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Eine junge Adlige im römisch-deutschen Kaiserreich Friedrich Barbarossas hat den Wunsch Recht zu studieren. Ein Ansinnen, das in der von strikten Geschlechterkonventionen geprägten Gesellschaft des 12. Jahrhunderts, jenseits jedes Vorstellungsvermögens liegt. Hineingeschleudert in ein Leben, das sie sich nicht ausgesucht hat, arrangiert sie sich zwar mit den gesellschaftlichen Normen und Konventionen, versteht es aber auch, sich ihr bietende Gelegenheiten zu ergreifen, Regeln zu ihrem Vorteil zu nutzen – oder auch zu brechen, wenn es ihrem Ziel dient. Mit Klugheit, Entschlossenheit und Widerstandkraft meistert sie Widrigkeiten und Rückschläge, um zu lernen, was rechtens ist, wie gerecht geurteilt und richtig gehandelt werden kann. Und muss doch erfahren, dass niemand – auch sie selbst nicht – vor Ungerechtigkeit gefeit ist. Aufwachsend auf einer Burg im südlichen Rheinfranken, der heutigen Südpfalz, entwickelt Alush von Wolvenegg schon als Kind ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. So oft sie kann, wohnt sie dem Geraidengericht bei, einer für diese Gegend speziellen Art der Gerichtsbarkeit, und diskutiert die gefällten Urteile mit ihrem Vater. Sie wird, wie im 12. Jahrhundert üblich, jung mit einem viel älteren Mann verheiratet und gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Als ihr Gemahl mit Kaiser Friedrich Barbarossa nach Italien zieht, obliegt ihr, trotz ihrer Jugend, seine Stellvertretung auf Burg Löwenstein im Elsass. Sie nutzt die Gelegenheit, sich den Vorsitz des Schöffengerichts beim nächsten Gerichtstag zu ertrotzen, hinterfragt dabei aber innerlich die Grundlagen der Rechtsprechung, nämlich Gewohnheitsrecht und ‘gesunder Menschenverstand’. Zurück von seiner Heerfahrt mit Barbarossa berichtet ihr Mann von Rechtsgelehrten, die er im Lampartenland, der Lombardei, kennengelernt hat, und vom Corpus Iuris Civilis, einer Gesetzessammlung des römischen Kaisers Justinian, die in Rechtsschulen in Bologna gelehrt wird. Von da an hat sie nur noch den einen Wunsch: Recht zu studieren und Urteile auf der Basis römischen Rechts zu fällen. Doch von Löwenstein bis nach Bologna ist es ein weiter, steiniger Weg.
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Seitenzahl: 909
Veröffentlichungsjahr: 2023
Freiwort
von Barbara Katharina Hertlé
Der Roman
Alush, eine junge Frau im römisch-deutschen Kaiserreich Friedrich Barbarossas, hat den ungewöhnlichen Wunsch Recht zu studieren. Ein Ansinnen, das damals jenseits jedes Vorstellungsvermögens lag. Hineingeschleudert in ein Leben, das sie sich nicht ausgesucht hat, arrangiert sie sich mit den gesellschaftlichen Normen und Konventionen ihrer Zeit. Aber sie versteht es, sich bietende Gelegenheiten zu ergreifen, um Regeln zu ihrem Vorteil zu nutzen – oder auch zu brechen, gilt es ihr Ziel zu verfolgen. Mit Klugheit, Entschlossenheit und Widerstandkraft meistert sie Widrigkeiten und Rückschläge, um zu lernen, was rechtens ist, wie gerecht geurteilt werden kann und richtig gehandelt. Und muss doch erfahren, dass niemand – auch sie selbst nicht – vor Ungerechtigkeit gefeit ist.
Die Autorin
Barbara Katharina Hertlé ist promovierte Informationswissenschaftlerin und Mediävistin. Aufgewachsen in der burgenreichen Südpfalz, nahe der französischen Grenze, lebt sie heute in einem alten Bauernhaus im Thurgau in der Schweiz.
Mit Freiwort hat sie einen Roman geschaffen, der von freuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen einer Adligen des 12. Jahrhunderts erzählt.
Die Protagonistin ist zwar erfunden, deren Lebensumstände aber und die historischen Personen, denen sie begegnet, entsprechen – soweit aus Quellen erschliessbar – der damaligen Wirklichkeit. Auf der Website zum Roman gibt die Autorin Hintergrundinformationen zur Reise in die Vergangenheit.
www.freiwort.ch/reise-ge-leit
QR-Codes im Roman lassen Musik erklingen, die Situationen und Erlebnisse jenseits der Worte erfahrbar macht.
Freiwort
diz ist daʒ nû der vrîe
Roman
fabuliert von Barbara Katharina Hertlé
© 2024 Barbara Katharina Hertlé
Lektorat: Ursula-Beate Neisser u. Andreas Schätzl
Umschlaggestaltung: Simon Rösch
Holzskulptur: Claudia Kündig
Minnesang: Christoph Mächler
Verlagslabel: Verlag Antoniussohn
ISBN: 978-3-384-09605-0
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: Tredition GmbH, Abteilung ‘Impressumservice’, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Für Margrit †
Nachfahrin des Gawertschin
Cover
Freiwort
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Ez wuohs in Palatin ein vil édel magedîn
Von Freuden, Hôchgezîten
Corbeaule
Was einer vrouwe wol gezam
Alsô hân ich des iu besint
Niht ist un-vergëbene
Himel unde Helle
Hërze-swære
Dô was kein frîdel komen niht
In sacris simulata pro vero accipiuntur
Ich bin ein wîse meisterîn
Wâ ist Mîn heime?
In der Küniginne schrîb-stube
Gelückes Spil
Nâch-wort
Dramatis Personae
Glôsen
Bouch Be-zeichenisse
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Titelblatt
Urheberrechte
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Ez wuohs in Palatin ein vil édel magedîn
Bouch Be-zeichenisse
Epilogue
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Karte des römisch-deutschen Kaiserreichs zur Zeit Alushs
(angepasst [1])
Ez wuohs in Palatin ein vil édel magedîn
Alush (Detail [2])
Ez wuohs in Palatin ein vil édel magedîn, daz in allen landen niht schœners mohte sîn, Alush geheizen: si wart ein schœne wîp. dar umbe muosen degene vil verlíesén den sin [3]1
Endlich allein. Es ist nass. Der Boden dicht bedeckt mit Laub. Leere Kastanienhülsen. Ich rieche das Pferd. Den Modergeruch des späten Herbstes und den feuchtwarmen Geruch meiner Kleider. Es regnet nicht mehr. Ich zügle Aimé und höre schwere Tropfen von den Blättern fallen. Auf andere Blätter. Auf den Waldboden. In die Lauter. Tropfen, die sich mit dem Bach vermischen, Töne, die Teil werden von der Musik des Wassers. Es dunkelt schon. Trotzdem steige ich ab. Setze mich auf den Baumstumpf und will nicht denken. Nicht, dass ich zurück muss, nicht dass ich nicht hätte gehen dürfen. Nichts. Ich starre auf das kurze Stück Wiese bis zum Bach. Unbeweglich. Auch Aimé ist einfach stehengeblieben. Als hätte jemand die Zeit angehalten. Ich erinnere mich an ein Kinderspiel. Einer hat einen an der Hand gefasst und herumgeschleudert. Dann plötzlich losgelassen, und dann musste man in der Pose verharren, in der man zum Stehen kam. Am Ende sahen alle aus wie Figuren in einem Spiel.
der Nibelungen lied
Aimé zuckt mit den Ohren. Dann seh’ ich es auch. Es sitzt unter einem Busch, nahe am Bach, und schaut mich an. Ich bewege mich nicht. Man durfte sich erst wieder bewegen, wenn das Freiwort gegeben wurde. Wie hiess das? Sprechen durfte man. Da bin ich ganz sicher. «Komm, komm zu mir», locke ich es. Immer und immer wieder wiederhole ich die Worte. Sie vermischen sich mit dem Regen, der wieder begonnen hat. Es ist Aimé, der das Freiwort gibt. Als er schnaubt kommt es aus seinem Unterschlupf. Ein Welpe. Mit den kürzesten Beinchen, die ich je an einem Hund gesehen habe. Ich rutsche vom Baumstumpf hinunter ins Gras und der Kleine kommt zu mir und klettert ohne zu zögern auf meinen Schoss. Wir lassen uns nicht aus den Augen. Kein Spiel. Es ist sein Leben.
