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Im 20. Jahrhundert versucht die Schweiz, Fahrende mit Gewalt zu assimilieren. Kindeswegnahme, Versorgung und Zwangsbehandlung sind die Mittel. An der Familie Mehr werden sie durchexerziert. Mit Marie Emma, Mariella und Christian Mehr werden drei Generationen sich selbst entfremdet, beiden Frauen wird das Kind weggenommen. Ihre Wut darüber verarbeitet Mariella als sprachmächtige Schriftstellerin, Christian schreit sie der Gesellschaft als Punk ins Gesicht. Mariella betäubt den Schmerz mit Alkohol, Christian mit Heroin. Das Erlebte dominiert das Leben, verbindet die beiden und spaltet sie zugleich. Es ist die Geschichte einer Mutter-Sohn-Beziehung, welche die mentalen und körperlichen Folgen der behördlichen Gewalt in sich trägt. Auf lebendige Weise und eingebettet ins Zeitgeschehen erzählt Michael Herzig von den Verheerungen des sogenannten Hilfswerks «Kinder der Landstrasse», das sowohl Mariella als auch Christian quälte und misshandelte – fünfzig Jahre nach dem Ende des «Hilfswerks» sind die Folgen noch immer präsent.
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Seitenzahl: 198
Im 20. Jahrhundert versucht die Schweiz, Fahrende mit Gewalt zu assimilieren. Kindeswegnahme, Versorgung und Zwangsbehandlung sind die Mittel. An der Familie Mehr werden sie durchexerziert.
Mit Marie Emma, Mariella und Christian Mehr werden drei Generationen sich selbst entfremdet, beiden Frauen wird das Kind weggenommen. Ihre Wut darüber verarbeitet Mariella als sprachmächtige Schriftstellerin, Christian schreit sie der Gesellschaft als Punk ins Gesicht. Mariella betäubt den Schmerz mit Alkohol, Christian mit Heroin. Das Erlebte dominiert das Leben, verbindet die beiden und spaltet sie zugleich. Es ist die Geschichte einer Mutter-Sohn-Beziehung, welche die mentalen und körperlichen Folgen der behördlichen Gewalt in sich trägt.
Auf lebendige Weise und eingebettet ins Zeitgeschehen erzählt Michael Herzig von den Verheerungen des sogenannten Hilfswerks «Kinder der Landstrasse», das sowohl Mariella als auch Christian quälte und misshandelte – fünfzig Jahre nach dem Ende des «Hilfswerks» sind die Folgen noch immer präsent.
Foto Ayșe Yavaș
Michael Herzig, geboren 1965 in Bern, lebt in Zürich und im Jura. Er hat Geschichte und Betriebswirtschaft studiert, war Drogenbeauftragter der Stadt Zürich, leitete während zehn Jahren sozialmedizinische Einrichtungen für marginalisierte Menschen und arbeitet heute als Dozent für Soziale Arbeit, freischaffender Autor und Organisationsberater. Er hat vier Krimis und einen Roman veröffentlicht sowie Kurzgeschichten, Hörspiele, Drehbücher und Nichtfiktionales geschrieben. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet.
Michael Herzig
Die Geschichte von Christian und Mariella Mehr
Limmat VerlagZürich
Reden heisst leben
Assimilierungswahn
Sippenhaft
Akten vernichten
Steinzeit
Marie Emma Mehr, 1924–1983
Nestwärme
Brandmal
Zugedröhnt
Daheim
Freier Fall
Dumpf und bös
Nähe
Siro
Jenisch nie und immer
Verfahren
Ich
Heimkehr
Nachwort
Quellen
Akten
Interviews
Filme und Fernsehsendungen
Zeitungsartikel und Internetseiten
Literatur
Dank
Der Autor
Anmerkungen
Ich hole Christian! Für immer? Mein Junge, auch an ihm schon 7 verpfuschte Jahre. Wie viel da gut zu machen ist. Aber ich freue mich, ich freue mich auf die Aufgabe. Ich freue mich auf sein Lachen. Sein liebes herzliches Bubengrinsen. Ich freue mich.
