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Die 17-jährige Renate wächst in ländlicher Idylle auf. Ab einem gewissen Alter ist das nicht mehr das, was sich ein junges Mädchen wünscht. Der Besuch des Gymnasiums in der nächsten Kleinstadt bietet auch nicht viel Abwechslung. Renate fühlt sich daher zunehmend eingeengt und möchte den elterlichen Zwängen entfliehen. Eine Möglichkeit zeichnet sich ab, sie kann in die Großstadt München wechseln, dort die Schule besuchen und bei ihrer Großmutter wohnen. Doch die tyrannische alte Dame erstickt all ihre Bestrebungen nach Freiheit und Selbstständigkeit im Keim, womit Renate vom Regen in die Traufe gekommen zu sein scheint. Also setzt Renate alles in Bewegung, um sich ihren Traum "frei wie der Wind" zu sein zu erfüllen.-
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Seitenzahl: 293
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Marie Louise Fischer
Roman
SAGA Egmont
Frei wie der Wind
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1980 by Moewig, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711718780
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
»Es gefällt mir gar nicht, dass du über Nacht fortbleiben willst«, sagte Frau Möller.
»Aber, Mutti! Was ist denn schon dabei?« Renate schrie es fast heraus. »Du weißt doch, ich bleibe bei Iris, und Iris ist so ungefähr das bravste Mädchen, das du in ganz Traunstadt finden kannst!«
Frau Möller und ihre siebzehnjährige Tochter waren mitten in einer nie enden wollenden Auseinandersetzung, in denen die Mutter meist Siegerin blieb.
»Ich begreife nicht, warum du überhaupt wegfahren willst. Wir haben es doch so schön gemütlich zu Hause. Im Fernsehen gibt’s einen Spielfilm mit Humphrey Bogart …«
»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich mich fürs Fernsehen überhaupt nicht interessiere!«
»Ich will aber Bogart sehen«, ließ sich Renates kleiner Stiefbruder vernehmen; er saß, das Kinn auf die Fäuste gestützt, am Tisch und buchstabierte an einem Comic.
»Verdammt noch mal, darum geht’s doch gar nicht!« protestierte Renate.
»Brüll nicht so!« fuhr ihre Mutter sie an. »Wir sind hier doch nicht unter den Hottentotten.«
»Mutti, liebe, beste Mutti!« Renate hatte die Stimme mühsam gedämpft und kämpfte gegen Tränen der Verzweiflung. »Verstehst du denn nicht, dass ich nicht immer abseits stehen will …«
Frau Möller fiel ihr ins Wort. »Seit wann stehst du denn abseits? Das ist das Neueste, was ich höre! Du hast eine Menge Freundinnen, die uns jederzeit willkommen sind … auch übers Wochenende. Du hast deine Familie …«
»Aber sie hat keinen Freund!« krähte Rolf dazwischen.
Renate hatte ihren kleinen Bruder sehr lieb, aber in diesem Augenblick hätte sie ihn schlagen mögen; das Blut schoss ihr in den Kopf. »Halt du dich bloß raus, du Kaffer!« schrie sie. »Was verstehst du schon von meinen Problemen?«
Ihr Bruder grinste.
»Also darin muss ich Renate Recht geben, Rolf«, sagte Frau Möller, »das war eine sehr unpassende Bemerkung.«
»Darf ich jetzt mal einen Vorschlag zur Güte machen?« meldete sich Axel Möller, Renates Stiefvater, zu Wort; er hatte sich bisher hinter seiner Zeitung verschanzt. »Wie wäre es, Renate, wenn ich dich gegen zehn Uhr in Traunstadt abholen würde?«
Renate und ihre Mutter antworteten gleichzeitig.
»Aber dann kannst du doch den ganzen Abend nichts trinken«, sagte Frau Möller.
»Um zehn Uhr geht die Party erst richtig los!« rief Renate.
»Dann hole ich dich eben erst um elf«, entgegnete Herr Möller und, zu seiner Frau gewandt: »Ein Abend Abstinenz schadet mir bestimmt nichts, eher im Gegenteil.«
»Aber ausgerechnet heute, wo wir es uns gemütlich machen wollten! Die ganze Woche habe ich nichts von dir und …«
Ihr Mann unterbrach sie. »Meine liebe Sabine, jetzt schweifst du aber gewaltig vom Thema ab. Du hast die ganze Woche nichts von mir, weil man hier in Steindorf bekanntlich kein Geld verdienen kann. Da du aber das Landleben liebst …«
»Ich scheiße auf euer Landleben!« platzte Renate heraus.
Beide, ihre Mutter und ihr Stiefvater, wandten sich ihr zu und sahen sie mit großen Augen an.
»So was sagt man nicht!« rief Rolf, aber es war ihm anzumerken, dass er sich köstlich amüsierte.
Herr Möller verbiss sich einen Tadel, da er das Verhältnis zu seiner Stieftochter, das jahrelang sehr gespannt gewesen war, nicht belasten wollte.
Aber seine Frau, der es für Sekunden die Sprache verschlagen hatte, legte los: »Was für ein Ausdruck! Renate, schämst du dich denn nicht? Ich weiß, dass unsere Sprache immer mehr verludert. Aber hier in unserem Haus hast du so etwas jedenfalls noch nie zu hören bekommen!«
»Stimmt! Weil ihr dauernd heile Welt spielt und euch selbst was vormacht! Gerade das nervt mich ja so! Das wirkliche Leben ist ganz anders!«
Herr Möller räusperte sich.
»Was weißt du denn schon vom wirklichen Leben?« fragte seine Frau.
