Freundinnen für's Leben - Roman 1: Fünf Sterne für Marie - Christian Pfannenschmidt - E-Book

Freundinnen für's Leben - Roman 1: Fünf Sterne für Marie E-Book

Christian Pfannenschmidt

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Beschreibung

Alles auf Anfang – „Fünf Sterne für Marie“ von Christian Pfannenschmidt jetzt als eBook bei dotbooks. Pumps statt Gummistiefel, Großstadtgefühle statt Kuhkaffatmosphäre – Marie Malek beschließt, in Hamburg noch einmal neu anzufangen und lässt ihr altes Leben hinter sich. In der Hotelkette, in der ihre beste Freundin Ilka angestellt ist, findet Marie schnell einen Job – und eine weitere gute Freundin: Elfie. Doch das Leben spielt nicht immer, wie man denkt. Denn der Mann, in den sich Marie verliebt, ist ausgerechnet ihr Chef, der Leiter des Hotels … „Fünf Sterne für Marie“ ist der schwungvolle Auftakt zu einer Serie voller Gefühle: Liebe, Pech, Verrat und Glück – die perfekte Mischung zum Mitfiebern! Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Fünf Sterne für Marie“ von Christian Pfannenschmidt. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 543

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Über dieses Buch:

Pumps statt Gummistiefel, Großstadtgefühle statt Kuhkaffatmosphäre – Marie Malek beschließt, in Hamburg noch einmal neu anzufangen und lässt ihr altes Leben hinter sich. In der Hotelkette, in der ihre beste Freundin Ilka angestellt ist, findet Marie schnell einen Job – und eine weitere gute Freundin: Elfie. Doch das Leben spielt nicht immer, wie man denkt: Denn der Mann, in den sich Marie verliebt, ist ausgerechnet ihr Chef, der Leiter des Hotels …

Fünf Sterne für Marie ist der schwungvolle Auftakt zu einer Serie voller Gefühle: Liebe, Pech, Verrat und Glück – die perfekte Mischung zum Mitfiebern!

Über den Autor:

Christian Pfannenschmidt, geboren 1953, war Journalist und Reporter für die Abendzeitung, München, den Stern, Capital und das Zeit-Magazin. Heute lebt er als Autor in Köln und Berlin. Von ihm stammen unter anderem die Drehbücher der ZDF-Erfolgsserie Girlfriends. Der Seerosenteich wurde in mehrere Sprachen übersetzt und in der Verfilmung, als ARD-Zweiteiler, verfolgten über 6 Mio. Menschen die Karriere von Isabelle, dem Mädchen vom Lande, das zur Chefin eines Modeimperiums aufsteigt. 2003 gründete er eine eigene Fernsehproduktion und setzte seine persönliche Erfolgsgeschichte mit TV-Serien wie u.a. Die Albertis und Herzensbrecher – Vater von vier Söhnen fort.

Christian Pfannenschmidt veröffentlichte bei dotbooks bereits Der Seerosenteich und Die Albertis.

Die Website des Autors: www.christianpfannenschmidt.de, www.facebook.com/PfannenschmidtChristian

Die Charaktere der Girlfriends-Serie haben den Autor nicht mehr losgelassen. Und so hat er – basierend auf den Drehbüchern – sieben Romane über die Freundinnen Marie, Ilka und Elfie geschrieben:

Band 1: Fünf Sterne für Marie

Band 2: Freundschaft auf den dritten Blick

Band 3: Zehn Etagen zum Glück

Band 4: Demnächst auf Wolke sieben

Band 5: Kurz vor zwölf im Paradies

Band 6: Das 1x1 zum großen Glück

Band 7: Frühstück für zwei

***

Neuausgabe März 2015

Copyright © der Originalausgabe 1996 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de

Titelabbildung: Thinkstockphoto/istock

ISBN 978-3-95824-050-6

***

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Christian Pfannenschmidt

Fünf Sterne für Marie

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Es goß in Strömen. New York! Frühling in New York? Konnten denn die Dinge nicht wenigstens einmal im Leben vollkommen sein? Ilka sah aus dem Fenster des Taxis, auf die von Regen gepeitschte Park Avenue. Hochhäuser, vom Unwetter verdunkelt, verwandelten die glanzvolle Straße in eine düstere Schlucht. Menschen stemmten sich mit ihren Schirmen gegen den Wind wie kleine, sich vergeblich mühende Spielfiguren. Die Siele konnten die Wassermassen nicht mehr schlucken, und so bildeten sich Pfützen, Ströme, Seen, aufspritzend unter den Autoreifen, es herrschte Weltuntergangsstimmung, und das schon am 29. Mai.

Ich könnte kotzen, dachte Ilka, und legte, wie zur Beruhigung, ihren Arm über den Berg Einkaufstüten, der neben ihr auf der Rückbank des Yellow Cab stand. Der Flug, die Zeitumstellung, dann ein Geschäftstermin nach dem anderen, Lunch mit dem Boss und Dinner mit dem Oberboss, stets derselbe Ablauf und dieselben Gespräche: Jaja, blabla, erstklassige Hotel-Kette, können wir uns ’ne Scheibe von abschneiden, Super-Rendite, genau, Sekretärin im Hansson-Hotel Hamburg, Direktionssekretärin, und zwar gern, nee, nicht verheiratet, nee, leider bin ich nun auch schweinemüde, ja, Ihnen auch eine gute Nacht.