Mariella Mehr, Tagebuch, 19731
Christian ist ein lebhaftes, dunkelhäutiges Kerlchen, das mit grosser Geschwindigkeit und Wendigkeit im Zeug herumkriecht. Im Laufgitter verhält er sich ziemlich ruhig und beschäftigt sich mit dem Spielzeug; soviel als möglich soll er aber seine «Freiheit» ausserhalb des Gitters gemessen können, mindestens wenn die Pflegemutter mit einer Handarbeit dabei sitzt.
Clara Reust, Akten Pro Juventute, 19672
Um mich unter die Erde zu bringen, braucht es zwei Gräber. Eines für meine Klappe, ein anderes für den Rest.
Ich rede viel, weil ich viel denke. Gleichzeitig. Eigentlich denkt es von selbst. Bevor ich einen Satz zu Ende sagen kann, schiebt das Hirn den nächsten auf die Zunge. So purzeln zwei Sätze nebeneinander in die Welt hinaus. Mein Gehirn merkt dies und schickt eine Berichtigung hinterher. Ein Satzgewitter baut sich auf.
In seinem Donnergrollen hallt meine Kindheit nach. Versorgt, verbrüht, ignoriert, geschlagen. Gewalt, Machtmissbrauch, Unrecht. Wind wirbelt meine Jugenderinnerungen durcheinander. Erniedrigung, Verzweiflung, Trotz, Widerstand, Verweigerung, Ausbruch, Exzess, Absturz. Der Regen peitscht meine Hoffnungen und Sehnsüchte hinunter. Nähe, Bindung, Familie. Wissen, wer ich bin. Dazugehören. Ernst genommen werden. Ich. Am Ende verfliessen sie alle. Dann blitzt es. Heftig und scheinbar unkontrolliert. Das ist meine Wut. Sie hält mich am Leben.
Ich habe zu viel Scheisse im Kopf. Zu viele Bilder, zu viele Ideen, zu viel Ungerechtigkeit. Das muss raus.
Ich werde im Frauengefängnis Hindelbank geboren. Dort wird meine Mutter weggesperrt, weil sie mit mir schwanger ist. Etwas anderes hat sie nicht verbrochen. Kein Diebstahl, kein Drogenschmuggel, kein Pflastersteinwurf. Sie hat ungeschützten Sex gehabt. Doch viel schwerer, als was sie getan hat, fällt ins Gewicht, was sie ist: jenisch durch Geburt. Eine «Vagantin», heisst dies in den 196oer-Jahren. «Vagantismus» will der Staat ausrotten. Vormundschaft, Sozialbehörde, Armenpflege, Psychiatrie, Justiz. Die Staatsmaschine, der Maschinenstaat.
Mein Vater ist Rom. Italienisch-französischer Doppelbürger. Dazu ehemaliger Widerstandskämpfer gegen die Nazis und zwanzig Jahre älter als meine Mutter. Das passt der Schweiz nicht. Sie hält ihn für einen Zuhälter. Anders können sich der Gefängnisdirektor und die Vormundin die Beziehung meiner Eltern nicht erklären. Liebe ist keine Option. So steht es in den Akten.
Nach einem halben Jahr nimmt mich der Staat meiner Mutter weg. Der Dorfpfarrer hat eine Familie aufgetrieben, die mich zum Kuhschweizer machen soll. Dort falle ich in einen Topf siedendes Wasser. Natürlich ist es ein Unfall. Weil ich ein so wahnsinnig zappeliges Vagantenkind bin, das nicht still liegen kann. So steht es in den Akten.
Ich glaube nichts, was in den Akten steht.
Einige Joints, viele Kerzen und «Dirty Old Town» von The Pogues. Mein erstes Bad verlangt nach einem Ritual. Ich bin 21 Jahre alt und habe sechzig bis siebzig Hautverpflanzungen durchgemacht. Um die 35 Vollnarkosen. Vier Wände und Wasser treiben mir die Panik in den Kopf. Mein ganzes bisheriges Leben lang habe ich geduscht.
Danke Schweiz, dass du mich kaputt gemacht hast und nicht ein anderes Land. Dann wäre ich jetzt nämlich tot.
Mitte fünfzig habe ich chronische Nervenschmerzen in meinen Füssen, obwohl nur noch wenige Nerven da sind, die überhaupt Informationen ans Hirn liefern. Es fühlt sich an wie viel zu enge Gamaschen. Das sind Nachwirkungen meiner Verbrühungen. Wenn ich noch lange lebe, werden die Beine irgendwann einmal amputiert.
