wenn du deinen Dienstausweis zeigst und sagst ›Grüezi, della Putta, Stadtpolizei‹?«
»Vorsicht, Bitch!« Grazia besaß ein Lachen, das Amtshäuser zum Einstürzen brachte. »Mackern den Allerwertesten versohlen ist meine Kernkompetenz.«
»Kaum seid ihr beiden Kampfweiber zusammen, wird es ungemütlich.« Köbi deutete in die Runde. Die Köpfe der anderen drehten sich wieder weg.
»Ach, Fuhrer. Johanna wird sogar aus dir noch einen Frauenversteher machen.« Grazias Donnerlachen verhallte im Rücken der Gäste. »Lasst uns anstoßen! Trüb ist Weinkenner.«
»Damit beißt du auf Granit bei der da!« Mit der Bierflasche zeigte Köbi auf Johanna.
»So? Da hat sich aber viel verändert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Was ist denn los?«
»Ich brauche eine Pause.«
Grazia seufzte theatralisch. »Das steht dir gar nicht, Jo.« Sie ging zum Tisch und kam mit Weißweingläsern zurück. »Los, komm schon, nur zum Anstoßen! Auf unser Wiedersehen!«
»Also gut.« Johanna nahm das Glas und hielt es den anderen beiden entgegen. Nachdem sie sich zugeprostet hatten, nahm sie einen klitzekleinen Schluck.
»Die Party ist immer da, wo ihr seid!« Schürch, Müller und die Blonde waren am Ende ihrer Begrüßungsrunde angelangt.
»Das ist Hürlimann Nicole«, stellte Erich Müller die Neue vor. »Sie ist seit Kurzem in unserem Team.«
»Freut mich, Nicole«, Johanna hob das Glas.
Die andere prostete ihr zu. Mit Wasser. »Ich habe ein wichtiges Turnier am Wochenende«, meinte sie entschuldigend. »Darum muss ich noch mehr als sonst auf meine Ernährung achten. Alkohol kommt sowieso nicht infrage.«
»Nicole wird Schweizer Meisterin im Judo.« Müller klopfte seiner jungen Kollegin auf die Schulter. Dabei musste er seinen Arm weit nach oben strecken, denn sie war um einiges größer als er.
»Ich gehe dem alten Mann die Pfoten schütteln.« Grazia deutete auf Trüb. Dieser stand immer noch an derselben Stelle wie zuvor. Mittlerweile war seine Frau bei ihm.
»Wie geht es?« Johanna blickte Schürch an.