Vielleicht ist er aus Weissenburg. Das Kloster betreibt die Hundeaufstockung für die hohen Herren, die zur Jagd gehen. Auch für meinen Vater. Bracken. Die in Fuchs- und Dachsbauten kriechen. Und oft nicht mehr herauskommen, weil sie sich im wahrsten Sinne des Wortes selbst das Grab schaufeln. Der Kleine hat sich auf meinem Schoss zusammengerollt. Ich streichle über sein nasses Welpenfell. Als mein Finger über sein schmales Schnäuzchen fährt, schnappt er danach und beginnt augenblicklich zu saugen. Wenn seine Mutter in der Nähe wäre, hätte sie sich längst gezeigt. Wie kommt er hierher? Er hat ein dunkles und für einen Welpen erstaunlich raues Fell. Und recht grosse Pfoten. Jetzt hat er die Augen geschlossen, aber die ersehnte Milch kommt nicht. Wieder schnaubt Aimé. Nicht das Freiwort jetzt, sondern das Rückwort. Ich muss mich schnellstens auf den Heimweg machen. Mittlerweile ist es schon fast völlig dunkel. Ein bisschen Angst habe ich auch. Nicht nur wegen der wohl unvermeidlichen Schelte und möglicherweise vermeidbaren Schlägen, sondern auch wegen des Gesindels, das sich, wie es heisst, im Wald herumtreibt. Ich hatte auf meinen Ausflügen immer nur Bauern gesehen oder Männer und Frauen, die zu unserem Haushalt gehörten. Aber ich hatte auch nicht gerade danach Ausschau gehalten und das Gesindel nach mir anscheinend auch nicht. Seufzend erhebe ich mich, den Welpen in der Hand. Er schaut mich fragend an. «Nein, mein Kleiner, ich lass dich nicht zurück!» Aber ich kann ihn ja nicht die ganze Zeit halten. Ich beschliesse, ihn in mein Kleid zu stecken. Sein Fell ist nass und kalt und er rutscht bis zum Gürtel hinunter. Den schnüre ich so eng es geht, so dass der Kleine schliesslich wie in einem Beutel vor meinem Bauch sitzt. Der Welpe lässt alles über sich ergehen. Viel mehr als Haut und Knochen ist er nicht – wie lange er wohl schon nicht mehr gesäugt wurde? Er verhält sich ganz ruhig und ich steige auf und lasse Aimé antraben. Jetzt ist es Nacht. Aber Aimé und ich kennen uns gut aus. Wir leben seit bald 14 Jahren hier. Ich jedenfalls.
Es hat aufgeklart und im Mondlicht kann ich die Wolvenegg schon von weitem sehen. Sie thront auf einem auf drei Seiten schroff abfallenden Felssporn, wie der nicht sehr weit entfernt gelegene Drachenfels auch. Die Wolvenegg liegt oberhalb von Felslautern. Bevor Vater die Burg hat bauen lassen, haben wir mit unseren Bauern im Dorf gewohnt. Das heisst, unsere Motte lag etwas abseits. Auf einer kleinen Anhöhe stand der Wehrturm, in dem wir und alle aus Felslautern Schutz finden konnten. Um den Turm herum standen unser Wohnhaus, Küche, Scheunen, Vieh- und Pferdeställe. Alles war umgeben von einem tiefen Graben und zusätzlich geschützt durch Palisaden. Jetzt wohnt der Geraidenschultheiss mit seiner Familie dort und auf dem Platz vor dem Turm wird das Geraidengericht abgehalten. Wenn ich kann, gehe ich am Gerichtstag hinunter ins Dorf. Oft bin ich nicht einverstanden mit dem Richtspruch. Er scheint mir unausgewogen, parteiisch oder gar willkürlich. Manchmal schildere ich dann am Abend Vater die Angelegenheiten und wir disputieren, wie gerechter zu urteilen gewesen wäre. Ich habe die Geraidenverordnung gelesen und bin auch mit Vaters Ansicht nicht immer einverstanden. Er lacht dann und gratuliert mir zu meinem Scharfsinn. Nur dass es dem Verurteilten leider auch nichts nütze, da die Bauern, was ihre Geraiden angeht, nur die Oberhoheit des Kaisers anerkennen. Der Beschuldigte würde mich daher nicht als Advocatus anrufen können.
Die Silhouette des Bergfrieds der Wolvenegg ragt schwarz in den Nachthimmel. Es ist still und doch wieder nicht. Der Hufschlag Aimés, Geräusche, die Tiere im Wald machen, Wind in den Bäumen. Alles ist mir vertraut und lieb.
Die Wolvenegg ist nur von der Ostseite auf einem steilen Weg über den vorgelagerten Wolfskopf zu erreichen. Zwischen zwei Felsen ist ein tiefer Spalt, so breit, dass ihn kein Pferd mehr überspringen kann. Glücklicherweise ist die Zugbrücke noch nicht hochgezogen und das Tor zum unteren Burghof offen. Es steht kein Angriff zu befürchten. Auch das zweite Tor zum Zwinger ist offen. Niemand ist zu sehen. Nur Huste wartet vor den Ställen. Er hilft mir vom Pferd und hat komische Augen dabei. «Dein Onkel Richard ist gekommen», raunt er mir zu, «besser du schaust, dass du in die Halle kommst. Dein Vater ist übelster Laune.» Mist. Ich renne so rasch ich kann über den Hof, mit der einen Hand stütze ich den Welpen in meinem Kleid, mit der anderen raffe ich meinen Rock, so gut es geht. Der Boden ist vom tagelangen Regen völlig aufgeweicht und ich bin froh, als ich den Aufgang zur Oberburg erreiche ohne auszurutschen. Der in den Fels gehauene Aufstiegsschacht wird nur von wenigen Kienspänen beleuchtet, es ist feucht und kalt. Es ist der einzige Zugang zur eigentlichen Burg. Die Holztreppe ist steil und glitschig und schwankt an ihren Seilen etwas.