Ich schlafe nicht mehr als fünf bis sechs Stunden. Und auch das nur mit ein paar Joints. Mein Arzt würde mir sofort Schmerzmittel verschreiben, wenn ich danach fragte. Opioide. Wie die wirken, weiss ich. Ich bin jetzt über zwanzig Jahre clean. Kein Heroin mehr, kein Kokain. Dafür Schmerzen.
Das Spital ist mein zweites Zuhause geworden. Mehr als fünf Tage verreisen geht nicht. Ich habe Diabetes. Die Bauchspeicheldrüse funktioniert nicht mehr richtig. Die Leber verfettet, weil ich mir Hepatitis angefixt habe. Ausserdem habe ich immer wieder Hautkrebs. Zunächst an den Armen. Dann wird mir ein Melanom aus der Lippe geschnitten, ein anderes aus dem Kinn. So nahe am Hirn war der Krebs noch nie. Dabei ist der Schädel mein einziges Körperteil, das mehr oder weniger ganz geblieben ist. Abgesehen von der Narbe aus einer Schlägerei mit Skinheads.
Ich war in mehr als einer Pflegefamilie, in Heimen, in der Psychiatrie, in der Punkszene, im thailändischen Dschungel, in den Drogen. Ich habe mit meinen verbrannten Beinen Skitouren gemacht, Aikido trainiert, Pogo getanzt, Konzerte gegeben und mich mit Faschos geprügelt.
Ich habe Heroin, Kokain und Schlaftabletten gefixt. Ich habe Shit verdealt. Ich habe meine Wut mit Hardcore-Punk in die Welt hinausgeschrien. Ich habe Schulden angehäuft, die ich Jahrzehnte später noch abstottere. Ich habe im Wald geschlafen und in Notschlafstellen. Ich habe Stoff vermittelt, um selbst an Stoff zu kommen.
Ich war am Boden. Mehr als einmal. Ich bin wieder aufgestanden. Wieder aufzustehen ist meine Bestimmung.
Ich habe viele Stunden in der Psychotherapie verbracht. Damit habe ich fast alles hingekriegt. Die Entwurzelung, die Heime, die Schläge, den Missbrauch, das Stigma, die Verbrennungen, die Drogen, den Exzess. Nur nicht das Reden.
Reden, reden, reden.
Es redet, ich rede, ich werde geredet.
Ich kann mich in eine Katastrophe hineinreden und auch wieder hinaus. Reden hat mir Prügel eingebracht. Reden hat mich vor dem Knast bewahrt. Reden hält mich am Leben.
Meine Mutter ist jenisch, mein Vater Rom. Meine Grossmutter war eines der ersten Kinder, das die Stiftung Pro Juventute seinen Eltern weggenommen hat. Ich war eines der letzten.
Meine Mutter ist Mariella Mehr. Schriftstellerin. Kämpferin. Mensch gewordene Wut. Sie hat ihr Trauma in ihren Texten verarbeitet.
Sie hat geschrieben. Ich rede.
Christian Mehr wird am 11. Juni geboren. An der Fussball-Weltmeisterschaft in England verliert die Schweiz gegen Deutschland 5:0. In Bern scheint die Sonne während 1663 Stunden, der Mittelwert seit 1931 beträgt 1759 Stunden. Durchschnittlich leben in der Schweiz 131 Menschen auf einem Quadratkilometer. Der Nutztierbestand umfasst 67 022 Pferde, 1353 Maultiere, 1 796 389 Rindvieh, 1 513 845 Schweine, 266 371 Schafe, 74 707 Ziegen, 3 456 955 Lege- und Zuchthühner, 1 528 610 Masthühner und 270 138 Bienenvölker. Im Baugewerbe erstreiten die Gewerkschaften eine Lohnerhöhung von dreissig bis vierzig Rappen pro Stunde. In der Schweiz arbeiten 435 979 «kontrollpflichtige Arbeitskräfte» während des ganzen Jahres und 164 569 saisonal. Einige von ihnen verweist der Bundesrat wegen kommunistischer Umtriebe des Landes. Andere eröffnen in Bern das erste italienischsprachige Berufsbildungszentrum. In Lausanne verbietet die Fremdenpolizei dem Hilfswerk Terre des Hommes, kranke geflüchtete Kinder aus Vietnam in die Schweiz zu holen, lediglich kriegsverletzte dürfen ins Land. Nach einer Protestwelle ändert dies der Bundesrat. Der Kanton Basel-Stadt führt als erster deutschsprachiger Kanton das Frauenstimm- und -wahlrecht per Volksabstimmung ein, im Kanton Zürich wird es mit 95 572 zu 107 775 Stimmen abgelehnt. Die Volksinitiative des Landesrings der Unabhängigen (LdU) zur Bekämpfung des Alkoholismus wird mit einer Dreiviertelmehrheit verworfen. In China beginnt die Kulturrevolution, die einer sehr hohen, aber bis heute nicht genau bekannten Anzahl Menschen das Leben kostet. In London behauptet John Lennon, die Beatles seien populärer als Jesus. Frankreich verlegt seine Kernwaffentests von Algerien aufs Mururoa-Atoll im Pazifik. Im US-Bundesstaat Mississippi wird erstmals ein weisser Mann wegen Vergewaltigung einer schwarzen Frau zum Tod verurteilt; die Strafe wird allerdings in lebenslange Haft umgewandelt.
