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«Ein Fünfzigerjahre-Krimi mit viel Herz, Zeitkolorit und einer Heldin, die ihrer Zeit voraus ist. Großartig!» Gisa Pauly An einem Spätsommertag liegt der angesehene Arzt Doktor Rudolf Hartnagel, Leiter des Kindererholungsheims in der Evenburg, tot im Klinikgarten. Durch die blau gefärbte Zunge wird rasch eine Zyankali-Vergiftung diagnostiziert. Die Polizei geht von Suizid aus und will den Fall zu den Akten legen. Doch Heißmangel-Betreiberin Martha Frisch gibt sich damit nicht zufrieden und geht der Sache nach. Gemeinsam mit Karl, dem Volontär der Leeraner Zeitung, kommt sie den verborgenen Seiten in Hartnagels Leben auf die Spur, die von Homosexualität in biederen Zeiten bis hin zu NS-Euthanasievorwürfen reichen. Eins ist klar: Umgebracht hat Hartnagel sich nicht. Und jemand ist mit seinem Racheplan längst noch nicht fertig.
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Seitenzahl: 333
Christiane Franke • Cornelia Kuhnert
Kriminalroman
Teufel im weißen Kittel
An einem Spätsommertag liegt der angesehene Arzt Dr. Rudolf Hartnagel tot im Park seines Kindererholungsheims. Durch die blau gefärbte Zunge wird rasch eine Zyankali-Vergiftung diagnostiziert. Die Polizei geht von Suizid aus und will den Fall zu den Akten legen. Doch Heißmangel-Betreiberin Martha Frisch gibt sich damit nicht zufrieden und geht der Sache nach. Gemeinsam mit Karl, dem Volontär der Leeraner Zeitung, kommt sie den verborgenen Seiten in Hartnagels Leben auf die Spur, die von Homosexualität in biederen Zeiten bis hin zu NS-Euthanasievorwürfen reichen. Eins ist klar: Umgebracht hat Hartnagel sich nicht. Und jemand ist mit seinem Racheplan längst noch nicht fertig.
«Ein Fünfzigerjahre-Krimi, in dem das Zeitkolorit wunderbar geschildert wird.» NDR 1 Bücherwelt
«Wieder einmal beweisen Cornelia Kuhnert und Christiane Franke, dass sie mit Liebe und Akribie nicht nur ihre Fälle lösen lassen, sondern auch einen besonderen, durchaus liebevollen Blick auf die Gegebenheiten der Zeit und Lebensumstände ihrer Protagonisten haben.» Saarländischer Rundfunk
Christiane Franke wurde an der Nordseeküste geboren und lebt immer noch gerne dort. Neben ihren gemeinsamen Projekten mit Cornelia Kuhnert schreibt sie eine Krimiserie um die Wilhelmshavener Kommissarinnen Oda Wagner und Christine Cordes.
Cornelia Kuhnert lebt in Hannover und hat dort als Lehrerin gearbeitet. Sie hat bereits zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht und Anthologien herausgegeben.
Gemeinsam veröffentlichen die Autorinnen bei rororo ihre erfolgreiche Ostfriesland-Krimireihe um Dorfpolizist Rudi, Postbote Henner und Lehrerin Rosa, die regelmäßig auf der Spiegel-Bestsellerliste steht.
Mehr unter www.kuestenkrimi.de.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung zero-media.net, München
Coverabbildung Magdalena Russocka/Trevillion Images; Hans-Georg Eiben/HUBER IMAGES
ISBN 978-3-644-02015-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Was für ein herrlicher Altweibersommertag. Auch wenn es heut früh noch kühl gewesen ist und Tau auf dem Gras schimmerte, zeigt die Sonne jetzt noch einmal ihre ganze Kraft. Als wolle sie die Seelen der Menschen mit Licht und Wärme füllen, damit sie in den Herbst- und Wintermonaten davon zehren können.
Wie immer ist es ruhig um die Mittagsstunde in Leer. Die Läden öffnen erst am Nachmittag wieder, die Geschäftigkeit des Alltags macht eine kurze Pause.
Draußen vor der Stadt, auf dem Gelände des Kindererholungsheims in der Evenburg, in dessen weitläufigem Park alte Bäumen stehen, ertönt fröhliches Kinderlachen.
«Sieben, acht, neun, zehn … ich komme!»
Ein Junge in kurzen Hosen, geringeltem, kurzärmeligem Pullover und mit Socken in den Sandalen steht an einer Eiche, den Blick zum Stamm gerichtet, die Augen durch die Hände abgeschirmt. Er dreht sich um. Niemand ist zu sehen und zu hören, nur Bienensummen, Vogelgezwitscher und ein Auto, das auf der Straße vor dem Schlosspark entlangfährt.
Mit klopfendem Herzen läuft Holger los. Sucht hinter dem nächsten Busch. Vergebens. Da, hat sich nicht etwas hinter der Hortensie bewegt? Aber das war nur ein Vogel. Weiter läuft er, verliert schon beinahe die Lust. Martin und Thomas haben sich einfach zu gut versteckt. Allerdings sind sie auch schon länger hier, er erst seit vorgestern. Das ist gemein, sie wissen, wo man sich gut verstecken kann. Aber so leicht gibt er nicht auf. Das hat ihm sein Vater eingeschärft.
Er beißt die Zähne zusammen und läuft weiter. Dahinten. Der Haselnussstrauch. Das perfekte Versteck. Auf Zehenspitzen nähert er sich dem Busch und lugt dahinter.
Doch hinter dem Strauch hocken weder Martin noch Thomas.
Stattdessen liegt dort ein Mann im Anzug. Gekrümmt, die Beine an den Oberkörper gezogen, die Arme um den Bauch gelegt, als hätte er Schmerzen.
«Hallo», ruft Holger zaghaft, doch der Mann rührt sich nicht. All seinen Mut nimmt er nun zusammen, tritt dichter heran und blickt auf das Gesicht des Mannes hinab.
Dann stößt er einen lauten Schrei aus und läuft so schnell er kann zur Brücke, die zur Burg führt.
Martha Frisch wischt sich mit dem Taschentuch übers Gesicht. Ein Hitzeschauer nach dem anderen läuft durch ihren Körper, der plötzliche Temperaturanstieg nach zwei kühlen Wochen tut sein Übriges, um ihren Kreislauf in Wallung zu bringen. Dabei hat sie die Ladentür offen gelassen, um auch ein wenig warmen Wind herein- und die Hitze der Heißmangel herauszulassen.