Oben angekommen haste ich zum Wohnturm. Auch hier ist kaum jemand zu sehen. Nur ein paar Pagen, die sich balgen und ein paar Knappen, die sie mit hämischen Kommentaren anstacheln. Ich steige noch einmal mühsam die Treppe hinauf bis zum Eingang, reisse die schwere Tür auf und dann, so schnell es geht, weiter die Steinstufen hinauf bis zur Kemenate, die ich mit meiner Schwester und den Mägden teile. Die alte Berte, die neben dem Kamin gesessen hat, springt auf: «Schnell, Alush, gib mir deinen Mantel und wechsle das Surkôt. Die sind ja beide völlig nass und verdreckt!» Ich werfe ihr den Mantel entgegen und greife in mein Überkleid. Der Kleine gibt keinen Laut von sich. Ich hole ihn heraus und strecke ihn Berte entgegen: «Halte ihn kurz, ich nehm’ ihn gleich wieder.» «Ja wen haben wir denn da», säuselt Berte in ihrem vertrauten Ammenton. «Ich hab’ ihn an der Lauter gefunden, er war ganz allein, vielleicht ist er aus Weissenburg», sage ich, während ich nach dem dunkelgrünen Surkôt greife, das Berte mir hinhält. «Aber Alush, deine Cotte ist ja ebenfalls völlig durchnässt. Wo hast du dich wieder rumgetrieben? Wenn deine Mutter das erfährt …» Berte setzt den Kleinen auf den Boden, der ein paar Schrittchen macht und dann auf den Boden brünselt. Ich ziehe auch die Cotte aus und hocke mich im Hemd zu dem Kleinen. Er will sofort wieder auf meinen Schoss klettern, aber Berte nimmt ihn energisch an sich. Als ich das verschmutzte Bodenstroh aufnehmen will, fährt sie mich an: «Du ziehst dich jetzt an, ich mache das und dann bringe ich den Kleinen zu den anderen Hunden.» «Nein, bitte, bitte nicht. Er ist ja noch so klein. Bitte, hole ihm etwas Milch aus der Küche. Bitte …» Seit ich denken kann, kann ich Berte mit meinem Gebettel erweichen. Seufzend reicht sie mir die frische Cotte. «Hier, dein Surkôt und nimm auch die trockenen Strümpfe. Und jetzt beeil dich endlich.» Ich streife das saubere Surkôt über. Ich liebe das Kleid. Es ist aus weichem Samt, an das lange weite Ärmel genestelt werden. Maman sagt, sein Grün schmeichelt meinen Augen. Während Berte den Hund in der einen Hand hält, hilft sie mir mit der anderen das Surkôt zu schliessen. Nachdem ich auch die Strümpfe gewechselt habe, schlüpfe ich in die feinen Lederschuhe, die sie mir bereitgestellt hat. Ich will zur Tür, aber Berte stellt sich mir in den Weg: «Mit solchen verwilderten Haaren gehst du nicht an die Tafel!» Ich will protestieren, aber Berte steht breitbeinig vor der Tür. Sie kennt mein Gebettel – ich ihre Unerbittlichkeit. «Ich nehm’ das Schápël und den dünnen Schleier, dann geht es.» Damit gibt sie sich zufrieden. So gut als möglich verstecke ich mein langes, kastanienbraunes Haar unter der dünnen Seide und ziehe den Stirnreif darüber. «Und bitte Berte, bring den Kleinen nicht zu den Hunden – versprich es!» Als Berte nickt, nehme ich das dicke wollene Tuch, das sie mir reicht, schlage es um meine Schultern, streichle dem Welpen noch einmal über seine kleine Nase und eile an ihr vorbei aus der Tür.
Die grosse Halle ist voll. Es ist laut und die Vielfalt der Gerüche – oder Gestänke – erschlägt mich fast. Die hohen Fenster sind schon fest mit Läden verschlossen, es ist spät im Weinmond. Licht spenden die auf der Tafel stehenden grossen Kerzenleuchter und der Kamin an der Breitseite des Saals. Und natürlich die vielen Kienspäne an den Wänden. Das Gesidele füllt fast den ganzen Raum, offensichtlich ist Onkel Richard mit grossem Gefolge gekommen. Die Halle bietet Platz für mehr als hundert Menschen. Viele der Männer und Frauen am Tisch kenne ich nicht. Am oberen Ende der Tafel sitzt mein Vater. Neben ihm meine Mutter. Auf seiner anderen Seite sitzt Richard mit seiner Frau Petrissa, Edelfrau von Rosswag. Eine eingebildete Schnepfe. Ich versuche mich so gut es geht unsichtbar zu machen. Vielleicht kann ich mich unbemerkt irgendwo dazwischen mogeln. Da sehe ich Merten mir winken. Er stösst den Ritter neben sich ziemlich unsanft in die Seite und gestikuliert ihm, Platz für mich zu machen. Erleichtert klettere ich auf die Bank neben ihn. Wenn ich Glück habe, kann ich so tun als würde ich die ganze Zeit schon hier sitzen. Merten würde mich nicht verraten. Er ist der jüngste Bruder meines Vaters und lebt in unserem Haushalt.
Und er liebt mich abgöttisch. Bei Berte muss man betteln; bei Merten genügt es, ihn anzuschauen. Im Laufe der Jahre habe ich ‘den gewissen Blick’ perfektioniert. «Meine Schöne, wo kommst du denn her? Es ist bestimmt schon über eine Stunde dunkel! Sag nicht, du bist mal wieder allein ausgeritten?», flüstert er mir zu. Noch bevor ich in geeigneter Weise blicken kann, hat er eine Scheibe Brot geangelt und einem der Knappen zu verstehen gegeben, dass er von dem Braten darauf legen soll, der auf einer grossen Platte auf dem Tisch steht. Als der ihn ignoriert, spiesst er mit seinem Messer selbst ein saftiges Stück auf und legt es mir auf das Brot. Merten hat keinen eigenen Knappen. Er hat eigentlich überhaupt nichts Eigenes, nur seine eigene Haut, sagt mein Vater manchmal. Bevor ich voller Heisshunger in den Braten beissen kann, kniet Demud neben mir mit der Wasserschale. Also gut. Ich kann nicht sagen, dass meine Hände es nicht nötig gehabt hätten. «Und, wo warst du jetzt?», drängt Merten. Ich trockne meine Hände an dem Leinentuch, das Demud mir hinhält und antworte: «An der Lauter. Stell dir vor, ich habe einen Welpen gefunden!!“ «Ach, wachsen die dort?», spöttelt Merten und reicht mir seinen Weinbecher. Glücklicherweise ist Giso von Billerhoff sein Tischnachbar, Mertens bester Freund, der wohl nichts dagegen hat, wenn ich daraus trinke. Giso, der mein Zögern bemerkt hat, neckt mich: «Schönes Fräulein, trinkt. Es ist mir eine Ehre, den Becher nicht nur mit eurem hochwohlgeborenen Onkel, sondern auch mit euch zu teilen!“ Merten lacht. «Also trink, gut behütet von einem tapferen Recken an jeder deiner Seiten!“ Ich nehme einen tiefen Schluck und noch ist er mir nicht ganz die Kehle hinunter, da schwindelt mich schon ein bisschen. Der Wein ist stark. Vater liebt die Weine aus Frankreich, ebenso Maman. Schwere und ganz dunkle. Ich muss schleunigst etwas essen. Mit vollem Mund berichte ich, dass der Welpe ganz kurze Beinchen hat. «Mh, wohl eine niederläufige Bracke. Kann sein, dass die Weissenburger die aufziehen. Wo ist er jetzt?» «Berte kümmert sich um ihn, er - " In dem Moment versetzt Richard seinem Knappen eine so gewaltige Ohrfeige, dass dieser vornüber auf die Tischplatte stürzt und Weinkelche und Schüsseln umwirft. Voller Wut ergreift ihn daraufhin Richard an seiner Tunika und schleudert ihn hinter sich auf den Boden. «Ohlala, da hat mal wieder jemand einen Zornesausbruch», konstatiert Merten und löffelt Tunke auf seinen Braten. Ich sehe, dass mein Vater sich abgewendet hat. Ich weiss, wie sehr er es verabscheut, wenn jemand sich nicht gesittet beträgt, besonders Familienmitglieder und besonders an der Tafel, vor aller Welt. Der Knappe hat sich mittlerweile wieder aufgerichtet, versucht Haltung zu bewahren und die Bescherung auf dem Tisch zu bereinigen. Richard beachtet ihn nicht mehr. Er hat sich seiner Gattin zugewendet, die ihm mit hochmütigem Gesicht zuhört. Jeder weiss, dass Richard sie schlägt. Er nutzt jede Gelegenheit um damit zu prahlen, wie er sein Weib zu züchtigen weiss, wann und wie es ihm, ihrem Herrn, beliebt. Vor allem über das wie lässt er sich gerne lang und breit aus. Alle, die ihm zuhören nicken dann oder geben vor, nicht zuzuhören. Keiner wagt, ihm zu widersprechen. Auch Vater tut es nicht. Das verstehe ich nicht.
Manchmal kann ich es gar nicht glauben, dass sie Brüder sind. Gut. Halbbrüder. Richard von Wolvenegg entstammt der ersten Ehe von Grossvater. Seine Mutter starb als er noch sehr klein war. Als Grossvater wieder geheiratet hat wurde Richard ins Kloster Hirsau gegeben. Als er dann alt genug war, wurde er Page bei Walter von Rosswag. Der war auch nicht bekannt dafür, zimperlich zu sein. Er war auf dem zweiten Kreuzzug dabei gewesen und man erzählt sich einige Heldentaten, die er begangen haben soll. Manche kann ich kaum glauben, aber ich weiss ja auch nicht viel. Jedenfalls nicht über Kreuzzüge. Aber mehr als manche der hirnlosen Hirnhauben im Gefolge der Ritter weiss ich sicher auch darüber.