Auch die Mehr sind nicht zwangseingebürgert, sondern die Familie ist durch die unglückliche Heirat eines wahrscheinlich wenig intelligenten Gliedes der sonst bäuerlichen Familie Mehr von Almens mit einem Mädchen aus dem Stamme Waser, in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts, entstanden. Sie hat sich dann erschreckend rasch vermehrt. […]
Ebenso rasch aber, wie der Stamm aufgeblüht ist, scheint er jetzt auch wieder niederzugehen; nach den Mitteilungen des Gemeindeamtes Almens hat man jetzt dort kaum mehr mit ganzen fahrenden Familien, sondern bloss noch mit einzelnen Personen zu tun. […]
[…] Ein Teil der «Verbliebenen» ist in bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen und darf als sesshaft betrachtet werden. In dieser Familie hat sich die Nacherziehung und Fürsorge der Stiftung Pro Juventute besonders augenfällig bemerkbar gemacht.
Alfred Siegfried, Pro Juventute, 19583
Das sogenannte Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» ist ein Programm zur Zwangsassimilierung von «Vagantenfamilien». Dazu wird gezählt, wer jenisch spricht, auch wenn die Familie einen festen Wohnsitz hat und nicht im Wohnwagen durchs Land zieht. Im Fokus stehen primär die einheimischen Jenischen, weil Sinti und Roma bis 1972 die Einreise verweigert wird und sie sich damit gar nicht erst in der Schweiz niederlassen können.
In den Augen des Staates, der Kirche, der Psychiatrie und der Fürsorgeinstitutionen gilt die jenische Identität nicht als Kultur, sondern als sozialer Missstand. Deshalb sollen jenische Kinder angepasst werden. Die Mittel sind zerstörerisch: Kinder werden ihren Eltern weggenommen, Familien auseinandergerissen. Die Vormundschaftsbehörden entmündigen Eltern und platzieren Kinder. Sie befehlen administrative Versorgungen in Zwangsarbeitsanstalten, in psychiatrischen Kliniken und wie im Fall von Mariella Mehr auch in Gefängnissen.4
In Betrieb genommen wird diese Diskriminierungsmaschinerie 1926 von der Stiftung Pro Juventute, die 1912 von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft gegründet wird. Zunächst geht es Pro Juventute um die Bekämpfung von Tuberkulose bei Kindern und Jugendlichen, mit der Zeit weitet die Stiftung ihr Tätigkeitsfeld auf die «Kinder- und Jugendfürsorge» insgesamt aus. Finanziert wird diese Tätigkeit durch Beiträge von Bund, Kantonen und Gemeinden wie auch durch Spenden, Legate und selbst erwirtschaftete Erträge.
Grundlage für Kindswegnahmen bildet das Zivilgesetzbuch ZGB von 1912, vorher sind präventive Eingriffe in die Familie nicht möglich. Einige der von Pro Juventute angewendeten Zwangsmassnahmen gibt es bereits vor 1926, andere über 1973 hinaus.5 Die Stiftung Pro Juventute gibt es heute noch.