Bitte schön lieb sein, bitte ordentlich Hausaufgaben machen, bitte was Anständiges lernen, bitte zum Diktat, bitte ins Bett, bitte meine Socken, bitte, was gibt’s zu essen?, bitte neun Monate nicht hysterisch sein, bitte Biesterpäppeln, bitte Mitverdienen, bitte reg dich nicht auf, bitte versteh mich doch, bitte willige in die Scheidung ein: Dauernd wollen Männer was von einem. Das Leben ist entsetzlich anstrengend, und bei Licht besehen liegt das immer nur an den Männern.

Der Taxifahrer brabbelte in gebrochenem Englisch. Sie sah im Rückspiegel seinen Hungerblick und sein Geier-Grinsen. Er fragte sie etwas. Ilka verstand ihn nicht. Schon wieder ein Mann, der was wollte. Sie fragte nach, immer schön höflich zu diesen Jungs. »Germany«, sagte der Taxifahrer, »do you like Hitler?« Ach du Schande.

»Why should I?« entgegnete Ilka kühl.

»Because he’s your leader.«

Ilka wußte: Alarmstufe rot. Taxifahrer in New York konnten wunderbar sein, aber meistens waren sie, wie auch in Deutschland, schlecht gelaunt, aggressiv, reaktionär. Ilka hatte keine Lust auf eine Unterhaltung mit diesem Menschen. Er sprach von Juden, und davon mußte er ihr, Ilka Frowein, nun wirklich nichts erzählen. Am liebsten wäre sie ausgestiegen. Aber für rechtschaffene Empörung war der Mann zu blöd und das Wetter zu schlecht. Und außerdem mußten sie gleich beim Hotel Pierre sein. Ilka besah prüfend ihre Tüten, während der Depp weiter monologisierte.

Sie hatte nur eine kleine Stunde fürs Shopping Zeit gehabt. Kosmetik aus dem Kaufhaus Saks, rote Slipper von Gucci, zwei Hemden von Brooks Brothers für Frank und einen idiotischen Stoffelefanten von Macy’s für Marie, die heute Geburtstag hatte. Fünfunddreißig und steckengeblieben, da drüben, in Deutschland, in Hitzacker, der kleinsten Stadt Norddeutschlands. Meine beste Freundin, dachte Ilka, und wir mögen uns so sehr, seit den federleichten Kindertagen. Ach, Marie, du bist mein Stück Erinnerung, mein Wegträumen, meine sentimentale Ader. Du bist die Ruhe, wenn ich der Sturm bin, du bist das Zuhause und ich die Ferne, du bist die heitere Quelle und ich der harte Fels, und das macht unsere Freundschaft aus, eine Freundschaft fürs Leben.

Während der Fahrt hatte Ilka ihre durchnäßten Wildlederpumps ausgezogen. Jetzt hielt das Taxi vor dem Hotel. Der Taxifahrer war mittlerweile beleidigt und drückte wortlos auf die Tastatur des kleinen Belegautomaten, der ratternd die Quittung ausspuckte. Während der Portier, einen großen Schirm in der einen Hand, mit der anderen die Tür öffnete, freundlich grüßte und die Tüten aus dem Taxi nahm, reichte Ilka fünf Dollar nach vorn, stieg flink aus, knallte die Tür zu und marschierte auf den Hoteleingang zu. Das Taxi brauste davon. Erst als sie im Schutz des Portals stand und der Portier ihr bedeutete, sie möge durch die Drehtür hineingehen, erst da wurde ihr klar, daß sie barfuß war. Die Wildlederpumps für 598 Mark, ein wahr gewordener Fiebertraum, Lieblingsschuhe natürlich, die Wildlederpumps, die selbst Frank bombig fand, lagen im Taxi des Nazis, und irgendeine fiese Nazi-Braut würde sie heute abend aschenputtelgleich über die Füße gezwängt kriegen und glücklich sein. Mist.

Der frühe Abend war mild und wundervoll, Marie fühlte sich wie mit Seide übergossen und war bereit, ihn voller Leidenschaft zu genießen. Sie lag auf der Wiese, die zum Seegrundstück ihrer Eltern gehörte. Neben ihr lag Peter, ihr Verlobter, Worte flüsternd, die sie nicht verstand, die aber schön klangen und Maries Herz zum Schweben brachten. Sie sah den Himmel über sich, die Wattebausch-Wolken – so sanft, so leicht, so schön konnte das Leben sein. Es mußte einen lieben Gott geben. Sie lächelte, ›so von innen heraus‹, wie ihre Mutter immer sagte. Doch plötzlich stand Peter auf, zog sich das Hemd aus, befeuchtete mit der Zungenspitze seine Lippen und öffnete mit metallenem Klacken den Gürtel seiner Hose. Jetzt verstand Marie auch, was er sagte. Sein Ton war lauter als vorher, fordernd, bestimmend.

Sie richtete sich auf. »Das geht doch nicht … die Gäste kommen gleich …« Er zog sich weiter aus, die Hose, das Unterhemd, die gepunkteten Boxershorts, bis er schließlich nackt neben ihr stand.