Ich bemerke den Blick meiner Mutter. Aus ihren Zügen kann ich nicht schliessen, wie sie gestimmt ist. Ich lächle ihr zu. Zu meiner Erleichterung lächelt sie zurück. So schlimm kann es nicht werden. «Also», will ich mein Gespräch mit Merten wieder aufnehmen. Aber der hat sich der Dame auf der anderen Seite von sich zugewendet und fabuliert gerade über die Uneinnehmbarkeit der Wolvenegg. Er gestikuliert dabei wild mit seinen grossen Händen, die viele in unserer Familie haben. Ich leider auch.
Nun ja, ich beschliesse, mich ganz dem Essen zu widmen, hungrig wie ich immer noch bin. Die aufgetragenen Speisen sind köstlich. Wild. Fisch, Geflügel. Weisses Brot, sämige Sossen und würzige Tunken. «Richard ne mérite pas de tels honneurs», flüstert Giso in mein Ohr und spricht aus, was ich denke. Nein, er verdient dieses köstliche Mahl wirklich nicht. Giso prostet mir zu. Ich werde etwas verlegen. Auch wenn Giso der beste Freund meines Onkels ist – er ist ein fremder Ritter für mich. «Mais ça me donne l'occasion de partager le calice avec une charmante jeune femme», flüstert er weiter und reicht mir den Weinkelch. Jetzt werde ich tatsächlich rot. Hoffe, man sieht es bei der Beleuchtung nicht. Die Gelegenheit, mit einer jungen Dame zu plaudern – ich nehme einen tiefen Schluck. Der Wein macht mich nicht nur schwindelig, sondern auch mutig und ich halte dagegen: «Eine Ansicht und ein Kelch sind schnell geteilt – aber doch ein bisschen wenig, um die Aufmerksamkeit einer Dame zu behalten!», antworte ich forsch und tue so als wende ich mich ab. Giso gibt sich zerknirscht: «Oh schönes Mägdelein, wär’ ich doch ein Troubadour und könnte euch ein Liedlein singen.» Er macht so ein Gesicht dabei, dass ich einfach lachen muss. «Erzähl mir von ihnen! Merten hat gesagt, du bist erst kürzlich aus der Provence zurückgekehrt!» «Das will ich gerne tun», antwortet Giso, «solange ihr nicht verlangt, dass ich ihre Dichtung wiedergebe!» Giso ist ein begnadeter Erzähler. Seine Worte lassen vor meinem inneren Auge Landschaften, Städte, Menschen und Tiere Gestalt annehmen, beschienen von einer südlichen Sonne, die so viel heisser ist als hier. Natürlich erzählt er auch von Graf Raimund Berengar und von Richeza von Polen, die seit geraumer Zeit an seinem Hofe weilt. Richeza ist eine Cousine des Kaisers und eine Verwandte des staufischen Gegen-Papstes Octaviano, erklärt er, was ich schon weiss. Als Giso dann beginnt, Mutmassungen darüber anzustellen, ob Richeza vielleicht sogar auf Friedrichs Geheiss an Berengars Hof weilt und ob das eventuell Auswirkungen auf das Schisma haben könnte, verliere ich die Lust zuzuhören. Nicht, dass ich nicht an Politik interessiert wäre, aber solche Überlegungen finde ich müssig: «Giso, das alles sind Annahmen, für die es keinerlei Beweise gibt – es kann so aber ebenso gut ganz anders sein.» Giso ist eingeschnappt. Er greift nach dem Weinkelch, leert ihn in einem Zug und entschuldigt sich. Er müsse nach seinem Knappen sehen. Männer.
Am anderen Morgen scheint die Sonne. Auch in die Kemenate meiner Mutter, in der wir unser Morgenessen zu uns nehmen. Alle meine Geschwister sind da, und wenn wir keine Gäste auf der Burg haben, ist es auch mein Vater. Maman sagt, das sei für sie die schönste Zeit des Tages. Für mich ist sie es nicht. Da bekommen immer alle gesagt, was sie am Tag zu tun haben. Zusätzlich zu den ‘immerwährenden Pflichten’. Die Tischordnung ist strikt geregelt. Rechts von meiner Mutter sitzt meine Schwester Gera. Sie ist zwei Jahre älter als ich und seit gut einem Jahr spricht sie nicht mehr. Dann komme ich. Auf der anderen Seite von Maman sitzen dann Walram und Lornz. Maman gegenüber sitzt Wulf. Er ist der älteste meiner Brüder. Wenn Vater da ist, sitzt er natürlich dort und Wulf muss an der Seite mit den anderen Buben sitzen. Merten nimmt nie teil. Er könne morgens noch keine Gesellschaft ertragen, behauptet er.
Wir müssen alle warten bis Vater Anselm kommt und die Gebete spricht; die Hände gefaltet im Schoss und die Augen gesenkt. Ich lunse trotzdem zu Walram. Er ist mir der liebste meiner Brüder. Er ist nicht ganz drei Jahre jünger als ich, weiss aber schon sehr viel. Von ihm weiss ich auch was ich über die Kreuzzüge weiss. Leider ist er schon seit mehr als zwei Jahren Page von Rüdiger von Katzenelnbogen und ich sehe ihn nur noch selten. Er interessiert sich für Politik und ich vermute mal, dass Vater bedauert, dass er nicht der älteste ist. Denn Wulf hat eigentlich nichts im Sinn ausser kämpfen. Aber das kann er. Muss ich zugeben. Und er ist schon seit vier Jahren bei den Grafen von Waldeslohe und vorletztes Jahr Knappe von Otto geworden. Pirmin und Otto von Waldeslohe hatte ich gestern Abend in der Halle gesehen. Deshalb wundert es mich nicht, dass Wulf heute Morgen an der Tafel sitzt – obwohl, müsste er nicht bei den Grafen sein? Vater Anselm erscheint und wir senken unsere Köpfe alle noch etwas mehr. Ich denke an den Welpen. Berte hatte ihn doch zu den Hunden gebracht. Eine Hündin hat zur Zeit Nachwuchs, zu der hat sie ihn gebracht. Und die hat ihn tatsächlich akzeptiert und gesäugt. Berte hatte es mir gesagt, als ich gestern Nacht in die Kemenate zurückgekommen bin und mir stolz das dicke Bäuchlein des Kleinen gezeigt. «Er hat gar keine Angst gehabt. Hat sich einfach zwischen die anderen Welpen gedrängt, obwohl er ja viel kleiner ist als die, und hat sich eine Zitze gesucht. Und Bella hat es sich gefallen lassen und ihre Welpen auch.» Berte kam richtig ins Schwärmen. Naja, als Amme … Plötzlich wusste ich, wie er heissen soll: Basil. Mein mutiger, tapferer, kleiner König. Gera, die neben mir gestanden hatte, lächelte. Berte schaute mich an und gab ihr Basil. Liebevoll streichelte sie ihn, die Augen voller Tränen. «Dann bist du einverstanden, dass Basil in unserem Bett schläft?», versuchte ich so zu tun, als sähe ich ihr Weinen nicht. Gera nickte und so rollte sich Basil in der kleinen Kuhle zwischen ihr und mir zusammen, und als sie ihn streichelte, ergriff ich ihre Hand und so schliefen wir ein.