Im frühen 20. Jahrhundert stehen sozialdarwinistische und rassenhygienische Theorien hoch im Kurs in Europa und in der Schweiz. Auf sie bezieht man sich im Kampf gegen die Jenischen. Allerdings will die Stiftung Pro Juventute nicht die Menschen ausrotten, wie es diese Theorien in letzter Konsequenz vorsehen, sondern ihre Lebensweise. Für die Betroffenen dürfte es sich trotzdem wie ein Vernichtungsversuch anfühlen.
Wieder ausgeschaltet wird die Assimilierungsmaschine der Stiftung Pro Juventute 1973.6 Zu einer Zeit, in der ein Kulturkampf tobt. Die Jugendbewegung von 1968 stellt bürgerliche Werte infrage. Auf der Strasse riecht es nach Tränengas, Rockkonzerte arten zu Saalschlachten aus. Neue soziale Bewegungen entstehen. Gegen den Krieg, gegen Atomkraft, gegen totalitäre Anstalten wie Jugendheime und gegen Zwang in der Psychiatrie.
Eine Enthüllungsgeschichte im «Schweizerischen Beobachter» deckt die Machenschaften von Pro Juventute auf. Daraufhin wird das «Hilfswerk» aufgelöst. Bis zu diesem Zeitpunkt bemächtigt sich Pro Juventute dreihundert Mädchen und 286 Knaben. Sie werden in Pflegefamilien gesteckt, in Heime, Kliniken und Gefängnisse. Geschwister werden getrennt. Die Eltern werden über das Schicksal ihrer Kinder im Dunkeln gelassen. Wehren sie sich, werden sie weggesperrt. Werden sie krank vor Kummer oder ertränken ihr Leid in Alkohol, werden sie ebenfalls weggesperrt.
Die Entscheide fällen Vormundschaftsbehörden, meistens Laiengremien. Den Antrag an sie stellt grösstenteils Pro Juventute. Aber auch andere Institutionen machen mit, beispielsweise das Seraphische Liebeswerk Luzern.7 Einige katholische Priester setzen sich jedoch auch für die betroffenen Familien ein.
Mehr als die Hälfte aller Kinder stammen aus Familien mit einem Bündner Heimatort. Dazu gehören 84 Waser aus Morissen, 78 Moser aus Obervaz, 23 Huber aus Savognin und 29 Mehr aus Almens8, unter ihnen Christians Grossmutter, seine Mutter und er selbst.
In keinem anderen Kanton wird der Entzug der elterlichen Gewalt öfter beschlossen als in Graubünden. Er verfügt über eine institutionalisierte «Vagantenfürsorge».9 Diese kantonale Behörde arbeitet eng mit der psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur zusammen, wo sich seit dem frühen 20. Jahrhundert verschiedene Ärzte mit den Jenischen beschäftigen und mit ihren Verlautbarungen die wissenschaftlich verbrämte Legitimation für Behördenentscheide liefern.10 Nichtsdestotrotz behauptet der Bündner Regierungsrat Aluis Maissen 1989 in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen, dass es sich «nicht behaupten lasse, dass die Jenischen» in der Churer Klinik «weder in den Stammbäumen noch in den Patientenakten anders behandelt worden wären als die gewöhnlichen Patienten auch».11 Ende der 1980er-Jahre steht die psychiatrische Behandlung der Jenischen in Chur unter massiver Kritik. Und obwohl Maissen dies bestreitet, ist mittlerweile ausreichend belegt, wie Psychiatrie und Behörden in der Diskriminierung von Jenischen zusammengearbeitet haben.
Die Verfolgung verläuft systematisch. Ziel ist es, allen jenischen Familien die Kinder wegzunehmen. Erfolgreich ist Pro Juventute damit indessen nicht. Aus Kapazitätsgründen, aber auch, weil nicht alle Behörden mitmachen. Die involvierten Gemeinden lehnen mehr als die Hälfte aller Gesuche ab. Das führt zu einer Konzentration der Kindswegnahmen: Sechzig Prozent der Kinder stammen aus sieben Familien aus sechs Heimatgemeinden in drei Kantonen. Zwanzig Prozent aller Kinder gehören zur zweiten Opfergeneration. Christian Mehr ist einer von fünf, deren Grosseltern auch schon «versorgt» worden sind.
