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Die Vergangenheit hinter sich lassen
Gleich, ob kleinere Brüche im Leben oder massive Traumatisierungen: Schmerzhafte Erinnerungen loszulassen ist oft schwer. Francine Shapiro hat dafür eine der effektivsten Behandlungsmöglichkeiten weltweit entwickelt: die wissenschaftlich anerkannte Traumatherapie EMDR (
Eye Movement Desensitization and Reprocessing). Ihre bahnbrechende Erkenntnis: Quälende, außer Kontrolle geratene Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen basieren auf alten Erfahrungen, die das Gehirn
unverarbeitet abgespeichert hat.
Mit diesem Buch lernen Sie praktische Selbsthilfe-Werkzeuge kennen, um Ihr eigenes Leben wieder in die Hand zu nehmen. Und Sie können auch erkennen, wann zusätzliche therapeutische Unterstützung nötig ist. Ein leicht zugänglicher Praxis-Ratgeber von der Entdeckerin einer wissenschaftlich anerkannten Form der Psychotherapie, die schon Millionen von Menschen weltweit unterstützt hat.
»Die eigentliche Ursache für unser Leiden liegt gewöhnlich darin, WIE unsere Erinnerungen an frühere Ereignisse im Gehirn abgespeichert worden sind – und genau das können wir verändern.« Dr. Francine Shapiro
EMDR ist eine von Dr. Francine Shapiro entwickelte hoch wirksame traumabearbeitende Psychotherapiemethode. EMDR ist international als eine der effektivsten Methoden zur Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung von allen wichtigen wissenschaftlichen Leitlinien anerkannt (AWMF, 1999-2009; NICE, 2005 u. a.). 2006 wurde EMDR auch vom deutschen wissenschaftlichen Beirat für Psychotherapie als effektive, wissenschaftlich begründete Psychotherapiemethode anerkannt.
Die EMDR-Methode enthält Elemente vieler wirksamer Psychotherapieansätze, die in strukturierter Weise eingesetzt werden, um möglichst große Behandlungseffekte zu erreichen. Zu diesen gehören psychodynamisch/tiefenpsychologische, kognitiv-verhaltenstherapeutische, interpersonelle und körpertherapeutische Ansätze. Im Überblick über alle wissenschaftlichen Studien zu EMDR zeigt es sich, dass EMDR die gleichen Behandlungseffekte wie andere bewährte Behandlungsmethoden erreicht, dazu jedoch nur 40% der Behandlungsstunden benötigt (v. Etten et al. 1998).
EMDR wurde von Dr. Shapiro in erster Linie zur Behandlung belastender Erinnerungen bei posttraumatischer Belastungsstörung entwickelt. Dennoch zeigt sich die Methode auch bei anderen Störungsbildern, die durch belastende Erlebnisse mit verursacht werden, ebenfalls als wirksam wie z. B. Anpassungsstörungen, traumatischer Trauer nach Verlusterlebnissen, akuten Belastungsreaktionen kurz nach belastenden Erlebnissen, bei Verhaltensstörungen von Kindern und chronischen komplexen Traumafolgestörungen viele Jahre nach schweren Belastungen in der Kindheit. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass EMDR auch in der Behandlung von Phantomschmerzen oder der Senkung der Rückfallneigung bei Alkoholkranken wirksam ist.
Eines der zentralen Elemente der EMDR-Methode ist die „bilaterale Stimulation“, die in verschiedenen Phasen der Behandlung Augenbewegungen, Töne oder kurze Berührungen z.B. des Handrückens (so genannte „Taps“), enthält. Ein weiteres zentrales Element der EMDR-Methode ist der Aufbau psychischer Kräfte (Ressourcen) und die Bearbeitung belastender (traumatischer) Erlebnisse, die an der Auslösung vieler psychischer Erkrankungen mit beteiligt sind.
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Seitenzahl: 563
FRANCINE SHAPIRO
Frei werden von der Vergangenheit
Trauma-Selbsthilfe nach der EMDR-Methode
Aus dem Amerikanischen von Karin Petersen, Berlin
Kösel
Titel der Originalausgabe: Getting Past Your Past. Take Control of Your Life with Self-Help Techniques from EMDR Therapy
Published by Rodale, New York, NY
Für meinen geliebten Mann Bob Welch
Copyright © 2012 by Francine Shapiro, PhD
Copyright © für die deutsche Ausgabe 2013 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlag: Monika Neuser, München
Umschlagmotiv: fotolia© Zffoto
ISBN 978-3-641-11384-1
Weitere Informationen zu diesem Buch und unserem gesamten lieferbaren Programm finden Sie unter
www.koesel.de
Inhalt
1. Auf Automatik laufen Wie unbewusste Erinnerungen unser Leben steuern
2. Geist, Gehirn und worauf es ankommt Wie wir Erfahrungen verarbeiten
3. Ist es das Klima oder das Wetter? Chronische und vorübergehende Schwierigkeiten
4. Wer steuert hier wen? Die Erinnerungen aufdecken, die uns triggern
5. Die verborgene Landschaft Wie sich Probleme entwickeln
6. Ich würde ja, wenn ich könnte Umgang mit Ängsten und Unsicherheit
7. Die Beziehung zwischen Körper, Geist und Gehirn Die körperlichen Auswirkungen von Stress und Trauma
8. Was willst du von mir? Probleme in Beziehungen
9. Ein Teil des Ganzen Gewalt, Süchte, sexueller Missbrauch
10. Von gestresst zu mehr als gesund Wie Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden wachsen können
11. Nach Hause kommen Eingebunden in eine größere Gemeinschaft
Dank
Anhang A Glossar und Selbststeuerungsübungen
Anhang B Eine Therapeutin oder einen Therapeuten finden
Anhang C EMDR: Ergebnisse der Traumaforschung und weiterführende Literatur
Anhang D Ausgewählte Fachliteratur
Über die Autorin
1. Auf Automatik laufen Wie unbewusste Erinnerungen unser Leben steuern
Warum gerät eine schöne, intelligente Frau ständig an die falschen Männer und wirft sich, wenn diese sich von ihr trennen wollen, vor ihnen auf den Boden, umklammert ihre Knie und fleht sie an, sie nicht zu verlassen?
Ben ist ein erfolgreicher Geschäftsmann. Warum ist er immer dann, wenn er eine Präsentation halten muss, starr vor Angst?
Sophia probiert seit Jahren einen Therapeuten nach dem anderen aus, weil sie wissen will, warum sie sich fast ständig bedroht fühlt, Angst vor dem Verlassenwerden und eine Essstörung hat. Am merkwürdigsten ist, dass ihr immer wieder Bilder von der Farbe Rot und einer Kerze kommen. Das alles ergibt für sie keinen Sinn, passiert ihr aber schon, so lange sie denken kann.