Ich erschrecke ein bisschen, weil sie mich gerade leicht tritt, schaue auf und sehe, dass alle mich ansehen. «Amen», sage ich und versuche so auszusehen als wäre ich in tiefe Kontemplation versunken gewesen. Vater Anselm verabschiedet sich und endlich dürfen wir wieder sein wie wir sind. Gera sagt wie immer nichts. Wulf redet irgendwas von Schlachten und Schwertern und was er als Ritter anders machen wird oder genauso oder was weiss ich. Lornz hängt andächtig an seinen Lippen und Walram grinst mich an. Wir nehmen uns von der Milch und dem Brot und warten, bis Maman in die Hände klatscht. Sie lässt sich heute Zeit. Schaut jeden von uns lange an. Mich beschleicht ein komisches Gefühl. «Liebe Kinder», endlich spricht sie, «geniessen wir die Stunde, in der wir alle hier zusammensitzen.» Mein komisches Gefühl wird noch komischer. «Wie ihr ja alle wisst, ist Onkel Richard hier. Er ist auf dem Weg nach Italien, um den Kaiser beim Kampf gegen Mailand ein zweites Mal zu unterstützen. Vater wird sich Richard anschliessen, ebenso wie Pirmin und Otto von Waldeslohe und Rüdiger von Katzenelnbogen.» Mir fährt ein gewaltiger Schreck in die Glieder: Das bedeutete, dass mein Vater und meine beiden Brüder in den Krieg ziehen werden. Aber dessen noch nicht genug. «Lornz wird in den Dienst von Konrad von Lomersheim treten», fährt Maman fort. «Wird Konrad auch gegen Mailand ziehen?», fragt Lornz mit grossen Augen, in denen seine Angst steht. «Nein, Konrad wird nach Lomersheim zurückreiten. Er ist nur hier, um mit Vater etwas zu besprechen und dich bei der Gelegenheit als seinen Pagen aufzunehmen.» Mir fällt ein Stein vom Herzen. Wenigstens ist Lornz also sicher. Jedenfalls sieht es so aus. Aber ich weiss natürlich nicht, in welche Händel Konrad allenfalls verstrickt ist – kämpfen und getötet werden kann man überall. «Wird Merten Vater auf Wolvenegg vertreten?», fragt Walram. «Ja, sicher – oder denkst du, ich sollte die Burg verteidigen?», antwortet Maman mit einem nachsichtigen Lächeln. Aber ich denke bei mir, ja, warum denn nicht. Ich meine, natürlich könnte sie kein Schwert führen, aber bei aller Liebe für Merten, ich glaube, dass Maman Vieles besser weiss als er und auch viel erfahrener ist im Umgang mit Untergebenen. Schliesslich obliegt es ihr … Aber bevor ich gedanklich all die Aufgaben von Maman durchgegangen bin, spricht sie weiter: «Und zu guter Letzt: Auch Alush wird Wolvenegg verlassen.» «Was?», ich falle vor Überraschung fast von der Bank. «Sie wird mit Arnulf Streiff von Löwenstein gehen. Arnulf ist hier um sie mitzunehmen.» Ich hatte auch ihn gestern Abend an der Tafel gesehen. Er ist ein Waffenbruder meines Vaters. Seine Frau ist schon vor einigen Jahren im Kindsbett gestorben. Wie das Kind auch. Und auch die beiden früher geborenen Söhne sind schon tot. «Aber wieso? Was soll ich da?» «Esst jetzt. Alush, du kommst nach dem Morgenessen in die Halle. Dein Vater wird dich über seine Entscheidung ins Bild setzen.» Ich nicke beklommen. Weg von Wolvenegg. Wie oft habe ich mir das gewünscht. Aber jetzt? Und was mache ich mit Basil? Undenkbar, dass ich ihn zurücklasse. Warum soll ich in den Haushalt von Streiff von Löwenstein? Es gibt nur eine Erklärung dafür: Agnes braucht eine Edeldame. Agnes, die Schwester des Löwensteiners, ist ebenfalls verwitwet und lebt seit dem Tod ihres Mannes wieder in seinem Haushalt. Ich habe sie, glaube ich, nur einmal gesehen. Ich erinnere mich nur schwach. Eine grossgewachsene, blasse Frau mit leiser Stimme. Es ist nicht unüblich, dass ein junges Mädchen in den Dienst einer edlen Dame tritt. Aber warum kann ich dann nicht an den kaiserlichen Hof? Friedrich, der Kaiser, ist ein Freund meines Vaters und er ist mein Pate! Seine Frau Beatrix kann doch bestimmt auch ein junges Mädchen brauchen? Löwenstein. Ein halber Tagesritt von Wolvenegg entfernt – nicht gerade das Abenteuer, von dem ich manchmal geträumt habe. Andererseits kann ich schnell daheim sein, wenn ich es nicht mehr aushalte. In vollem Galopp wäre das leicht in einer guten Stunde zu schaffen. Aber nein, undenkbar. Maman wäre ausser sich über solch ein pflichtvergessenes Verhalten. Jeder hat seinen Platz und seine Aufgabe, so wie es Gottes Wille ist. Aber warum ist es sein Wille, dass ich auf den Löwenstein muss?
Als ich nach dem Morgenessen in den grossen Saal komme, sind dort nicht nur mein Vater und Maman, sondern auch Arnulf Streiff von Löwenstein. Er sieht gar nicht so schlecht aus. Er ist mindestens ebenso gross wie Vater und hat noch dichtes ebenholzschwarzes Haar, das ihm in Locken auf die Schulter fällt. Er trägt den für unseren Stand üblichen langärmligen Kittel aus schönster roter Wolle und grüne Beinlinge. Er ist schlank, fast dürr. Den Gürtel mit der goldenen Schnalle hat er eng um seine Leibesmitte geschlungen. Er kommt auf mich zu und sinkt vor mir auf die Knie. Ich weiss gar nicht, was ich machen soll und vor allem, was das soll. «Alush», ergreift Vater das Wort, «Arnulf hat mich um deine Hand gebeten, die ich ihm nur zu gern gewährt habe. Bitte ihn also, sich zu erheben und reiche ihm deine Hände zum Zeichen deines Einverständnisses.» Bevor ich irgendetwas machen kann, höre ich den Löwensteiner sagen: «Liebe Alush, du kannst mir keine grössere Freude machen, als meine Frau zu werden.» Er schaut mich ruhig an. Er hat klare Augen, grau mit Einsprengseln wie aus Gold und kleinen Fältchen drum herum. Ich weiss immer noch nicht, was ich sagen soll. Der einzige Gedanke, zu dem ich fähig bin, ist der an Basil. Wie kann ich ihn behalten? «Ich verstehe, dass dich mein Antrag überrumpelt», fährt Streiff fort, nachdem ich stumm bleibe wie ein Fisch, «aber ich verspreche dir, dass ich dir jeden Wunsch erfüllen werde, sofern es in meiner Macht steht!» «Jeden?», bricht es aus mir heraus. «Jeden, Alush», antwortet Streiff ernst und ich will glauben, dass er die Wahrheit spricht. Ich nicke und höre Vater sagen: «So ist es also beschlossen.
Catherine, sage der Magd, sie soll Wein und Speisen bringen und lass Vater Anselm kommen, damit wir die nötigen Vereinbarungen verschriftlichen können.» Streiff erhebt sich, greift in den kleinen Beutel, den er an seinem Gürtel trägt und legt einen kleinen Gegenstand in meine Rechte, die er mit beiden Händen umschliesst. «Nimm dies als Zeichen meiner Mîlte. Es soll dir in meinem Haus an nichts fehlen, du sollst niemals Not leiden und auch deine Verwandten sollen mir immer willkommen sein, so wahr mir Gott helfe.» Als ich meine Hand öffne, liegt darin ein kleines Füllhorn an einem goldenen Kettchen. Es ist ein Kleinod, so fein ist es gearbeitet. Die winzigen Früchte sind aus Edelsteinen in vielerlei Farben und das Füllhorn selbst, kaum grösser als mein Daumen, ist aufwändig ziseliert. So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen. «Danke, Arnulf», bringe ich endlich heraus. Arnulf. Kann man ja kaum aussprechen. Ich werde ihn Streiff nennen. Er lächelt. «Darf ich es dir umlegen?» Als er das Kettchen schliesst, spüre ich seine Finger in meinem Nacken. Es kitzelt ein bisschen und es ist ein bisschen schön.