Auch wenn viele Gemeinden die Zwangsassimilation befürworten, meiden einige die damit verbundenen Kosten. Teilweise lehnen Gemeinden neue Fälle ab, obwohl sie früher in vergleichbaren Situationen der Pro Juventute die Vormundschaft über jenische Kinder zugesprochen hatten.12
Dort allerdings, wo Pro Juventute und Behörden am selben Strick ziehen, werden jenische Familien gnadenlos gehetzt. Und auch jene, die davonkommen, können sich nie sicher sein, nicht doch noch Opfer der Verfolgung zu werden, denn das behördliche Handeln ist unberechenbar.
Auf ihren Leidenswegen lernen die Kinder Heime, Anstalten und mehr als eine Pflegefamilie kennen und fürchten. Häufig kündigt Pro Juventute die Kinder an und redet sie bereits im Vorfeld schlecht. So eilt ihnen ein Ruf voraus, gegen den sie nicht ankommen. Pflegeeltern, Nachbarschaft, Dorfschule, Kirche, Armenfürsorge, Psychiatrie, Erzieherinnen und Ordensschwestern warten auf das «Vagantenbalg».
Die Kinder werden nicht als Individuen behandelt, sondern als soziales Problem. Sie werden entmenschlicht, ihren Eltern und Geschwistern entfremdet, sozial und kulturell entwurzelt – «in gesundes Erdreich verpflanzt», heisst es beschönigend.13
Die Betroffenen wehren sich. Kinder reissen aus und kehren zu ihrer Familie zurück.14 Eltern reisen durch die Schweiz auf der Suche nach ihren Kindern, entführen sie aus Heimen, manchmal mehrmals.15 Andere beschreiten den Instanzenweg. In den allermeisten Fällen vergeblich. In einem einzigen Fall hebt das Bundesgericht den Entzug der elterlichen Gewalt auf, die beiden Kinder bleiben aber im Heim. In den allermeisten Fällen entscheiden letztinstanzlich nicht Gerichte, sondern politische Behörden, meistens der Regierungsrat.16
Jenische Mütter und Väter kämpfen über Jahrzehnte dafür, ihre Kinder wiederzusehen. Teresa Grossmann-Häfeli gehört zu den wenigen, denen es gelungen ist, ihre Kinder ausfindig zu machen. Zu spät allerdings. «Es war nicht mehr dasselbe», seufzt sie 1991 in dem preisgekrönten Dokumentarfilm «Die letzten freien Menschen» von Oliver Matthias Meyer. «Sie waren mir fremd und ich ihnen. Das Band war gerissen.»17
Teresa Grossmann setzt sich ihr Leben lang für die Rechte der Jenischen ein. Sie war vier Jahre alt, als sie ihren Eltern weggenommen wurde. «Meine Eltern haben erzählt, ich hätte mordio geschrien, weil ich nicht mitwollte. Es sind zwei Polizisten gekommen und zwei Nonnen. Und einer der Polizisten sagte, wenn ich nicht aufhöre, zu schreien, würde er mir den Kopf abhauen. Danach sei ich ruhig gewesen.»18
Die fünf Kinder von Teresa Grossmann erleiden dasselbe Schicksal. Zuerst nimmt ihr Pro Juventute die beiden ältesten fort. Daraufhin versteckt sie sich mit den anderen, ist ständig auf der Flucht vor den Behörden. «So ging das immer hin und her. Dort verjagt, hier verjagt, nirgendwo durftest du sein. Wir sind Flüchtlinge im eigenen Land.»19
Kurz vor der Geburt ihrer jüngsten Tochter schlägt Pro Juventute mit Hilfe der Behörden abermals zu. Zwei Klosterfrauen werden geschickt, die verbliebenen Kinder zu holen. Die eine hält Teresa Grossmann an den Haaren zurück, die andere greift sich ihre Tochter und ihren Sohn. Zwei Tage später bringt Teresa Grossmann ihre jüngste Tochter zur Welt. «Danach hat man mir die Brüste abgebunden und mit Kampfersalbe eingerieben.» Noch im Wochenbett wird ihr das Kind weggenommen. «Ich habe nur noch geweint, nichts mehr gegessen.»20 Ein langer, einsamer Kampf beginnt.
