Saubere Wäsche - Michael Herzig - E-Book

Saubere Wäsche E-Book

Michael Herzig

3,7

Beschreibung

Johanna di Napoli, Kriminalbeamtin der Stadtpolizei Zürich und als 'Quotenfrau' häufig den Anfeindungen ihrer männlichen Kollegen ausgesetzt, ermittelt im Fall einer brutalen Vergewaltigung und eines Doppelmordes. Bei ihren Nachforschungen stößt sie immer wieder auf Werner Hügli, den Chef einer großen Reinigungsfirma, der sich auch durch schmutzige Geschäfte einen Namen gemacht hat. Da die lokale Politprominenz gern in seinen Rotlichtetablissements verkehrt, gerät Johanna zunehmend unter Druck: Ihr Chef erwartet höchste Diskretion, die Öffentlichkeit Erfolge und der Großteil ihrer Kollegen ihr Scheitern. Als dann noch herauskommt, dass ihr der Ehemann einer Hauptzeugin nähersteht als erlaubt, muss Johanna alles auf eine Karte setzen ...

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Seitenzahl: 378

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Ein Doppelmord in einer Wäscherei und eine brutale Vergewaltigung – Johanna di Napoli, ›Quotenfrau‹ bei der Zürcher Stadtpolizei, gerät zunehmend unter Druck: Ihr Chef erwartet höchste Diskretion, die Öffentlichkeit Erfolge und der Großteil ihrer Kollegen ihr Scheitern.

© 2007 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de/

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Peter Bucker

Umschlagfoto: Nils Winkler, photocase

eISBN 978-3-89425-971-6

Michael Herzig

Der Autor

Michael Herzig, 1965 in Bern geboren, hat nach dem Abitur zunächst als Musikjournalist und Schallplattenverkäufer gearbeitet, sich als Rockmusiker versucht und lebt seit seinem Geschichts-, Staatsrechts- und Politologiestudium in Zürich. Seit 1998 arbeitet er im Sozialbereich und kennt dadurch auch die dunklen Seiten der Stadt bestens.

Saubere Wäsche ist der erste Roman mit Johanna di Napoli. Für seine Krimis über die eigensinnige Ermittlerin wurde Michael Herzig mehrfach für den Zürcher Krimipreis nominiert und mit dem hochdotierten Literaturförderpreis des Kantons Zürich ausgezeichnet.

Vorbemerkung

Saubere Wäsche

Donnerstag

Here I am

it's me against you

Biggles, Colossus

1.

»Tritt die Freier in die Eier, Jo.«

Das hatte ihr Köbi Furrer zugeflüstert, bevor es losgegangen war. Nun rannte Johanna di Napoli die Treppe hoch. Ihr war der dritte Stock zugeteilt. Vor ihr stürzte Kay mit seiner Gruppe in den vierten hinauf. Köbi keuchte ihr in den Nacken. Auf dem obersten Treppenabsatz ließ sie ihn und die Einsatzgruppe vorbei. Ein Hauch von Köbis Fahne erwischte sie. Er hetzte mit einer uniformierten Beamtin durch den Gang und polterte an eine Tür. Zwei andere Polizisten begannen auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs mit der Durchsuchung der Zimmer. Johanna sicherte mit einer jungen Kollegin den Treppenaufgang. Irgendwie rochen diese Absteigen alle gleich. ›Hühnerstall ausmisten‹ hieß eine Bordellrazzia im Jargon.

»Komm mal her, Jo«, rief Köbi und trat aus einem der Zimmer.

Di Napoli wies die Kollegin an, ihren Posten an der Treppe nicht zu verlassen, und ging zu ihm. Ein seltsamer Glanz lag in seinen Augen. Nicht lüstern, nicht aggressiv. Wässrig, erwartungsvoll.

Er deutete mit dem Kopf in das Zimmer. Dort lag ein Mädchen auf dem Bett. Noch fast ein Kind. Nackt. An Händen und Füßen mit gelben Bergsteigerseilen ans Bett gefesselt. Die Beine weit gespreizt. Die farbigen Fesseln in grellem Kontrast zur dunklen Haut.