Wir stehen alle um den Tisch an der Stirnseite der Halle. Der Rest des Saals ist leer, das Gesidele ist an die Wände gelehnt und der Boden frisch mit Binsen ausgelegt. Demud bringt kalten Braten, Wein und weisses Brot. Streiff füllt einen der bereitgestellten Becher und reicht ihn mir. Ich weiss, dass erwartet wird, dass ich ihn zurückgebe, damit er zuerst daraus trinken kann, als mein Herr und Gebieter. Ich spüre Mamans Blick, danke ihm also und gebe den Becher zurück. Was für ein Getue. Dabei könnte ich jetzt wirklich einen Schluck Wein brauchen. Um mir Mut zu machen für mein Anliegen. Mittlerweile hat Demud auch Vaters Becher gefüllt. Er prostet Streiff zu – ohne ihn vorher meiner Mutter anzubieten und ihn dann wieder zurückzunehmen. Nachdem Streiff getrunken hat, reicht er mir wieder seinen Becher und ich nehme einen tiefen Schluck – und fühle auch schon wieder Mamans strengen Blick. Egal. Wie gestern Abend spüre ich den Wein sofort. «Ich habe einen Wunsch», platze ich heraus. Mamans Stirn legt sich in Falten. «Sprich, Alush, wie schon gesagt, wenn es möglich ist, so will ich ihn dir gerne erfüllen», Streiff schaut mich erwartungsvoll an. «Ich will meinen Hund mitnehmen», irgendwie ist mir der Tonfall etwas verrutscht; es klingt sehr nach einem trotzigen Kind. Streiff lacht. Und Mamans Stirn entfaltet sich wieder. «Was ist das für ein Hund? Hoffentlich akzeptiert er mich als deinen Gemahl», sagt Streiff und ich denke, dass ich selbst schuld daran bin, dass er sich lustig über mich macht. «Es ist eine niederläufige Bracke. Ein Welpe. Ich habe ihn gestern gefunden.» Mist, die nächste Frage ist vorhersehbar. «Wo hast du eine niederläufige Bracke gefunden, Alush», mischt sich Maman ein. Aber Streiff kommt ihr zuvor: «Eine niederläufige Bracke? Das ist ja wunderbar. Die hat mir in meiner Meute noch gefehlt!» Er lächelt mich an. Vielleicht bilde ich es mir ein, aber ich glaube, dass er mir dabei zugezwinkert hat. «Soll ich ihn holen?» Doch dieses Mal ist Maman schneller: «Ich glaube, das ist jetzt nicht die Zeit für eine Welpenstunde. Lasst uns sitzen und die Einzelheiten deiner Vermählung regeln.» Und wie auf Befehl betritt in diesem Augenblick Vater Anselm mit Pergament, Feder und Tinte die Kemenate.
Die nächste Stunde erlebe ich wie neben mir. Ich sitze zwischen Streiff und Maman. Er ergreift immer wieder meine Hand und drückt sie zärtlich - soweit ich das beurteilen kann. Vater und Streiff vereinbaren, wie gross meine Mitgift sein wird und wie Streiff sie zum Nutzen unserer Ehe zu verwenden gedenkt. Ebenso, welchen Umfang Morgengabe und Widerlage haben werden, so dass ich im Falle einer Witwenschaft abgesichert sein würde. Streiff hat einige Besitzungen im nahen Elsass und ich vernehme, dass ich als Wittum Einkünfte daraus von 2000 Pfennig im Jahr erhalten soll. Da Vater und Streiff alte Freunde sind und in mancher Schlacht Seite an Seite gekämpft haben, sind sie sich rasch einig, obwohl sie sich in ihrer Grosszügigkeit gegenseitig zu übertreffen versuchen. Vater Anselm schreibt alles feinsäuberlich auf den grossen Bogen Pergament und am Ende besiegeln beide Männer meine Verlobung. Die Verlobung von Alush von Wolvenegg mit Arnulf Streiff von Löwenstein.
Aufgrund des bevorstehenden Feldzugs nach Italien wird beschlossen, dass die Hochzeit bereits in zwei Tagen stattfinden soll. Wie bei meiner Taufe. Ich wurde an Palmsonntag im Jahre des Herrn 1147 geboren. Kurz bevor nahezu alle Männer unserer Familie zum Kreuzzug aufgebrochen sind. Maman erzählt immer, dass es ein wunderschöner Tag war. Mit blauem Himmel und viel Sonne, aber noch nicht heiss, weil es ja erst April war.
Damals wie heute trafen sich alle bei uns auf der Wolvenegg, um gemeinsam an den Hof des Königs zu reiten. König Konrad war das noch. Von dort wollten sie an Ostern aufbrechen. So kam es, dass unsere Familie fast vollständig auf der Wolvenegg versammelt war, als ich zur Welt kam. Meine Taufe fand am Tag nach meiner Geburt statt. Denn auch wenn ich nur ein Mädchen bin, so wollten sie doch nicht, dass Feen mich raubten oder meine Seele im Fegefeuer brennen musste. Vollzogen wurde meine Taufe von Odo von La Ferté. Er ist der Bruder meiner Mutter und Abt der Zisterzienser. Er war einer der Gefährten von Bernhard von Clairvaux und wollte ebenfalls am Kreuzzug teilnehmen – so wie es Bernhard forderte. Maman sagt, sie hätte an Geras Taufe grosse Angst gehabt, dass Vater Anselm Gera ersäuft – so sehr habe er sich für meinen Vater einen Sohn als Erstgeborenes gewünscht. An meiner Taufe habe sie deshalb angeordnet, dass ich nicht mehr dreimal untergetaucht wurde, sondern mich mein Pate über das Taufbecken halten sollte. Und der war niemand geringerer als der Kaiser. Natürlich wusste man zum Zeitpunkt meiner Taufe noch nicht, dass er das einmal werden würde. Als ich getauft wurde, war er noch Friedrich der III., Sohn des Herzogs von Schwaben und einfach ein guter Freund meines Vaters. Sie waren zusammen Knappen gewesen am Hof von Diepold von Vohburg. Friedrich war mit seiner frisch vermählten Frau, Adela von Vohburg, der Tochter Diepolds, da. Vater sagt, Friedrich hätte die gleichaltrige Adele schon als Knappe angebetet. Naja, auf jeden Fall wurde ihre Ehe später aufgelöst, sonst hätte er Beatrix ja nicht heiraten können.
Neben Friedrich war noch ein weiterer Freund und Waffenbruder meines Vaters anwesend: Arnulf Streiff von Löwenstein. Schon sein Vater und mein Grossvater waren Freunde gewesen. Komisch, wenn ich mir vorstelle, dass Streiff schon an meiner Taufe erwachsen war. Und ich jetzt seine Frau werde.
«Alush?», Mamans Stimme holt mich zurück in die Gegenwart, «Alush, Arnulf hat dich etwas gefragt – wo bist du nur wieder mit deinen Gedanken?» «Ich würde gerne mit dir zum Hundezwinger gehen und mir deinen kleinen Freund anschauen – ohne den ich dich nicht bekomme», flüstert Streiff mir zu und irgendwie finde ich, dass die kleinen Fältchen seine Augen aussehen lassen als würden sie lachen. «Er heisst Basil», flüstere ich zurück. «Aha, aber so tapfer und mutig der kleine König auch sein mag, er sollte nicht vergessen, dass ich sein oberster Lehnsherr sein werde.» Streiff sagt es schmunzelnd, aber es macht mir schlagartig klar, dass ich ab jetzt nicht mehr Maman oder Vater, sondern ihn um Erlaubnis für alles fragen muss. Ich würde sie nicht mehr um Beistand bitten können, wenn mich jemand wie Wulf bis zur Weissglut ärgern oder jemand wie Walram mein Lieblingsschápël verstecken würde. Plötzlich wird mir die ganze Tragweite meiner Situation bewusst: Es wird sich alles, aber auch wirklich alles, ändern! Grosse Angst erfasst mich. Nicht einmal der Kaiser würde mein Schicksal wenden können. Warum auch? Aus welchem Grund sollte er zwei angesehenen Familien eine eheliche Verbindung verweigern? Auch nicht, dass ich noch zu jung für die Ehe bin, könnte ich anführen. Kaiserin Beatrix war nicht älter als ich es jetzt bin, als Friedrich sie geheiratet hat. Seit einem halben Jahr bin ich auch jeden Monat unrein und also mannbar. Ich kann rechnen, lesen und schreiben, spreche Französisch und Latein. Maman hat mich spinnen, weben, sticken und nähen gelehrt – auch wenn ich es verabscheue. Und als sie im Frühjahr mit Vater unterwegs war, oblag mir die Aufsicht des Gesindes, weil Gera ja nicht mehr spricht. Es gibt keinen Grund. Streiff hält mir die Hand hin. Dann sei es so.