Zum ersten Mal geht Teresa Grossmann 1956 zum «Schweizerischen Beobachter». Die Redaktion schenkt ihr Gehör, aber keinen Glauben. Glauben tut sie Pro Juventute, die Teresa Grossmann diffamiert. 1959 interessiert sich der «Blick» für ihr Schicksal. Wieder gelingt es Pro Juventute, die Journalisten von der Geschichte abzubringen. Der Verweis auf angebliche Verfehlungen der Eltern wirkt. Schliesslich äussert sich 1965 die «Zürcher Woche» zum ersten Mal kritisch. Selbst wenn die Kindswegnahmen rechtlich korrekt seien, dürften sie nicht auf Kosten der Menschlichkeit durchgesetzt werden. Der Artikel bleibt wirkungslos.
In den 1960er-Jahren wird auch der «Beobachter» kritischer, weil sich jenische Eltern häufiger beschweren. Die Redaktion interveniert mehrmals bei Pro Juventute und auch bei Vormundschaftsbehörden. Sie lässt sich nicht mehr so schnell abspeisen, widerspricht den Darstellungen, die sie bekommt, und recherchiert hartnäckiger als früher.21 Der Journalist Hans Caprez nimmt sich des Themas an. Endlich wird auch Teresa Grossmann ernst genommen. Anfang der 1970er-Jahre ist die Zeit reif. 1972 veröffentlicht der «Beobachter» den Artikel von Hans Caprez mit dem Titel «Fahrende Mütter klagen an».22
Es ist ein Text mit Folgen. Zwar streitet die Stiftung Pro Juventute gegenüber den Medien alles ab, lässt kein gutes Haar an den betroffenen Familien, schiebt die Verantwortung an Gemeinden und Kantone ab und lobt die liebevoll sorgenden Pflegefamilien, in die man die armen Kinder platziert habe.23Doch die Fakten sind erdrückend. Die Konstruktion aus falschen Behauptungen, Vorurteilen und Verleumdungen bricht zusammen.
Im Februar 1972 wird Pro Juventute das letzte vormundschaftliche Mandat übertragen. Nun wird «Kinder der Landstrasse» ein Thema für die Stiftungskommission. Sie hat innerhalb der Stiftung die Funktion eines Direktoriums. Zunächst versucht sie, die Sache auszusitzen, dann mit dem «Beobachter» zu bereinigen. Besprechungen werden abgehalten, Gegendarstellungen verlangt. Dabei offenbart sich, dass «Kinder der Landstrasse» auch intern umstritten ist. Schon länger. Die Erkenntnis reift, dass die Zeit abgelaufen ist. Wegen des Medienskandals, den der «Beobachter»-Artikel ausgelöst hat, wird das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» Ende 1973 aufgelöst. Bis 1975 werden die letzten Vormundschaften abgewickelt.24
Wie Teresa Grossmann steht auch Mariella Mehr in engem Kontakt zum Journalisten Hans Caprez. In ihrem Tagebuch hält sie Notizen dazu fest. Sie ist hin- und hergerissen, fiebert mit, leidet. «ich führe krieg (endlich) gegen pro juventute», schreibt sie 1973 einer Freundin, «weil ich christian ihrem einfluss entziehen will. weil ich will, dass er stolz auf seine herkunft ist, und wenn irgendwie möglich, meine diesbezüglichen komplexe nicht übernimmt.»25
Zu diesem Zeitpunkt steckt Christian in einem Heim im Kanton Graubünden fest, weit weg von Mariella, die in Bern wohnt. Sie schreibt in ihr Tagebuch, wie sehr sie mit ihrer eigenen Biographie kämpft, beschreibt Selbstzweifel, Depressionen, Angst, Trotz, Wut und starke Stimmungsschwankungen. «eine fast beängstigend euphorische phase also. nun, sie gibt mir kraft für den nächsten psychischen tiefschlag.» An dem Tag, an dem sie erfährt, dass «Kinder der Landstrasse» aufgelöst wird, klebt sie ein Passfoto von Christian ins Tagebuch. Daneben schreibt sie mit dickem schwarzem Filzstift: «Auflösung der Abteilung ‹Kinder der Landstrasse› P.J.!!! Genugtuung? Freude? Befriedigung?»26
Für die gesellschaftliche Repräsentation der Stiftung Pro Juventute ist der Stiftungsrat zuständig. Mitglieder sind ein Bundesrat, National-, Stände- und Regierungsräte, Bankiers, Staatsanwälte, Berufsmilitärs, Professoren, Ärzte und Geistliche. Die meisten sind Männer, die wenigen Frauen stammen tendenziell aus Gesundheits- oder Sozialberufen. Diese Mitglieder haben gute Beziehungen zu Vertreter:innen von Behörden, Politik und Justiz, die das Handeln von Pro Juventute überwachen müssten. Selbst noch nach dem Medienskandal schützen diese Beziehungen davor, dass der Stiftungsrat zur Verantwortung gezogen würde. Nicht einmal in der Zeit, als das Hilfswerk in Auflösung ist, werden in den Stiftungsratsprotokollen Besprechungen, die dieses betreffen, festgehalten.27 Ignorieren, wegducken und dann möglichst schnell vergessen scheint die Devise zu lauten.
