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Jana, die Neue in Karos Klasse, ist ein richtiger Jungsmagnet. Außerdem hat sie ein iPhone, ist immer online und auf dem besten Weg, Moderatorin einer neuen Internet-TV-Show zu werden. Dafür muss sie nur möglichst viele Sympathiepunkte in dem Social-Media-Network »On« sammeln. Karo und ihr heimlicher Schwarm Eddi – der offensichtlich in Jana verknallt ist – helfen ihr dabei, indem sie die verrücktesten Dinge posten. Doch irgendwann wird aus dem Spiel bitterer Ernst.
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Seitenzahl: 248
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Für meine Freundin und Lehrerin Kerstin,ohne die es Freak City nicht gäbe.
Und für meine Leserin Theresa,
wegen der es Freak City immer noch gibt.
© Kathrin Schrocke, 2010
© Originalausgabe Patmos Verlagshaus GmbH & Co. KG, 2010
Aktualisierte Neuausgabe © Mixtvision,
Leopoldstraße 25, 80802 München, 2025
www.mixtvision.de
Alle Rechte vorbehalten.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München unter Zuhilfenahme von Shutterstock AI
Layout und Satz: Nadine Clemens
E-Book Herstellung: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-95854-247-1
Kathrin Schrocke
1
Irgendein kluger Mann hat einmal behauptet, dass man auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, etwas Schönes bauen kann.
Das stimmt. Lasst euch das von einem 17-jährigen Typen mit Bausparvertrag sagen.
Trotzdem war mir nicht im Geringsten bewusst, auf was ich da zusteuerte, als ich mit meinen zwei besten Kumpels durch die Stadt stolperte, dem Mädchen hinterher.
Eigentlich hätte ich es ja kapieren müssen: Es lag regelrecht in der Luft. Es war so offensichtlich, da gab es gar nichts zu rütteln. Aber ich war so was von daneben damals. Liebeskrank und doof. Ich kapierte einfach nichts.
Stattdessen sprang ich ihr wie die anderen beiden die Fußgängerzone hinterher und machte mich mit meinen Sprüchen gewaltig zum Affen.
Ich sah nur, was ich sehen wollte: ihre wilden lockigen Haare. Den gelben Minirock, der ein Stück zu weit hochgerutscht war. Das Tattoo, das vom Hals abwärts ging und irgendwo unter ihrem feuerroten T-Shirt verschwand.
Die grünen Flip-Flops, die sie trug, machten auf dem Asphalt ein gequältes Geräusch. Es hörte sich an, als würden sie bei jedem Schritt um Gnade flehen.
Es war zu heiß für die Jahreszeit und die Luft um uns herum flirrte.
Aus dem Flirren heraus schälte sich ihre stolze Gestalt.
Für alles andere war ich blind. Vielleicht lag es auch an der Hitze. Mein Hirn war von all der Sonne wie ausgebrannt.
Ich sah also nur die frechen schwarzen Locken, die Klamotten und ihren aufrechten Gang.
Die Steine hingegen, die direkt neben mir vom Himmel fielen, sah ich nicht.
Ich hörte sie auch nicht. Oder doch?
Mein Puls ging zu schnell – wahrscheinlich hielt ich das laute Geräusch für den Schlag meines Herzens.
Mein Name ist Mika und damals war ich 16.
Mein Name ist Mika, das ist finnisch und bedeutet idiotischerweise »Wer ist wie Gott?«
Ich auf jeden Fall nicht.
Ich hatte null Ahnung von Frauen.
Und es war ein Montagnachmittag im Juli, als diese seltsame Geschichte begann.
2
Das Mädchen sollte Calimero gehören. Keine Ahnung, warum. Das war ein unausgesprochener Plan unter Männern. Ein Gentlemen’s Agreement, wenn ihr versteht, was ich meine.
Vielleicht lag es daran, dass Basti seit dem Schullandheim mit Ellen zusammen war. Große Liebe, meterlange SMS, albernes Rumgegrabsche im Fahrradkeller. Der Typ war so Ellen-verstrahlt, da war überhaupt nichts zu machen. Gegen Ellen und Basti waren Romeo und Julia ein lahmer Witz.
Und ich … ich war seit Neuestem ein gebrochener Mann.
Vor zwei Wochen, drei Tagen und fünf Stunden hatte Sandra mich an die Luft gesetzt.
Sandra. Stell dir ein quirliges Energiebündel vor, das nie ruhig bleiben kann. Ein Mädchen, das wie ein Pingpongball durchs Leben schießt, mit dem einen Ziel, Spaß zu haben und hilflosen Jungs wie mir den Kopf zu verdrehen. Sie trug platinblond gefärbtes kurzes Haar, das sie mit viel Gel zu einer Tolle formte. Sie hatte das auf einem Foto von Pink abgeguckt und war eindeutig die hübschere Variante von beiden. Noch eine Gemeinsamkeit hatte sie mit ihrer Lieblingssängerin: Sie war Frontfrau in einer Band. Zwar nur eine Schülerband, aber das war ein Anfang. Nach dem Abschluss wollte sie nach Mannheim, auf die Popakademie. Wir hatten gemeinsam im Fernsehen einen Bericht darüber gesehen.