Daneben stand ein Freier und knöpfte sich die Hosen zu. Er war groß und kräftig, Mitte fünfzig und hatte gefärbte, nach hinten gekämmte Haare. Schwarz mit einem leichten Rotstich. Er schaute Johanna geradewegs in die Augen. Ein kalter, obszöner Blick.

»Raus!« Johannas Stimme zitterte. Der Freier ging betont lässig an ihr vorbei.

»Überprüf ihn«, sagte sie zu Köbi und schloss die Tür. Dann begann sie, die Fesseln des Mädchens zu entfernen. Sie hinterließen rote Male. Dabei sprach Johanna mit der Kleinen, zuerst auf Deutsch, dann auf Spanisch. Das Mädchen sagte nichts und schaute die Polizistin nur an. Ängstlich und beschämt. Johanna konnte keine Verletzungen feststellen. Äußerlich.

Als sie das Mädchen losgebunden hatte, gab Johanna ihm eine Decke. Dann zog sie sich Latexhandschuhe über und untersuchte die Kleidung der Kleinen. Sie fand etwas Geld, aber keinen Ausweis. Seufzend blickte sie auf das Bündel in ihren Händen. Wenig Stoff für einen Novemberabend.

Mittlerweile waren alle Zimmer durchsucht und sämtliche Anwesenden zusammengetrieben worden. Die Frauen in einem Raum, die Freier in einem anderen. Johanna brachte das Mädchen zu den übrigen Prostituierten. Es waren nur drei Frauen in ihrem Stockwerk. Für einen Donnerstagabend war nicht viel los.

Köbi stand in der Tür zu dem Zimmer mit den Freiern und schaute zu, wie ein Kollege die Papiere eines hageren Mannes kontrollierte. Vor Köbi hatte sich ein kleiner, elegant gekleideter Glatzkopf aufgestellt, der ihm auf Italienisch einen Vortrag über Freiheitsrechte und Polizeigewalt hielt. Einen ungeeigneteren Zuhörer hätte er sich nicht aussuchen können.

»Wo ist der Sadist?«

»Habe ihn gehen lassen.« Köbi blickte sich nicht einmal um.

»Bist du wahnsinnig geworden?« Johanna zwang sich, ruhig zu bleiben.

»Gegen ihn liegt nichts vor. Außerdem haben wir seine Daten.«

»Er hat das Mädchen misshandelt. Sie ist vielleicht noch im Schutzalter.«

»Die sind nie zu jung dafür«, brummte Köbi.

»Du blödes Arschloch!« Johannas Stimme überschlug sich. Der Redefluss des Italieners versiegte. »Du machst das hier zu Ende. Wenn ihr mit den Leuten fertig seid, holt ihr die Betäubungsmittelfahndung und die Hunde und sucht alles nach Stoff ab.«

Ihr wurde schlecht. Sie holte sich das Mädchen, winkte die Beamtin herbei, die noch immer am Treppenaufgang wartete, und ging mit den beiden nach unten. Vor dem Haus stand ein massives Aufgebot an Polizeiautos. In den Fenstern gegenüber spiegelten sich die Blaulichter der Streifenwagen und die Leuchtreklame der Bar im Erdgeschoss. Caliente.

Das Lokalfernsehen war bereits vor Ort. Der Kollege vom Informationsdienst lächelte eine Journalistin an. Daneben stand Charlie Brunner im Gewühl und dirigierte die Uniformierten herum. Im Büro war er der strenge, aber gerechte Vorgesetzte, im Einsatz der Feldherr, der den Abtransport der eroberten Schätze überwacht. Er blickte Johanna fragend an. Sie deutete auf das Mädchen und ging mit ihm und der Polizistin zu einem der Transporter. Johanna versuchte, die Kleine vor den Blicken der Gaffer abzuschirmen, während diese unbeholfen in den Wagen stieg.

»Du passt auf sie auf«, befahl sie der Polizistin. »Sie muss ärztlich untersucht werden. Ich will wissen, ob wir etwas gegen den Kerl in der Hand haben.«

Die junge Frau nickte nur. Johanna kannte sie nicht. Wahrscheinlich hatte eine neue Klasse ihren ersten Dienst bei der Uniformpolizei begonnen.