Die Diskriminierung der Jenischen bleibt jedoch auch nach Auflösung des «Hilfswerks» ein Thema. Vor allem wegen der Betroffenen selbst. Für sie hat die Aufarbeitung gerade erst begonnen. 1973 wird der Verband Pro Tzigania Svizzera gegründet, 1975 die Radgenossenschaft der Landstrasse, die Dachorganisation der fahrenden Bevölkerung in der Schweiz. Teresa Grossmann und Mariella Mehr sind Gründungsmitglieder. Zusammen mit anderen ehemaligen «Kindern der Landstrasse».28
Das Schweizer Fernsehen nimmt die Gründungsversammlung der Radgenossenschaft zum Anlass, einen Bericht über die Diskriminierung der Jenischen zu produzieren.29 Am 12. Juni 1975 wird die Sendung ausgestrahlt. Im Saal zu sehen ist der neunjährige Christian. Er spielt mit dem Hund eines Vorstandsmitgliedes. Seine Mutter Mariella Mehr sitzt auf dem Podium. Der Ton ist kämpferisch, neues politisches Bewusstsein paart sich mit altem Stolz. Die dringendsten Forderungen sind Stand- und Durchgangsplätze in allen Kantonen und dass die kantonalen Hausierbewilligungen durch eine nationale ersetzt werden. Am Ende erheben sich alle zu einem Prost: «Auf die Freiheit, auf die Jenischen!»
Mit dem selbstbewussten Blick in die Zukunft kontrastiert die Vergangenheit. Im Rahmen der Berichterstattung über die Gründungsversammlung der Radgenossenschaft sendet das Fernsehen Ausschnitte aus einem früheren Interview mit dem jungen Herrmann Waser aus St. Gallen. Vor der Kamera schildert er seine aufgezwungene Odyssee durch Erziehungsanstalten und Kliniken. Die Aufzählung aller Institutionen dauert fast anderthalb Minuten. «Herrmann Waser wurde 1972 seiner inzwischen sesshaft gewordenen Mutter psychisch völlig zerstört zurückgegeben», fährt der Kommentator fort. «Jetzt ist er tot. Im vergangenen Oktober hat er sich in Zürich das Leben genommen.»30
Dass das menschenverachtende Treiben von Pro Juventute endlich auf äusseren Druck gestoppt wird, ist überfällig. Doch für die Betroffenen bleibt der Schaden bestehen, ohne dass dafür jemals jemand belangt würde. Niemand wird angeklagt wegen Verletzung der Aufsichtspflichten oder wegen kulturellen Genozids. Wer aber traumatisiert worden ist, kann nicht einfach zur Normalität zurückkehren, denn das Trauma ist längst die Normalität geworden.
Mariella Mehr scheint zu ahnen, dass die Bewältigung des Erlebten nie enden wird. Ihre Zweifel vertraut sie dem Tagebuch an: «Wie kann man diesen Leuten wieder ihr Sippenbewusstsein zurückgeben? Wie schützt man sie vor dem Hochmut der Sesshaften?»31
Teresa Grossmann hört ihr Leben lang nicht auf zu kämpfen. Sie engagiert sich im Vorstand der Radgenossenschaft der Landstrasse und beteiligt sich an politischen Aktionen. An den jenischen Fekkerchilbis der 1980er-Jahre legt sie Tarotkarten. Neben Mariella Mehr gibt sie den fahrenden Müttern in den Medien ein Gesicht. Weniger kämpferisch als Mariella, doch ebenso mutig, ebenso entschlossen, zudem beeindruckend ruhig und überlegt.
Nach vierzig Jahren Trennung findet Teresa Grossmann endlich ihre jüngste Tochter wieder.32