Interessanterweise gibt es für alle diese Probleme eine Erklärung, die mit der Funktionsweise unseres Gehirns zusammenhängt. In diesem Buch erforschen wir die Ursachen für derartige Schwierigkeiten wie auch die Schritte, die wir zu ihrer Überwindung tun können.
Warum wir leiden
Tatsache ist, dass es uns allen hin und wieder schlecht geht. Ständig erleben wir Situationen, die uns zu schaffen machen. Doch sollten wir auch dann noch leiden, wenn das entsprechende Erlebnis in der Vergangenheit liegt, dann deswegen, weil die Verdrahtung unseres Gehirns unseren Geist beeinflusst. Machen Sie einmal folgendes Experiment, um das selbst zu überprüfen. Ich gebe Ihnen einen Satz vor, und Sie schauen, was Ihnen dazu als Erstes in den Sinn kommt:
Rosen sind rot.
Die Chancen stehen gut, dass Menschen, die in den Vereinigten Staaten aufgewachsen sind, dazu als Erstes einfällt: Veilchen sind blau. [Anm. des Verlags: Es handelt sich um einen beliebten Kinderreim, der lautet: »Roses are red, violets are blue, sugar is sweet, and so are you.« Dieser Reim ist in Amerika ebenso bekannt wie bei uns zum Beispiel »Hoppe, hoppe Reiter« oder »Heile, heile Segen«.] Diese Reaktion ist fast schon ein Reflex, ähnlich dem Kniescheibenreflex, und sie zeigt einen wichtigen Zusammenhang auf, denn mentale Reaktionen beruhen auf körperlichen Vorgängen. Ihr Gehirn ist so programmiert, dass es genauso reagiert wie Ihr restlicher Körper. Ganz gleich, wie alt Sie sind oder welches Geschlecht Sie haben, wenn jemand an einer bestimmten Stelle auf Ihr Knie schlägt, schnellt es vor. Ähnlich automatisch reagiert Ihr Geist, ganz gleich, welche Absicht Sie haben. Wann haben Sie diesen oder einen vergleichbaren Kinderreim zum letzten Mal gehört? Wenn Sie nicht mit kleinen Kindern zusammenleben, wahrscheinlich vor vielen, vielen Jahren. Trotzdem kommen Ihnen, nachdem Sie die erste Zeile eines bekannten Reims gehört haben, die nächsten Worte automatisch in den Sinn. Solche automatischen Reaktionen können wunderbar und nützlich sein. Sie zeigen, wie stark unser Geist uns beeinflusst – aber nicht immer erweist er uns gute Dienste.
Schauen wir uns die beiden Sätze einmal näher an. Die Reaktion von Menschen in den USA auf Rosen sind rot ist keine überlegte Einschätzung der Bedeutung dieser Worte. Ihr Geist reagiert automatisch, als wäre diese Aussage wahr. Aber Rosen sind nicht immer rot. Es gibt auch gelbe, rosafarbene, violette, ja Rosen in fast allen Farben. Trotzdem scheint der Satz, ohne dass wir ihn hinterfragen, auf den ersten Blick richtig zu sein. Und was ist mit dem zweiten? Veilchen sind blau. Stimmt das wirklich? Nein, tatsächlich sind Veilchen violett. Aber diese Zeile kommt Amerikanern in den Sinn, ganz gleich, ob sie stimmt oder nicht.
Wahrscheinlich macht der Satz weder Sie noch die meisten Amerikaner traurig. Doch können derartige automatische Reaktionen – wie hier die Komplettierung des Kinderreims – eine ganze Reihe von Problemen verursachen, die uns unglücklich machen und Familien und Gemeinschaften zerstören. Die gleichen Prozesse von Geist beziehungsweise Gehirn, die es uns ermöglichen, einen Reim zu ergänzen oder Lieder mitzusingen, die wir seit 20 Jahren nicht gehört haben, können Depressionen, Liebeskummer und manchmal auch körperliche Schmerzen auslösen.
Dieser Kinderreim hat uns aber noch mehr zu sagen. Auf die beiden ersten Verse Rosen sind rot,Veilchen sind blau folgen die Zeilen Zucker ist süß, und das bist auch du. Ein schönes Gefühl kommt hier zum Ausdruck, das sich ebenfalls fast automatisch einstellt. Doch wissen wir alle, dass Zucker zwar süß ist, Menschen aber sehr viel komplizierter sind. Jeder von uns ist eine Mischung aus süß, sauer und sämtlichen nur denkbaren Geschmacksrichtungen. An irgendeinem Punkt im Leben ist jede und jeder von uns ärgerlich, traurig, eifersüchtig, bitter, verletzt, unsicher, glücklich oder liebenswürdig. Und wenn wir das sind, verhalten wir uns auch entsprechend. Den einen Augenblick schätzen wir unseren Partner oder unsere Partnerin und könnten ihn oder sie ständig küssen. Und schon am nächsten Tag bringt uns derselbe Mensch dazu, dass wir vor Wut explodieren und ihn frustriert anschreien könnten.
Wir können also festhalten, dass manches von dem, was wir als Heranwachsende gelernt haben, stimmt, anderes jedoch nicht. Als Kinder können wir zwischen beidem oft nicht unterscheiden, und häufig ist das, was wir für wahr halten – wie unsere Überzeugung, minderwertig zu sein, weil man uns eingeschüchtert oder zurückgewiesen hat, oder für die Scheidung unserer Eltern verantwortlich zu sein –, einfach eine falsche Wahrnehmung. Trotzdem haben die mit diesen Erfahrungen verbundenen Überzeugungen Auswirkungen und kommen unser ganzes restliches Leben lang automatisch hoch, ohne unserer bewussten Kontrolle zu unterliegen.
Jede Erfahrung, die wir in unserem Leben gemacht haben, wird zu einem Baustein für unsere innere Welt und steuert unsere Reaktionen auf sämtliche Ereignisse und Personen, die uns in unserem Leben widerfahren beziehungsweise begegnen. Wenn wir etwas »lernen«, wird diese Erfahrung in Netzwerken von Gehirnzellen, die wir »Neuronen« nennen, körperlich abgespeichert. Diese Netzwerke formen unseren unbewussten Geist ganz real, denn sie bestimmen, wie unser Gehirn die Welt interpretiert, und sie steuern, wie wir uns von Augenblick zu Augenblick fühlen.