Sie legt das große Tischtuch zusammen und packt es in den Korb für das Restaurant Zur Waage, dann geht sie in den kleinen Hinterraum, in dem auch ihr Mantel hängt, holt sich ein Glas Wasser, trinkt es in einem Zug aus, füllt es erneut und setzt sich auf den Holzstuhl in der Ladenecke. Mit der Zeitung vom Vortag fächelt sie sich Luft zu.
«Guten Morgen, Frau Frisch.» Frau Dedersen betritt den Laden. «Puh, ist das warm heute», stöhnt die Zahnarztgattin und lässt den Wäschekorb auf den Tisch neben der Heißmangel fallen.
«Das kann man wohl sagen», pflichtet Martha ihr bei, steht auf und registriert das weit geschnittene Kleid mit Rundkragen und Schleife. Das ist wirklich vorteilhaft für die korpulente Mittdreißigerin, die keine Taille hat und ihr Hüftgold auf diese Weise gut kaschiert. «Ein sehr hübsches Kleid haben Sie an.»
«Ja, finde ich auch», sagt Frau Dedersen und fügt mit stolzem Lächeln hinzu: «Als ich es auf der Modenschau gesehen habe, war ich hin und weg. Genau wie mein Mann. Der hat es mir auf der Stelle gekauft. Der Salon Kesselbrink ist wirklich eine Bereicherung für unsere Stadt, endlich gibt es hier auch außergewöhnliche Kleider», holt sie zum Loblied auf das neue Modehaus aus, das erst vor wenigen Wochen eröffnet hat. «Für Fräulein Kesselbrink ist das sicher eine schöne Aufgabe, sie hat ja keinen Mann abbekommen und muss allein für ihren Lebensunterhalt sorgen, aber dass Ida Pickering da nun auch mitmischt … also mein Mann hält gar nichts davon. Eine Frau hat andere Aufgaben. Sie ist für die Familie da und soll ihren Mann am Abend gut gelaunt und entspannt begrüßen und für …»
«Moin, Frau Dedersen, hallo, Omili.» Marthas Enkelin Annemieke kommt stürmisch wie immer herein und gibt ihrer Oma einen Kuss auf die Wange. Ihre nassen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, offenbar kommt sie gerade aus dem Freibad.
«Hallo, mein Schatz. Schön, dass du wieder zum Helfen kommst.» Martha greift nach der obersten Tischdecke im Wäschekorb, faltet sie auseinander und führt das angefeuchtete Tuch zwischen die rollenden Walzen. Augenblicklich steigt Dampf auf. «Soweit ich weiß, macht Frau Pickering das Entwerfen neuer Kleider sehr große Freude», greift Martha das Thema wieder auf und streicht den Stoff glatt, damit sich beim Mangeln keine Falten bilden.
«Was heißt hier Freude», erwidert Frau Dedersen. «Sie hat sich zu dieser Arbeit von Fräulein Kesselbrink überreden lassen, hat mir mein Mann erzählt. Und der weiß es aus erster Hand, schließlich trifft er sich zweimal die Woche mit Adalbert Pickering in der Kogge zum Stammtisch. Einen gewaltigen Ehekrach hat es deshalb gegeben, weil er nämlich dagegen war, dass sie arbeitet, und es ihr auch verboten hat.» Frau Dedersen fasst nach den Zipfeln der durch die Walze gelaufenen Tischdecke, um sie zu falten.
«Das kann er ihr aber gar nicht mehr verbieten», wirft Annemieke selbstbewusst ein. «Schließlich gibt es seit Juli das neue Gleichberechtigungsgesetz. Eine Frau muss ihren Mann nicht mehr um Erlaubnis bitten, wenn sie arbeiten will.»
«Ach, Mädchen, davon verstehst du nichts», sagt Frau Dedersen gönnerhaft. «Arbeiten darf die Frau nur, wenn Ehe und Kinder nicht darunter leiden. Und Adalbert leidet darunter, hat mir mein Mann erzählt. Deshalb wundert es mich, dass er sich mit Ida wieder versöhnt hat und ihr diese Tätigkeit nicht doch verbietet.» Es lieg ein Flackern in Frau Dedersens Blick. Martha ahnt, dass ihr ein schmutziger, öffentlich ausgetragener Rosenkrieg gut gefallen hätte, sensationslüstern, wie sie ist. Dann wäre wochenlang für Gesprächsstoff gesorgt.
«Nun lasst uns mal das Thema beenden», sagt sie. «Das ist schließlich eine Privatangelegenheit.»
«Finde ich auch», stimmt Annemieke zu, die mit Pickerings Tochter Lieselotte eng befreundet ist. «Habt ihr schon gehört, dass es kommenden Donnerstag in der Kogge ein Treffen von politisch interessierten Frauen gibt?»
«Politisch interessierten Frauen?» Frau Dedersen verzieht den Mund, als hätte sie in etwas Saures gebissen. «Meinst du Suffragetten, Mädchen?»
«Nein. Einfach nur Frauen, die sich politisch bilden möchten. Schließlich findet im nächsten April die Landtagswahl statt und übernächstes Jahr die Kommunalwahl. Wir Frauen dürfen den Männern nicht allein die Entscheidung über die Zukunft unseres Landes überlassen», sagt Annemieke energiegeladen.
Martha blickt sie schmunzelnd an. Ach, die Jugend. Ist voller Tatendrang. Und das ist schön, nur so kann man etwas erreichen. «Nein, das sollten wir wirklich nicht», stimmt sie ihrer Enkelin zu. «Aber wie soll das gehen? In den Parlamenten sitzen doch fast nur Männer.»
«Genau. Und das müssen wir ändern.»
Frau Dedersen schüttelt missbilligend den Kopf. «Kind, Kind, du darfst noch nicht einmal wählen und schwingst schon große Reden. Ich weiß wirklich nicht, wo das noch hinführen soll …»
«Polizei Leer, Wachtmeister Frisch», meldet sich Hans am Telefon.
«Hier spricht Oberschwester Düster vom Kindererholungsheim», hört er die aufgeregte Stimme einer Frau. «Doktor Hartnagel ist tot. Er liegt im Garten der Evenburg, und der Notarzt sagte, ich soll Sie informieren. Es sieht wohl so aus, als sei er an Gift gestorben.»
«Was?» Hans kann nicht glauben, was er hört.
«Sind Sie schwer von Kapee oder was?», ranzt ihn die Frau an. «Doktor Hartnagel ist der Leiter des Kindererholungsheimes in der Evenburg. Ein Kind hat ihn heute Mittag gefunden. Wir haben sofort den Notarzt gerufen. Der vermutet, dass Doktor Hartnagel durch Zyankali ums Leben gekommen ist.»