Wir gehen über den Hof und steigen die Treppe hinunter zum unteren Burghof. Überall herrscht reges Treiben und die Gedanken derer, die uns bemerken, kann man von ihren Gesichtern ablesen: ‘Alushs Hand in der Hand von Streiff von Löwenstein – das kann nur bedeuten … ‘ Die Ställe der Hunde liegen im nördlichen Teil der Burg vor der inneren Ringmauer. Bis wir dort sind, weiss wahrscheinlich schon unser ganzer Haushalt von meiner Verlobung. Ulbert, der Rüdenknecht, grüsst ehrerbietig. Mich auch. Heute Morgen noch hat er mich ziemlich grob verscheucht, als ich Basil wieder zu Bella gebracht habe. Ich nicke huldvoll. «Die kleine Bracke schlägt sich wacker um die Zitzen der Veltris», erklärt er Streiff gewichtig, während er die Tür zu dem kleinen Stall öffnet, in dem Bella im sauberen Stroh liegt und ihre Welpen säugt. Mitten drin Basil. Ich rufe ihn und mir scheint, als hielte er kurz inne. Dann aber ist Bellas Milch doch wichtiger. «Die Veltris», fragt Streiff, «werden für die Jagd auf Sauen gebraucht?» «Ja, die Hündin ist eine Veltris Procarius. Sie ist kräftiger gebaut als die normalen Windhunde. Sie hat sich schon bei einigen Jagden bewährt und ich hoffe, dass die Welpen es ihr gleich tun werden!» «Ich hätte Interesse an einem der Kleinen. Wie alt sind sie jetzt?» «Sieben Wochen Graf Streiff von Löwenstein», antwortet Ulbert, «in ein bis zwei Wochen könnt ihr sicher eins haben – vorausgesetzt mein Herr ist einverstanden.» «Der wird wohl seinem Schwiegersohn kaum diesen kleinen Wunsch verwehren», lacht Streiff und küsst meine Hand. Ulbert verneigt sich tief: «Ich gratuliere, Graf Löwenstein, zu dieser trefflichen Verbindung.» Ich möchte wetten, dass er genau das Gegenteil denkt. Er konnte mich noch nie leiden. Immer gab es Theater, wenn ich mit den Hunden spielen wollte. «Und die kleine Bracke? Was meinst du, wie alt ist die?», setzt Streiff das Gespräch fort. «Dürfte im selben Alter sein, etwas älter vielleicht.» «Graf von Wolvenegg jagt nicht mit Bracken, oder?» «Doch, aber wir halten sie nicht hier auf der Burg. Unsere Hundelege ist im Kloster Weissenburg. Der Abt ist ein Hundenarr und froh, für uns die Hundsaufstockung zu übernehmen.» «Glaubst du, dass der Welpe aus Weissenburg sein könnte?» mische ich mich ein. Ulbert zuckt die Schultern. «Die kleine Bracke? Keine Ahnung, aber sobald ich nach Weissenburg reite, nehme ich ihn mit. Ich will keine Bracken hier.» «Keine Sorge Ulbert, wir nehmen den Hund mit nach Löwenstein», antwortet Streiff, «ich habe schon einen Spürhund, eine Spürhündin genau genommen, aber sie ist kein Leithund. Und der Kleine hier sieht mir ganz so aus, als könnte er es werden!» Streiff lächelt mir zu und ich bin glücklich, dass er vorhat, Basil für die Jagd auszubilden. «Komm Alush“, wendet Streiff sich an mich, «lassen wir die Hunde wieder allein und gehen ein paar Schritte.» Er nickt Ulbert zu und reicht mir den Arm. Wir gehen durchs Torhaus und dann über die schwere Zugbrücke auf den Wolfskopf. Ganz vorn auf dem Sporn ist mein Lieblingsplatz. Von da aus kann ich weit über das Land schauen. Hinüber zum Bärwelstein und zum Drachenfels.
«Alush, ich muss dir etwas sagen», beginnt Streiff. «Ich habe mich entschieden, mit deinem Vater zu ziehen und Friedrich zu unterstützen. Er braucht jeden Mann. Du erinnerst dich: Ennders und ich waren im Höumond in Erfurt, und Dassel hat eindrücklich die Notwendigkeit einer erneuten Heerfahrt beschworen. Jetzt ist der halbe Weinmond schon vorbei – höchste Zeit, um aufzubrechen. Die Alpen im Winter zu überqueren ist noch gefährlicher als ohnehin schon. Ich werde also mit den anderen am Tag nach unserer Hochzeit aufbrechen.» Ich verstehe nicht: «Aber Maman sagte doch, du würdest mich nach Löwenstein bringen –.» «Du wirst mit Agnes gehen – und ich hoffe bei Gott, dass ich bald wieder zurück und bei euch sein werde!» «Agnes? Ich habe deine Schwester gar nicht gesehen.» «Sie hat sich nicht wohl gefühlt und hat deshalb nicht am Nachtmahl gestern teilgenommen. Aber als ich heute Morgen nach ihr geschaut habe, ging es ihr wieder besser. Wenn du willst, gehen wir zu ihr. Sie freut sich, dass du ihre Schwägerin wirst.» Es liegt mir auf der Zunge zu fragen ‘wieso’. Sie kennt mich ja gar nicht – aber vielleicht ist sie einfach froh, nicht allein zu sein. «Agnes ist eine starke Frau», fährt Streiff fort, «und sie ist klug. Ihr werdet euch gut verstehen.» Ich sehe eine hagere, blasse Frau vor mir und kann mir nicht vorstellen, dass wir etwas gemeinsam haben könnten. «Also, lass uns zu ihr gehen», schlägt Streiff vor und nimmt wieder meine Hand. Es fühlt sich komisch an. Ein bisschen wie früher, als ich an Vaters Hand ging. Sicher fühlt sich meine Hand in der seinen. Aber auch ein bisschen eingesperrt.
Wir sind erst ein paar Schritte gegangen, als uns Agnes entgegenkommt. Sie ist grossgewachsen und ihre langen dunkelbraunen Haare werden nur halbherzig von Schleier und Stirnband gebändigt. Als sie uns sieht, lächelt sie und streckt uns die Hände entgegen. Dabei öffnet sich ihr blauer Mantel, so dass ihr leuchtend gelbes Surkôt sichtbar wird, das eine Handbreit über dem Knöchel endet. Ihre Füsse stecken in schön gearbeiteten Lederschuhen. Sie umarmt uns beide. «Ich gratuliere euch! Wie schön, Alush, dass du Arns Frau wirst», wendet sie sich dann an mich. Sie hat dieselben grauen Augen wie Streiff, mit denselben goldenen Einsprengseln. Nur noch nicht so viele Fältchen drum herum. Agnes muss um einige Jahre jünger sein als er, nicht ungefähr im selben Alter, wie ich dachte. Ihre Stimme ist klar und kräftig. «Mein lieber Arn, du kümmerst dich jetzt um deine Kriegsgeschichten und ich plaudere ein bisschen mit meiner zukünftigen Schwägerin. Ich werde versuchen, sie ein bisschen zu beruhigen, indem ich ihr versichere, dass ich sie nicht braten und du sie nicht fressen wirst!», fordert sie Streiff auf. «Na das kann ja heiter werden mit zwei Frauen, die mir sagen was ich zu tun habe», erwidert Streiff mit gespieltem Entsetzen und gibt meine Hand frei. Ich habe das Gefühl, etwas sagen zu müssen, aber ich weiss nicht was. Streiff deutet lächelnd eine Verbeugung an und wendet sich zum Gehen. Stumm folgt mein Blick seiner grossgewachsenen Gestalt. Ein klein wenig beugt er die Schultern nach vorn. Ein vertrauter Anblick. Fast sehe ich Vater neben ihm, wild gestikulierend dem Freund etwas erklärend. Wie oft habe ich die beiden so gesehen. Derart ins Gespräch vertieft, dass sie das kleine Mädchen nicht bemerkten, das sie beobachtete.