Unsere Erinnerungen umfassen Erfahrungen, die wir vor vielen Jahren gemacht haben, und unserem bewussten Verstand ist oft nicht klar, dass diese Erlebnisse immer noch Auswirkungen auf uns haben. Doch weil diese Erinnerungen im Gehirn körperlich gespeichert sind, kommen sie unkontrolliert hoch, wie zum Beispiel in Form der automatischen Reaktion auf den Satz Rosen sind rot, und färben auch unsere Sicht jeder neuen Situation, der wir begegnen. Sie können bewirken, dass wir uns unattraktiv finden, obwohl das nicht stimmt, oder uns deprimiert fühlen, wenn alle um uns herum fröhlich sind. Und sie können uns heftigen Liebeskummer bereiten, wenn ein Mensch uns verlässt – auch wenn uns bewusst ist, dass diese Person uns überhaupt nicht guttut und es ein großer Fehler wäre, die Beziehung fortzusetzen. Im Grunde genommen stellen viele der Gefühle und Verhaltensweisen, die unsere Lebensfreude trüben, Symptome dar, die aus diesem Gedächtnissystem stammen, das unser Unbewusstes gestaltet.
Greifen wir das anfängliche Beispiel noch einmal auf: Warum wählt eine schöne, intelligente Frau ständig die falschen Männer und wirft sich, wenn diese sich von ihr trennen wollen, vor ihnen auf den Boden, umklammert ihre Knie und fleht sie an, sie nicht zu verlassen?
Es fällt Justine nicht weiter schwer, einen Freund zu finden. Ihr Problem ist, die Beziehung zu halten. Inzwischen 25 Jahre alt, wählt sie meistens Männer mit irgendeinem »Haken«, die emotional verschlossen sind. Schon bald, nachdem sie die Beziehung eingegangen ist, beginnt sie zu klammern, und schließlich trennt sich ihr Freund von ihr. Wenn das passiert, weint sie hysterisch, fällt auf die Knie, umklammert mit ihren Armen die Beine des Mannes und fleht ihn an, bei ihr zu bleiben. In der Therapie verfolgten wir die Ursache für dieses Verhalten zurück bis zu einem Ereignis, das an einem Sonntagabend passierte, als Justine sechs Jahre alt war. Damals lebte sie mit ihren Eltern in einem zweistöckigen Haus. An jenem Abend tobte ein schwerer Sturm, der ihr große Angst machte, und so begann sie oben in ihrem Schlafzimmer zu weinen und nach Mutter und Vater zu rufen. Ihre Eltern saßen jedoch in der Küche im Erdgeschoss. Der Sturm übertönte Justines Rufen, die Eltern hörten sie nicht. So kamen sie auch nicht, um sie zu beruhigen, und schließlich weinte das Kind sich in den Schlaf.
Wie kann eine so alltägliche Situation verantwortlich für die Probleme dieser jungen Frau sein? Wir alle haben in unserer Kindheit heftige Stürme oder Gewitter erlebt, doch nur für einige von uns hatte das negative Folgen. Die genaueren Gründe dafür werden wir in späteren Kapiteln erforschen. Für jetzt reicht es zu wissen, dass wir, wenn wir negative Reaktionen und Verhaltensweisen aus der Gegenwart direkt bis zu früheren Erinnerungen zurückverfolgen können, diese als »unverarbeitet« definieren – das heißt, sie sind im Gehirn so abgespeichert, dass sie immer noch mit den Emotionen, körperlichen Empfindungen und Überzeugungen verbunden sind, die wir vor vielen Jahren hatten. In jener stürmischen Nacht hatte Justine als Kind panische Angst und glaubte, in Gefahr zu sein. Ihre Eltern kamen nicht, als sie nach ihnen rief, was ihr das Gefühl vermittelte, im Stich gelassen zu werden in einem Moment, in dem sie die beiden wirklich brauchte. Diese Erinnerung, die in ihrem Gehirn zusammen mit der großen Angst der Sechsjährigen abgespeichert wurde, wird immer dann ausgelöst, wenn ein Partner sie verlässt. An diesem Punkt verhält sie sich nicht mehr wie eine erwachsene und kompetente 25-jährige Frau, sondern wie das verängstigte kleine Mädchen, das im Dunkeln allein gelassen wurde. Der Zusammenhang ist evident, da Sturm und Trennung beide mit dem Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit einhergehen. Aus diesem Grund erlebt Justine Trennungen unbewusst als »große Gefahr«.
Wir alle erleben solche Zusammenhänge ständig. Sie sind meistens auch der Grund für all die typischen Eigenarten, die wir an uns und den Menschen in unserem Leben lieben oder hassen, und zeigen, wie unser Gehirn versucht, sich aus der Welt, in der wir leben, einen Reim zu machen. Das Aufspüren dieser Gedächtnisverbindungen ist allerdings nur der erste Schritt, um unser Denken, Verhalten und Fühlen zu verändern. Wir müssen nicht nur verstehen, woher etwas kommt, sondern auch wissen, was wir dagegen unternehmen können. In diesem Buch erforschen wir, wie wir herausfinden, welche Erinnerungen unseren persönlichen Problemen und unseren Beziehungsschwierigkeiten zugrunde liegen, was wir tun können, um diese selbst zu überwinden, und wie wir erkennen, wann wir uns dafür professionelle Unterstützung suchen sollten.
Wir werden auch einen gründlichen Blick auf die Funktionsweise unseres Geistes werfen, das heißt auf die komplexen Verbindungen, die unser Bewusstsein gestalten. Hierzu greife ich zurück auf Beispiele, die einige der über 70.000 Therapeutinnen und Therapeuten beigesteuert haben, die weltweit eine Therapieform anwenden, welche als EMDR bekannt ist (englisch: Eye Movement Desensitization and Reprocessing, deutsch: Desensibilisierung und Neuverarbeitung durch Augenbewegung). Diese Therapie hat im Laufe der letzten 20 Jahre Millionen von Personen geholfen, und viele von ihnen berichten in diesem Buch detailliert von ihren Erfahrungen, weil sie dazu beitragen möchten, den Prozess, wie Menschen sich verändern können, zu »entmystifizieren«. Die Forschung hat gezeigt, dass bereits durch eine einzige EMDR-Verarbeitungssitzung tiefgreifende Veränderungen erfolgen können. Die Klienten, die in diesem Buch von ihren Erfahrungen berichten, öffnen uns damit ein »Fenster zum Gehirn«, denn die Verbindungen, die sie herstellen konnten, geben uns Antworten auf die Frage, warum wir alle auf unsere ganz einzigartige Weise auf diese Welt reagieren.