»Peter? Du bist verrückt … meine Eltern …«

Er kniete sich neben sie. »Geburtstag«, sagte er, »ich habe doch sonst kein Geschenk für dich … Mäuschen.«

Dieses »Mäuschen« klang in Maries Ohren irgendwie ernüchternd. Aber ehe sie sich darüber weiter Gedanken machen konnte, küßte er sie, knöpfte ihre Bluse auf, fuhr mit der Hand an der Innenseite ihres Schenkels hoch, sank auf sie, bedrängte sie, verführte sie, und es war wie immer: Peter bestimmte, Marie fügte sich, Widerstand war zwecklos, alles wurde vertagt, auf morgen vielleicht, aufs nächste Jahr: Sie liebten sich. Keiner von beiden hörte, wie Maries Mutter von der Terrasse herüberrief: »Mariechen! Mariechen? Wo biste denn? Dat Ilka ist am Telefon!«

»Danke, Frau Harsefeld«, sagte Ilka, »grüßen Sie Marie bitte ganz lieb von mir, richten Sie ihr meine herzlichsten Glückwünsche aus. Ich versuche, mich später noch einmal zu melden.«

Ilka legte auf. Sie hatte von der Halle des Pierre aus telefoniert und war, wie immer, in Eile. Ihr Chef wartete auf sie.

»Alles klar?«

»Eine private Sache, sorry.«

»Dann lassen Sie uns rasch gehen … Hansson wartet nicht.«

Sie liefen zum Ausgang. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Portier pfiff mit einer Trillerpfeife ein Taxi heran.

»Aufgeregt?« fragte Ilka.

Ronaldo grinste. »Sehe ich so aus?«

Ilka stieg ins Taxi, Ronaldo drückte dem Portier zwei Dollarnoten in die Hand und setzte sich neben seine Sekretärin. »Hansson Tower, please.«

»Times Square, Corner 42nd Street«, ergänzte Ilka. Der Fahrer fuhr los. Ilka und Ronaldo waren ein erprobtes Team. Die Vermutung, sie hätten ein Verhältnis miteinander, war weit verbreitet, aber falsch: Ilka war nicht der Typ Frau, der sich mit dem Chef einläßt. Und Ronaldo war glücklich verheiratet.

Ronaldo Schäfer war in jeder Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung. Das fand nicht nur Ilka, die ein klares Bild von Männern hatte: Erstens seien neunzig Prozent der Männer, wie sie gern zu sagen pflegte, dingdong-fixiert. Der Schwanz als Wünschelrute. Ilka konnte sich über ihr Bild kaputtlachen. Daß Männer so sex-getrieben waren, so fremdgeh-bestimmt, daß sie sich nicht kontrollieren konnten, bremsen, wenn ihnen der Sinn nach dem lebendigen Austausch von Körperflüssigkeiten stand – die armen Schweine. Zweitens waren fünfundneunzig Prozent der Männer Autisten. Sie waren nicht in der Lage mitzuteilen, was sie wirklich bewegte; die Stimmungen und Empfindungen der Außenwelt erreichten sie nicht, prallten an ihnen ab. Arme, arme Jungs: Das Leben rauschte an ihnen vorbei, und sie merkten es nicht einmal.

Ronaldo war ein anderer Fall. Er war klug, ernsthaft, humorvoll. Er verband die guten Eigenschaften, die Gott für seine Menschen erfunden, aber ungerecht verteilt hatte, in einer – seiner Person. Zunächst einmal sah er fabelhaft aus: schlank, sehnig, fast zwei Meter groß. Er hatte einen schmalen Kopf mit dem berühmten griechischen Profil. Sein Haar war voll, fast lockig, dunkel, und an den Schläfen verführerisch ergraut. Wache blaue Augen verrieten Ehrgeiz und Strenge, doch der Mund war weich und nachgiebig. Er hatte eine seltsame Art zu sprechen. Selbst wenn er die nettesten Dinge sagte, klang es fast immer ein wenig abweisend, spröde, von oben herab. Aber irgendwie, fand Ilka, paßte das auch zu seiner Größe. Es schien, als sei sie ihm beinahe unangenehm. Er ging, wie viele große Menschen, etwas krumm, als wolle er sich der Erde näher fühlen. Bei Unterhaltungen beugte er sich stets ein wenig zu seinem Gesprächspartner herunter. Das konnte aufmerksam wirken. Oder herablassend. Auffällig war, daß er dann nicht zu wissen schien, wo er seine langen Anne lassen sollte. Beim Gehen schlenkerte er mit ihnen herum wie mit lästigen Anhängseln. Stand er, wirkte seine Gestik unentschlossen – alle paar Sekunden nahm er eine andere Haltung an. Mal verschränkte er seine Arme vor der Brust, mal steckte er die Hände in die, Hosentaschen, mal verbarg er sie auf dem Rücken, was ihm etwas Jungenhaftes gab, etwas Verletzliches. Ohnehin war er ein charmanter Mann. Seine Komplimente waren niemals peinlich, sein Witz wirkte immer heiter, intelligent, und gelegentlich ein ganz klein wenig böse.

Und noch eines gefiel Ilka an ihrem Chef: Er konnte, allein durch seine Anwesenheit, Nähe herstellen, eine unerklärliche Sicherheit, Ruhe, Gelassenheit. Nichts männlich Abweisendes, sondern etwas weiblich Vertrautes. In gewisser Weise, das war klar, liebte Ilka ihren Chef. Hätte sie jemand darauf angesprochen, ihre Freundin Marie Malek vielleicht, hätte sie vielleicht gesagt: »Stimmt. Ich liebe ihn – als Menschen.«

Mittlerweile waren sie vor dem Hansson-Tower angekommen.

»Dann wollen wir mal«, sagte Ronaldo Schäfer und schloß seinen Aktenkoffer. »Wenn Hansson grünes Licht gibt …«

»Dann wird aus einem Hamburger Hoteldirektor ein schwedisches Vorstandsmitglied!« vollendete Ilka.