»Wie heißt du eigentlich?«

»Grazia.«

»Okay, Grazia, ich bin Johanna. Tut mir leid, dass ich etwas grob war. Wenn Köbi solche Dinge dreht, könnte ich ihn umbringen. Wahrscheinlich kennt er diesen Freier. Köbi kennt alle im Milieu.«

2.

»Vierzehn Frauen, dreizehn Männer. Vier Brasilianerinnen, drei Thailänderinnen, drei aus Kamerun, eine Tschechin, eine aus der Ukraine, eine aus der Dominikanischen Republik und eine Schweizerin. Drei Türken, zwei Kroaten, ein Franzose, ein Marokkaner, sechs Schweizer. Zweihundert Gramm Kokain, zwei Faustfeuerwaffen.«

Hanspeter Trüb blickte in die Runde. Schweißflecken gediehen unter seinen Armen. Der Schlussrapport nach getaner Arbeit war seine Stunde. Die Stunde des Chefs. Das Einsatzkommando war in der Regionalwache Aussersihl versammelt. Johanna di Napoli saß neben Grazia. Zivil neben Uniform. Als Johanna bei der Polizei begonnen hatte, mussten sie noch abteilungsweise zum Rapport antreten. Heute setzten sich einfach alle irgendwo hin. Meistens abteilungsweise.

Johanna wandte sich Grazia zu. »Was ist mit dem Mädchen los?«

Grazia zuckte die Schultern. »Nichts. Keine Verletzungen, nicht mal Geschlechtsverkehr. Aber abgeschoben wird sie. Nach Brasilien.«

»Wie alt?«, flüsterte Johanna.

»Die jüngste Frau ist achtzehn Jahre, die älteste zweiundvierzig. Die Männer sind zwischen einundzwanzig und siebenundfünfzig Jahre alt.«

Trüb war am Ende seiner Rede angelangt. Er hatte eine monotone, schnarrende Stimme, in die er nun ein ganz kleines bisschen Euphorie legte. »Zwei der Männer sind ausgeschrieben und können der Staatsanwaltschaft zugeführt werden. Die Drogen lassen sich leider niemandem eindeutig zuordnen. Ihr wisst, wie schwierig das ist. Dafür werden zwölf Frauen dem Migrationsamt zur Ausschaffung übergeben. Verstoß gegen das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer. Ausgenommen eine Dominikanerin mit Niederlassung.« Trüb stockte und blickte auf seine Unterlagen. »Und der Schweizerin natürlich.«

»Die könnt ihr meinetwegen mit ausschaffen«, murmelte einer in der Reihe hinter Johanna.

»Den Kolleginnen und Kollegen der anderen Wachen danke ich für die tatkräftige Unterstützung. Polizisten sind in Aussersihl immer willkommen.« Die Angesprochenen lachten brav. »Ihr könnt euch jetzt bei Charlie Brunner für die Abrechnung der Überstunden eintragen.«

Das war das übliche Ritual. Brunner leitete anstelle des Chefs die Einsätze und musste zum Abschluss die Administration übernehmen, damit die Hierarchie wieder hergestellt war.

Grazia und Johanna reihten sich in die Kolonne ein. Köbi Furrer kam auf sie zu.

»Die kleine Nutte ist achtzehn«, sagte er so laut, dass es die anderen hören konnten. »Alt genug zum Anschaffen. Und auch nicht zu jung zum Ausschaffen.«

Johanna holte Luft, doch Kay kam ihrer Antwort zuvor. »Wollen wir wetten, von welchem der beiden Dinge du mehr verstehst, Köbi?«

Daraufhin stellte sich Köbi schweigend in die Kolonne und blickte verlegen zu Boden.

Als Johanna bei Charlie angelangt war und das Formular ausfüllte, schaute er sie scharf an. »Du kommst nachher zu mir. Ins Büro.«

Johanna nickte nur. Sie brauchte dringend eine Zigarette und ging die Treppe hinunter in den Hinterhof. Es war früher Morgen und ziemlich kalt. In den umliegenden Häusern waren einige Zimmer erleuchtet. Nebelschwaden standen über den Dächern. Von Weitem hörte Johanna den Straßenverkehr der Langstraße. Besser als Liebesgeräusche aus einem der Fenster zum Hof, die hätte sie jetzt schlecht ertragen.