Die EMDR-Therapie fokussiert die unverarbeiteten Erinnerungen, welche die negativen Emotionen, Empfindungen und Überzeugungen enthalten. Durch Aktivierung des Informationsverarbeitungssystems des Gehirns (das ich in Kapitel 2 näher erläutere) können die alten Erinnerungen »verdaut« werden. Das heißt, wir lernen, was nützlich ist, verabschieden, was unnütz ist, und speichern die Erinnerungen dann so ab, dass sie uns nicht länger schaden. So hat Justines Therapeut zum Beispiel den Gewittersturm anvisiert und das von Justine damit verbundene Gefühl, allein und in Gefahr zu sein. Als Justine die Erinnerung an den Sturm erst einmal verarbeitet hatte, verschwand das kindliche Gefühl des Entsetzens und wurde ersetzt durch das Gefühl, in Sicherheit zu sein, und die Überzeugung, als Erwachsene selbst für sich sorgen zu können. Parallel dazu lösten sich auch ihre Beziehungsprobleme auf, da ihr neues Selbstgefühl dazu führte, dass sie andere Partner wählte. Hätten Justines Eltern sie missbraucht oder vernachlässigt, hätte sie sich in der Therapie natürlich noch mit weiteren Erinnerungen auseinandersetzen müssen. Aber ganz gleich, wie viele schwierige Erinnerungen eine Klientin oder ein Klient haben mag, suchen wir bei dieser Form von Therapie grundsätzlich einen solchen Zugang zum »Unbewussten«, dass in den Verarbeitungssitzungen schnelle Einsichten, Verbindungen und Veränderungen möglich werden.
Was ist der unbewusste Geist?
Die meisten Menschen denken beim Unbewussten an die Psychoanalyse und Filme, welche die freudsche Sicht von psychischen Konflikten sowie symbolische Träume und Gesten behandeln. Aus psychoanalytischer Sicht ist für eine erfolgreiche Behandlung generell eine jahrelange Redetherapie und »Durcharbeitung« der Probleme erforderlich, um Einsichten zu gewinnen und die Kräfte, die im Verborgenen arbeiten, in den Griff zu bekommen. Eine solche Therapie kann sehr wertvoll sein, doch gilt es zu bedenken, dass Freud seine ersten Schriften zu Beginn des letzten Jahrhunderts veröffentlichte und sich seitdem vieles verändert hat. In den vergangenen Jahrzehnten gab es viele neue Vorstöße auf dem Gebiet der neurobiologischen Technologien, die unser Verständnis davon, wie diese »inneren Kräfte« tatsächlich beschaffen sind, grundlegend erweitert haben. Die Erforschung des Unbewussten, wie wir sie in diesem Buch verfolgen, basiert auf der Funktionsweise des Gehirns selbst. Wenn wir verstehen, wie unsere Erfahrungen das physische Fundament für unsere emotionalen und physischen Reaktionen bilden, wissen wir auch, warum wir bisweilen mental »festgefahren« sind und automatisch reagieren, und was wir dagegen unternehmen können.
Nehmen wir zum Beispiel unseren zweiten Fall:
Ben ist ein erfolgreicher Geschäftsmann. Warum ist er immer dann, wenn er eine Präsentation halten muss, starr vor Angst? Er selbst beschreibt seine Situation mit folgenden Worten:
»So lange ich denken kann, habe ich Angst, vor Menschen zu stehen und etwas darstellen oder vermitteln zu müssen. Meine Hände beginnen zu schwitzen, die Stimme rutscht mir weg, mein Herz rast, und ich denke Dinge wie: ›Ich bin ein Idiot. Ich kann das einfach nicht. Alle hassen mich.‹ Manchmal hatte ich so heftige Angst, als stünde mein Leben auf dem Spiel. Klingt lächerlich, aber genauso war es. In meiner Schulzeit gehörten öffentliche Auftritte und Vorträge einfach zum Stundenplan. Und in meinem Beruf ist es genauso. Irgendwie habe ich mich da immer durchgemogelt, aber angenehm war das nie. Tatsächlich habe ich vor und nach jedem dieser ›Auftritte‹ gelitten. Ich bin mit nahestehenden Menschen vorher immer alles ganz genau durchgegangen, was für die natürlich auch keine wirkliche Freude war. Aber was ich auch versuchte, wirklich besser wurde es nicht. Ich habe viele unterschiedliche Therapien ausprobiert. Manchmal schien es ein wenig besser zu gehen, doch dann kamen die Ängste mit voller Wucht zurück.«
Ben begann eine EMDR-Therapie und konnte durch Anwendung der verschiedenen Verfahren, die wir in diesem Buch noch kennenlernen werden, die Ursache für seine Probleme herausfinden und seine Reaktionen ändern. Dabei entdeckte er Folgendes: »Es stellte sich heraus, dass meine Schwierigkeiten auf ein Ereignis zurückgingen, das passierte, als ich knapp vier Jahre alt war. Damals ging ich mit meinem Großvater auf dessen Farm in North Carolina spazieren. In meiner Erinnerung schaue ich nach oben wie ein ganz kleines Kind. Ich weiß nicht mehr, ob ich vor meinem Großvater munter drauflos plapperte, aber wenn ich den Berichten meiner Familie Glauben schenken kann, tat ich wahrscheinlich genau das. Auf der Straße begegneten wir einem merkwürdigen alten Mann, der gebückt daherkam und uns ärgerlich ansah. Ich weiß noch, ihm wuchsen Haare in seinen großen Nasenlöchern und er sagte im langgezogenen Dialekt der Bergbewohner: ›Na, aber hallo, wenn mich ein junges Ding so vollplappern würde wie der da, würde ich ihn im Fluss ersäufen.‹ Ich versteckte mich hinter den Beinen meines Großvaters, lugte hoch in die Nasenlöcher des Mannes und verstummte. Ich wusste, dass ungewollte Katzenjunge tatsächlich ›im Fluss ersäuft‹ wurden. Es war also offensichtlich gefährlich, vor Fremden einfach drauflos zu plappern.«
Dieser Augenblick des Entsetzens im Leben des Kindes legte das Fundament für sein späteres Problem. Die Erinnerung daran wurde in seinem Gehirn abgespeichert und bildete die Grundlage für sein späteres Versagen: »Meine erste Inhaltsangabe verfasste ich in der dritten Klasse und trug sie meiner geliebten Frau Kneenor vor, einer jungen, hübschen Lehrerin in ihrem ersten Berufsjahr. Ich mochte Frau Kneenor sehr und war stolz darauf, dass meine Inhaltsangabe drei Seiten lang war. Ich hatte mir große Mühe damit gegeben. Ich stotterte ein wenig, was insgesamt ein halbes Jahr anhielt, bevor es ebenso mysteriös verschwand, wie es angefangen hatte. Meine Eltern waren sehr einfühlsam damit umgegangen, und ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich deswegen schämte. In meinen Tagträumen hatte ich mir vorgestellt, wie Frau Kneenor mich vor der ganzen Klasse für meinen großartigen Vortrag lobte. Stattdessen blieb Frau Kneenor hinten in der Klasse stehen und konnte die ganze Zeit, während sie mir zuhörte, das Lachen nicht unterdrücken. Ich mühte mich ab mit meinem Vortrag und stotterte immer stärker, während ich dachte: ›Du bist ein Idiot.‹ Zwei Jahre später beschloss man im letzten Moment, mich in einem Schultheaterstück mitspielen zu lassen. Mitten im ersten Akt vergaß ich meinen Text. Starr vor Entsetzen stand ich auf der Bühne und dachte: ›Alle hassen mich jetzt. Ich habe alles verdorben. Ich bin ein Idiot.‹«
Beachten Sie, dass Ben 40 Jahre später, als er eine Präsentation halten musste, die gleichen Gedanken durch den Kopf gingen: »Ich bin ein Idiot. Ich kann das nicht. Alle hassen mich.« Vor der EMDR-Therapie hatte er keine Ahnung, warum er so fühlte und dachte. Er verfügte weder über ein visuelles Bild von der Farm seines Großvaters noch von der Inhaltsangabe, die er vor seiner Klasse hielt, oder der Theateraufführung in der Schule – die damit verbundenen Gefühle und Gedanken kamen ihm einfach. Das war seine automatische Reaktion auf einen äußeren Auslöser oder Trigger, so wie uns auf »Alle meine Entchen« automatisch der Satz »schwimmen auf dem See« einfällt.