«Selbstmord?», fragt Hans, ohne groß nachzudenken. Sein Kollege, Wachtmeister Brettschneider, der am Schreibtisch gegenüber sitzt, schaut auf.
«Woher soll ich das wissen?», fährt ihn die Frau erneut an.
«Wir kommen. Wie bitte war noch einmal Ihr Name?»
«Düster. Oberschwester Alma Düster.»
Hans bedankt sich und legt auf. In wenigen Worten setzt er Brettschneider ins Bild. «Was meinst du, sollen wir Kommissar Onnen Bescheid geben?»
«Worüber sollen Sie mir Bescheid geben?», ertönt die sonore Stimme ihres Vorgesetzten, der in Hut und Mantel im Türrahmen steht.
«Der Leiter des Kindererholungsheims, Doktor Hartnagel, ist tot. Wahrscheinlich hat er den Freitod durch Zyankali gewählt», erklärt Hans.
«Hartnagel soll sich selbst getötet haben?» Onnen runzelt die Stirn. «Das erscheint mir fragwürdig. Ich kenne ihn recht gut. Er gehört unserem Verein zur Erhaltung der Sitten und Gebräuche an und ist wahrlich kein Drückeberger. Selbstredend komme ich mit.»
Zu dritt fahren sie mit dem Polizei-Käfer zur Evenburg, einem nach barockem Vorbild gebautem Wasserschloss mit breitem Schlossgraben vor den Toren Leers, das schon so manche Einrichtung beherbergte, nachdem die Grafenfamilie von Wedel ihren Hauptwohnsitz nach Neustadtgödens verlegt hatte. Ein Lazarett, eine Flüchtlingsunterkunft, sogar ein Internat der Melkerschule waren hier beheimatet, bis es schließlich ein Kindererholungsheim wurde.
Auf der Eingangstreppe der aus hellem Stein gebauten Burg erwartet sie eine Frau in weißer Schwesterntracht mit Häubchen auf dem Kopf. Sie hat die fünfzig sicher überschritten. Das wird Oberschwester Düster sein, vermutet Hans. Ihr Gesichtsausdruck passt zu der schroffen Art eben am Telefon. «Na endlich.»
Ja, diesen Befehlston erkennt er wieder.
Kommissar Onnen übergeht ihre Bemerkung. «Wo liegt der Tote?»
«Folgen Sie mir. Der Notarzt hält die Stellung bei Doktor Hartnagel. Die Kinder sind alle in der Burg, dafür habe ich gesorgt. Keines von ihnen darf hinaus, solange er noch nicht fortgebracht wurde.»
Sie schreitet im Stechschritt voran. Hans blickt an der Burg hinauf. An zahlreichen Fenstern sind die neugierigen Gesichter von Kindern zu sehen. Manche kleben mit ihren Nasen an den Scheiben.
Kommissar Onnen läuft neben der Krankenschwester her und hat Mühe, bei ihrem strammen Schritt mitzuhalten. Brettschneider und Hans folgen.
«Er liegt da vorn.» Schwester Düster streckt den Arm aus. «Hinter dem Haselbusch.»
Busch ist etwas untertrieben, denkt Hans, denn von hier aus kann man nicht sehen, was sich dahinter befindet. Als sie das ausufernde Gestrüpp umrunden, sitzt der Notarzt im Gras neben dem Toten und trinkt aus dem Becher einer Thermoskanne.
«Moin.» Schwerfällig erhebt er sich und streicht sein graues welliges Haar zurück. «Wird auch Zeit, dass Sie kommen. Ich kann schließlich nicht ewig warten. Könnte ja Patienten geben, denen ich noch helfen kann.»
«Moin.» Onnen tritt näher und betrachtet den Toten von oben. «Kein Zweifel, das ist Hartnagel.»
Sofort keift die Oberschwester los: «Meinen Sie, ich würde den Leiter unseres Heimes nicht erkennen?»
Onnen beachtet sie nicht. «Können Sie schon etwas zur Todesursache sagen?», fragt er den Notarzt.
Der nickt. «Ich vermute, es war Zyankali. Die hellrote Verfärbung der Mundschleimhaut spricht dafür. Ich habe – weiß Gott – Ende des Krieges viele Leichen gesehen, die auf zerbissene Zyankalikapseln zurückzuführen waren. Ein seinerzeit gängiges Mittel, um nicht fürs Tun während der Nazi-Zeit zur Rechenschaft gezogen zu werden. Viele Menschen nahmen das Gift, als würden sie Pfannkuchen essen.»
«Ja, das war eine schlimme Zeit, aber warum sollte Hartnagel jetzt freiwillig Zyankali geschluckt haben?», überlegt Onnen. «Er war Arzt. Aufopferungsvoll hat er sich um das Wohl von Kindern gekümmert, die hier im Erholungsheim zu Kräften kommen sollen. Welchen Grund soll er denn gehabt haben?» Onnen blickt erst die Schwester und dann den Arzt an. «Oder haben Sie einen Abschiedsbrief gefunden?»
Der Mediziner schüttelt den Kopf. «In seinen Anzugtaschen jedenfalls nicht.»
«Haben Sie schon in seinem Arbeitszimmer nachgesehen?», wendet sich Onnen an Schwester Düster.
Die schüttelt den Kopf. «Nein. Ich habe sein Büro noch nicht betreten. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er Selbstmord begangen hat. Ich …» Sie schließt für einen Moment die Augen, dann räuspert sie sich. «Was ist nun? Kann ich den Bestatter anrufen, damit der Doktor abgeholt wird?» Ihre Stimme klingt plötzlich einige Nuancen härter. «Er kann hier schließlich nicht länger rumliegen. Die Kinder … sie brauchen Bewegung an frischer Luft und gutes Essen. Ich kann sie bei diesem Wetter unmöglich länger im Haus einsperren.»
«Gehen Sie zu ihnen», schlägt Onnen vor. «Wir kümmern uns darum, dass der Leichnam so schnell wie möglich zur Obduktion ins Borromäus Hospital gebracht wird. Hartnagel ist ein Mann von Rang und Namen, da können wir uns nicht auf den bloßen Augenschein verlassen.» Ein strenger Blick trifft Schwester Düster. «Haben Sie seine Frau informiert?»
Sie hält seinem Blick stand. «Nein. Eine hysterische Ehefrau kann ich hier nicht gebrauchen. Die Kinder benötigen Ruhe für ihre Genesung. Die Tatsache, dass eines von ihnen den Doktor gefunden hat, ist schlimm genug. Ich muss versuchen, alles von ihnen fernzuhalten, was ihnen schaden könnte.»