Sie warf die Zigarette weg und ging wieder ins Haus. Auf der Treppe begegnete sie Grazia und ein paar anderen Uniformierten.

Grazia winkte ihr zu. »Wir gehen nochmals auf die Gasse«, sagte sie. Johanna fielen erst jetzt ihre dunklen Augen auf. Fast schwarz und lebhaft. »Unsere Schicht ist noch nicht zu Ende.«

»Meine auch nicht«, stöhnte sie und nahm zwei Stufen auf einmal. Ein Gespräch mit Charlie Brunner brachte man besser schnell hinter sich.

Er erwartete sie in seinem Büro. Auf dem Schreibtisch stand ein Foto aus seiner Zeit bei der Uniformpolizei. Ein Bajonett der Schweizer Armee hing an der Wand. Inmitten dieses Ensembles stand Charlie. Hünenhaft, stechender Blick, dicker Schnauzer und Glatze. Johanna erinnerte sich, wie er den Männern verboten hatte, im Dienst Ohrringe zu tragen. »Das sieht schwul aus«, hatte er beim Bier nach Feierabend gesagt. »Damit bist du bei der Kundschaft unten durch.« Die Wand hinter ihm wirkte extrem weiß.

»Du hast dich wieder mit Köbi angelegt«, sagte er ohne Begrüßung. »Er ist ein Wrack und fällt auseinander. Aber du bist eine Polizistin mit Zukunft. Ich erwarte, dass du dich zusammennimmst.«

Wie immer konnte er schlecht verbergen, wie sehr er Johanna mochte. Sie dachte an einen seiner Standardsprüche: ›Mir ist egal, ob einer einen Zipfel hat oder ein Schnäggli. Was zählt ist die Leistung.‹

Johanna schaute das Bajonett an und versuchte, nicht zu lachen. »Er hat einen gewalttätigen Freier gehen lassen, bevor ich ihn befragen konnte«, sagte sie. »Ich hatte die Gruppenleitung, nicht er.«

»Aber du hast dich von deinem Posten entfernt. Wenn du das Kommando hast, bleib gefälligst bei deinen Leuten. Bis zum Schluss!« Er wurde jetzt lauter. Charlie Brunner war bekannt für seine kurze Zündschnur. Darum war er auch nie Kommissariatsleiter geworden. »Außerdem war der Freier nicht nachweislich gewalttätig.«

»Sind Fesseln keine Gewalt?«

»Nicht, wenn die Frau das freiwillig macht und dafür bezahlt wird! Das weißt du genau. Wir sind hier bei der Polizei, nicht im Frauenhaus.«

Johanna sagte nichts und schaute zu, wie Reue in seinen Blick schlich.

»Schau, du bist sowieso schon als Emanze verschrien. Mach es dir doch nicht noch schwerer.«

»Deshalb soll ich alles doppelt korrekt machen? Während andere mal locker ein Auge zudrücken?«

»Köbi hat genau gewusst, dass er den Freier gehen lassen konnte. Er weiß, dass ich ihn im Visier habe, und riskiert nichts.«

»Ich bin sicher, dass er den Typen gekannt hat. Köbi hat dem doch einen Gefallen getan.«

Charlie wurde wieder streng. »Auch für Köbi gilt die Unschuldsvermutung. Außerdem ist der Freier stadtbekannt. Das ist Werner Hügli. Der mit dem Putzinstitut. Kennst du den nicht? Seine Werbung fährt mit jedem Tram mit.«

Johanna lachte bitter. »›Hüglis Cleanteam, das Dreamteam‹! Vielleicht müssten wir seiner Werbeagentur den Rapport vom Caliente schicken. Daraus ließe sich der eine oder andere Slogan kreieren.«

»Das würde nicht viel nützen, Jo. Alle wissen von seinen Schweinereien. Das gehört zum Image.« Charlie wechselte nun in die väterliche Rolle, in welcher er Gespräche dieser Art meistens beendete. »Du bist eine der Besten in meinem Team, Jo. Also verhalte dich auch so.«

Johanna ging zurück an ihren Arbeitsplatz. Es war kurz vor drei Uhr morgens. Zeit, nach Hause zu gehen. Sie drückte auf die PC-Tastatur und gab ihr Passwort ein. Ohne ihre Mails anzuschauen, beendete sie alle Programme. Die Post konnte warten. Nur noch der Desktop war zu sehen. Sie hatte ein Foto ihrer Großmutter eingelesen und verwendete es als Bildschirmhintergrund. Es war eines der wenigen Porträts der Großmutter als junge Frau. Sie trug eine Tracht und blickte mit ernstem Blick in die Kamera. Quer über dem Bild verteilt waren die Programmverknüpfungen. Word war mit Ficken angeschrieben, Excel mit Blasen, Outlook hieß Pornstar 69.