Nichts existiert in einem Vakuum. Reaktionen, die wir für irrational halten, sind oft genau das. Aber irrational heißt nicht, dass es keine Gründe für diese Reaktionen gibt, sondern dass sie aus einem Teil unseres Gehirns kommen, der nicht vom rationalen Verstand gesteuert wird. Die automatischen Reaktionen, die unsere Emotionen steuern, beruhen auf neuronalen Assoziationen in unseren Gedächtnisnetzwerken, die unabhängig von unseren höheren Verstandeskräften arbeiten. So können Sie sich selbst manchmal nur erstaunt dabei zuschauen, wie Sie Dinge tun, von denen Sie wissen, dass Sie sie später bereuen werden, sich zu Menschen hingezogen fühlen, die Ihnen nicht guttun, sich von jemandem verletzt fühlen, den Sie gar nicht schätzen, ohne besonderen Grund einen geliebten Menschen anschreien oder nicht imstande sind, eine depressive Verstimmung abzuschütteln, die durch scheinbare Belanglosigkeiten ausgelöst wurde. Das alles ist irrational, aber verständlich, und, noch wichtiger: Wir können etwas dagegen unternehmen. Zwar spielen auch unsere Gene dabei eine wichtige Rolle, doch die eigentliche Ursache für unser Leiden liegt gewöhnlich darin, wie unsere Erinnerungen an frühere Ereignisse im Gehirn abgespeichert worden sind – und genau das können wir verändern. Glücklicherweise sind angemessen abgespeicherte Erinnerungen auch die Grundlage für Freude und geistige Gesundheit.
Später werden wir uns noch gründlicher anschauen, wie unser Gehirn und unser Gedächtnis arbeiten.
Wir sitzen alle im gleichen Boot
Wir alle pendeln in unserem Leben zwischen Leid und Glück, Krankheit und Gesundheit. Manche von uns sind in Familien aufgewachsen, die zu unseren Schwierigkeiten beitrugen, andere wurden von ihrer Familie liebevoll unterstützt. Und so reichen auch unsere Lebenserfahrungen von den üblichen Demütigungen in der Kindheit, von Versagen, Ablehnung und Streit bis zu schweren Erlebnissen, die eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) auslösen können, wie Unfälle, körperlicher, sexueller oder emotionaler Missbrauch, Kriegserlebnisse oder Naturkatastrophen. Bei der Diagnose PTBS zeigen die Betroffenen darüber hinaus Symptome wie zwanghaft wiederkehrende Gedanken, Schlafstörungen, wie Albträume oder andere Wiederholungsträume, Ängste, Übererregtheit, sodass sie hypersensibel auf Gefahren reagieren und bei lauten Geräuschen aufspringen, oder eine Art »Betäubtheit«, bei der sie sich ganz verschließen und nicht mehr mit ihrer Umgebung in Kontakt sind. Außerdem halten sie sich von allem fern, was sie an das Erlebnis erinnern könnte, das sie traumatisiert hat, obwohl Gedanken daran trotzdem ständig hochkommen.
Menschen mit einer PTBS haben negative Erfahrungen so im Gehirn gespeichert, dass es zu heftigen Störungen kommt. Denkt etwa ein Kriegsveteran mit einer PTBS an ein drei Jahre zurückliegendes Ereignis im Irak oder in Afghanistan, spürt er es noch immer in seinem Körper, begleitet von den Gedanken und Bildern von damals. Ein Veteran aus Vietnam denkt vielleicht an Kriegserfahrungen, die mehr als 30 Jahre zurückliegen, und erlebt diese so, als ob sie heute passierten. Ein Marinesoldat, der viele Einsätze gefahren ist und viele Menschen hat sterben sehen, kann sich vom Tod eines bestimmten Soldaten verfolgt fühlen. Immer wenn er daran denkt, verspürt er die gleiche Hilflosigkeit, den gleichen Schmerz, den gleichen Kummer und die gleiche Wut wie damals und reagiert mit diesen Emotionen auf seine Umwelt.
Ähnlich präsent ist die Vergangenheit bei Menschen, die vergewaltigt oder sexuell belästigt wurden und eine PTBS entwickelt haben – egal, ob das Ereignis ein Jahr oder 50 Jahre zurückliegt. Wenn sie an diese Vorfälle denken, kann es sich anfühlen, als ob sie genauso wieder passierten; möglicherweise sind die Betroffenen auch in der Gegenwart bestimmter Menschen oder an bestimmten Orten voller Befürchtungen und Ängste. Doch ganz gleich, wie lange etwas zurückliegt und wie lange die Symptome bereits existieren – solche Zustände müssen nicht anhalten. Die Forschung weist, was das betrifft, in eine eindeutige Richtung. Und auch wenn für die formale Diagnose einer PTBS ein schweres Trauma wie ein Raubüberfall oder andere Gewalttaten vorliegen müssen, haben jüngste Untersuchungen gezeigt, dass alltägliche Schwierigkeiten, wie Beziehungsprobleme oder Arbeitslosigkeit, ebenso viele und manchmal sogar noch mehr Symptome einer PTBS hervorrufen können.