»Dass es anders ist! Aber ihr sperrt mich ja in einen Käfig.«
»Aus dem du jeden Morgen ausfliegen darfst«, konnte sich Herr Möller nicht verkneifen zu sagen.
»Ja, nach Traunstadt, ins Gymnasium! Und spätestens mit dem Sechs-Uhr-Bus muss ich zurück. Wenn ich wenigstens ein Mofa hätte!«
»Darüber haben wir schon hundertmal gesprochen!« erinnerte ihre Mutter. »Das wäre viel zu gefährlich. Was man so täglich in den Zeitungen liest.«
»Ich würde vorsichtig sein, Mutti, wirklich!«
»Das glaube ich dir sogar. Aber meine Nerven würden es einfach nicht aushalten, wenn ich dich auf so einem windigen Fahrzeug unterwegs wüsste.«
»Nun sei mal friedlich, Renate«, sagte Herr Möller. »Wenn du achtzehn bist, machst du deinen Führerschein, und dann werden wir schon eine Nuckelpinne für dich auftreiben. Na, ist das nicht ein Vorschlag?«
»Und was mache ich bis dahin?« schrie Renate.
»Ich bin es müde«, sagte Frau Möller, »alles könnte so friedlich sein.« Sie begann den Kaffeetisch abzudecken.
Der Streit fand in der guten Stube des Bauernhauses statt, in das die Möllers kurz nach ihrer Hochzeit gezogen waren. Renate vermutete, dass sie es von der Versicherungssumme gekauft hatten, die nach dem tödlichen Verkehrsunfalls ihres Vaters angefallen war. Es war ein gemütliches Haus, ein schönes Heim für Menschen, die das einfache Leben liebten. Renate hasste es.
Sie konnte die Begeisterung ihrer Mutter und ihres kleinen Bruders über die frischen Beeren im Garten, die selbst geernteten Boskopäpfel und Walnüsse, über die Eichhörnchen, die durch die Bäume hüpften, und den Igel, der nachts ums Haus schlich, nicht teilen. Für sie bedeutete das Landleben Gefangenschaft und Isolation. Seit sie in Traunstadt aufs Gymnasium ging, hatte sie sich ihren Freundinnen von früher entfremdet. Immer schon hatte sie etwas abseits gestanden, denn die anderen waren vorwiegend Bauernkinder gewesen, und die Möllers galten, auch nach neun Jahren, noch als »Städtische«. Seit sie die höhere Schule besuchte, war sie für die anderen jemand geworden, der etwas »Besseres« war – oder jedenfalls sein wollte. Die Kontakte waren auf ein Minimum geschrumpft.
In der Stadt hatte sie sich schwer getan, Anschluss an eine Clique zu finden. Für die Kleinstädterinnen war sie ein »Mädchen vom Lande«, und die Schülerinnen, die aus anderen Dörfern rings um Traunstadt kamen, fuhren nicht im selben Bus wie sie nach Hause und waren an den Wochenenden noch schwerer zu erreichen. Die wenigen Gymnasiastinnen aus Steindorf waren älter oder jünger als sie selber.
Selbst wenn Renate für Vogelgezwitscher am frühen Morgen und Rehe nachts im Mondschein auf der Wiese geschwärmt hätte – die Freuden der Natur hätten ihre unglückliche menschliche Lage nicht verbessert. Zudem fühlte sie sich in der Familie völlig unverstanden. Die Mutter war jeden Tag aufs Neue glücklich, dass sie dem Leben in einem Wohnsilo in der Stadt entronnen war. Rolf, der die erste Klasse der Hauptschule besuchte, war in Steindorf zur Welt gekommen, hatte Freunde gefunden und begriff nicht, wie man überhaupt freiwillig in der Stadt leben konnte. Herr Möller war während der Woche als Mitarbeiter im Außendienst einer pharmazeutischen Firma unterwegs und behauptete, er genieße die Wochenenden auf dem Land. Das konnte er auch leicht, hatte Renate mehr als einmal ketzerisch gedacht, denn was er unter der Woche tat, war ja völlig unkontrollierbar.
Anfangs hatte sie ihren Stiefvater aus vollem Herzen gehasst. Kaum ein halbes Jahr nach dem Tod ihres wunderbaren, strahlenden, lustigen Vaters hatte die Mutter sie mit ihm bekannt gemacht. Renate hatte nicht begriffen, wie sie sich diesen so viel älteren, bedächtigen, manchmal ironischen Mann, wie sie sich überhaupt einen anderen Mann hatte nehmen können. Und das so schnell nach Vaters Tod.
Später hatte sie Axel Möller nur noch abgelehnt. Es war nicht seine Schuld, dass Mutter sich für ihn entschieden hatte. Er hatte Vater ja nicht gekannt und nicht gewusst, wie vermessen es war, seinen Platz einnehmen zu wollen. Sie hatte sich nicht um ihn gekümmert, und er hatte sich nicht als ihr Vater aufgespielt. Beide hatten dem Drängen der Mutter, die sich so sehr ein herzliches Verhältnis zwischen ihnen gewünscht hätte, Widerstand geleistet. Es hatte ihnen genügt, nur gerade so miteinander auszukommen, kühl, höflich, distanziert.
Aber gerade aus dieser Haltung hatte sich eine gewisse Komplizenschaft zwischen ihnen gebildet; allmählich war es zu einem Lächeln hinter dem Rücken der Mutter gekommen, einem Augenzwinkern, hie und da einem zärtlichen Knuff oder Klaps.
Inzwischen mochte Renate ihren Stiefvater ganz gern; sie fand, dass er immerhin längst nicht so antiquierte Vorstellungen hatte wie ihre Mutter.