Onnen nickt. «Dann werden wir das übernehmen. Zuvor aber lassen Sie uns in sein Arbeitszimmer gehen. Brettschneider, Sie halten hier die Stellung, damit der Arzt gehen kann. Frisch, Sie kommen mit mir.»
Das Büro des Doktors ist mit dunklen Mahagonimöbeln ausgestattet, ein prall gefülltes Bücherregal befindet sich an der Wand hinter seinem Schreibtisch. Auf der gegenüberliegenden Seite steht eine Behandlungsliege. Der Schreibtisch ist aufgeräumt. Auf einer länglichen, gebogenen Lederablage liegen ein Füllfederhalter, ein Bleistift und rotes Siegelwachs, von einem Abschiedsbrief keine Spur. Am Kleiderständer hängt der weiße Arztkittel, ein Stethoskop ragt aus einer der Kitteltaschen.
Onnen greift zum Telefon und informiert den Bestatter.
«War es üblich, dass Hartnagel in der Mittagspause das Gebäude verließ?», fragt er anschließend die Schwester.
«Das kann ich nicht beantworten. Ich habe meine eigenen Aufgaben, und es steht mir nicht zu, das Tun meines Vorgesetzten zu überwachen», gibt Schwester Düster spitz zurück.
Hans kann seinem Chef ansehen, dass er gerade einen Seufzer unterdrücken muss.
«Ist er Ihnen in den letzten Tagen verändert vorgekommen?», versucht es Onnen weiter.
«Nein.»
Während sich Onnen und Schwester Düster wie Kampfhähne gegenüberstehen, blickt Hans sich um. Neben der Behandlungsliege steht ein lebensgroßes Skelett, anatomische Zeichnungen des menschlichen Körpers und seiner Organe hängen daneben an der Wand. Ziemlich beeindruckend.
«Haben Sie mitbekommen, dass der Doktor sich mit jemandem gestritten hat?»
Kurz zieht die leitende Schwester die Augenbrauen zusammen, dann schüttelt sie den Kopf.
«Nun gut. Falls Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte.» Onnen wendet sich an Hans. «Wir beide fahren jetzt zur Witwe.»
«Soll ich Ihnen die Adresse aufschreiben?», fragt die Schwester mit einer Hilfsbereitschaft, die Hans ihr nicht abnimmt. Etwas stimmt nicht mit der Frau. Da ist er sich ganz sicher. Ihr Blick hat etwas Lauerndes, und er hat den Eindruck, dass sie sie ganz schnell loswerden will.
«Nicht nötig», sagt Onnen. «Ich weiß, wo Hartnagels wohnen.»
Als sie die Burg verlassen und auf das Polizeiauto zugehen, dreht Hans sich um und wirft einen Blick zurück. Durch das geöffnete Portal sieht er Schwester Düster mit einem jüngeren Mann. Offenbar sind sie in ein hitziges Gespräch vertieft.
Annemieke hantiert am Abstimmknopf des Radios, während Martha die Wäschestapel sortiert. Die Kopfkissenbezüge links, die Bettdeckenbezüge rechts.
«Dream, dream, dream», singt jemand im Radio, und Annemieke fällt sofort in den Refrain ein. Martha schaut ihre Enkelin lächelnd an. «Hast du mal wieder den amerikanischen Soldatensender eingestellt?»
Statt einer Antwort dreht Annemieke die Lautstärke hoch und trällert laut: «All I have to do is dream, dream, dream.» Dabei wirbelt sie im Kreis quer durch den Laden und breitet die Arme auseinander, dass der weit geschnittene Rock samt Petticoat nur so hochfliegt.
Martha versteht zwar kein Englisch, aber immerhin klingt die Melodie weich, und die Worte wirken sehnsuchtsvoll. Solche Schlager mag sie. Vor dem Krieg ist sie mit Hermann oft zum Tanzen gegangen. Sie hat es genossen, von ihm zu den Klängen der Kapelle übers Parkett geführt zu werden. Selbst als er nach dem Krieg erblindet zurückgekommen ist, sind sie noch manchmal ausgegangen. Sogar eine Woche vor diesem schrecklichen Unfall. Wie immer zieht sich bei dem Gedanken daran eine eiserne Klammer um Marthas Herz. Wie kann man nur einen Menschen auf der Straße überfahren und Fahrerflucht begehen? Vielleicht hätte Hermann gerettet werden können.
Jetzt merkt Martha, dass die Musik leiser geworden ist. Annemieke reicht ihr einen Kopfkissenbezug. «Die Dedersen hat ganz schön veraltete Ansichten über die Rechte der Frauen.»
«Was heißt veraltet? Wir sind eben so aufgewachsen, und sie tut sich schwer mit Veränderungen.»
«Du bist doch viel älter als die, und trotzdem arbeitest du, hast dein eigenes Geschäft und sagst deine Meinung. Bist nach dem Krieg nicht wieder zurück in die zweite Reihe gegangen und hast dich nur noch um den Haushalt und die Wünsche deines Mannes gekümmert.»
Martha lächelt versonnen. «Die Wege des Lebens sind verschlungen, und manche Dinge ergeben sich einfach. Wer weiß, wie mein Leben weiter verlaufen wäre, wenn dein Großvater nicht wegen seiner Erblindung den Polizeidienst hätte quittieren müssen und wir nicht zusammen die Heißmangelstube eröffnet hätten.»
«Ach, Omili, nun stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Wer hat denn im Krieg den Führerschein gemacht, um Medikamente und Lebensmittel fürs Rote Kreuz ins Lazarett zur Evenburg zu fahren. Du hast nicht nur Socken für die Soldaten gestrickt.»
Während der Kopfkissenbezug durch die Walzen läuft, schiebt Martha eine Haarsträhne zurück unters Kopftuch, das sie mit einem Knoten keck an der Seite zusammengebunden hat, und lächelt versonnen.
«Ich bin richtig stolz auf dich, Omili.»
Martha wirft ihrer Enkelin einen Blick von der Seite zu. «Meinst du das ernst?»
«Klar! Und ich möchte noch stolzer auf dich sein.» Annemieke faltet den Bezug zusammen, ein verschwörerisches Lächeln liegt dabei auf ihren Lippen. «Du könntest dich als Kandidatin für die Wahlen aufstellen lassen und frischen Wind in die Politik bringen.»
Wie vom Donner gerührt hält Martha inne und lässt die Hände sinken. «Das kannst du doch wohl nicht wirklich meinen. Ich und in die Politik gehen! So weit kommt es noch. Nein, mein Schatz, da gehöre ich nicht hin.»