«Sag mal, hat dir die Sache die Sprache verschlagen?», lässt sich da Agnes hören und reisst mich aus meinen Gedanken. «Ja. Um ehrlich zu sein schon. Als ich heute früh aufgewacht bin, dachte ich an den kleinen Hund, den ich gestern gefunden habe und nicht daran, dass ich verlobt werden würde!» «Ja, das glaube ich», schmunzelt Anges. «Das war bei mir anders. Ich war schon als Kind Warmunt Gans von Otzberg versprochen. Übrigens gegen den Willen von Arn, Arnulf. Natürlich fanden seine Worte bei Vater kein Gehör. Aber Arn hat mir gezeigt, wie ich mich verteidigen kann – was mich vermutlich mehr als einmal gerettet hat.» Ich bin etwas verdutzt über Agnes Worte. Gleichzeitig beeindruckt mich ihre Offenheit. «Er hat dir gezeigt, wie du dich gegen deinen rechtmässigen Ehemann verteidigen kannst? Aber wozu denn?» «In welchem Märchen lebst du?», gibt Agnes zurück und mir fällt Onkel Richard ein. Agnes hält inne und schaut mich ernst an: «Du musst dir keine Sorgen machen, Arn würde dir nie, und überhaupt keiner Frau, etwas zu Leide tun. Aber ich halte ihn für eine Ausnahme.» Bislang dachte ich, Onkel Richard sei eine Ausnahme. «Warmunt war ein geiler Bock», fährt Agnes unbeirrt fort, «und praktisch immer in Laune – und leider auch in der Lage – mich zu vergewaltigen. Wenn ich ihn mir dank Arns Unterricht nicht zumindest ab und zu hätte vom Leibe halten können.» «Aber ihr habt keine Kinder», entfährt es mir. «Nein, so dumm war ich nicht, ihm auch noch Bälger zu gebären. Ich hoffte, dass, wenn ich ihm keinen Erben schenke, er sich scheiden lassen würde. Aber glücklicherweise ist er ja recht bald gestorben.» Ich erinnere mich vage, dass Vater einmal gesagt hat, der Otzberger sei ehrenhaft im Kampf gefallen. «Im Zweikampf», fährt Agnes fort, «mit Meginhard von Sponheim. Und weisst du warum? Weil Meginhard mich begehrlich angeschaut hätte. Oder meinetwegen auch hat. Warmunt hat ihn gefordert und war unterlegen. Pech für ihn – Glück für mich.» Sie schaut mich freimütig an: «Mein Vater hatte nämlich auf einem grosszügigen Wittum bestanden. Somit war ich nach dem Tod von Warmunt so frei wie nie zuvor. Da mein Vater, wie so viele andere, sein Leben in diesem elenden Kreuzzug hatte lassen müssen, wurde Arn mein Vormund. Was Besseres hätte mir gar nicht passieren können!» Nach diesem Geständnis bin ich völlig verwirrt. Wieso erzählt sie mir das? Agnes küsst mich auf die Wange: «Jetzt mach nicht so ein Gesicht. Du kannst das Leben nicht ändern – nur das Beste daraus machen! Und das tun wir, oder?» Sie lacht mich an. «Wollen wir ein bisschen ausreiten?» «Muss ich jetzt, ich meine, soll ich jetzt Arnulf fragen, ob ich darf?», wende ich zaghaft ein. «Ob du ausreiten darfst? Fang so was gar nicht erst an. Erstens bist du noch unter der Munt deines Vaters und zweitens, was viel wichtiger ist, anstatt zu fragen, solltest du dir gute Antworten überlegen!» Ich bin überrumpelt. Von Agnes’ Ehrlichkeit. Von ihren Ansichten. Wenn Maman das hören würde, würde sie mir sofort den Umgang verbieten. Nur – das könnte sie ja gar nicht mehr. Und plötzlich finde ich die Aussicht, bald auf Löwenstein zu leben, gar nicht mehr so erschreckend. Agnes gefällt mir von Minute zu Minute besser. Sie ist so ganz anders als die Frauen, die ich kenne. Inklusive Maman und auch Gera. Und Streiff würde erstmal weit weg sein. Wir gehen zurück zu den Pferdeställen und Huste sattelt uns Aimé und Agnes' Pferd. Als wir aus dem Tor reiten, ruft Agnes mir zu: «Der wird ja zum Einhorn, wenn er eine Frau sieht!» «Der wird zum was?» «Einhorn. Hast du das Horn unter seiner Tunika nicht gesehen?» Hab’ ich nicht. Bin mir auch nicht sicher, ob sie wirklich das meint, was ich meine, dass sie meint. Aber ich bin mir sehr sicher, dass ich in nächster Zeit eine ganze Menge sehen und hören werde, von dem ich noch keine Ahnung habe. Auf dem Rücken von Aimé fühle ich mich erst einmal wieder sicher. Vielleicht habe ich von Vielem keine Ahnung – aber reiten kann ich. Ich drücke Aimé die Fersen in die Flanken und er galoppiert an. Vergessen sind fürs Erste Agnes’ Worte. Vergessen die bedrohlichen Bilder, die sie hervorriefen. Ich spüre die warme Herbstsonne im Gesicht, rieche die würzige Luft des Herbstes und höre auf zu denken.
Es ist Hustes Vater, der uns die Pferde abnimmt als wir zurückkommen, und ich kann keine Hornbeobachtungen anstellen. «Komm, ich zeig dir Basil», fordere ich Agnes auf und ziehe sie in Richtung Hundestall. Unbehelligt von Ulbert öffne ich die Stalltür. Bella ist nicht zu sehen. Ihre Welpen liegen alle auf einem Haufen und daneben Basil. Gerade so, dass er sie noch berührt. Als sie uns bemerken, kommen alle ausser Basil auf uns zu. Der setzt sich auf und schaut zuerst mich und dann Agnes an. Das kleine Näschen nimmt ihren Duft auf und er lässt sie nicht aus den Augen. Während Bellas Welpen versuchen, an Agnes und mir hochzuspringen und an unseren Kleidern zu zerren, verharrt Basil regungslos. Nur das Näschen bewegt sich eifrig hin und her. Dann legt er das linke Ohr nach hinten und scheint seine Betrachtung abgeschlossen zu haben. Er läuft auf Agnes zu, beschnüffelt sie und lässt sich schliesslich von ihr hochnehmen. «Ich nehme an, das ist Basil, richtig?» «Wieso meinst du?», frage ich zurück. «Ich bin davon ausgegangen, dass du mir etwas Besonderes zeigen willst. Die kleinen Windhunde sind niedlich, wie alle Welpen, aber die kleine Bracke hier zeigt jetzt schon Charakter!» Ich bin überglücklich über ihr Lob. Ich mag sie. Und ich bin froh, dass sie Basil mag. Sie reicht ihn mir und ich lasse es zu, dass er mir Hals und Gesicht leckt. «Streiff, ähm, Arnulf, hat gesagt, ich darf ihn mitnehmen – zusammen mit einem Veltriswelpen.» «Den Veltriswelpen lassen wir hier. Aber zu dir auch noch diesen kleinen Freund zu bekommen, ist wunderbar», antwortet Agnes und streichelt über Basils Rücken. «Du missachtest einfach eine Entscheidung von Arnulf?», wende ich ein. «Alush, denk mal nach. Arn wird in den Krieg ziehen. Was meinst du, wie wichtig es da ist, ob wir den Welpen mit nach Löwenstein nehmen? Wenn er zurückkommt hat er ihn vergessen. Und wenn nicht, gibt es andere Windhundwelpen, die er haben kann.» «Machst du das immer?» «Was?» «Dich über die Wünsche von ihm