Jetzt wartete sie, bis die Mutter mit dem Tablett in der Küche verschwunden war, dann rief sie: »So, jetzt packe ich meine Klamotten, sonst versäum’ ich noch den Bus!« Sie wusste, der Vater würde sich nicht einmischen; ihm war es nur um den Frieden in der Familie zu tun, und zwar um jeden Preis.
»Na dann, viel Spaß!« sagte Rolf gutmütig.
Renate stürzte auf den Gang hinaus und, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die hölzerne Treppe hinauf. Oben, in ihrem eigenen großen Zimmer, war es kalt. Das war auch so etwas, was sie an diesem Haus hasste. In der Wohnstube war es stets gemütlich warm. Sie wurde zusammen mit der Küche von einem riesigen grünen Kachelofen beheizt. Die Wärme stieg in das darüber liegende Elternschlafzimmer und in Rolfs Reich. Aber ihr Zimmer bekam nichts davon ab. In der kalten Jahreszeit musste sie ihre Schulaufgaben unten machen und sich eine Wärmflasche ins Bett legen, um überhaupt schlafen zu können. Hundertmal hatte sie die Eltern gebeten, wenigstens eine richtige Heizung legen zu lassen. Aber mit diesem Wunsch war sie auf Granit gestoßen. Ihre Mutter fand die Ofenheizung stilvoll für das alte Haus, und es wäre ihr nahezu als Blasphemie erschienen, Heizkörper installieren zu lassen. Öl war teuer und würde möglicherweise in ein paar Jahren gar nicht mehr erhältlich sein – Renate glaubte zwar nicht daran, aber das war eines der Argumente ihrer Mutter. Holz dagegen gab es reichlich in den umliegenden Wäldern und wurde von dem Jocklbauern ans Haus geliefert. Man würde dem Vater eine gesunde und erholsame Beschäftigung fortnehmen, wenn man ihn um sein Holzhacken am Wochenende brachte. Innerlich bezweifelte Renate zwar, dass er es tatsächlich so gern tat. Aber immerhin behauptete er es, und so war wenig dagegen zu sagen.
Der Ärger über ihr kaltes Zimmer ließ die Erinnerung an die oft wiederholten Auseinandersetzungen darüber in Renate wieder aufblitzen. Aber tatsächlich war ihr die mangelnde Beheizung des Hauses seltener gleichgültig gewesen als heute. Ein Wunsch beherrschte sie völlig: ungeschoren von hier fortzukommen, an der Party Dieter Löwensteins, eines Jungen aus ihrer Klasse, teilzunehmen, mit den anderen laut und fröhlich zu sein.
Dieter war durchaus kein Beau, aber er war schon neunzehn. Er hatte sich Zeit mit der Schule gelassen und zeigte auch in allem anderen eine gewisse Überlegenheit. Seine Eltern hatten eine Möbelfabrik und waren wohlhabend. Dieter war sich dessen in jeder Minute bewusst. Nichts konnte ihn erschüttern. Er wusste, dass er eines Tages die Firma seines Vaters übernehmen und damit aus dem Schneider sein würde. Ob er dann auch die Kenntnisse haben und die Fähigkeiten entwickeln würde, ein so großes Unternehmen zu leiten, darüber machten sich weder er noch seine Bewunderer Gedanken. Dieter war in Ordnung, das war gar keine Frage, und seine Art, die Lehrer in Wut zu bringen, war ganz große Klasse.
Renate raffte ihr Nachthemd und ihr Waschzeug zusammen und stopfte es in eine Plastiktüte. Mehr brauchte sie nicht. Zwar hätte sie sich gern für die Party etwas Besonderes angezogen, aber sie fürchtete, dass die anderen das zickig finden könnten. Nichts war ihr unangenehmer, als aufzufallen oder aus der Reihe zu tanzen. Mit einem flüchtigen Blick in den Spiegel nahm sie ihr Bild wahr. Sie wusste, wie sie aussah: blond und nichtssagend. Nicht dass sie hässlich gewesen wäre. Ihre Figur war wohl proportioniert; sie besaß eine schmale Taille, gerade Beine, einen festen, nicht eben üppigen Busen. Auch an ihrem Gesicht war nichts auszusetzen, nur war es eben farblos. Es war kein Gesicht, das jemanden veranlassen konnte, ihm einen zweiten Blick zu schenken. Jedenfalls hatte das bisher noch niemand getan. Renate hatte eine gerade Nase, einen hübschen Mund und weit auseinander stehende Augen, deren Blau ihrer Meinung nach viel zu hell war. Sie wusste nicht, dass zuweilen in ihnen ein faszinierendes Feuer aufflammen konnte, denn in solchen Momenten hatte sie sich noch nie im Spiegel betrachtet.
Renate war durchaus der Meinung, dass sie mit Make-up, Lippenstift, Lidschatten und Wimperntusche etwas aus sich machen könnte. Aber auch das war nicht leicht für sie, denn ihre Mutter war der Ansicht, dass ein junges Mädchen natürlich wirken sollte. Sie durfte ihrem Aussehen nur gerade so viel nachhelfen, dass es noch wie echt aussah – und gerade das hasste Renate. Sie wollte nicht vortäuschen, hübscher zu sein, als sie war, sondern sie wollte – aber darüber war sie sich selber nicht klar – eine Maske aufsetzen.
Eines stand fest: Heute Abend bei Iris würde sie endlich einmal ungehindert in die Farbtöpfe steigen können.