«Warum denn nicht?», beharrt Annemieke. «Du kennst Gott und die Welt, und die Leute hören dir hier im Laden zu. Das hab ich oft genug erlebt. Denk doch einfach mal drüber nach. Es ist wichtig, dass auch Frauen in die Politik gehen.»
«Sicher ist das wichtig, aber ich bin doch viel zu alt dafür.»
«Omili!»
«Na gut, drüber nachdenken kann ich ja», sagt Martha schließlich. «Aber jetzt wollen wir den Rest hier mangeln.»
Die Fahrt zum Haus der Hartnagels dauert keine fünf Minuten.
Helene Hartnagel ist überrascht, als sie die Tür öffnet: «Herr Onnen! Noch dazu in Begleitung. Was führt Sie denn her?»
Sie ist eine großgewachsene, beeindruckende Frau mit blondem, aufwendig frisiertem Haar und funkelnden Ohrringen.
«Guten Tag, Frau Hartnagel. Dürfen wir hereinkommen?»
Die Dame des Hauses tritt einen Schritt zurück. «Selbstverständlich.» Sie blickt Hans an. «Wenn Sie die Tür bitte schließen, ich gehe in den Salon voran.» Damit schreitet sie nahezu majestätisch durch das Vestibül, in dem ein großer Perserteppich die Schritte ihrer hochhackigen Schuhe dämpft. In dem geräumigen Wohnzimmer nimmt sie auf einem mit grünem Samt bezogenen Sofa Platz und deutet hoheitsvoll auf die gegenüberstehenden Sessel. «Setzen Sie sich. Worum geht es denn?»
«Frau Hartnagel, zu meinem größten Bedauern müssen wir Sie über den Tod Ihres Mannes informieren», sagt Onnen. «Mein Beileid.»
Helene Hartnagels Augen weiten sich. Hans bemerkt, dass sie schluckt, doch sie bewahrt Haltung. Nach einigen Momenten fragt sie: «Was ist passiert? Ein Autounfall?»
«Nein. Er wurde im Schlosspark gefunden. Genaueres wissen wir erst nach der Obduktion.»
«Obduktion?» Helene Hartnagel runzelt die Stirn.
«Ja.» Wieder schweigt Onnen und lässt der Witwe Zeit, das Gehörte sacken zu lassen. «Wir haben Hinweise auf eine Zyankali-Vergiftung. Könnte es sein, dass Ihr Mann den Freitod gewählt hat?»
Frau Hartnagel reckt den Kopf und blickt nach oben, als wolle sie aufsteigende Tränen unterdrücken. «Nein. Dazu hatte er keinen Grund. Sie kannten ihn doch, machte er auf Sie etwa einen lebensmüden Eindruck?»
Ihre Frage imponiert Hans. Ganz geschickt spielt sie den Ball in Onnens Feld zurück.
«Man kann jedem Menschen nur vor den Kopf schauen, nicht hinein», antwortet sein Chef weise. «Kann es sein, dass er irgendwo hier im Haus einen Abschiedsbrief hinterlassen hat?»
«Ich weiß nicht, ich war heute noch nicht in seinem Arbeitszimmer.» Frau Hartnagel erhebt sich. «Wir können gern zusammen nachschauen.» Sie geht voran durch die Diele und öffnet die Tür neben einer Eichenholztruhe.
Auch hier besteht die Einrichtung aus dunklem Holz, einem hohen, prall gefüllten Bücherregal, der Schreibtisch ist allerdings nicht ganz so aufgeräumt wie der im Erholungsheim. Kalter Zigarettenrauch hängt in der Luft, ein paar Staubflusen schweben vor dem Fenster in dem kleinen Spalt, den die schweren Gardinen offen lassen. Helene Hartnagel tritt hinter den Schreibtisch, ihre Augen blicken suchend umher.
«Nein», sagt sie kurz darauf. «Hier liegt kein Brief.» Beinahe schuldbewusst tritt sie wieder zurück, als hätte sie sich unbefugt in das Refugium ihres Mannes vorgewagt.
Onnen schaut sie nachdenklich an. «Gibt es denn noch einen anderen Ort, an dem wir nachschauen könnten?»
«Sie stellen vielleicht Fragen!» Helene Hartnagel schaut Onnen an, als wäre er begriffsstutzig. «Woher soll ich das wissen?»
«Sie sind seine Frau.»
«Das heißt nicht, dass ich die Gedanken meines Mannes lesen kann. Wenn dem so wäre, hätte ich versucht, ihn von seinem Plan abzubringen.» Mit eiserner Haltung blickt sie Onnen an, kein Schluchzen, keine Träne. Hans wundert sich, warum Schwester Düster von einer hysterischen Ehefrau geredet hat. Frau Hartnagel ist die Ruhe in Person.
Kommissar Onnen nickt bedächtig. «Wenn es sich nicht um einen Freitod handelt, stellt sich mir die Frage: Hatte Ihr Mann mit jemandem Streit? Hatte er Feinde?»
«Sind Sie verheiratet, Herr Onnen?»
Hans staunt über diese Frage. Onnen scheint es nicht anders zu gehen. «Was hat das denn mit mir zu tun?»
«Nichts. Aber wenn Sie schon lange verheiratet sind, wissen Sie, dass Ehefrauen nicht zwangsläufig über alle Tätigkeiten, geschweige denn Gedanken ihres Mannes informiert sind. Männer besprechen sich untereinander. Frauen auch. Sie werden sicher mehr über die Gedankenwelt meines Gatten gewusst haben als ich, immerhin haben Sie sich ja seit geraumer Zeit regelmäßig beim Zirkel der Baronin Osternburg getroffen. Mein Mann lebte sein eigenes Leben, ebenso wie ich meines lebe. Es ist wie in der Mathematik und in fast jeder Ehe. Zwei Leben, eine Schnittmenge. Stimmt’s?» Helene Hartnagel lächelt.
Hans ist perplex. So hat er das noch nie gesehen. Er denkt an die Ehe seiner Eltern. Sein Vater arbeitet den ganzen Tag. Seine Mutter kümmert sich um den Haushalt und früher um ihn und seinen Bruder, als sie noch kleiner waren. Und einiges machen sie gemeinsam. Er nickt unmerklich. Das hat Frau Hartnagel wirklich auf den Punkt gebracht.