Sandra hatte Talent und sah umwerfend aus. Es war genau genommen also nur eine Frage der Zeit, bis sie sich von mir trennte.
Seit sie Schluss gemacht hatte, war irgendeine neuronale Schaltung in meinem Kopf umgelegt. Ich musste 24 Stunden am Tag ununterbrochen an sie denken. Was wir gemacht und nicht gemacht hatten. Was wir geplant und nicht geplant hatten. Was wir gesagt und nicht gesagt hatten.
Sogar wenn ich mal nicht an sie dachte, dachte ich an sie.
Jede einzelne Sekunde grübelte ich über unsere verfahrene Beziehung nach.
Ich war echt am Ende, kurz vor dem Durchdrehen, und andere Mädchen interessierten mich nicht.
Sah ich ein Schnitzel, dachte ich daran, wie Sandra die Gabel gehalten hatte.
Sah ich einen Möbelwagen, dachte ich an den alten Schreibtisch, den sie von oben bis unten mit Edding vollgeschmiert hatte, nur so als Gag.
Sah ich das Kinoprogramm für nächste Woche, dachte ich an ihren Lieblingsfilm.
Liebe braucht keine Ferien.
Fängt der nicht auch mit einer Blondine an, die ihren Kerl vor die Tür setzt? Ich hätte es ahnen müssen.
Ich war in einer gedanklichen Endlosschleife gefangen.
Also war Calimero der Glückspilz. Er lief zwischen mir und Basti, seine Mütze in die Stirn geschoben. Die Hände waren in den Taschen seiner Hose versenkt und er hatte einen Schritt drauf, als würde er goldene Hamster jagen.
Wegen ihm rannten wir dem Mädchen bestimmt schon seit fünf Minuten durch die Fußgängerzone hinterher.
Pfiffen ihr wechselseitig nach und ließen ein paar dämliche Anmachsprüche ab, als wären wir hauptberufliche Großstadtpflanzen.
»Wo hast du diesen sexy Hintern gekauft?«, schrie Basti. Und Calimero schnalzte mit der Zunge.
Aber das Mädchen war definitiv eine Nummer zu cool. Ging einfach weiter mit diesem wippenden Gang. Drehte sich kein einziges Mal um, zu uns Spinnern.
Und an der Kreuzung passierte es dann.
Sie war ein paar Meter vor uns.
Die Ampel stand schon ewig auf Grün.
»Wenn Rot ist und du stehen bleibst, krieg ich ’nen Kuss!«, schrie Calimero und ein paar Fünftklässler, die an der Bushaltestelle abhingen, sahen uns neidisch nach.
Die Ampel sprang tatsächlich auf Rot, aber das Mädchen lief in letzter Sekunde trotzdem noch rüber. Obwohl man den Laster kilometerweit hören konnte. Er kam herangerast, mit 70 Sachen durch die Innenstadt, schoss um die Kurve und bremste mit quietschenden Reifen gerade noch ab. Es sah aus wie eine Szene aus einem Actionfilm. Unwirklich und wie ein lebensgefährlicher Stunt. Um ein Haar hätte er das Mädchen überfahren.
Der Lkw-Fahrer stand kurz vor dem Herzinfarkt. Sein Gesicht war aschfahl, die Augen quollen ihm aus der Birne. Er hupte wie verrückt.
Aber das Mädchen scherte sich überhaupt nicht darum. Ging einfach ganz lässig weiter. Hocherhobenen Hauptes. Fuhr sich mit der linken Hand einmal durch ihre dunklen Locken, während unser Adrenalinspiegel im Takt der Hupe in ungeahnte Höhen schoss.
Neben uns war eine Mutter mit Kinderwagen. Das Baby brüllte wie am Spieß. Die Jungs an der Bushaltestelle glotzten blöde zu uns herüber. Und wir standen wie versteinert da, mit rasenden Herzen, weil der Lkw-Fahrer immer noch mit der Faust auf seine Hupe schlug.
Der Ton hing wie eine Sirene in der Luft, für einen Moment war Krieg ausgebrochen.
»Bist du nicht ganz dicht?« Der Fahrer hatte das Fenster heruntergekurbelt und brüllte dem davonlaufenden Mädchen hinterher.
War da ein kurzes Zögern in ihrem Gang zu sehen? Nein.
Offenbar war sie wirklich lebensmüde.
Sie verschwand um die Ecke, während wir mitsamt dem durchgeknallten Lasterfahrer und der Mutter mit Kind doof an der Ampel stehen blieben.
»Kennt ihr die etwa?«, schrie uns der Lkw-Fahrer an. »Wenn ich die zu fassen kriege, zeig ich sie an!«
Wir schüttelten die Köpfe.