Johanna stockte der Atem. Sie löschte sämtliche Verknüpfungen und schaltete den Computer ab.

Freitag

It's a hot day

and I'm dressed lightly

I move carefully

through the crowd

Björk, Crying

3.

Sie schaute an sich herunter. Soweit sie das beurteilen konnte, saß die Uniform. In dem blauen Stoff kam sie sich jung und unerfahren vor wie damals, als sie geschworen hatte, als Polizistin würdig und aufrichtig zu handeln. Das war in der Kirche St. Peter gewesen, wo die Vereidigungen der Stadtpolizei stattfanden.

Heute stand sie in der Eingangshalle der Hauptwache, was nicht weniger feierlich war. Bei der altehrwürdigen Halle handelte es sich um das ehemalige Gewölbe des städtischen Waisenhauses, das in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts zum Eingang des neuen Amtshauses umgebaut worden war. Decke und Wände waren mit Fresken in verschiedenen Rottönen bemalt.

Johanna di Napoli liebte diesen Raum. Die meisten ihrer Kollegen fanden ihn zu proper für eine Polizeiwache, aber die Kommandantin teilte Johannas Vorliebe. Sie hielt ihre Pressekonferenzen meistens hier ab; in diesem Raum kam sie gut zur Geltung. Ihr Chef allerdings, der Stadtrat, hatte sich mit den Restaurationskosten für dieses exquisite Bijou beinahe um Kopf und Kragen gebracht.

Die Polizeikommandantin sprach nunmehr seit einer guten halben Stunde. Sie strahlte selbstbewusst in die Runde. Neben ihr wirkte der Stadtrat wie ein pickliger Schuljunge, der mit bedeutsamem Kopfnicken den Ausführungen seiner Lehrerin folgte. Der Pressesprecher hielt mit bocksteifem Rücken, über dem Kreuz verschränkten Händen und wachem Blick dagegen.

Johanna wusste nicht so recht, welche Haltung sie einnehmen sollte. In den letzten fünfundvierzig Minuten hatte sie alle möglichen Stellungen ausprobiert, dabei hätte sie es vorgezogen zu sitzen.

Endlich bog die Kommandantin in die Zielgerade ein. Ein Ruck ging durch die Journalisten. Einige klappten ihren Block zu, andere kontrollierten das Aufnahmegerät. Der Kameramann vom Lokalfernsehen wechselte ein letztes Mal seinen Standort.

Die Polizeichefin dankte dem Stadtrat für die Unterstützung des Frauenförderungsprogramms. Frauen in einer Männerdomäne wie der Polizei gezielt zu fördern, sei ein gewagtes Experiment. Aber eines, dessen Erfolg ihr recht gebe. Sie lächelte Johanna an. »Vor fünf Jahren hat sich Wachtmeisterin di Napoli für die Polizeilaufbahn entschieden. Ein Beruf, den sie ohne unser Frauenförderungsprogramm sicher nicht gewählt hätte. Sie wurde direkt zur Kriminalbeamtin ausgebildet und ist heute eine hervorragend qualifizierte Polizistin mit einer Spezialausbildung in den Fachbereichen Häusliche Gewalt und Sexualdelikte. Als Revierdetektivin ist Frau di Napoli eine tragende Stütze der Regionalwache Aussersihl. Und Aussersihl ist kein Schleck für die Polizei, das wissen Sie.«

Die Kommandantin verwendete ab und zu Ausdrücke, die sie für volkstümlich hielt.