Renate schlüpfte in ihr heiß geliebtes Kaninchenjäckchen und rannte die Treppe hinunter – im Flur vor der Haustür genau in die Arme ihrer Mutter. Renate konnte nicht mehr stoppen; sie prallte förmlich gegen Frau Möller und hätte sie, wäre sie nicht eine standfeste Person gewesen, umgeworfen.
»Entschuldige«, stammelte sie verwirrt und wollte weiter.
Aber Frau Möller hielt sie bei der Schulter fest. »Was fällt dir ein?«
»Tut mir Leid, Mutti, ich wollte wirklich nicht …«
»Habe ich dir nicht verboten fortzugehen?«
»Nein, das hast du nicht!«
»Dann möchte ich wirklich wissen, worum es eben bei unserem Streit gegangen ist!«
»Du hast gesagt, dass du es nicht gern siehst, wenn ich nach Traunstadt fahre … aber verboten hast du es mir nicht!«
»Und dich einfach mal nach meinen Wünschen zu richten, dazu siehst du keinen Anlass?«
Renate blickte der Mutter fest in die Augen. »Nein.«
»Was bist du für ein schreckliches Kind! Womit habe ich eine Tochter wie dich verdient?«
»Das kannst du dir selber sicher besser beantworten als ich.«
Frau Möller war gegen körperliche Züchtigung; sie hatte Renate und Rolf nie geschlagen, aber jetzt rutschte ihr die Hand aus. Eine kräftige Ohrfeige landete auf der Wange des Mädchens.
»Aua!« schrie Renate. »Du bist gmein!« Tränen schossen ihr in die Augen.
»Ich wollte das nicht«, sagte Frau Möller, selber ganz erschrocken, »aber du bringst mich einfach zur Weißglut!«
»Also … jetzt bin ich auch noch schuld, dass du mich schlägst!« Renate rieb sich die schmerzende Wange, auf der sich ein roter Fleck ausbreitete.
»Na sicher. Ohne Grund würde ich doch so etwas nicht tun.«
»Also, ich finde, Mutti …« Renate unterbrach sich. »Hör mal, Mutti, lass uns morgen darüber reden. Ich muss jetzt los.«
»Keinesfalls. Du bleibst!«
»Aber du kannst mir doch nicht verbieten …«
»Und ob ich das kann.« Frau Möller packte Renate beim Handgelenk und zog sie in die Küche, die bis auf das noch ungespülte Kaffeegeschirr peinlich aufgeräumt war. »Renate, mein Liebling, verstehst du denn nicht, dass ich mir Sorgen um dich mache?«
Frau Möller ließ sich auf einen der schön gedrechselten Holzstühle sinken und zog das widerstrebende Mädchen auf ihren Schoß, wie sie es früher, als Renate noch klein gewesen war, oft gemacht hatte.
»Sorgen? Worüber?«
»Du willst auf eine Party. Da kann allerhand passieren.«
»Was sollte auf einer Party schon passieren?«
»Nun stell dich nicht dümmer, als du bist. Du weißt genau, was ich meine. Dieters Eltern leben doch in einer regelrechten Villa. Ich meine nicht, dass ihr Orgien feiert. Aber da könnte es doch vorkommen, dass jemand mit jemandem verschwindet. Ich weiß ja nicht einmal, ob Dieters Eltern euch beaufsichtigen werden.«
»Beaufsichtigen?« Renate riss sich los und stand auf. »Das bestimmt nicht. Aus dem Kindergartenalter sind wir schließlich raus. Nein, Mutti, ich verstehe dich nicht. Ich verstehe dich wirklich nicht. Ich weiß nicht, warum ich nicht das Gleiche tun darf wie alle anderen.«
»Weil alle anderen nach der Party nach Hause kommen. Bestimmt darf jede nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt bleiben. Sie werden zu Hause erwartet, wissen, dass sie dem prüfenden Blick ihrer Mutter standhalten müssen …«
»Ach, du lieber Himmel!«
»Ich bin bestimmt nicht die einzige Mutter, die besorgt um ihre Tochter ist.«
»Also, dann werde ich eben dem prüfenden Blick von Iris’ Mutter standhalten, wenn dich das beruhigt.«
»Nein. Denn wer sagt mir denn, dass du tatsächlich bei Iris übernachtest und nicht gleich bei Dieter bleibst?«
Diese Frage verschlug Renate die Sprache; sie konnte ihre Mutter nur aus weit aufgerissenen Augen anstarren.
»Diese Möglichkeit ist doch nicht von der Hand zu weisen«, fuhr Frau Möller fort, »nach allem, was du so erzählst … leider erzählst du ja wenig genug … scheint dir dieser Dieter doch mächtig zu imponieren.«
»Aber ich würde doch nicht …«
»Und warum nicht?«
»Dieter geht in meine Klasse, er ist ein Freund, ein Kumpel … und überhaupt, wenn ich mit ihm ins Bett gehen wollte, brauchte ich doch dazu nicht die Party!«
»Aber es könnte doch sein, dass du auf der Party jemanden kennen lernst, der dir mehr imponiert als Dieter … in den du dich verliebst …«
»Du hast vielleicht eine Fantasie, Mutti! Ich wusste gar nicht, dass du eine so dreckige Fantasie hast!«
»Vorsicht, Renate, du hast heute schon mal eine gefangen!«
»Aber ist doch wirklich wahr! Ich will auf eine harmlose Party, und du tust so, als ob …«
»Die Kombination von Party und Übernachtung bei der Freundin gefällt mir eben nicht. Ich sehe in ihr eine Gefahr.«
»Du tust, als könnte einem Mädchen nichts Schlimmeres passieren als seine Unschuld zu verlieren!«
»Renate, bitte, willst du mich denn nicht verstehen?« Ohne es selber zu merken, rang Frau Möller die Hände. »Es geht mir doch nicht um deine Unschuld … so ein Quatsch! Ich möchte dich nur beschützen. Ich weiß, wie verletzlich du bist, und das Gefühl, von einem Mann nur ausgenutzt worden zu sein, ist schrecklich demütigend.«
»Ich ahne nicht einmal, wovon du sprichst. Ich will lediglich auf eine Party, und du …«
»Schluss jetzt!« erklärte Herr Möller mit fester Stimme.