Das Baby beruhigte sich endlich und der Brummifahrer fuhr fluchend davon.
»Das war’s dann wohl«, sagte Calimero.
Ich nickte, irgendwie verwirrt. Mein Blick war immer noch drüben, auf der anderen Seite, an der Stelle, wo das Mädchen um die Ecke verschwunden war.
»Was guckst’n so?« Das war Basti.
»Ich guck doch gar nicht«, murmelte ich. Wir gingen wieder in Richtung Fußgängerzone zurück und steuerten auf eine Eisdiele zu.
»Verrücktes Huhn«, sagte Calimero. »Solche Frauen bringen nur Unglück. Werfen sich vor Autos, seilen sich an Häuserfassaden ab und legen Atomkraftwerke lahm. Zu viel Aufregung für meinen Geschmack. Ich glaube, ich werde mich lieber mal wieder mit Tine treffen.«
Tine ging in unsere Klasse, war Mitglied einer buddhistischen Meditationsgruppe und Calimero hatte in der Unterstufe mal was mit ihr gehabt.
Wir lachten.
Ich lachte besonders laut.
Ein Wunder war geschehen! Nach zwei Wochen, drei Tagen und fünf Stunden hatte ich für ein paar Minuten endlich mal nicht an Sandra gedacht.
3
»Wie war’s in der Schule?« Meine Mutter stand in der Küche und pürierte mit dem Thermomix ungefähr vier Tonnen Guacamole. Das Zeug sah giftig grün aus, in der Spüle türmten sich Avocadoschalen. Es roch nach Rinderbraten, der im Ofen schmorte.
»Ja«, sagte ich, als wäre das eine vernünftige Antwort auf ihre Frage.
Meine Mutter verdrehte die Augen. »Wow! Doch nicht so ausführlich! Die Kurzfassung hätte auch gereicht.«
Ich starrte sie an. Sie stand jetzt an der Anrichte und zerhackte in Lichtgeschwindigkeit eine Chilischote.
»Na ja …« Ich setzte noch mal neu an, ließ es dann aber bleiben. Den Großteil des Tages hatte ich geschwänzt und dann mit Calimero irgendein komisches Zeug auf dem Jungenklo geraucht. Renée aus der Abschlussklasse hatte es uns verkauft – und es roch verdächtig nach Lavendel. Zusammen mit Basti waren wir dann noch durch die Innenstadt gelaufen und hätten beinahe ein wildfremdes Mädchen vor einen Lkw getrieben. Ob meine Mutter all das ernsthaft wissen wollte? Sie konnte froh sein, dass meine Antwort so knapp ausfiel.
Drüben auf der Anrichte entdeckte ich eine Schüssel mit Schokoladencreme.
»Untersteh dich!« Meine Mutter hatte mir den Rücken zugekehrt. Ich kapierte nicht, wie sie das machte. Jeder sprach ständig vom Überwachungsstaat. Die waren alle bloß noch nie in unserer Küche gewesen!
»Einen Löffel? Ich probier nur was vom Rand.«
»Keinen Löffel!« Sie drehte sich zu mir um. »Ist sowieso zu wenig. Die Sahne war schlecht.«
Meine Mutter war eine kleine Frau, die recht jung aussah. Sie hatte mich mit 20 während der Lehrzeit bekommen. Eigentlich wollte sie Hotelfachfrau werden, aber daraus wurde nichts. Sie hatte meinen Vater geheiratet, den sie noch von den Pfadfindern kannte. Mein Vater hatte nach meiner Geburt weiter Sport und Erdkunde studiert. Irgendwann kauften die beiden das Haus neben dem Haus meiner Großeltern. Meine Oma wohnte genau nebenan, Opa war seit zwei Jahren tot.
Nachdem meine Schwester Iris zur Welt gekommen war, hatte Mama mit dem Partyservice begonnen. Seitdem sah unsere Küche immer aus wie ein Schlachtfeld und der Kühlschrank war ständig leer, weil sie bei all der Zubereitung ganz vergaß, für ihre eigene Familie zu kochen. Vorher hatte sie drei, vier Jahre mit Thermomix gedealt.
»Für wen ist denn das ganze Zeug?« Ich starrte sehnsüchtig den Nachtisch an. Meine Mutter trat neben mich und streifte ein Blatt Alufolie über die große Schüssel.
»Der Emil Hubert hat heute doch seinen Siebzigsten. Der Opa von Sonja, die mal mit dir im Tischtennisverein war.«
An Sonja konnte ich mich nur schwach erinnern. Aber an ihren Opa. Er saß das ganze Jahr über auf einer Bank vor dem Haus und sah ins Leere.