Das ist für uns alle von grundlegender Bedeutung, denn es zeigt, dass sich weder die auslösenden Ereignisse noch die Symptome klar separieren lassen. Ähnlich wie Menschen, die an einer PTBS leiden, haben wir alle uns schon einmal ängstlich, erschrocken, schreckhaft oder von anderen Menschen abgeschnitten gefühlt, konnten bestimmte Gedanken einfach nicht abstellen, hatten Schuldgefühle oder aufwühlende Träume. Manchmal beruhen diese Reaktionen auf einer aktuellen Situation, die wir uns näher anschauen oder die wir aufklären müssen, um sie bewältigen zu können. Manchmal verschwinden die Symptome auch, sobald die Situation vorbei ist. Doch viele von uns haben diese Gefühle häufig und ohne ersichtlichen Grund. Das ist im Allgemeinen ein Anzeichen dafür, dass ihnen unverarbeitete Erinnerungen zugrunde liegen. Diese Erinnerungen können wir identifizieren und behandeln. Ganz gleich, durch welche hartnäckigen negativen Emotionen, Überzeugungen oder Verhaltensweisen Sie sich gestört fühlen, wichtig ist, sich klarzumachen, dass diese nicht die Ursache Ihres Leidens sind, sondern Symptome. Die Ursache sind wahrscheinlich die Erinnerungen, auf die sie zurückgehen. Unsere Erinnerungen bilden die Basis für negative Symptome wie auch für unsere mentale Gesundheit. Der entscheidende Unterschied besteht darin, wie sie im Gehirn abgespeichert werden. Bleiben die entsprechenden Erlebnisse unverarbeitet, treiben sie uns zu übertriebenen Reaktionen und Verhaltensweisen, mit denen wir uns selbst oder die Menschen in unserem Leben verletzen. Sind sie »verarbeitet«, können wir uns so verhalten, dass es uns selbst und den Menschen in unserem Leben nützt.
Warum ich?
Wer von den eigenen Eltern nie unterstützt oder von ihnen sogar missbraucht wurde, ahnt wahrscheinlich bereits, worauf die Schwierigkeiten in seinem Leben zurückgehen. Andere haben Geschichten von wirklich gestörten Familien und schrecklichen Kindheiten gelesen oder gehört und denken: »Das gilt nicht für mich. Ich hatte eine gute Kindheit und kann mir die Gefühle, die ich ständig habe, einfach nicht erklären.« Doch selbst in den liebevollsten Familien, die glauben, für uns das Beste zu tun, können wir uns in einem Netz von Symptomen und Schmerz verfangen, ohne die Gründe dafür zu verstehen. Und manchmal kann die Suche nach Antworten in der Therapie uns in die Irre führen, weil der Therapeut nicht genau weiß, wie das menschliche Gedächtnis arbeitet. Lassen Sie uns, um das zu verdeutlichen, noch einmal einen Blick auf unser drittes Beispiel werfen:
Warum fühlt sich Sophia fast ständig bedroht, hat Verlassenheitsängste und eine Essstörung? Am merkwürdigsten ist, dass ihr immer wieder Bilder von der Farbe Rot und einer Kerze kommen. Das alles ergibt für sie keinen Sinn, passiert ihr aber schon, so lange sie denken kann.
Sophia probierte jahrelang einen Therapeuten nach dem anderen aus. Es gibt über 100 verschiedene Therapieformen, und jeder Therapeut bringt seine eigene Sicht der Dinge ein, was auch die jeweilige Behandlungsmethode beeinflusst. Manchmal ist es für Menschen schwer, die richtige Behandlung und damit die richtige Therapeutin zu finden. Erschwerend hinzukommen kann, dass manche stark aufwühlenden Erlebnisse in der Kindheit die Verarbeitungsfähigkeit des Gehirns überfordern und entweder überhaupt nicht gespeichert oder aber abgespalten werden, sodass die betreffende Person sie nicht erinnern kann. Das traf auch auf Sophia zu. Nach jahrelanger Therapie ohne nachhaltige Veränderung ihrer Symptome geriet Sophia an eine weitere Therapeutin, die ohne Erfolg mehrere Methoden ausprobierte. Da Sophia keine Ahnung hatte, worauf ihre Schwierigkeiten zurückgingen und warum sie unter Verlassenheitsängsten, Beziehungsschwierigkeiten, Essstörungen, Panik und anderen Ängsten litt, sagte ihre Therapeutin zu ihr: »Das klingt wirklich nach sexuellem Missbrauch.« Da in den Bildern, die Sophia wiederkehrend kamen, die Farbe Rot und eine Kerze auftauchten, vermutete die Therapeutin außerdem, es könne sich um einen rituellen Missbrauch handeln, möglicherweise einen Satanskult. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie diese Überlegungen Sophias Ängste noch verstärkten. Zwei Jahre lang erforschten sie ihre Lebensgeschichte, ohne entsprechende Erinnerungen finden zu können.
Da es ihr immer noch schlecht ging, suchte Sophia schließlich eine weitere Therapeutin auf, die sie mit der EMDR-Methode bekannt machte. Weil Sophia sich nicht an Erlebnisse erinnerte, die sie mit den Gefühlen von Bedrohung und Furcht sowie ihren Verlassenheitsängsten und ihrer Essstörung bewusst in Verbindung bringen konnte, visierte die Therapeutin die Symptome an, die mit den ihnen zugrunde liegenden Erinnerungen wahrscheinlich am unmittelbarsten in Zusammenhang standen: dem Bild von der Farbe Rot und der Kerze. Nach gründlicher Vorbereitung tauchten in dieser Verarbeitungssitzung Bilder aus Sophias Kindheit auf. Sie sah sich selbst im Alter von etwa fünf Jahren. Es war ihr Geburtstag. Ihr Vater schenkte ihr eine Duftkerze für ihr Zimmer, und dann fuhren sie mit dem Wagen zu ihrem Geburtstagsessen. Während sie so dahinfahren und zusammen Geburtstagslieder singen, ignoriert ein Auto die rote Ampel und prallt gegen ihren Wagen. Ihr Vater stirbt bei diesem Unfall. Durch die Tatsache, dass Sophias Vater auf dem Weg zu ihrem Geburtstagsessen neben ihr im Wagen starb, werden ihre Symptome erklärlich. Ein Mensch, der so etwas erlebt, kann durchaus eine Essstörung und Verlassenheitsängste entwickeln und sich ständig bedroht fühlen.
Aber manche Erinnerungen können auch irreführend sein, weil es sich hier einfach um Bilder handelt, die zu unseren Gefühlen passen. So können Kinder zum Beispiel aufgrund von Geschichten, die sie gehört haben, oder Bildern, die sie im Fernsehen gesehen haben, glauben, sie hätten selbst etwas Schlimmes erlebt. Denken Sie an all die Kinder, die Albträume bekommen, weil sie sich gruselige Filme angeschaut haben. Saß Sophia wirklich im Wagen, als ihr Vater umkam? Sophia wusste, dass ihr Vater bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, dabei gewesen zu sein. Ohne Bestätigung konnte sie sich ihrer Sache nicht sicher sein. Also rief sie ihre Mutter an und fragte: »Mutti, stimmt das? Saß ich mit im Auto, als Vati starb?« Ihre Mutter sagte: »Nun ja, Liebes, das stimmt, aber wir dachten, du wolltest nicht darüber sprechen, weil du es bislang nie erwähnt hast.« Obwohl Sophia also eine sehr liebevolle Mutter hatte, die sie schützen wollte, und sich nicht bewusst an den Tod ihres Vaters erinnern konnte, litt sie jahrelang an scheinbar völlig irrationalen Symptomen. Jetzt ergaben sie einen Sinn. Und, was noch wichtiger ist, sie verschwanden, nachdem Sophia diese Erinnerung verarbeitet hatte.
Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass wir kein schweres Trauma wie den Tod des Vaters oder einen Autounfall erleben müssen, um jahrelang anhaltende Symptome zu entwickeln. Janice zum Beispiel begann eine Therapie, weil sie jahrelang so viele Antazida (Mittel gegen Sodbrennen) eingenommen hatte, dass diese Mittel zum Zeitpunkt des Therapiebeginns drohten, ihren Magen zu zersetzen. Sie wusste nicht mehr, warum sie mit der Einnahme dieser Tabletten überhaupt angefangen hatte, nur dass sie entsetzliche Angst hatte, magenkrank zu werden. Der Therapeut arbeitete mit den EMDR-Verfahren, die Sie noch kennenlernen werden, um herauszufinden, woher diese Gefühle kamen. Dabei erinnerte Janice sich, wie sich in der Grundschule das neben ihr sitzende Mädchen einmal übergeben hatte. In der Absicht, das Malheur zu verhindern, hatte das Mädchen sich die Hand vor den Mund gehalten, sodass das Erbrochene seitwärts hervorquoll und in Janices Haaren landete. Voller Panik rannte Janice aus dem Zimmer. Sie fühlte sich gedemütigt und beschmutzt. Diese Erinnerung war der Grund dafür, dass sie so viele Antazida einnahm. Nachdem Janice sie verarbeitet hatte, verspürte sie kein Bedürfnis mehr nach diesen Tabletten.
Wenn wir ein Symptom vor uns haben, so lautet die Botschaft, gibt es meistens auch ein Erlebnis, das es verursacht oder zu seiner Entstehung beigetragen hat. Ganz gleich, ob wir uns bewusst erinnern oder nicht, irgendetwas ist geschehen. Und wenn wir uns angewöhnt haben, gegen unser Unwohlsein starke Medikamente einzunehmen, verdecken diese das Problem meistens nur. Die Ursache dieser Schwierigkeiten liegt meistens nicht bei angeborenen neurologischen Defekten und ist auch nicht rein biochemisch. Natürlich spielt unsere genetische Beschaffenheit eine wichtige Rolle und kann ausschlaggebend dafür sein, dass wir auf bestimmte Erfahrungen stark reagieren. Manchmal erben wir Prädispositionen für gewisse Anfälligkeiten, etwa in Bezug auf Depressionen oder Ängste. Doch selbst in diesem Fall müssen bestimmte Lebenserfahrungen hinzukommen, um entsprechende Beschwerden auszulösen. Wenn wir in unserem Leben »auf Automatik schalten«, steht dahinter meistens eine Kombination von genetischen Prädispositionen und bestimmten Lebenserfahrungen.
Die andere Botschaft lautet, dass selbst bei lang anhaltenden, heftigen Symptomen nicht unbedingt ein schweres Trauma vorliegen muss. Auch Dinge, die uns aus der Sicht eines Erwachsenen belanglos vorkommen, können die Ursache sein. Entscheidend ist, dass sich diese Vorfälle für das damalige Kind traumatisch anfühlten und die Erinnerung daran sich dem kindlichen Gehirn unauslöschlich eingeprägt hat. Vielleicht sind diese Erfahrungen lange her, und wir wissen nicht mehr, wie stark sie uns einmal in Aufruhr versetzt haben. Doch wir können die negativen Emotionen, Verhaltensweisen, Überzeugungen und Empfindungen, die zu anhaltenden Problemen führen, im Allgemeinen bis zu diesen unverarbeiteten Erinnerungen zurückverfolgen. So bleibt die Vergangenheit Gegenwart. In diesem Buch lernen Sie mithilfe bestimmter Methoden, aus solchen Symptomen klug zu werden und die Ursache dafür herauszufinden. Außerdem zeigen wir Ihnen hier, wie Sie Ihre quälenden Gedanken, Gefühle und Reaktionen umwandeln können, sodass Ihr Leiden abnimmt und Ihr Selbstvertrauen und Ihr Wohlbefinden wachsen.
Die Ziele dieses Buches
Es gibt unzählige Probleme im Leben, für die wir eine Lösung suchen, sei es in Büchern oder durch eine Therapie. Manche Menschen benötigen einfach bestimmte Informationen, um eine neue Herausforderung in ihrem Leben zu bewältigen. Andere erkennen, dass sie blockiert sind. Sie fühlen sich getrieben, Dinge zu tun, die sie eigentlich nicht tun wollen, und fühlen sich umgekehrt daran gehindert, das zu tun, was ihnen guttäte. Dieses Buch möchte Ihnen helfen, Antworten zu finden auf das »Warum?« in Ihrem Leben und im Leben der Menschen, die Ihnen nahestehen. Vor allem aber geht es darum, Ihnen aufzuzeigen, dass Sie gegen quälende Zustände etwas unternehmen können.
Wir alle kennen Augenblicke von Schmerz und Ungewissheit. Die Frage ist nicht, ob wir irgendwann in unserem Leben Leid erleben werden, sondern wie lange und auf welche Art und Weise wir leiden. Manche Menschen überwinden ihre Schmerzen ziemlich schnell, doch für andere gilt das nicht. Manche von uns sind überwiegend fröhlich, andere hingegen empfinden nur selten oder nie Freude. Dieses Buch will Ihnen helfen zu verstehen, warum Sie der Mensch sind, der Sie sind, und Ihnen zeigen, was Sie gegen Schmerzen und negative Reaktionen, die Ihrem Wohlbefinden entgegenstehen, tun können. Das heißt auch herauszufinden, was verhindert, dass Sie in Ihrem Leben glücklich sind, und wie Sie entsprechende Blockaden auflösen können. Durch Anwendung der Techniken, die Ihnen hier vermittelt werden, können Sie selbst bestimmen, wie Sie gute Entscheidungen für Ihre Zukunft treffen.