»Aber nur, wenn Sie mitkommen, Ilka!« sagte er, zahlte und stieg aus.

»Eigentlich furchtbar, daß man sich sein ganzes Leben lang Prüfungen unterziehen muß.« Ilka lief neben ihm her. Er war ein Mann der großen Schritte.

»Geschenkt wird einem nichts!« sagte er und ging auf den Hansson-Tower zu. »Jedenfalls habe ich das noch nie erlebt.«

Ilka legte einer jungen Bettlerin, die schriftlich darüber informierte, daß sie aidsinfiziert war, eine Zehn-Dollar-Note in den leeren McDonald’s-Kaffeebecher. »Och … ich schon!« murmelte sie, aber da war Ronaldo Schäfer bereits in dem 91-Stockwerke-Haus verschwunden.

Zwischen die alten Kastanienbäume hatte Maries Stiefvater, Erich Harsefeld, Lichterketten mit bunten Lampions gehängt, die bunt und kirmesmunter in die Frühsommernacht strahlten.

Entlang der großen Terrasse, auf der die Gäste saßen, aßen und tanzten, brannten Gartenfackeln. Über das Grundstück, das reetgedeckte Haus, den See und die Wälder und Wiesen an seinem Ufer ergoß der Vollmond sein weiches, romantisches Licht. Es lag ein Zauber über dem Fest. Die Menschen waren glücklich. Marie, mittendrin, geliebt von Peter, beschenkt von Freunden, umgeben von Leuten, die ihr nur Gutes wollten, dachte: Es gibt ihn eben doch, den Augenblick der Vollkommenheit. Und sie nahm sich fest vor, einem Schwur gleich: Daran will ich mich erinnern, wenn ich einmal wieder traurig bin.

Alexander Hofstädter kam, zwei von Vater Harsefeld gezapfte Biere balancierend, durch das Gedränge hindurch auf Marie zu. »Kommen Sie, Marie«, sagte er, »ich möchte mit Ihnen auf Ihr Wohl anstoßen.« Er reichte ihr ein Glas. »Ich wünsche Ihnen Glück, Gesundheit, ein … ein frohes Herz. Mögen die Dinge im neuen Lebensjahr so laufen, wie Sie es sich wünschen.«

»Danke.« Marie stieß mit ihm an und trank.

Hofstädter wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Bin ganz außer Atem. In meinem Alter tanzt man ja nicht mehr so viel, wissen Sie.«

Hein und Gundi walzerten schwungvoll an ihnen vorbei und rempelten dabei Hofstädter an. Sie summten fröhlich mit, obgleich sie ebensowenig wie Roger Whittaker verstanden, was er da sang: Abschied ist ein hartes Schwert.

»Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen«, bat Hofstädter, »raus aus diesem Trubel hier?«

Sie gingen zum See hinunter und unterhielten sich dabei über Gott und die Welt. Alexander Hofstädter war einer der reichsten Grundbesitzer der Gegend, Anfang Fünfzig, Witwer und kinderlos. Er besaß Wälder, die er verpachtet hatte, er betrieb Pferdezucht und Landwirtschaft, und sein Gutshaus, erbaut Mitte des 19. Jahrhunderts und seitdem in Familienbesitz, gehörte zu den schönsten in Niedersachsen. Marie und er kannten sich aus der Baumschule Steunert, in der sie als eine Art Mädchen für alles arbeitete. Er war dort einer der besten Kunden. Auch kaufte er in der Schlachterei Harsefeld ein, schließlich war es die erste Adresse am Ort und hatte Maries Eltern wohlhabend gemacht. »Mit ff-Fleischwaren wird ff verdient?« sagte Vater Harsefeld immer wieder gern, besonders dann, wenn es unangebracht war.

Auf dem Holzsteg angekommen, blieben die beiden stehen. »Die Steunerts sind nicht da?« fragte Hofstädter.

Marie schüttelte den Kopf »Ich will mir doch meinen Geburtstag nicht versauen lassen!«

»Grün sind Sie denen nicht, was?«

»Ach …« Marie winkte ab. Darüber wollte sie nun heute wirklich nicht reden.

»Ich sage es Ihnen nicht zum erstenmal: Kommen Sie zu mir. Kommen Sie auf meinen Hof. Ich brauche jemanden, der die Verwaltung übernimmt, mir zur Seite steht. Bei Steunerts versauern Sie doch, Marie!« Er sah sie an. »In Ihnen steckt so viel mehr. Das weiß ich. Und das wissen Sie auch!« Hofstädter nahm ihre Hand und wollte sie küssen, als er den Ring bemerkte. »Ich wußte gar nicht, daß Sie verlobt sind!« Er ließ ihre Hand los. »Mit Peter Wolf? Dem …«

»Herr Hofstädter!« Frau Harsefeld kam munter zum Steg heruntergelaufen. »Walzer!«

»Er ist nicht so, wie alle immer sagen …«

Wieder einmal versuchte Marie vergeblich, ihren Freund zu verteidigen. In einer so kleinen Stadt wie Hitzacker sprachen sich die Dinge schnell herum. Peter Wolf, Koch in der Stadtkate, galt als ausgemachter Hallodri. Es war bekannt, daß er gern große Reden führte, über seine Verhältnisse lebte, ein Meister darin war, andere auszunutzen, auch Marie.