»Und der hat Guacamole bestellt?«
Mama zuckte mit den Schultern. »Klar. Wieso nicht? Wollte wohl als junger Mann immer mal nach Mexiko.«
Emil Hubert? Ich konnte mir schwer vorstellen, dass der überhaupt mal jung gewesen war. Noch schwerer fiel mir die Vorstellung, dass er jemals seine Bank verlassen wollte, um aus der Ortschaft wegzugehen. Die meisten, die hier lebten, taten das schon immer. Ein kleines Dorf, mit S-Bahn-Anbindung in die Stadt. Wenn ich erst volljährig war, war ich sofort raus aus dem Kaff. Noch in derselben Minute.
Ich dachte an die Popakademie. Aus dem Internet hatte ich mir vor einiger Zeit Stellenausschreibungen für Mannheim rausgesucht. Dabei war mein Schulabschluss erst in einem Jahr. Aber sicher war sicher. Ich hatte Sandra auf jeden Fall begleiten wollen. Vielleicht eine Ausbildung zum Tontechniker machen. Oder irgendeine andere Lehrstelle. Hauptsache in ihrer Nähe.
Mit der Trennung von Sandra war auch jede Idee gestorben, was ich nach der Schule machen könnte. Ein Auslandsjahr? Bundeswehr? Eine Lehrstelle suchen? Aber was und wo?
Ein plötzlicher Anflug von Panik ergriff mich. Ich drehte den Wasserhahn auf und trank gierig, über die Spüle gebeugt.
»Du bist ein Schwein!«, schimpfte meine Mutter. »Wirf erst mal die Avocadoschalen weg! Das gibt nur eklige Matsche.«
Meine kleine Schwester stürmte in die Küche.
»Krieg ich Schokocreme?«
Meine Mutter wirkte müde. »Nein. Was macht ihr beide überhaupt hier? Setzt euch gefälligst vor die Glotze wie normale Kinder und nervt mich nicht. Werdet fernsehsüchtig. Dieses Abgehänge in der Küche kann ich nicht ab.«
Iris kicherte.
»Kommt Sandra heute?«, fragte sie und sah mich aus Hundeaugen an. Iris liebte Sandra. Jeder liebte Sandra. Es war unmöglich, sie nicht zu lieben.
»Ich habe dir doch schon erklärt, dass Sandra …« Ich drehte den Wasserhahn wieder zu. Mama hatte recht gehabt. In der Spüle schwamm jetzt ein ekliger Brei aus Avocadoschalen. Es sah widerlich aus. »Sandra und ich haben Schluss gemacht. Du kapierst doch, was das bedeutet?«
Iris nickte. »Ihr heiratet also nicht!«
Ich sah meine Schwester entgeistert an. Von Heirat hatten wir sowieso nie gesprochen. Aber Iris war momentan im romantischen Alter. Sie hatte eine Hochzeitsbarbie in einem bescheuerten weißen Spitzenkleid. Dazu passend gab es das Hochzeitspferd: ein Schimmel, der eine rosa Krone trug. Wenn man das Pferd seitlich berührte, spielte es eine Hochzeitsmelodie. Ich fragte mich ernsthaft, wer all diesen Kitsch für Kinder erfand. Vielleicht dachte Iris wirklich, dass das Leben so war. Berüscht, mit Spitzen und einem Märchenschloss. Mit einem Pferd, das nicht kackte, sondern stattdessen einen Hochzeitswalzer spielte. Es war Zeit, dass Iris endlich erwachsen wurde.
»Man heiratet heutzutage nicht so schnell«, sagte ich. »Außer man wird ungewollt schwanger und muss.«
Meine Mutter nahm mit versteinertem Gesicht den Braten aus dem Ofen.
»Meine Barbie ist Single«, sagte Iris aufmunternd. »Wenn du willst, kannst du sie heiraten. Sie hat noch keinen Mann. Du darfst ihr zur Verlobung eine Kette kaufen, aber eine mit rosa Diamanten.«
Ich war fassungslos. »Deine Barbie ist eine Braut. Sie kann nicht Single sein«, korrigierte ich sie.
»Kann sie wohl!« Iris bockte. »Sie ist eine Braut ohne Mann. Sie hat dafür einen Glitzerring und Schuhe mit Sternenstaub. Und Ricko. So heißt ihr Pferd. Die beiden sind beste Freunde.«
»Soll das heißen, es geht deiner Barbie nur um das Kleid und das Pferd und den Schmuck? Kapierst du gar nicht, dass es beim Heiraten in Wahrheit um Liebe geht?«
Über Iris’ Kopf hinweg sah ich, wie mir meine Mutter den Vogel zeigte. »Sie ist ein Kind!«, formte sie mit den Lippen. Aber in dem Moment war mir das egal. Mir war endlich aufgegangen, wie Mädchen tickten. Es ging ihnen überhaupt nicht um uns Jungs. Es ging ihnen darum, hübsch auszusehen, eine Prinzessin zu sein. Schuhe mit Sternenstaub zu tragen.
»Wir Männer sind also nur die Ärsche, die die Rechnung bezahlen!«, sagte ich schroff.