Auch Onnen kann dem nichts entgegensetzen. «Falls Ihnen noch etwas einfällt, geben Sie uns bitte Bescheid», sagt er und fügt leiser hinzu: «Und auf der privaten Ebene, liebe Frau Hartnagel, sind wir vom Verein zur Erhaltung der Sitten und Gebräuche selbstredend in allen Belangen für Sie da. Wenden Sie sich gern an uns, wenn wir etwas für Sie tun können.»
Früher als sonst ist Martha aufgestanden. Sie hat gestern Abend vergessen, die schwarzen Verdunklungsrollos runterzuziehen, die sie seit den letzten Kriegsjahren benutzt, und erste Sonnenstrahlen kitzelten sie wach. Leise hat sie sich in der Küche gewaschen und dann das Frühstück zubereitet. Für ihren jungen Untermieter hat sie Tee in eine Thermoskanne gefüllt. Karl Frerichs ist der Sohn ihrer Cousine Emma aus Borkum. Er arbeitet seit Kurzem als Volontär bei der Ostfriesischen Rundschau. Ein fleißiger Bursche, morgens früh raus und abends noch lange im Verlagshaus. Gestern hat Martha gar nicht mehr gehört, wie er nach Hause gekommen ist. Sie stellt ihm gerade ein Glas frische Mirabellenmarmelade zwischen das Frühstücksbrettchen und das kleine Butterfässchen, als er hereinkommt.
«Guten Morgen, Tante Martha.» Seine Haare sind zerzaust, und in den Augenwinkeln klebt noch der Schlaf.
«Guten Morgen, mein Junge.» Sie lächelt ihm zu. «Tee ist in der Kanne, ich muss aber jetzt los, gestern kam viel Arbeit rein. Hab einen schönen Tag.»
«Du auch.» Karl schenkt sich eine Tasse ein und lässt sich auf den Stuhl fallen.
«Danke.» Sie fährt ihm übers Haar. «Werd erst mal richtig wach.» Dann macht sie sich auf den Weg.
Die Luft ist frisch und trägt einen Hauch von abgeernteten Feldern und umgepflügter Erde in sich. In den Vorgärten hängen Spinnweben zwischen den Zweigen verblühter Rosen, manche sind zu kunstvollen Netzen gespannt und glitzern in der aufgehenden Sonne. Martha liebt jede Jahreszeit, aber diese ganz besonders. Der Altweibersommer ist die Zeit, in der sie sich zurücklehnen kann, um letzte Sonnenstrahlen im Freien zu genießen. Im Frühjahr hingegen befällt sie stets eine gewisse Unruhe, schließlich gilt es, den Garten rechtzeitig zu bestellen. Auch die langen Tage und kurzen Nächte des Sommers vergehen viel zu schnell, nie bleibt Zeit, innezuhalten. Ja, der Frühherbst ist besonders friedlich, da gibt es kein Vertun.
Gerade als Martha mit dem Fegen des Ladens fertig ist, klingeln die Glöckchen über der Ladentür.
«Moin, Tante Martha!» Ihr Neffe Hans betritt in Uniform den Laden. Wie an jedem Morgen drückt er ihr die Zeitung vom Vortag in die Hand und will schon wieder los, doch Martha hält ihn zurück. «Was ist los? Bist du auf der Flucht?»
«Nein, aber ich muss mich sputen. Wir haben es mit einem kniffligen Todesfall zu tun.»
«Ein Toter?», fragt Martha neugierig.
«Wir gehen von Selbstmord aus, aber sicher wissen wir es nicht. Kommissar Onnen wäre das natürlich am liebsten. Dann könnten wir den Fall zu den Akten legen. Aber tatsächlich hat er Zweifel, und wir warten auf das Ergebnis der Obduktion. Das sollen wir heute Morgen bekommen.»
«Um wen handelt es sich denn?»
«Um Doktor Hartnagel. Den Leiter des Kindererholungsheims. Aber behalt das erst einmal für dich. Die von der Zeitung haben wir bislang raushalten können.»
«Herrjemine.» Martha stellt den Besen in die Ecke. «Hartnagel soll sich selbst getötet haben?»
«Sieht jedenfalls so aus.»
«Hat er sich aufgehängt?»
Hans schüttelt den Kopf. «Nein. Es scheint sich um Zyankali zu handeln.»
«Ich fass es nicht.» Martha ist regelrecht erschrocken. «Hat der etwa noch so eine Kapsel gehabt?»
«Ich weiß es nicht. Kanntest du ihn?»
«Nein, eigentlich nicht. Gesehen hab ich ihn das letzte Mal auf der Beerdigung von Ilses Mann. Ich weiß nur, dass er mit seiner Familie hierhergezogen ist, als das Kinderheim eröffnet wurde. Vorher hat er irgendwo im Ammerland als Arzt gearbeitet. Ihre Zugehfrau kommt ab und zu in die Heißmangel, aber die redet nicht viel.»
«Na, das bringt mich jetzt auch nicht weiter. Und denk bitte dran: Das bleibt unter uns.» Hans dreht sich um, und im nächsten Moment ist er verschwunden.
Hans hat es rechtzeitig geschafft, Kommissar Onnen ist noch nicht da, wie er vom Pförtner erfährt, als er die Wache betritt. Kollege Brettschneider steht hinter dem Tresen und spricht in einfühlsamem Ton auf eine ältere Dame ein, die völlig aufgelöst ist. Zwischen ihnen liegt der Notizblock, auf dem Brettschneider schon etwas notiert hat.
«Beruhigen Sie sich», sagt sein Kollege gerade. «Ihr Mohrle wird sicher bald wieder da sein. Wahrscheinlich sucht er in der Gegend nur eine nette Katzendame, mit der er sich die Zeit vertreiben kann.»
«Aber er ist bislang jeden Morgen wieder zurück gewesen», schluchzt die Dame. «Ich habe solche Angst, dass ihm etwas passiert ist. Können Sie nicht die Augen aufhalten, wenn Sie und Ihre Kollegen auf Streife sind?»
«Moin.» Hans hebt die Abtrennung hoch und schlüpft in den Bereich der Wache, zu dem normale Bürger keinen Zugang haben.
«Moin, Hans.» Brettschneider wendet sich wieder der Dame zu. «Das machen wir natürlich. Und wenn wir Mohrle sehen, geben wir Ihnen Bescheid, Frau Kleinert. Ihre Adresse habe ich ja.»