Frau Harsefeld nahm Hofstädter bei der Hand und zog ihn fort. »Entschuldige, Mariechen, aber Herr Hofstädter hat mir den Walzer versprochen.«

Marie blieb allein zurück, und schon beschlich sie wieder dieses Gefühl unerklärlicher Traurigkeit. Eigentlich hatte sie allen Grund, glücklich zu sein, dachte Marie dann oft. Sie hatte einen Job, einen Freund, eine Wohnung oberhalb der Schlachterei, in der sie mietfrei wohnen konnte. Sie war gesund, sie lebte in Frieden und in Freiheit. Da oben, auf der Terrasse, lärmten die Freunde und Verwandten, die sie mochten, und der Steg und all das Schöne um sie herum, dies Stück Zuhause und Geborgenheit, würde eines Tages ganz in ihren Besitz übergehen. Ihre Zukunft war gesichert. »Ich habe alles«, hatte sie einmal ihrer Freundin Ilka gesagt, »und mir fehlt so furchtbar viel!«

Sie hatte das Gefühl, das seltsame und scheinbar unbegründete Gefühl, daß sie an einem Wendepunkt ihres Lebens stand. Wie oft hatte sie davon geträumt, noch einmal ganz von vorne anfangen zu können. Alles hinter sich lassen, alle Brücken abbrechen, laufen, laufen, irgendwohin, wo alles anders war, neu, vielversprechender, erfüllender. Aber wenn solche Gedanken sie forttrugen, krochen gleichzeitig die alten Ängste in ihr hoch, die sie umklammerten und festhielten, und dann kam sie sich klein vor, verloren und schwach. Was konnte sie, Marie Malek, der Welt schon Besonderes zeigen? Wer der Welt nichts bietet, dem bietet die Welt nichts. Marie seufzte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ging langsam den Hang hinauf zum Haus zurück.

Lange Zeit hatte sie geglaubt, in Peter das Fehlende, das Ersehnte, die Ergänzung gefunden zu haben. Er steckte so voller Pläne, voller Energie und konnte sie mitreißen. Man sollte, man könnte, man müßte … aber dabei blieb es dann auch. Er sprach aus, wovon sie träumte. Doch im Umsetzen von Plänen, das hatte sie sehr bald bemerkt, waren sie beide gleich schlecht. Immerhin hatte sich Peter seinen MG gekauft, den Kindertraum-Sportwagen. Auf Maries Kosten. Immerhin hatte er sich an einer Kneipe in Lüneburg beteiligt. Auf Maries Kosten. (Die Kneipe war längst dicht.) Immerhin wollte er jetzt an seinem Plan arbeiten, ein deutsches Restaurant in Kenia aufzumachen. Auf Maries Kosten, klaro, Mäuschen.

Das alles machte ihr nichts aus. Sie wollte nicht zuhören, wenn ihre Eltern über Peter schimpften. Sie wollte sich keine tieferen Gedanken machen, wenn die Bank schrieb, Marie müsse eine Bürgschaft für Peter unterschreiben. Sie wollte großzügig sein. Sie wollte Peter eine faire, verständnisvolle Partnerin sein. Sie wollte ihm trauen. Denn sie wollte von ihm geliebt werden.

Marie hatte noch keine Lust, zu den Gästen zurückzugehen. Sie schlenderte eine Weile durch den Garten, um das Haus herum, die schmale Rhododendron-Allee hoch, an den parkenden Autos vorbei. Und dann sah sie es. Dann sah sie, an ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag, in der Nacht, die einem schönen Tag folgte, und der ein seidiger Abend vorausgegangen war, daß ihre Liebe ein Irrtum gewesen war. Sie sah, wie Peter Wolf in dem von ihr bezahlten Auto eine andere Frau liebte, so wie er wenige Stunden zuvor sie geliebt hatte.

Marie kannte die andere Frau. Er war täglich mit ihr zusammen, denn sie war seine Kollegin. Katrin Ladiges arbeitete als Kellnerin in der Stadtkate. Nie wäre Marie darauf gekommen, daß es zwischen den beiden mehr geben könne als eine Zusammenarbeit. Nie hätte sie vermutet, daß dieses zwanzigjährige Ding mit seiner schrillen Kleidung und der piepsigen Stimme irgendeine Anziehung auf Peter ausüben könne. Nie hätte sie sich vorstellen mögen, daß Peter, nach all den Jahren, bei all ihrer Nähe und allem, was sie miteinander verband, sie betrügen würde.

Oder doch? War dies vielleicht sogar die logische Konsequenz aus allem? Je mehr die anderen Peter kritisiert hatten, desto mehr hatte sie ihre Freundschaft mit Peter beschönigt. Sie hatte sich zur Gutgläubigkeit gezwungen. Und sie hatte Konflikte gefürchtet. Denn eines hatte sie immer und vor allem verhindern wollen – verlassen zu werden, allein zurückzubleiben. Maries Ängste hatten einen fruchtbaren Boden für Peters Egoismus abgegeben.

Auch jetzt hatte sie das Gefühl, sie sähe schon wieder nicht die Wirklichkeit, sondern nur einen Film. Sie beobachtete, wie er sich auszog, an der Innenseite von Katrins Schenkel mit seiner Hand hochfuhr, sich auf sie legte, sie bedrängte, sie liebte. In diesem Augenblick brach eine Welle von Panik über Marie herein, begleitet von einem Gefühl unendlicher Einsamkeit. Es schmerzte so sehr, es war so haltlos, daß sie nicht einmal weinen konnte, nicht einmal schreien konnte, nicht einmal eingreifen konnte. Es war der ganz alltägliche Betrug, der da vor ihren Augen vollzogen wurde, alltäglich, unerträglich. Es war auch der Beginn eines vollkommen neuen Lebens für Marie Malek, doch das konnte sie in diesem Moment noch nicht ahnen. »Nichts ist so schlecht im Leben«, sagte ihre Mutter häufig, »als daß nicht etwas Gutes darin läge« Dieser Gedanke blieb Marie, angesichts von Peter, der sich nun stöhnend in Katrin vergrub, fern. Sie drehte sich einfach nur weg und ging zurück, zu den bunten Lampions, zur Musik, zum Lachen.