Wichtig ist mir auch, dass es in diesem Buch nicht darum geht, irgendjemandem »Vorwürfe« zu machen, selbst wenn wir feststellen, dass die eigentliche Ursache für viele psychische Probleme in Kindheitserfahrungen liegt. Jede und jeder von uns hat als Kind in einer Welt voller Erwachsener die Erfahrung gemacht, sich ohnmächtig zu fühlen, ignoriert zu werden oder weniger zu zählen als andere. In späteren Kapiteln untersuchen wir, warum manche Menschen psychische Symptome entwickeln und andere nicht. Wichtig ist, sich klarzumachen, dass all diese Dinge in einer Zeit passierten, als wir weder eine Wahl noch Macht hatten. Als Kinder haben wir nicht um das gebeten, was uns widerfahren ist. Und wie auch immer unsere Eltern sich uns gegenüber verhalten haben – sie sind, wer sie sind, weil sie ihre eigenen Lebenserfahrungen gemacht haben, was auch ihre Kindheit einschließt. Wenn wir überhaupt Menschen schuldig sprechen wollen, müssen wir meistens viele Generationen zurückgehen. Und doch kann selbst das negativste und hartnäckigste Muster durchbrochen werden. Wir haben als verantwortungsbewusste Erwachsene mit entsprechendem Wissen die Macht, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Wenn wir wissen, welche Kräfte unser Leben steuern, verstehen wir auch besser, wie wir und die Menschen in unserem Leben »ticken«. Für uns alle gilt, dass unbewusste Abläufe und Erinnerungen unsere Gefühle und unser Verhalten bestimmen. Letzten Endes läuft das auf die Frage hinaus, wie wir damit umgehen. Martin zum Beispiel suchte mich auf, weil er mit seiner Arbeit sehr unzufrieden war und genau wusste, dass sie nicht zu ihm passte, sich aber nicht aufraffen konnte, auf Stellensuche zu gehen. Als wir sein Thema erforschten, sagte er, er habe immer das Gefühl gehabt, sich nicht für das einsetzen zu können, was er haben wolle, und es auch nie zu bekommen. Mithilfe der EMDR-Verfahren konnten wir die Erinnerung, die ihn hier blockierte, ausfindig machen und verarbeiten. Martin sah sich, wie er als kleiner Junge oben auf dem Treppenabsatz mit dem Ball spielte. Als seine Mutter ihn dort entdeckte, ermahnte sie ihn, nicht die Stufen herunterzulaufen. Doch sein Ball rollte die Treppe hinunter, und in seiner Aufregung rannte er hinterher. Da riss ihn seine Mutter am Arm zurück und versohlte ihn: Sie bestrafte ihn dafür, dass er etwas, was er haben wollte, verfolgt hatte. Durch diesen simplen Vorfall prägten sich ihm die damit verbundenen negativen Gefühle und Überzeugungen für die nächsten 30 Jahre unauslöschlich ein.
Wir sprechen hier freilich nicht über einen Fall von Kindesmissbrauch. Martins Mutter war meistens freundlich und liebevoll. In dieser Situation allerdings reagierte sie aus ihrer eigenen Angst heraus, Martin könne sich verletzen, wenn er ihr nicht gehorchte. Dieses Verhalten als Mutter war ihr durch die eigene Erziehung aufgedrängt worden. Es handelte sich bei dieser Situation also einfach um ein bestimmtes Ereignis in Martins Leben. Individuelle Erinnerungen können wir aber so abspeichern, dass die damit verbundenen negativen Emotionen, körperlichen Empfindungen und Überzeugungen unverändert erhalten bleiben, ganz gleich, was in unserem Leben später noch passiert.
Da Erinnerungen die Grundlage für unsere persönlichen Charakterzüge bilden und unser Verhalten in dieser Welt steuern, stellt sich die Frage, wie wir die Erinnerungen, welche die Wurzel für unsere emotionalen wie körperlichen Schmerzen bilden, identifizieren können. In den weiteren Kapiteln dieses Buches wenden wir uns Themen zu wie mangelnde Selbstachtung, Depressionen, Ängste, Süchte, Schwierigkeiten in Beziehungen und mit Elternschaft, beruflichen Problemen, menschlichen Verlusten und körperlichen Beschwerden. Außerdem bekommen Sie praktische Werkzeuge für den Umgang mit diesen Themen an die Hand und lernen anhand bestimmter Richtlinien erkennen, ob Sie zusätzliche Hilfe benötigen. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass bestimmte Symptome und Schmerzen oft auf unverarbeitete Erinnerungen zurückgehen, während verarbeitete Erinnerungen die Grundlage für unsere geistige Gesundheit bilden. Wir schauen uns also auch Methoden an, mit denen Olympia-Sportler und andere Berufsgruppen ihre angestrebten Ziele erreichen und die auch Ihnen helfen können, Ihr Selbstvertrauen zu stärken.
Im Endeffekt gilt, dass, egal unter welchen Umständen wir aufgewachsen sind, wir keine Opfer und unsere Probleme kein Zeichen von Schwäche sind. Manche unserer strahlendsten Heldinnen und Helden, die ihr Leben für andere aufs Spiel gesetzt haben, leiden innerlich unter ebenso heftigen wie unnötigen Schuldgefühlen, weil sie bestimmte Menschen eben nicht retten oder bestimmte Schwierigkeiten eben nicht überwinden konnten. Sobald wir erkennen, dass wir in unserem Leben blockiert sind, stellt sich für uns alle die Frage: »Was unternehme ich dagegen?«
2. Geist, Gehirn und worauf es ankommt Wie wir Erfahrungen verarbeiten
Wir alle bewegen uns in unserer Welt mit Gehirnen und Körpern, die mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede aufweisen. Die meisten Menschen wollen für sich und ihre Familien wirklich ihr Bestes geben. Doch trotz dieser wohlwollenden Absichten hindert uns oft etwas daran. Die Ursachen dafür können wir leichter erkennen, wenn wir uns zunächst einmal klarmachen, auf welcher Basis die Techniken und Verfahren beruhen, denen wir uns im weiteren Verlauf dieses Buches zuwenden. Genetische Faktoren spielen hier sicherlich auch eine Rolle. Doch unsere Sicht der Welt und unser Austausch mit anderen Menschen beruhen überwiegend auf unseren individuellen Lebenserfahrungen. Diese sind in Erinnerungsnetzwerken abgespeichert, welche die Grundlage für unsere Wahrnehmungen, Einstellungen und unser Verhalten bilden. Und diese Netzwerke verknüpfen ähnliche Ereignisse miteinander.
Wenn mich zum Beispiel jemand bittet, verschiedene Früchte zu nennen, fällt mir das nicht schwer. In meinem Geist sind sie in ein und demselben Erinnerungsnetzwerk miteinander verbunden: Äpfel, Orangen, Pfirsiche, Himbeeren … Wenn ich einen Apfel sehe, kann ich ihn unschwer als Frucht erkennen, weil ich bereits vorher Äpfel gesehen habe. Damit ich meine Erlebnisse in jedem beliebigen Augenblick sinnvoll einordnen kann, verknüpfen sie sich in meinem Erinnerungsnetzwerk mit früheren Erfahrungen. Hat ein Kind jedoch noch nie einen Apfel gesehen, kann es möglicherweise damit nichts anfangen. Das hier ist rot und rund: Ist es ein Ball?
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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