«Gut. Dann will ich Ihnen mal vertrauen als ‹Freund und Helfer›. Wenn Mohrle am Freitagmorgen noch nicht zurück ist, komme ich aber wieder.» Frau Kleinert nimmt ein Stofftaschentuch aus ihrer Handtasche, schnäuzt sich die Nase, steckt das Taschentuch zurück und verschließt die Tasche mit dem metallenen Klickverschluss. «Einen schönen Tag noch.» Sie nickt Brettschneider zu und geht hinaus. Im gleichen Moment kommt Onnen herein, den hellen Mantel offen und den Hut ein wenig keck auf dem Kopf. Er scheint gute Laune zu haben.
«Moin, die Herren.» Onnen bleibt vor Brettschneider stehen. «Hat Wollenweber schon angerufen?»
«Nein. Gerade hat nur eine Dame ihren Kater als vermisst gemeldet.»
«Na, der wird wohl am Mausen sein. Lieber ein junges Kätzchen als ein altes Frauchen. Kann man verstehen.» Zwinkernd blickt er von Brettschneider zu Hans. «Ich bin dann in meinem Büro. Wenn Wollenweber sich meldet, stellen Sie ihn unverzüglich zu mir durch.»
Die nächste Stunde verläuft ruhig. Schweigend arbeiten Hans und Brettschneider einige Dinge ab, als Wollenweber anruft. Schnell stellt er das Gespräch durch und eilt in Onnens Büro, um mitzubekommen, was der Arzt zu berichten hat.
Onnens Sekretärin, Fräulein Schneider, sitzt im Vorzimmer an der Schreibmaschine und tippt etwas von ihrem Stenoblock ab. Ihre Haare trägt sie wie meistens hochtoupiert, und Hans’ Herz hüpft, als sie ihn anlächelt und das Grübchen auf ihrer linken Wange erscheint.
«Gehen Sie nur durch», sagt sie.
Hans klopft an die Tür und öffnet im gleichen Moment. Der Kommissar sitzt auf seinem gepolsterten Schreibtischstuhl und hört konzentriert dem zu, was der Arzt am Telefon sagt. Leise schließt Hans die Tür und bleibt daneben stehen.
«Danke, Friedrich», sagt Onnen schließlich, legt den Hörer auf die Gabel und greift zu einer Zigarette. Nachdem er sie angezündet und einen tiefen Zug inhaliert hat, lässt er sich an die Lehne seines Sessels zurückfallen und macht Hans ein Zeichen näherzutreten. «Wollenweber bestätigt, dass der Tod durch oral eingenommenes Zyankali eingetreten ist. Er schickt uns den ausführlichen Befund samt Mageninhaltsanalyse zu. Es gab übrigens keinerlei Abwehrspuren an Hartnagels Händen oder Armen.»
«Aber dann sieht doch alles nach Selbstmord aus», sagt Hans. «Vielleicht sollten wir noch einmal mit der Witwe sprechen.»
«Wenn es denn so einfach wäre.» Onnen lässt langsam den Rauch aus dem Mund entweichen. «Wollenweber hat bei der Untersuchung der Leiche etwas überaus Pikantes entdeckt.» Er nimmt einen weiteren Zug von seiner Zigarette und blickt Hans an. «Hartnagels Hintern war mit Striemen übersät.»
«Striemen?» Hans kann seine Verblüffung nicht verbergen. «Was denn für Striemen?»
«Wohl solche, wie sie bei Peitschenschlägen entstehen.»
«Wie bitte?» Hans ist entsetzt. «Wurde er gefoltert? Das verstehe ich nicht.»
Onnen lächelt schwach. «Ach, Frisch. Sie sind ja auch noch ein junger und naiver Mann. Es ist beruhigend zu hören, dass Sie von gewissen Dingen keine Ahnung haben.» Mit Daumen und Zeigefinger fährt er von der Spitze seiner Nase zur Nasenwurzel hoch. «Wir werden ohnehin mit Frau Hartnagel reden müssen. Wenn Sie aber nicht dabei sein möchten, nehme ich Brettschneider mit.»
«Nein, nein, Herr Onnen. Natürlich begleite ich Sie. Ich möchte ja noch dazulernen. Und es scheint, als gäbe es in diesem Fall einiges zu lernen.»
Schwerfällig erhebt sich Onnen. «Das gibt es, Frisch. Das gibt es.»
Heute Morgen geben sich die Kundinnen die Klinke in die Hand. Während Martha ein Wäschestück nach dem anderen zwischen die heißen Walzen der Mangel führt, arbeiten ihre Gedanken auf Hochtouren. Kann es wirklich sein, dass Doktor Hartnagel sich so sang- und klanglos aus dem Leben verabschiedet hat? Sie kennt ihn nur vom Sehen, aber auch aus der Ferne ist ihr aufgefallen, dass er den großen Auftritt liebte. Das war keiner, der sich im Hintergrund aufhielt. Aber vielleicht war er ja unheilbar krank und suchte deshalb den schnellen Tod. Wer redet schon gerne darüber, wenn er eine schlimme Diagnose bekommt. Aber zumindest seiner Frau hätte er doch eine Erklärung hinterlassen müssen. Es muss schrecklich für sie sein, nicht zu wissen, warum er sich das angetan hat. Oder … Martha hält in ihren Überlegungen inne. Vielleicht weiß sie es und behält es für sich.
«Sie sind heute aber schweigsam», sagt Dora Lürssen, während sie die Kopfkissen zusammenfaltet. Die Haushälterin der Pickerings kommt mindestens einmal die Woche mit Mangelwäsche. «Gibt es keine Neuigkeiten in Leer?»
Martha schüttelt den Kopf. «Mir ist nichts zu Ohren gekommen.» Jedenfalls nichts, was sie weitersagen dürfte. Außerdem ist sie so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass ihr nicht nach Reden zumute ist.
Die Türglöckchen bimmeln, und Traudel Maier kommt herein. Sie betreibt nebenan die Änderungsschneiderei und wohnt obendrein in demselben Mietshaus wie Martha.
«Guten Morgen», sagt sie aufgekratzt. Ihre Augen funkeln, und Martha argwöhnt, dass Traudel nicht nur wegen der üblichen gemeinsamen Tasse Vormittagstee gekommen ist.
«Moin», erwidert Martha freundlich.
«Gotlind Früchtenicht war gerade bei mir. Du glaubst nicht, was sie erzählt hat», platzt Traudel heraus.
Sofort ist Martha hellhörig. Der Mann der Früchtenicht ist Tischler und der örtliche Bestatter in dritter Generation. «Schieß los», sagt sie, und auch Dora Lürssen ist ganz Ohr.
«Man hat den Doktor Hartnagel vom Kindererholungsheim tot hinter einem Busch im Park der Evenburg gefunden.»
Dora Lürssen reagiert als Erste. «Hinter einem Busch?»