Immer auf den letzten Drücker. Frank Melson ärgerte sich selber darüber, aber dies schien das Motto seines Lebens zu sein. Er gab Gas. Wenn Ilka pünktlich am Hamburger Flughafen Fuhlsbüttel gelandet war, gab es zwei Möglichkeiten. Entweder sie hatte sich bereits ein Taxi nach Hause genommen. Dann war sie jetzt stinksauer. Oder sie saß noch in der Ankunftshalle und wartete. Dann war sie jetzt auch stinksauer.

Frank machte sich nichts vor: Er, der Schönheitschirurg, den die tollsten Frauen schier anhimmelten; der wohlhabende Porschefahrer, dessen Vergangenheit solide, dessen Gegenwart brillant und dessen Zukunft göttlich war; der Freund, der es gut meinte und besser machte, er, Doktor Frank Melson, war Ilka Froweins Sklave. Er warf einen kurzen, prüfenden Blick in den Rückspiegel. Es stimmte alles. Er war klasse. Nur Ilka schien das nicht zu merken.

Seit vier Jahren waren sie ein Paar. Er machte stets, was Ilka wollte. Während der übrigen Zeit machten alle anderen, was er wollte. Er war ganz zufrieden damit. Jede Art von Schwäche betrachtete er als weitere Facette seines charakterlichen Reichtums, jede Unterlegenheit als Zeichen seiner Anpassungsfähigkeit, jeden verlorenen Kampf um die Führung in dieser komplizierten Partnerschaft als Sieg seiner Vernunft.

Mit Schwung fuhr er auf den Gehsteig vordem Flughafengebäude. Dabei krachte er gegen das Rücklicht eines Joghurtbechers. Er schaltete den Motor aus, sprang aus dem Wagen und besah sich den Schaden. Joghurtbecher – das waren für ihn alle Autos, die klein waren und wenig kosteten. Die von Leuten gefahren wurden, die klein waren und wenig verdienten. Das Rücklicht war vollständig demoliert. Normalerweise sah Frank über solche Kleinigkeiten hinweg. Aber für eine arme Familienmutti, die mit ihrem armen Joghurtbecher ihren armen Familienpapi nach der Dienstreise abholte, bedeutete so ein 200-Mark-Schaden sicher eine Katastrophe. Normalerweise hätte er ein paar Scheine unter den Scheibenwischer gelegt, Rest ist für euch. Aber man konnte ja heutzutage niemandem mehr trauen. Also knallte er seine Visitenkarte drunter und rannte in das Gebäude.

Ilka hatte sich auf einen der modernen Drahtstühle in der Halle gesetzt, ihre Schuhe ausgezogen, die Beine auf den Gepäckwagen gelegt und blätterte in der neuen amerikanischen Vogue, allerdings eher beiläufig. Sie war auf hundertachtzig.

»Engel!« Frank stürzte auf sie zu.

»Ich wollte gerade gehen!« maulte sie, ließ sich aber trotzdem gnädig küssen. »Schäfer ist schon vor ‘ner halben Stunde von seiner Frau abgeholt worden!«

»Und? Wie war’s? Erzähl doch mal!«

»Warum kommst du denn so spät?« Sie schwang die Beine vom Gepäckwagen und versuchte, ihre Schuhe anzuziehen. »Ich habe derartig dicke Füße …«

»Und ich stehe seit sechs im OP, Engel!«

»Och, du Armer.« Endlich hatte sie die Schuhe wieder an den Füßen. Sie erhob sich. »Ich freu mich so auf meine Wohnung, Frank, ich sag’s dir, es war so anstrengend … der totale Streß, ich will in die Wanne, Entspannungsbad …« Sie streckte sich, während Frank den Gepäckwagen beiseite schob. » … und dann schmusen mit dir.«

Er seufzte. »Daraus wird nichts, Engel, ich muß wieder in die Klinik. Lauter schlaffe Hühner, die gestrafft werden wollen!«

»Nö, komm …« Frank steuerte den Gepäckwagen, Ilka stöckelte neben ihm her. »Du bringst mich nach Hause, und dann bleibst du bei mir, wenigstens zwei Stunden]«

»So lange, meinst du, brauchen wir, ja?« Er grinste.

»Mindestens!« Sie grinste auch. Frank übersah einen Kugelaschenbecher, der im Weg stand, und fuhr ihn mit dem Gepäckwagen krachend um. »Und schon bumst es!« Lachend stellte er den Aschenbecher wieder auf. Ilka hakte sich bei ihm unter. Er war doch ein toller Freund, pflegeleicht, humorvoll, sexy.

Wer die beiden zusammen sah, wie sie schwatzend und albernd auf den Ausgang zusteuerten, dynamisch, modern, gut aussehend, der hätte sich niemals vorstellen können, daß sich hier zwei Menschen mit jedem Tag, mit jeder Stunde, mit jeder Minute einem Abgrund näherten.