»Nach wie vor absolvieren nur wenige Frauen die Polizeischule. Doch gerade die Polizei braucht weibliche Stärken: Intuition, Einfühlungsvermögen, Durchhaltewillen.«

Einige Journalisten lachten. In dieser Säulenhalle klang es wie das Grölen von Fußballfans. Johanna di Napoli schien es, als ob sich die Lacher dabei selbst am meisten erschreckten. Aber auch die Chefin hielt einen kurzen Moment inne.

Nach einem Blick auf ihr Manuskript fand sie den Anschluss wieder. »Die Resultate der ersten fünf Jahre unseres Programms zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir werden mit gezielter Frauenförderung die Durchschlagskraft und den Erfolg unserer Polizei weiter erhöhen.« Sie hatte zum Polizeivokabular zurückgefunden. »Möge das Beispiel von Wachtmeisterin di Napoli möglichst viele junge Frauen ermutigen, die Polizeilaufbahn einzuschlagen, um unser Korps mit Courage und einer Prise Leidenschaft zu verstärken.«

Einen Moment lang blieb es still im Saal. Dann ergriff der Stadtrat das Wort. Er dankte den Anwesenden für die Aufmerksamkeit und teilte ihnen mit, dass sowohl die Kommandantin als auch Wachtmeisterin di Napoli nun für Fragen zur Verfügung stünden.

Erneute Stille. Davor hatte der Pressesprecher Johanna gewarnt. »Journalisten stellen keine Fragen, wenn andere zuhören. Die wollen alles exklusiv haben.«

Den halben Morgen hatte er Johanna auf diese Pressekonferenz vorbereitet. Sie hatten an ihrer Rede gefeilt. So sah er es zumindest. Sie hatte um ihre Rede gekämpft. Schreiben konnte sie nämlich. Argumentieren auch. Doch er hatte ihren gesamten Text zusammengestrichen bis auf die bloße Biografie: in fünf Jahren von der Übersetzerin zur Revierdetektivin. Punkt. Als wäre dies eine logische und zwangsläufige Entwicklung gewesen. Als hätte es keine Kämpfe gegeben und keine Zweifel. Und vor allen Dingen, als wäre es dies nun gewesen.

Johanna konnte ihn nicht ausstehen. Vordergründig war er korrekt und jovial. Aber im Grunde hasste er Johanna. Nicht sie als Person, aber ihre Karriere. Dass sie den normalen Weg zur Polizistin umgangen und nicht auf die harte Tour gelernt hatte, sich dem Korpsgeist unterzuordnen. Dass ihr die Initiationsriten auf der Gasse erspart geblieben waren. In einem unbeobachteten Moment in einer dunklen Ecke oder bei einem Demonstrationseinsatz. Dafür hasste er sie. Deshalb verstümmelte er ihre Biografie zu einer Anreihung von Fakten.

So hatten sie bis kurz vor Beginn der Pressekonferenz um den Text gestritten. Eigentlich hätte die Vorbereitung dazu dienen sollen, einige fiktive Interviews durchzuspielen. Für nachher, wenn Johanna von den Journalisten persönlich befragt wurde. Doch dafür hatte die Zeit nicht mehr gereicht. Aus diesem Grund stellte sich der Pressesprecher neben Johanna, noch bevor der Stadtrat den offiziellen Teil beendet hatte.

Die meisten Journalisten bestürmten die Kommandantin. Vor allem Vertreter der elektronischen Medien. Denn die Polizeichefin war bekannt für ihre kernigen Aussagen.

Zu Johanna kam einer, der sie bereits die ganze Zeit über angestarrt hatte. Er war hager und hatte kurz geschnittene, schwarze Haare. Er mochte gleich alt sein wie Johanna. Als er nun mit ihr sprach, vermied er direkten Blickkontakt. »Sie sind also ohne praktische Erfahrung zur Polizei gegangen, Frau di Napoli?«

»Ich war in Genf an der Dolmetscherschule und habe nachher als Übersetzerin gearbeitet. Das ist eine recht praktische Arbeit.«

»Gleichwohl sind Sie als Übersetzerin eher eine Theoretikerin. Ich meine, verglichen mit der Polizeiarbeit. Haben Sie sich deshalb auf häusliche Gewalt und Sexualdelikte spezialisiert?«

»Häusliche Gewalt ist etwas sehr Reales, nichts Theoretisches. Nicht nur, weil sie fast in den meisten Haushalten vorkommt.«

Der Pressesprecher wurde unruhig, behielt jedoch sein Lächeln auf den Lippen.