Völlig überraschend für Mutter und Tochter hatte er die Küchentür aufgerissen.
»Aber, Axel, seit wann mischst du dich ein, wenn ich …«
»Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass ihr mich endlich auch mal mitreden lasst! Du hast entsetzliche Angst um deine Tochter, Sabine. Das ist verständlich. Wahrscheinlich empfinden die meisten Mütter so. Aber du musst endlich begreifen, dass du sie nicht in Watte packen kannst …«
»Bravo, Vati!« rief Renate, begeistert über die unerwartete Schützenhilfe.
»Wenn sie wirklich mit diesem oder jenem Knaben ins Bett gehen will oder, wie du es siehst, sich von diesem oder jenem ’rumkriegen lässt, dann braucht sie dafür keine Party. Wozu denn auch? Das kann sie jeden Nachmittag in Traunstadt nach der Schule haben.«
»Axel!« schrie Frau Möller.
»Es ist doch so. Ob in einem Auto, einer Wohnung oder in einem leeren Klassenzimmer … wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Und wenn Renate bis heute nichts dergleichen unternommen hat, dann ist das doch schon der Beweis dafür, dass sie Grundsätze hat.«
»Sehr richtig«, bestätigte Renate.
»Das bezweifle ich ja gar nicht«, sagte ihre Mutter, »wir haben dich gut erzogen. Aber wenn erst mal Alkohol mit im Spiel ist, vielleicht sogar Haschisch, Musik, Stimmung … ihr könnt mir viel erzählen. Man vergisst seine Grundsätze sehr viel leichter in beschwipster Stimmung als in einem nüchternen Klassenzimmer.«
»Dann will ich dir sagen, was mit Gewissheit passieren wird: Wenn du Renate nicht ein bisschen mehr Freiraum gibst, wird sie mit achtzehn Jahren auf und davon sein und nie mehr von sich hören lassen.«
Frau Möller wurde blass. »Aber, Axel, das kann doch nicht dein Ernst sein!«
»Ich fürchte, doch.«
»Darf ich jetzt also gehen?« rief Renate. »Ich darf, nicht wahr?« Sie fiel ihrem Stiefvater um den Hals und küsste ihn mit ungewohnter Herzlichkeit auf beide Wangen. »Danke, Vati. Ich danke dir!«
Dann stürzte sie aus der Küche, wobei sie ihren kleinen Bruder, der hinter der nur angelehnten Tür gelauscht hatte, fast über den Haufen rannte. »Kannst du nicht aufpassen, du Depp?« fauchte sie und war schon aus dem Haus.
Den Autobus nach Traunstadt erreichte sie nur, weil Wolfgang, der Fahrer, sie kannte. Als er sie im Rückspiegel angerast kommen sah, mit fliegendem blondem Haar, die Plastiktüte schwenkend, bremste er den Bus, der schon angefahren war, noch einmal ab.
»Du scheinst ja große Dinge vorzuhaben«, sagte er, als sie atemlos einstieg.
»Nur mal ein Wochenende weg von zu Hause«, erklärte sie japsend.
»Kann recht erholsam sein.« Der Fahrer ließ die schweren Türen wieder zugleiten. »Bloß fürchte ich, meine Frau hätte was dagegen.«
Herr und Frau Löwenstein begrüßten ihre jungen Gäste – beide gewichtig, elegant, sie mit viel funkelndem Schmuck beladen. Der Auftakt der Party war also ausgesprochen seriös, und Renate dachte, wie unsinnig die Befürchtungen ihrer Mutter gewesen waren. Es gab reichlich zu trinken: Bier, Wein, Sekt, Bowle und Cola, aber keine harten Getränke. Platten mit Schnittchen und Kanapees machten die Runde, die, kaum dass sie die Küche verlassen hatten, geplündert wurden. Es dauerte einige Zeit, bis die ersten Delikatessen in die rückwärts liegenden Räume gelangten.
Die große Villa – ein Bau aus der Zeit der Jahrhundertwende – war festlich erleuchtet. In den drei riesigen, ineinander übergehenden Zimmern im Erdgeschoss waren die Teppiche aufgerollt. Disco-Musik im Stereo-Sound ertönte aus versteckten Lautsprechern. Nachdem Hunger und Durst gestillt waren, wurde auf dem blanken Parkettboden getanzt.
Dieter hatte nicht nur seine Mitschüler eingeladen, sondern auch andere junge Leute aus Traunstadt, die Renate nur flüchtig oder gar nicht kannte. Sie machte einen jungen Bankbeamten aus und einen Knaben aus einem Blumenladen. Dieter schien weit reichende Beziehungen zu haben. Wieder einmal hatte sie den Eindruck, dass er gar nicht mehr auf die Schule gehörte, und so benahm er sich ja auch. Aber seine Eltern hatten das Geld, und sie legten Wert darauf, dass er das Abitur machte.