Meine Mutter schlug mit der Faust auf den Tisch. »Jetzt reicht’s aber. Wie sprichst du denn mit ihr? In meinem Haus wird nicht so geredet. Was ist in letzter Zeit überhaupt mit dir los?«
Ich musste an Sandra denken. Wie sie mir im Schwimmbad gesagt hatte, dass sie Schluss machen wollte. Das Wasser war mir auf einmal unendlich tief vorgekommen.
»Kommt Sandra dann morgen?« Iris sah hoffnungsvoll aus.
Auf ihrer Stirn klebte Glitzerstaub. Keine Ahnung, wie er in ihrem Gesicht gelandet war. »Habe ich dir nicht eben erklärt …?« Ich machte eine abwehrende Handbewegung. »Vergiss es. Vergiss es einfach. Und nenn den Namen Sandra bitte nie mehr!«
•••
Ich verzog mich nach oben in mein Zimmer und schaltete den CD-Player ein. Coldplay, extralaut. Mama hasste es, wenn ich das machte. Aber das war meine Rache für die entgangene Schokoladencreme.
Irgendwelche Bauernfamilien stopften sich jetzt damit die Bäuche voll, während für uns nicht mal eine abgelaufene Milchschnitte im Kühlschrank lag.
Ich warf mich auf das Bett und betrachtete die Wand gegenüber. Sandra und ich hatten sie irgendwann um Weihnachten herum mit einem Graffiti besprayt. Uns war die Decke auf den Kopf gefallen, also waren wir losgezogen und hatten uns in so einem kleinen Checkerladen in der Nordstadt ein paar Spraydosen organisiert. Jetzt stand neben einem Graffiti, das einen Düsenjet zeigte, der Schriftzug »Sandra & Mika forever!«
Meine Eltern hatte fast der Schlag getroffen. Drei Monate hatte ich kein Taschengeld bekommen. Aber das war es mir wert gewesen.
Irgendwann würde ich den grellen Schriftzug übermalen müssen.
Sandra & Mika forever.
Der Schriftzug verschwand vor meinen Augen und das Schwimmbad kehrte in meine Erinnerung zurück. Ich hatte drei Bahnen gekrault und Sandra war fast reglos genau in der Mitte des Beckens auf dem Rücken immer im Kreis geschwommen. Ein paar Rentner hatten sich über sie aufgeregt. »Aus der Bahn, Mädchen! Wenn du nicht richtig schwimmst, geh gefälligst ins Kinderplanschbecken!«
Sie hatte die Alten einfach ignoriert. So getan, als ob sie sie nicht hören konnte, an die Decke der Schwimmhalle geglotzt, als wäre sie eine Wasserleiche.
Irgendwann hatte ich ihre Bahn gekreuzt. »Träumst du?«
»Nein.« Sie hörte auf mit ihren endlosen Kreisen. »Ich denke nach. Ich glaube, wir müssen Schluss machen!« Sie lächelte mich an. Ein abgeschautes Pink-Lächeln, die Wimpern waren dick getuscht. Ich fragte mich, wie sie es hinkriegte, dass das Zeug im Wasser nicht verwischte.
»Schluss machen? Mit was?« Ich planschte um Sandra herum und kapierte gar nichts.
»Na, mit uns!« Sie lächelte immer noch, als wollte sie mich verarschen. Ich fiel prompt darauf rein.
»Gute Idee. Wir können ja Freunde bleiben!«, sagte ich scherzhaft und fasste sie an der Schulter. Ich wollte sie küssen, aber sie schob mich grob von sich weg.
»Lass das!« Auf einmal war ihr Lächeln wie weggeätzt. »Ich meine das ernst. Es ist aus. Finito. Schluss eben.«
Mein Blick wanderte langsam zu den Wandkacheln hinüber. Sie waren dunkelblau. Ich fing an zu zählen: 1, 2, 3, 4 … Das mussten Hunderte oder sogar Tausende von blauen Kacheln sein. Der Bademeister lief durch mein Blickfeld. Da drüben, neben der Plastikpalme, hatten sie ein Werbebanner aufgehängt. Ein regionales Bademodengeschäft warb mit Sonderverkaufspreisen. Ich sah wieder Sandra an. Sie trug einen Bikini mit Zebramuster und kleinen glitzernden Steinchen darauf. Sogar ihre Badeklamotten sahen aus wie von einem Versandhaus für künftige Superstars. Wo ging eigentlich die echte, die wahre Pink hin, wenn sie mal schwimmen wollte? Ob die einfach so ins nächstbeste Freizeitbad fuhr? Sich irgendeinen schicken Bikini überwarf und lässig ihre Bahnen kraulte? Bestimmt nicht. Wahrscheinlich hatte Pink einen eigenen Swimmingpool im Keller. Wo sie mit all den anderen reichen Tussis schwamm und über Jungs lästerte, mit denen sie Schluss machen wollte.