Traudel nickt. «Genau. Adolf Früchtenicht hat Hartnagels Leichnam gestern abgeholt und ins Hospital gefahren. Die Polizei lässt den jetzt aufschneiden, um festzustellen, woran der gestorben ist. Könnt ihr euch das vorstellen?»
«Um Gottes willen!» Dora Lürssen hat plötzlich rote Flecken im Gesicht. «Doktor Hartnagel war erst letzte Woche auf der Cocktailparty der Pickerings. Ich bin deswegen mal wieder länger geblieben und habe den Gästen die Tür geöffnet. Die Hartnagels kamen als Letzte. Ich erinnere mich noch genau. Er sah gesund und putzmunter aus und war richtig gut gelaunt. Im Unterschied zu seiner Frau. Die war blass um die Nase und machte einen etwas gequälten Eindruck. Ich hab noch gedacht, sie hätte ja auch zu Hause bleiben können, wenn sie so wenig Lust auf die Feier hat. Er …» Sie will noch etwas sagen, schüttelt dann aber nur den Kopf. «Aber dass der Hartnagel nun tot ist …»
«Ja, so schnell kann das gehen.» Traudel setzt sich und schaut Martha an. «Ich brauche jetzt erst mal was zu trinken.»
«Ich bin noch nicht dazu gekommen, Tee zu kochen. Hier war so viel los. Aber ein Glas Wasser kannst du gern haben.»
«Wasser. Tsss. Eher ein Gläschen Frauengold.»
«Das könnte ich auch vertragen.» Dora Lürssen setzt sich auf den anderen Stuhl. «Das ist gut für die Nerven.»
«Wenn ihr meint.» Martha geht nach hinten, nimmt drei Gläser und die fast volle Flasche aus dem Wandschränkchen über dem Waschbecken und trägt alles hinüber. Vorsichtig gießt sie die dunkle Flüssigkeit ein und reicht Dora und Traudel die «Medizin».
«Auf den armen Herrn Hartnagel.» Traudel prostet den beiden anderen zu.
Dora Lürssen verzieht das Gesicht. «Über Tote soll man zwar nichts Schlechtes sagen, aber mein Mitleid hält sich in Grenzen.»
«Wieso?» Sofort horcht Martha auf.
«Nein, von mir erfahren Sie nichts. Wie gesagt, ich möchte keinen Klatsch und Tratsch aufbringen. Es wird sowieso viel zu viel über andere Leute geredet.»
«Aber Frau Lürssen, uns können Sie es doch sagen», versucht Traudel, ihr etwas zu entlocken. Martha hingegen weiß, dass das bei der vierschrötigen Haushälterin vergebene Liebesmüh ist. Aber was könnte sie meinen?
Helene Hartnagel ist absolut nicht erfreut, als Onnen und Hans wieder vor ihrer Tür stehen. Wie gestern sieht sie aus wie aus dem Ei gepellt. Dass sie einen schweren Schicksalsschlag verkraften muss, ist ihr nicht anzumerken.
«Was gibt es denn noch?», fragt sie ungehalten und macht keinerlei Anstalten, sie hereinzubitten.
«Wir haben das Ergebnis der Obduktion», sagt Onnen. «Möchten Sie es hier an der Tür erfahren?»
Helene Hartnagel macht einen Schritt zurück. «Natürlich nicht. Treten Sie ein. Bitte warten Sie einen Moment, ich bin gleich wieder da.» Ohne weitere Erklärung lässt sie Hans und Onnen in der großzügigen Diele stehen und verschwindet im Salon.
«Die hat bestimmt Besuch», vermutet Hans. «Vielleicht jemand von der Familie, der ihr beisteht.»
«Kann sein.»
Es bleibt keine Zeit für weitere Vermutungen, Frau Hartnagel kommt zurück und schließt die Salontür, ohne dass Hans einen Blick hineinwerfen kann. «Folgen Sie mir, wir gehen in das Arbeitszimmer meines Mannes.»
In dem Raum hat sich seit gestern auf den ersten Blick nichts verändert. Aber sicher hat Frau Hartnagel Unterlagen und Dokumente herausgesucht, die sie für die Vorbereitung der Beerdigung benötigt. Sie lehnt sich gegen den Schreibtisch und verschränkt die Arme vor der Brust. «Also, was hat die Obduktion ergeben?»
Onnen atmet einmal tief durch. «Es gab keine Anwendung von Gewalt. Keine Kampf- oder Abwehrspuren. Er starb tatsächlich an Zyankali.»
«Wie muss ich mir das vorstellen?», fragt die Witwe scheinbar ungerührt.
Onnen zögert kurz, bevor er ausführt: «Die Blausäure entwickelt ihre Wirkung mithilfe der Magensäure und führte letzten Endes zum Ersticken. Vorher hat sie aber noch die Magenwände verätzt. Regelrecht zerfressen, wie der Arzt feststellte. Ihr Mann ist keineswegs eines schnellen Todes gestorben, Frau Hartnagel. Doktor Wollenweber geht davon aus, dass er nach Einnahme des Gifts noch bis zu zwanzig Minuten gelebt hat. Wir müssen herausfinden, woher es stammt.» Eindringlich sieht er die Witwe an.
Bei der Erwähnung der zerfressenen Magenwände ist sie kurz zusammengezuckt, das hat Hans genau gesehen.
«Frau Hartnagel, ich muss Sie das so direkt fragen: Ist Ihr Mann in Besitz einer Zyankalikapsel gewesen?»
«Ja», antwortet die Witwe ohne Umschweife. «Er hatte damals im Krieg für jeden von uns eine Kapsel besorgt. Man wusste ja nicht, was passiert, wenn die Russen kommen.»
«Warum haben Sie das nicht gestern schon gesagt?», fragt Onnen forsch.
«Weil ich erst nachsehen wollte, ob noch alle drei da sind.»
Die Frau hat wirklich Nerven, findet Hans.
«Warum drei?», fragt Onnen.
«Für meinen Mann, mich und unseren Sohn.»
«Und?»
«Sind noch alle da.»
«Ich möchte sie sehen.»
Helene Hartnagel stößt sich vom Schreibtisch ab, geht zu einem Bild neben der Zimmertür und hängt es ab. Dahinter befindet sich ein in die Wand eingelassener Tresor. Sie nimmt ein Schlüsselbund aus dem Schreibtisch und öffnet ihn. Zahlreiche Dokumente befinden sich darin. Sie greift nach einer silbernen Pillendose. «Hier.»
Onnen nimmt ihr die Dose ab und öffnet sie. Tatsächlich befinden sich drei Kapseln darin.