Ilka wohnte in einer Jahrhundertwende-Villa im Stadtteil Harvestehude, in einer ruhigen, grünen, noblen Straße, unweit der Alster. Sie hätte sich diese luxuriöse Etage mit Terrasse und Gartenblick, mit Kamin und Marmorbad von ihrem Sekretärinnen-Gehalt nicht leisten können. Ursprünglich hatten Frank und sie zusammenziehen wollen und die Wohnung gemeinsam angemietet. Doch dann, noch bevor sie eingezogen waren, hatte Ilka entschieden, daß es besser sei, wenn jeder, wie sie es ausdrückte, »sein eigenes Reich« besäße. Frank, ganz Gentleman, hatte ihr im Wortsinne den Vortritt gelassen, sich eine eigene kleine Wohnung in der Nähe gesucht und trotzdem generös die Miete von Ilkas Wohnung zur Hälfte übernommen. »Schließlich verbringe ich auch die Hälfte der Zeit nicht nur mit dir, sondern bei dir, Engel«, hatte er gesagt und auf dieser Regelung bestanden.

»Droh mir nicht so, Frank!« hatte Ilka geantwortet, »die Hälfte der Zeit! Mensch, ich hab doch mit mir genug zu tun. Ich hasse dieses Kleben und Kletten. Also wirklich.«

Natürlich war es dann so geschehen, wie Ilka es wollte. Man traf sich an den Wochenenden, und auch dann nur, wenn Ilka Lust hatte, Frank zu sehen. Abendessen unter der Woche, ganz teuer, ganz selten, war erlaubt, insbesondere dann, wenn Ilka Ärger im Büro hatte und Dampf ablassen wollte: »Also, mir ist noch ganz schlecht von heute morgen, Frank … Nee, für mich einen Prosecco … Kommt doch der Schäfer und sagt: Ich gehe nach Stockholm, in den Vorstand. Hansson will mich in New York nur noch seinen Oberfuzzis vorstellen, und dann zack-knack, mein Stellvertreter rückt auf … Saalbach? sage ich, und er nickt … also hör mal, was denkt der Mann sich, Frank? Saalbach, diese Lusche. Ich dessen Sekretärin? Ich könnte …«

Frank wirkte auf Ilka wie eine Dosis Valium. Er verfügte über die Gelassenheit eines buddhistischen Mönchs sowie die kostbare Gabe, zuhören zu können, stundenlang. Was andere Frauen als langweilig empfunden hätten, empfand Ilka als angemessen: Wenn sie redete, hatte er Pause.

Trotz zahlreich eingestreuter Wendungen wie »Nun sag doch mal«, »Wie findest du das?«, »Was sagst du?«, »Und nun kommst du« – Ilka wollte Franks Meinung gar nicht hören, denn ihr genügte ihre eigene. Und von der rückte sie auch selten ab.

»Na ja, und nachdem Schäfer dann da oben im x-ten Stock seinen Vortrag, natürlich in feinstem Oxford-Englisch, beendet hat, kloppen alle auf den Tisch, es gibt Drinks, und Hansson sagt: Wunderbar mein lieber Ronaldo, so habe ich es mir gedacht, dann kommen Sie also nach Stockholm …« Ilka schloß die Haustür auf, während Frank stumm das Gepäck schleppte und zuhörte – » … und Sie, meine liebe Ilka, Sie kommen mit!«

Durch das kühle, marmorweiße Treppenhaus gingen sie hinauf in den ersten Stock. »Seid Ihr Männer denn alle bescheuert? Darf ich vielleicht mal selber entscheiden? Ich bin doch kein Kamel, das immer dahin trabt, wo man es hinhaben will …«

Frank stellte Koffer und Taschen vor Ilkas Wohnungstür ab. »Aber ist vielleicht auch eine Chance, Engel!«

Ilka steckte energisch den Schlüssel in das obere der beiden Schlösser. »Eine Chance, Frank? Stockholm? Das ist ja noch schlimmer als Hamburg.« Sie zog den Schlüssel heraus und wandte sich langsam zu Frank um. »Und wir?« fragte sie ganz leise.

Er umfaßte ihren Po und drückte sich gegen sie. »Wir machen jetzt erst mal …«

»Genau !« sagte Ilka. »Und denn gucken wir mal …«

»Und denn schauen wir mal!« ergänzte Frank, während Ilka sich wieder umdrehte und das untere Schloß öffnete. Er packte mit einem Griff ihre vollen, dunklen, schulterlangen Locken, legte ihren Nacken frei und küßte ihn.

In der Wohnung ließ Frank das Gepäck fallen, und Ilka atmete laut auf. Home, sweet home. »Frank, hol aus dem Kühlschrank eine Flasche Champagner, ja?«

Frank ging in die Küche, Ilka den Flur entlang ins Wohnzimmer. Sie hörte noch, wie Frank sagte: »Engel, was ist denn hier los?« Doch schon im selben Moment durchfuhr sie dieser Schock, der alles ausschaltet – das Hören, das Sprechen, das Denken. Ilka blieb stehen, rührte sich nicht und hielt sich nur die Hand vor den Mund. Das Wohnzimmer war vollständig zerstört. Die Sofas aufgeschlitzt, der niedrige italienische Glastisch zertrümmert, die Bücher aus den Regalen gerissen und zu Boden geworfen, der kleine antike englische Sekretär durchwühlt. Die Einbrecher hatten auf dem südpersischen Afschar-Teppich ihre brennenden Zigaretten ausgedrückt, und der Schirwan-Gebetsteppich, das kostbare Stück mit der elfenbeinfarbenen Bordüre, seinen mitternachtsblauen Vögeln, Krickenten und dem tomatenroten Pferd, dieses wunderbare Erinnerungsstück an eine große, längst vergangene Liebe, es war verschwunden. Gestohlen. Gestohlen wie das Silbertablett, das auf dem Glastisch gestanden hatte, wie die bronzene französische Kaminuhr, wie die Miniaturen, die seitlich des Sekretärs gehangen hatten, und das Aquarell von Fußmann – Ginster, ein gelber See von Blüten, ein Geschenk von Frank.