»Was sagst du dazu?« Sandras Stimme katapultierte mich ins Hier und Jetzt zurück. Der beißende Chlorgeruch stieg mir in die Nase. Drei Rentner, die aussahen wie hundertjährige Schildkröten, schwammen im Zeitlupentempo an uns vorbei. Irgendwo schrien Kinder. Kaufhausmusik waberte durch die Lautsprecher über uns, das war mir vorher gar nicht aufgefallen.
»Somewhere over the Rainbow …«
Eine Dusche ging.
»Was soll ich dazu sagen?« Ich sah sie entgeistert an. »Wir wollten uns ’nen schönen Nachmittag machen. Und jetzt fällt dir ein, dass du eigentlich Schluss machen willst. Ziemlich spontan, wenn du mich fragst. Ich meine …« Ich hörte auf mit meinen sinnlosen Paddelbewegungen. Ließ mich ein Stück untergehen, bis sich die Wasserdecke über mir schloss.
Hier unten war alles ruhig. Kein »Over the Rainbow« aus den Lautsprecheranlagen. Kein Kindergeschrei. Keine Sandra, die mir Sätze an den Kopf warf, die mich verwirrten und mit denen ich nichts anfangen konnte.
Die Luft wurde mir knapp und ich schwamm wieder nach oben.
»Du weichst meinem Gespräch aus!«, sagte Sandra. Jetzt hatte die Wimperntusche doch Schaden genommen. Ein kleiner schwarzer Tropfen perlte an ihrem linken Augenwinkel herab.
»Ich … ich weiche gar nicht aus!«, stotterte ich. »Ich warte auf das Filmteam mit der versteckten Kamera. Das kann doch nur ein schlechter Witz sein!«
»Wir hatten ein gutes Jahr!«, sagte Sandra. »Ist doch ein prima Zeitpunkt, es zu beenden. Dann bleiben nur schöne Erinnerungen zurück.«
Ich dachte an das Graffiti an meiner Zimmerwand. An meinen Schreibtisch, der mit rotem Edding bemalt war. Ich dachte an unsere Isomatte bei Rock am Ring, an die Lichterkette, die wir beim »Tollwood-Festival« gekauft hatten. An unsere Nachmittage im Jugendzentrum.
Ich dachte daran, wie wir vor einem Monat in einem Zelt im Garten ihrer Großeltern zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten.
Ein gutes Jahr? Für mich war es der Beginn einer neuen Zeitrechnung gewesen.
»Ich finde einfach, wir sollten uns trennen, bevor es langweilig wird.« Sandra hatte angefangen, in Richtung Treppe zu schwimmen. Ich folgte ihr.
»Aber mir ist nicht langweilig!«, protestierte ich hinter ihr. »Keine einzige Sekunde.«
Das stimmte nicht hundertprozentig. Manchmal hatte ich mich schon gelangweilt. Wenn sie mich zum Shoppen mitschleppte und ich Stunden vor den Kabinen warten musste. Wenn sie ein Konzert in irgendeiner Schulaula gab und danach wichtig mit irgendwelchen anderen Bandleuten diskutierte, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Ein paarmal hatte sie mich versetzt und ich hatte Ewigkeiten in einer Kneipe auf sie gewartet.
Sandra stieg aus dem Wasser. Sie setzte sich auf die beheizte Steinbank und zog die Beine an. Sie zitterte. »Irgendwie merke ich eben, dass das nicht alles gewesen sein kann!«, sagte sie.
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.
»Wir sind doch beide noch so jung. Hast du nicht manchmal Lust darauf, jemand anderen kennenzulernen?« Sie knabberte an ihrem lila Fingernagel herum.
Ich schüttelte den Kopf. Sandra sah mich mitleidig an.
»Hast du einen Neuen?«, fragte ich. Meine Stimme klang merkwürdig gepresst.
Sandra lächelte wieder. »Quatsch. Natürlich nicht.«
Ich atmete aus, obwohl es nichts an der Tatsache änderte, dass sie mich abschießen wollte. Sie meinte es ernst, das hatte ich langsam kapiert.
Sie legte ihre kalte Hand auf meinen Arm. »Nimm’s nicht persönlich, Mika!«, sagte sie. »Ich finde dich echt toll. Und wir verstehen uns doch trotzdem prima. Wir können doch Freunde bleiben.«
Dann war sie aufgestanden und ich blieb allein am Beckenrand zurück.
Jemand zupfte an meinem Ärmel.
»Iris!« Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. Mein Zimmer dröhnte von der Musik von Coldplay. Ich sah bestimmt schon seit zehn Minuten blöde die angemalte Zimmerwand an.
Meine Schwester kaute auf einem rosa Kaugummi und musterte mich neugierig.
Hastig wischte ich mir über die Augen.
»Weinst du?« Ihr Kaugummi verströmte einen künstlichen Erdbeergeruch im Zimmer.