Renate strich, in der einen Hand ein Glas Wein und in der anderen ein Brot mit Lachs, durch die Räume und sah sich erst einmal gründlich um. Sie bewunderte den Bechstein-Flügel, die Ölgemälde an den Wänden und die prächtigen Leuchter. Alles war sehr eindrucksvoll, aber sie gestand sich ein, dass es bei ihnen zu Hause, trotz der unzureichenden Heizung, doch gemütlicher war.
All die anderen jungen Leute waren sofort so laut und fröhlich, dass sie sich wie ausgestoßen fühlte. Sie ärgerte sich, dass sie nicht die Gelegenheit beim Schopf genommen hatte und aus ihrer Alltagskleidung geschlüpft war. Die Mädchen, die sie nicht von der Schule kannte, hatten sich mächtig schick gemacht. Sie trugen Party-Anzüge aus schimmerndem Satin, Hotpants aus Leder oder lange wallende Gewänder im Zigeunerlook. Obwohl Renate sich viel Farbe ins Gesicht getan hatte, kam sie sich wie eine kleine graue Maus vor.
Sie schluckte den Rest ihres Lachsbrotes hinunter, öffnete den Flügel und schlug ein paar Töne an, die im Lärm der Tanzmusik und der Stimmung untergingen.
»Was ist denn mit dir los?« fragte eine Stimme neben ihr.
Sie richtete sich auf und stand Dieter gegenüber. Er war größer als sie, und obwohl seine Züge ziemlich unregelmäßig waren, hatten seine funkelnden schwarzen Augen etwas Faszinierendes an sich. In einer schwarzen Samthose und einem beigen Seidenhemd, das am Hals offen stand, wirkte er eindrucksvoller denn je.
»Was soll schon los sein?« gab Renate zurück.
»Du scheinst dich nicht gerade zu amüsieren.«
»Doch. Geht schon.«
»Den Eindruck habe ich aber nicht.«
Renate tippte auf den Flügel. »Ein fabelhaftes Instrument, das.«
»Verstehst du was davon?«
»Nö.«
»Warum redest du dann darüber?«
»Nur so.«
»Ich weiß schon, was dir fehlt.« Dieter hakte sie unter. »Du bist zu nüchtern.«
Renate schnappte sich ihr Weinglas. »Aber ich habe doch schon.«
»Nicht das Richtige. Komm mit mir, ich führe dich zu einer anderen Quelle.«
Renate war es nicht ganz geheuer zumute, aber sie wusste auch nicht, wie sie sich gegen Dieter zur Wehr setzen konnte, ohne einen Skandal zu verursachen. So ließ sie sich denn willenlos mitschleifen. Er führte sie durch eine holzgetäfelte Tür in ein Zimmer mit einem schweren geschnitzten Schreibtisch und Bücherschränken an den Wänden. Der Boden war mit Orientteppichen belegt, und es roch verstaubt.
»Was ist das?« fragte Renate.
»Das Herrenzimmer«, erklärte Dieter, »es heißt so, weil der Herr des Hauses sich hierher mit Vorliebe zurückzuziehen pflegt. Und warum? Ich zeige dir das Geheimnis.«
Er drückte auf einen Knopf, und der Teil einer Bücherwand schwenkte aus. Dahinter kam, nüchtern und weiß, ein Kühlschrank zum Vorschein. Dieter öffnete ihn. »Hier hast du alles, was dein Herz begehrt! Was soll’s denn sein? Whisky mit Eis? Cognac mit Soda? Mein Vater liebt es kühl, weißt du.«
»Nein, danke«, sagte Renate.
»Was heißt das?«
»Dass ich nichts trinken mag.«
»Sag mal, warum bist du denn überhaupt auf meine Party gekommen?«
»Ich dachte, es würde lustig.«
»Ist es ja auch.« Er wies mit dem Daumen auf die Räume zurück, die sie verlassen hatte. »Die spielen schon alle verrückt. Bloß du hast keinen Spaß an der Freud’. Aber das wird anders werden. Ich werde dir jetzt was mixen … uns beiden. Nur keine Angst, das wird dir schon schmecken.« Er hantierte mit dem Rücken zu ihr. Sie hatte sich auf die breite Lehne eines Ledersessels gesetzt und fühlte sich – sie wusste selber nicht wie. Das Interesse, das Dieter an ihr nahm, schmeichelte ihrem Selbstgefühl, aber da sie nicht wusste, wie sie dazu kam, machte es sie auch verlegen.
Zögernd nahm sie das hohe, mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit gefüllte Glas entgegen, in dem Eisstückchen klirrten. »Was ist das?«
»Probier! Cheerio! Auf uns beide!«
Renate trank von dem kühlen Getränk, das überraschende Wärme entwickelte, die zuerst ihren Magen erfüllte und ihr dann in die Glieder stieg. »Schmeckt wie Cola«, sagte sie.
»Ist Cola. Mit Rum«, erklärte Dieter und summte dann: »Cola mit Rum, das bringt uns nicht um.« Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Nimm noch einen Schluck, Süße, dann siehst du die Welt gleich mit anderen Augen.«
Sie nahm seine Hand und entwand sich seinem Griff. »Wie kommst du mir denn vor?«
»Na, wie denn?«
»Du hast dir doch sonst nie was aus mir gemacht!«
»Ich möchte einfach, dass meine Gäste fröhlich sind. Ist das so schwer zu verstehen? Trink aus, und dann lass uns tanzen.«
»So schnell kann ich das nicht.«
»Dann rauchen wir erst mal eine Zigarette zusammen.« Er öffnete eine Schublade des Schreibtisches, nahm ein Päckchen Zigaretten heraus, bot ihr an und gab ihr Feuer; danach bediente er sich selber.
»Du bist ganz schön frech«, sagte sie.