»Mist« Frank war ins Zimmer gekommen, ohne daß Ilka ihn bemerkt hatte. »Die sind über den Balkon rein, sieh mal …« Er ging auf die Terrassentür zu, deren Glas um den Griff herum zersplittert war. »Die Küche sieht auch grauenhaft aus. Die haben wohl gedacht, hier wohnt noch die Omi, die ihr Erspartes in der Kaffeedose aufbewahrt«

Ilka lehnte sich gegen die Wand. Warum passiert einem so etwas? dachte sie. Warum darf man nie ungestraft glücklich sein, unbeschwert, eins mit sich und dem Rest der Welt? Warum gab es, immer wieder, aus heiterem Himmel, die Schocks, die schrecklichen Überraschungen, die Niederlagen und Enttäuschungen? Warum konnten die Dinge nicht wenigstens einmal im Leben vollkommen sein?

Sie hätte weinen können. Doch da war dieser Schwur. Der Schwur aus der Kindheit, aus ihrem dreizehnten Lebensjahr. Als sie in Hitzacker, da draußen auf dem Land, wo alles zweitausend Umdrehungen langsamer lief, an jenem Gewitternachmittag mitten auf dem Feld, unter der Krone der Buche gestanden hatte und so traurig gewesen war wie jetzt, so schrecklich geweint hatte, als alles nichts half und niemand ihr helfen konnte und sie sich gesagt hatte: Ich werde nie wieder weinen. Es blitzte und donnerte, der Regen prasselte auf die Buchenblätter und auf das Feld, und Ilka war das traurigste und einsamste Mädchen der Welt. Und sie hatte allen Grund dazu. Aber das war eine andere Geschichte.

Kapitel 2

Das Hansson-Hotel lag auf der Hamburger Fleetinsel, mitten in der Stadt, umgeben von alten Fassaden, hinter denen sich Ateliers und Galerien, Buchhandlungen und Restaurants befanden, und modernen Bürogebäuden, deren Fassaden dem Luxushotel glichen. Rote Backsteine standen für norddeutsche Tradition, das Bewährte, das die Generationen überdauerte. Stahlkonstruktionen gaben dem Gebäude eine zukunftsweisende technische Modernität, meterhohe Glasfronten verliehen ihm Flair, Licht, Transparenz. Eine alte Brücke mit dekorativen Laternen führte zum Entree des Hotels, das eher einer Durchfahrt glich als einem imposanten, einladenden Portal.

Dort, vor der gläsernen Drehtür, flankiert von zwei Buchsbäumen in Teak-Containern, stand Herr Schmollke, der Portier. Allerdings sprach kein Mensch, der ihn kannte, von ihm als ›Herr Schmollke‹. Denn Herr Schmollke, ein kleiner, kompakter Mann Mitte Vierzig, mit der Lebenserfahrung eines Hundertjährigen, Herr Schmollke in Cut und Zylinder, der immer blitzeblanke schwarze Schnürschuhe trug, Herr Schmollke mit seinen Knopfaugen, den runden Backen, dem freundlichen Lächeln, Herr Schmollke war einfach Schmolli. Niemand im Hotel wußte etwas über ihn, über sein Privatleben, über seine Geschichte. Schmolli stand immer an seinem Platz, eine Konstante im Leben aller Hotelangestellten, ein Kumpel, zum Wortwechseln, Wutablassen, ein Kollege, der einen nie übersah, wenn man vorbeiging, immer nickte oder mit dem Zeigefinger an den Zylinder tippte, ein nettes Wort hatte oder einen Hustenbonbon aus der Innentasche seiner Uniform zauberte. Schmolli war kein Mann der großen Worte. Er sagte wenig. Aber was er sagte, war pures Gold. Er hatte manchen wutschnaubenden Angestellten, der aus dem Haus rannte, daran gehindert, einen Fehler zu begehen, beispielsweise zu kündigen, solange er keine bessere Stelle in Aussicht hatte. Schmolli war der perfekte Portier. Auch die Gäste schätzten ihn. Er sah alles, packte stets mit an, war sich für nichts zu schade und half in nahezu jeder Situation weiter. Er konnte Opernkarten organisieren, wenn Domingo in der Staatsoper sang und selbst das Büro des Bürgermeisters sich vergeblich um eine weitere Eintrittskarte bemühte. Er hatte Stadtpläne in der Hosentasche, wenn ein Tourist den Weg zum Hafen nicht kannte, er hielt Regenschirme parat, wenn Gäste besorgt zum schwarzen Himmel hinaufschauten, er wußte, wo man die köstlichsten Fischgerichte der Stadt serviert bekam, wo Hans Albers geboren war, er hatte auf jede Frage eine Antwort, und das in sieben Sprachen fließend, plattdeutsch inklusive. Kurz, Schmolli war der gute Geist des Hansson-Hotels.

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