»Nein«, sagte ich. »Jungs weinen nicht. Sie haben keine Tränendrüsen. Hat dir dein Biolehrer das nicht erklärt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben kein Bio, sondern Heimat- und Sachkunde. Und da sprechen wir nur immer über Frösche.«
Ich richtete mich auf. »Überhaupt sollst du doch klopfen, bevor du in mein Zimmer kommst!«, fuhr ich sie viel zu heftig an. »Das habe ich dir schon tausendmal gesagt!«
»Ich habe geklopft!«, behauptete sie. »Dreimal!«
»Wenn man geklopft hat, wartet man, bis man reingelassen wird!«, hielt ich ihr eine Standpauke. »Und wenn man nicht reingelassen wird, verpisst man sich wieder. Das nennt man dann Höflichkeit, kapiert?« Meiner Meinung nach hatten meine Eltern bei der Erziehung ihrer Tochter völlig versagt.
Ich machte die Musik leiser.
»Darf ich in deinem Zimmer Benjamin Blümchen hören?« Sie zog mit dem Zeigefinger einen rosa Kaugummifaden aus ihrem Mund.
»Nein.« Ich kam mir fies vor. Aber wenn es nach ihr ginge, würde sie den ganzen Tag in meiner Bude herumhängen, Bilder an meinem Schreibtisch malen, ihre Barbies auf meinem Bett platzieren oder meinen neuen CD-Player mit Benjamin Blümchen quälen.
»Was habt ihr heute in der Schule gemacht?«, fragte ich versöhnlich. Ich wollte ja ein guter Bruder sein, aber nicht um jeden Preis.
»Verkehrserziehung«, sagte sie beleidigt.
Ich dachte an das lockige Mädchen von heute Nachmittag. Wie sie beinahe von dem Lkw überrollt worden wäre.
Irgendetwas an ihr hatte mir gefallen, obwohl sie ein ganz anderer Typ als Sandra war.
»Was machst du, wenn die Ampel rot ist?«, fragte ich.
»Stehen bleiben!«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
»Und wenn die Ampel gerade umschaltet?«
Das war schon kniffliger. Iris überlegte. »Noch ganz schnell rüberflitzen?«
»Nein!« Ich sah sie streng an. Bei der Vorstellung, dass Iris auch mal in meinem Alter sein würde, bekam ich fast Angst. Ich stellte sie mir in ein paar Jahren vor, wie sie durch die Stadt ging und Jungs ihr krasse Sachen nachrufen würden. Wie sie vielleicht beinahe von einem Auto überfahren wurde, weil sie vor einer Gruppe idiotischer Typen auf der Flucht war.
Auf der anderen Seite war das ja alles nur Spaß gewesen. Wir hatten das Mädchen nicht wirklich belästigt. Wir waren ihr nur ein bisschen gefolgt …
»Wenn da mal so ein paar Jungs hinter dir herlaufen …«
Iris sah mich aus großen Augen an. »Jungs sind blöd«, sagte sie.
»Ja, klar. Aber irgendwann findest du das vielleicht nicht mehr. Und wenn die Jungs dir dann nachlaufen und so Sachen schreien … Also, die meinen das nicht unbedingt ernst. Die wollen dich nur ein bisschen ärgern.«
»Jungs sind blöd«, wiederholte Iris.
»Schon in Ordnung.« Ich seufzte. »Und merke dir eines: Zieh dir bloß nie kurze Röcke an!«
Verständnislos kaute Iris auf ihrem Kaugummi herum. »Hast du mir schon das Freundebuch gekauft?« Sie machte eine Kaugummiblase.
»Was für ein Freundebuch?«
»Ich hab doch am Samstag Geburtstag!«
Mir fiel es siedend heiß wieder ein. Am Samstag wurde Iris sieben und ich hatte versprochen, ihr ein Freundebuch zu kaufen.
»Entweder von Prinzessin Lillifee, von Diddl oder von Arielle, die Meerjungfrau«, listete sie auf.
»Mhm.« Gab es eigentlich gar keine normalen Freundebücher mehr? Zu meiner Grundschulzeit waren immer irgendwelche Hundewelpen oder Schulkinder auf den Eintragbüchern gewesen.
»Du kannst es im Internet bestellen!«, sagte Iris. »Bei Amazon.«
Ich sah sie fassungslos an. Wo um alles in der Welt war die Kindheit geblieben?
»Weißt du, so ein Diddl-Album hat doch bestimmt jeder«, versuchte ich zu erklären. »Und Lillifee auch!«
»Aber ich habe noch keins!«, sagte Iris. Dann ging sie aus meinem Zimmer hinaus und ich stellte die Musik wieder lauter.
4
Die Frau hinter der Imbiss-Theke lächelte mich über ihr Kreuzworträtsel hinweg verständnisvoll an und ich legte rasch meine Hand auf das Freundebuch. Na prima! Ich hätte im Schreibwarenladen doch eine Tüte mitnehmen sollen. Scheiß Umweltschutz! Jetzt sah es aus, als wäre das mein Freundebuch.