»Kam das Frauenförderungsprogramm nur zustande, weil die Polizei zu wenig Frauen zur Betreuung von geschlagenen Frauen hatte?«

»Das ist eine Suggestivfrage, Dani. Das ist unfair. Frau di Napoli hat keine Übung im Umgang mit Medien.«

Schwein. Sie hatte sehr wohl Erfahrung im Umgang mit suggerierenden Männern. »Ich habe eine Ausbildung als Kriminalbeamtin gemacht, keine Anlehre als Hausfrauenbetreuerin. Ich kann bei jeder Einheit arbeiten, nicht nur im Spezialteam Häusliche Gewalt.«

Der Journalist notierte eifrig.

Der Pressesprecher lächelte gequält. »Das meint Frau di Napoli natürlich ironisch, Dani. So etwas kannst du nicht zitieren. Darin sind wir uns doch einig. Sie meint damit, dass die Spezialabteilung Häusliche Gewalt mehr macht als bloße Opferhilfe. Was zweifellos so ist, Dani. Das solltest du nicht unterschätzen.«

Der Journalist verzog keine Miene. »Offensichtlich bringen Sie die Prise Leidenschaft mit, die Ihre Chefin bei den männlichen Polizisten vermisst. Ist das wirklich ein Vorteil in diesem Beruf?«

»Wenn man hinter dem stehen kann, was man tut, ist es jedenfalls kein Nachteil. Dann kommt die Leidenschaft von selbst. Sogar bei den Männern. Manchmal.«

»Seien Sie nett zu Frau di Napoli, Herr Berg! Sie ist eine ausgezeichnete Polizistin.« Die Kommandantin erlöste sie.

Der Journalist grüßte verhalten. Der Pressesprecher entspannte sich. Johanna hätte ihn gerne noch etwas gequält, war aber gleichzeitig froh, die Journalisten ihrer Chefin überlassen zu können. Johanna mochte sie. Sie war direkt und ohne hierarchischen Dünkel. Außerdem hatte sie einige Reformen durchgebracht und lebte offen mit ihrer Freundin zusammen. Ihre majestätischen Allüren allerdings waren ätzend. Johanna konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sich dahinter Taktik versteckte oder echter Narzissmus.

Die Polizistin nutzte die Intervention der Kommandantin, um sich zu verabschieden. Die Journalisten umringten nun den Stadtrat. Er nickte ihr freundlich zu, als sie an dem Pulk vorbei zur Treppe ging.

Sie ging hoch in die Cafeteria im dritten Stock. Als sie die Schwingtür öffnete und eintrat, drehten sich ihr die Köpfe sämtlicher Anwesender entgegen. Fast wie zuvor bei den Journalisten. Sie ging direkt zur Kaffeemaschine und holte sich einen doppelten Espresso.

4.

»Ein Asylantenheim in unmittelbarer Nähe zu einem Schulhaus gefährdet unsere Kinder.« Das war ein Apotheker und besorgter Vater. »Kinder und Jugendliche müssen vor drogendealenden Asylbewerbern geschützt werden.« Er sprach langsam, deutlich und ungemein medientauglich. Seine Frau sagte nichts und wirkte ebenfalls besorgt. »Wir verlangen vom Stadtrat eine zukunftsfähige Quartierentwicklungspolitik. Mit der Ansiedlung von Asylbewerbern ausgerechnet am Zürichberg fördert er Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in der Bevölkerung.«

Applaus brandete auf.

»Dann können wir ja gleich in die Langstraße ziehen«, rief eine Frau dazwischen.

Martin Metzger kannte sie nicht. Aber er kannte die Langstraße. Die Frau sah nicht aus, als ginge sie dort einkaufen. Er wohnte da.

Nach der Veranstaltung hatte Martin Metzger die Präsidentin der Elterninitiative interviewt, die den Widerstand gegen die Asylunterkunft organisierte. Sie machte sich Sorgen um die Kinder. Vor allem um die Mädchen. Man kann sich ja vorstellen, was geschieht, wenn diese jungen Männer aus der ganzen Welt an den Zürichberg kommen und nichts tun, als den ganzen Tag herumzulungern.