»Fällt dir das erst heute auf?«
»In der Schule sowieso. Aber wie du so an deines Vaters Sachen gehst.«
»Ach, der nimmt das nicht übel. Ich bin ja sein Einziger, das Licht seiner alten Tage.« Dieter schwang sich auf die Schreibtischkante.
»Aber nun erzähl du mir mal von deinen Problemen.«
»Als ob die dich interessieren würden.«
»Aber ja doch. Die Probleme anderer Leute waren für mich von jeher der beste Zeitvertreib.«
»Und wenn ich nun gar keine habe?«
»Das nehme ich dir nicht ab. Jeder hat.«
»Und was ist mit deinen?«
»Du besitzt nicht die nötige Reife, dass ich sie dir anvertrauen könnte.«
»Nun erlaube mal!« Renate hatte den Rauch ihrer Zigarette tief inhaliert und musste husten.
Er rutschte vom Schreibtisch und klopfte ihr auf den Rücken. »Das war keine Beleidigung, Reni. Nur … in meinen Augen bist du noch ein ganz kleines Mädchen.«
»Manche nehmen mich schon für ziemlich voll.«
»Ja, die Winzlinge aus der fünften Klasse, das glaube ich dir gern. Du hast also keine Lust, dich dem guten alten Onkel Dieter anzuvertrauen?«
»Nein.«
»Dann sag mir wenigstens: Was hast du nach dem Abi vor?«
»So schnell wie möglich Geld zu verdienen.«
»Und warum?«
»Ich möchte frei sein.«
»Frei von der elterlichen Bevormundung?«
»Von der Abhängigkeit.«
»Das erreichst du aber nicht, indem du so schnell wie möglich Geld verdienst.«
»Aber ja doch. Natürlich. Wenn ich volljährig bin und mein eigenes Einkommen habe, was können sie mir dann noch vorhalten?«
»Alles, was sie an dir auszusetzen haben. Eltern sind nun einmal so. Sie hören nie auf zu meckern. Es sei denn, du brichst völlig mit ihnen. Möchtest du das?«
»Vielleicht«, sagte Renate unsicher, »aber du verlangst zu viel von mir. Ich kann das doch jetzt nicht entscheiden. Ich kann jetzt nicht einmal darüber nachdenken.«
»Selbst wenn du es tun würdest«, fuhr Dieter unbeirrt fort, »würdest du von der einen Abhängigkeit geradewegs in die nächste schliddern. Ein Chef kann sehr viel unangenehmer werden als ein Stiefvater.«
Renate fuhr hoch. »Woher weißt du …«
»Ich bitte dich, das ist doch kein Geheimnis.« Dieter lehnte sich sehr lässig gegen den Bücherschrank, in der einen Hand sein Glas. In der anderen die Zigarette; auf den schmalen Vorsprung des Möbels hatte er einen Aschenbecher platziert.
»Ich mag nicht, wenn man über mich spricht.«
»Wir leben in einer Kleinstadt. Hier redet jeder über jeden. Daran wirst du nichts ändern. Übrigens muss es bei euch auf dem Dorf noch schlimmer sein.«
»Da habe ich kaum Kontakte.«
»Das ändert auch nichts.«
Renate drückte ihre Zigarette aus. »Sag mal, was soll das alles? Das ganze Gerede?«
»Du hast Zeit gebraucht, um dein Glas zu leeren, und ich versuche, diese Zeit mit einem vernünftigen Gespräch zu füllen. Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich Smalltalk gemacht hätte? Mit dir über die Lehrer, über abgelieferte oder bevorstehende Arbeiten gesprochen hätte? Über Politik? Oder über Fußball?«
Renate dachte nach. »Nein«, sagte sie dann ehrlich.
»Warum sperrst du dich dann so?«
»Ich weiß nicht, ich …« Aus Verlegenheit nahm Renate einen kräftigen Schluck, und es wurde ihr noch heißer.
»Wahrscheinlich bin ich es nur nicht gewohnt.«
»Was?«
»Dass jemand sich für mich interessiert.«
»Ich dachte, du und deine Freundinnen würden dauernd über solche Sachen reden … über eure Pläne, Träume, Hoffnungen.«
»Das schon. Aber im Grunde redet jede nur über sich selber. Die anderen hören mit halbem Ohr zu und warten ungeduldig darauf, endlich wieder selber an die Reihe zu kommen.«
Renate blickte Dieter ganz bestürzt an. »Wie komme ich bloß darauf? Das ist mir bisher noch nie aufgefallen. Liegt das am Alkohol?«
Dieter lachte. »Jeder hat mal eine helle Minute. Bloß, dass er sie selten nutzt und sein Leben ändert. Ich finde aber, jetzt haben wir genug gequatscht. Vertagen wir die Unterhaltung auf einen anderen Ort und anderen Zeitpunkt. Trink endlich aus. Heute wollen wir doch die Puppen tanzen lassen.«
Renate tat, was er verlangte. Als er sie hochzog, spürte sie, dass sie nicht mehr sicher auf den Beinen war. Er musste einen gehörigen Schuss Rum in die Cola getan haben. Aber sie war ihm deswegen nicht böse. Sie fühlte sich von ihren Hemmungen befreit, und das war sehr angenehm.
Entsprechend tanzte sie wie eine Verrückte. Schwungvoll und lässig und rhythmisch bewegte sie sich auf dem Parkett, ließ die Hüften kreisen und schwang die Arme. Dabei war ihr bewusst, dass man sie beobachtete und über sie tuschelte. Aber das war ihr ganz egal. Es war aufregend, sich so gehen zu lassen, und sie genoss es.