»Ich liebe Diddl«, sagte sie. »Ich habe eine ganze Sammlung. Postkarten, Stofftiere. Schlüsselanhänger …«
»Ist für meine kleine Schwester«, murmelte ich verlegen. Ich fand diesen Diddl eigentlich sonderbar. Was sollte das überhaupt sein? Ein Hase? Eine Maus? Die Folge einer unerlaubten genetischen Kreuzung?
»Was möchtest du?« Die Frau beugte sich über den Tresen der Imbissbude und hörte endlich auf mit ihrem Kreuzworträtsel. Ein schaler Pommesgeruch hing in der Luft.
»Cola mit Schuss«, sagte ich.
»Bist du schon 18?« Sie deutete mit ihrem Kugelschreiber auf mich. Das Shirt der Budenbesitzerin war zu weit ausgeschnitten und ihr Busen war eindeutig zu groß, ich musste ständig darauf starren.
»Sehe ich so aus?«, fragte ich. »Ich meine, wie 18?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Also: Cola, Fanta oder Sprite? Wir dürfen keinen Alkohol an Minderjährige ausschenken.«
Minderjährig. Das klang wie minderwertig. In meinen Augen war das der pure Hohn. Nie mehr im Leben hatte man Alkohol so nötig wie mit 16. Es gab so viel, was man im Suff ertränken musste … da reichte ein Schuss genau genommen gar nicht aus.
»Cola.«
Die Brüste der Frau wippten zustimmend und sie drehte sich zu den Kühlschränken um.
Gedankenverloren ließ ich meinen Blick über den Platz gleiten. Drüben, vor dem Schaufenster mit den reduzierten Ledertaschen, stand Sandra mit ihren zwei besten Freundinnen.
Für einen Moment wurde mir schwindelig. Es war, als hätte ich eine Halluzination. Seit der Trennung hatte ich Sandra nicht wiedergesehen. Ihr Gesicht spiegelte sich im Schaufenster. Sie sah toll aus. Die Sonnenbrille, die sie trug, war neu. Ihr Haar war frisch gefärbt und geschnitten, der Lipgloss glänzte im Sonnenlicht.
»Junge, du bist so blass auf einmal!« Die Frau hinter der Theke wirkte besorgt. »Ein Gespenst gesehen?«
Ich schüttelte verstört den Kopf. Die Mädchentruppe setzte sich wieder in Bewegung. Sie hatten mich nicht entdeckt und schlenderten in Richtung Fußgängerzone davon.
»Was macht das?« Auf einmal hatte ich es eilig. So in etwa musste sich ein Drogenabhängiger auf Entzug fühlen. Man wollte ja clean bleiben, aber man stürzte doch immer wieder ab. Das größte Problem war, dass meine Droge zwei Beine hatte und gerade dabei war, für immer aus meinem Blickfeld zu verschwinden.
»2 Euro«, sagte die Frau. Ich klatschte eine Münze auf den Tisch und rannte der davonlaufenden Gruppe hinterher.
»Und deine Cola?« Die Frau klang gekränkt und winkte mir hinterher. Ich hatte die Colaflasche einfach stehen lassen. Das Diddl-Album presste ich gegen meine Brust.
Hatte ich sie schon aus den Augen verloren?
Nein, am Ende der Fußgängerzone waren sie. Sie bummelten nebeneinander an den Geschäften vorbei und hatten sich untergehakt. Ganz links lief Vanessa, die mich noch nie hatte leiden können. Sie war immer übertrieben geschminkt, als hätte sie ein Kosmetikstudio überfallen. Rechts war Nadine, die älteste Freundin von Sandra. Ich mochte sie. Sie sah ein bisschen unscheinbar aus, hatte aber ein herzliches Lachen. In der Mitte: Sandra selbst. Sie hatte sich nicht nur eine coole Sonnenbrille geleistet, sondern auch neue Klamotten gekauft. War sie schon immer so schlank gewesen? Die Nietenjeans saß auf jeden Fall perfekt.
Das war der Unterschied: Seit wir uns getrennt hatten, hatte ich meine Kleidung kaum mehr gewechselt. Ich verwahrloste langsam in meinem dunkelgrauen Sweatshirt, schrieb gekränkte SMS und starrte meine Zimmerwand an, während sie in neuem Outfit durch die Stadt spazierte. Die Trennung wirkte auf sie wie eine Schönheitskur.
Ich war zu schnell gelaufen, jetzt hatte ich die Mädchen fast eingeholt. Auf keinen Fall durften sie mich bemerken! Ich konnte direkt Vanessas abschätziges Gesicht vor mir sehen. Dass ich wie ein Spinner hinter Sandra herschnüffelte, passte exakt zu dem negativen Bild, das sie von mir hatte.
»Was ist jetzt mit Kino?« Vanessa war stehen geblieben.
Ich machte an der Häuserecke halt und versteckte mich im Eingang. Die Mädchen überlegten und Vanessa zündete sich eine Zigarette an.