Danach hatte Martin mit dem Apotheker gesprochen. Dieser machte sich vor allem Sorgen um den wachsenden Rassismus, der mit solch unüberlegten politischen Entscheidungen gefördert werde.

Lange nachdem er die Leute vom Zürichberg ihren Nöten überlassen hatte, gingen ihm die gepflegt vorgebrachten Sorgen des Apothekers nicht aus dem Kopf. Als das Tram endlich kam, stieg er zuhinterst ein und dachte wehmütig an Albanien, wo er eigentlich sein sollte. Sein müsste. Mit der Schweizer Fußballnationalmannschaft. Er war Sportreporter und schon gesetzt gewesen für die Berichterstattung über das Länderspiel in Tirana. Nur hatten sie vor einem Monat eine neue Chefredakteurin erhalten. Diese hatte einen Kulturwandel angekündigt. Zu verknöchert sei das Blatt, zu unflexibel die Redaktion, zu sinkend waren die Auflagen. Dagegen sollte unter anderem eine Jobrotation helfen. Nun fuhr die Welschlandkorrespondentin mit den Fußballern nach Albanien und Martin Metzger berichtete im Lokalteil über das Budget des Stadtrates, den Ausbau eines Krankenhauses und den Bevölkerungsprotest gegen Asylsuchende.

So weit war er nun also gekommen. Begonnen hatte seine Geschichte an eben diesem Zürichberg, wo er aufgewachsen war. Früh hatte es ihn von dort weggetrieben. Als Delegierter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes war er im Libanon gewesen, in Chile, in Bosnien. Gefolgt vom tiefen Fall in Zweifel und Depression. Schließlich hatte er den inneren Frieden gefunden als Sportreporter. Und nun musste er daheimbleiben und über zu Hause schreiben.

Das Tram hielt am Stauffacher. Martin Metzger stieg aus und wollte gerade die Straße überqueren, als ihn eine Frau fragte, ob sie kurz sein Handy benutzen könne. Ein Junkie, um die zwanzig, spindeldürr und schwanger. Sie trug schwarze Leggins und einen schwarzen, löchrigen Pullover, unter dem sich der große, spitze Bauch wölbte. Der Bauchnabel war deutlich zu sehen. Er gab ihr wortlos sein Telefon und wartete.

Nach der Veranstaltung in der Turnhalle war er zum Asylantenheim gegangen. Eine umzäunte Baracke. Mit einem sehr hohen Zaun. Daneben der Schulhof. Darauf hatten Kinder Fußball gespielt. Drei Jungs und zwei Mädchen. Er war hingegangen und hatte mitgespielt. Erst waren die Kinder irritiert gewesen, dann erfreut. Sie waren gerannt und hatten geschrien, er gekeucht.

»Rauchen Sie viel?«, hatte ihn eines der Mädchen gefragt, als er prustend aufgegeben hatte. Gleichzeitig zu grinsen und nach Luft zu schnappen, war ein schwieriges Unterfangen.

»Hast du keine Angst vor den Asylanten?«, hatte er das Mädchen gefragt, als er wieder zu Luft gekommen war.

Sie war bereits wieder auf dem Weg zu ihren Freunden gewesen, hatte sich nochmals umgedreht und Metzger keck angeschaut. »Nein. Ich heirate einen Rapper. Die sind auch schwarz.«

5.

Schön war er noch immer. Marc von Wartburg, ihr Ex. Was ihr sofort auffiel, waren seine Lippen. Er hatte einen verführerischen Zug um den Mund. Wie damals beim ersten Mal. Wäre er sich dessen bewusst, gefröre es zur Pose. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Sie hatte das erwartet. Befürchtet.

Vor ihm stand ein leeres Bierglas. Johanna di Napoli kam spät. Nach der Arbeit war sie zunächst schwimmen und anschließend in die Sauna gegangen. Danach wäre sie am liebsten nach Hause gefahren und hätte Marc beinahe sitzen lassen. Am Hauptbahnhof hatte sie sich schließlich entschieden, war Richtung Limmatplatz gefahren und dann die Langstraße hoch.

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