Sie war ganz sicher, dass die Jungen sie bewunderten und, was die Mädchen betraf – vielleicht merkten sie, dass sie ein bisschen beschwipst war, aber was machte das schon.
Um Mitternacht holte Dieter einen Topf mit heißer Gulaschsuppe aus der Küche und füllte sie für seine Gäste in handliche Näpfe. Die Tanzfläche leerte sich, und alle suchten sich einen Platz. Erst als Renate auf einer Fensterbank saß, wurde ihr bewusst, wie erledigt sie war.
»Du bist blass«, stellte Dieter fest, als er ihr die Suppe brachte.
»Ich fühle mich auch nicht besonders«, gab Renate zu.
»Aber du warst ganz große Klasse.«
Renate zwang sich, ein paar Löffel zu essen, aber ihr Magen rebellierte. Sie stellte den Napf vorsichtig fort und machte sich auf den Weg zur Haustür. Sie hoffte, dass es dort einen Waschraum geben würde, in dem sie sich frisch machen konnte.
Sie hatte richtig getippt. Es gab dort wirklich einen Waschraum, ganz in weißem Marmor, und gleich dahinter eine Toilette, die nicht weniger edel ausgestattet war.
Mit zitternden Fingern machte Renate sich daran, ihr Make-up zu verbessern und aufzufrischen.
»Du wirfst Perlen vor die Säue«, sagte Iris, die hinter sie vor den Spiegel trat; sie war ein großes, schlankes Mädchen mit schwarzem Haar und leuchtend blauen Augen, die, wie Renate fand, kaum etwas tun musste, um gut auszusehen.
»Wie meinst du das?« fragte Renate.
»Das Fest ist aus. Die Gulaschsuppe war der Rausschmeißer. Da lohnt es sich doch nicht mehr, den Lidschatten zu erneuern. Oder legst du so viel Wert darauf, noch beim Abschied Eindruck zu schinden? Dieter erlebt dich doch täglich im Normalzustand in der Penne.«
»Das hat mit Dieter gar nichts zu tun.«
»Ach, wirklich nicht?« Iris befeuchtete ihren Zeigefinger mit Spucke und strich mit ihm über die sorgfältig gezupften Augenbrauen.
»Nein. Mir war nur mies. Da wollte ich was für mich tun.«
»In dem Fall hättest du besser den Finger in den Hals gesteckt.«
»Sag doch so was nicht!« Erschrocken legte Renate die Hand auf den Magen.
»Wir sollten lieber jetzt bald gehen!« meinte Iris. »Meine Mutter ist zwar sehr großzügig mit meiner Ausgangserlaubnis. Aber ich weiß, ehe ich zu Hause bin, tut sie kein Auge zu.«
»Ziemlich belastend für dich.«
»Kann man wohl sagen.«
»Aber immerhin lässt sie dich fort.«
Sie verließen den Waschraum und suchten Dieter, um sich zu verabschieden; die Eltern Löwenstein hatten sich im Verlauf des Abends nicht mehr blicken lassen.
Sie fanden Dieter, dicht umringt von einem Kreis junger Leute, in dem er das große Wort zu führen schien. Sie mussten sich zu ihm durchdrängen.
»Dieter, wir möchten uns nur bedanken …«, begann Iris. Er warf ihnen einen Blick zu. »Wartet, bitte, bis ich hier fertig bin!«
Sein Ton war derart bestimmend, dass die Mädchen gehorchten. Da die meisten Sitzgelegenheiten für die Tanzerei ausgeräumt waren, nahmen sie sich zwei Kissen und ließen sich auf dem Fußboden nieder, den Rücken gegen die Wand, die Knie angezogen.
Die Diskussion ging endlos weiter. Es drehte sich darum, ob Jazz veraltet war oder nicht. Dieter verteidigte ihn heiß, während die meisten anderen diese Musikform abwerteten.
»Eigentlich«, sagte Renate nach einer Weile, »ist es doch eine Unverschämtheit, uns hier so hocken zu lassen.«
»Du hast Recht. Komm, hauen wir ab!« Iris sprang auf die Füße.
»Aber das können wir doch nicht.«
»Und ob. Bedanken können wir uns immer noch. Wir rufen ihn morgen einfach an.« Iris reichte der Freundin die Hand. Renate ließ sich hochziehen, protestierte aber. »Das wäre sehr unhöflich.«
»Na, und wenn schon! Er ist es doch auch. Nun starr ihn nicht so an wie ein hypnotisiertes Kaninchen. Komm!«
Erst zögernd, dann entschlossen folgte Renate der Freundin.
In der Eingangshalle hatte Dieter sie plötzlich eingeholt. »Lauft doch nicht weg!« rief er. »Ich habe Renate noch was zu sagen.«
»Na, dann los!« sagte Iris.
»Unter vier Augen.«
»Kommt ja gar nicht infrage!« protestierte Renate.
»Aber es ist wichtig.«
»Nichts kann so wichtig sein, dass es nach Mitternacht besprochen werden müsste.«
»Du tönst wie ein Kalenderspruch!«
»Wisst ihr was«, sagte Iris, »das dauert mir jetzt wirklich zu lange. Ich schwing’ mich. Hier hast du den Schlüssel, Reni. Meine Mutter lässt mich bestimmt in die Wohnung.«
»Du bist gemein!« rief Renate. »Warum willst du nicht auf mich warten?«
»Weil meine Mutter sich jetzt bestimmt schon Sorgen macht. Also viel Spaß, ihr beiden.«
»Ich komme mit!« sagte Renate.
Aber Dieter hielt sie fest, und es gelang ihr nicht, sich loszureißen.