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Frisch ermittelt: Der Fall Kaltwasser E-Book

Christiane Franke

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Beschreibung

Ein neuer Fall für Heißmangelbetreiberin Martha Frisch, eine Frau, die ihrer Zeit voraus ist! Leer, 1958: Auf dem Weg zum Grab ihres Mannes entdeckt Martha Frisch die Leiche ihres Schwagers Siegfried Kaltwasser. Der Richter wurde stranguliert. Die Kripo vermutet den Täter im beruflichen Umfeld, denn Kaltwasser galt als harter Hund. Martha lauscht dem Tratsch ihrer Kundinnen in ihrer Heißmangelstube noch ein bisschen aufmerksamer und stellt selbst Nachforschungen an. Erst recht als wenige Tage später Lehrer Oltmans ebenfalls auf dem Friedhof ermordet aufgefunden wird. Beide Opfer gehörten dem neu gegründeten Verein zur Wahrung von Sitte und Anstand an. Liegt das Motiv etwa in einer Zeit, die die meisten Leeraner im gutgelaunten Wirtschaftswunder-Aufschwung gerne vergessen würden?

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Seitenzahl: 329

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Christiane Franke • Cornelia Kuhnert

Frisch ermittelt: Der Fall Kaltwasser

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Der Tote gehörte zu ihrer Familie. Ein netter Mensch war er nicht.

Leer, 1958: Auf dem Weg zum Grab ihres Mannes entdeckt Heißmangel-Betreiberin Martha Frisch die Leiche ihres Schwagers Siegfried Kaltwasser. Der Richter wurde stranguliert. Die Kripo vermutet den Täter im beruflichen Umfeld, denn Kaltwasser galt als harter Hund. Martha lauscht dem Tratsch ihrer Kundinnen in ihrer Heißmangelstube noch ein bisschen aufmerksamer und stellt selbst Nachforschungen an. Erst recht, als wenige Tage später Lehrer Oltmanns ebenfalls auf dem Friedhof ermordet aufgefunden wird. Beide Opfer gehörten dem neu gegründeten Verein zur Wahrung von Sitte und Anstand an. Liegt das Motiv etwa in einer Zeit, die die meisten Leeraner im gut gelaunten Wirtschaftswunder-Aufschwung gerne vergessen würden?

 

«Unbedingt lesen!» NDR 1 Bücherwelt über «Der Fall Vera Malottke»

Vita

Christiane Franke wurde an der Nordseeküste geboren und lebt immer noch gerne dort. Neben ihren gemeinsamen Projekten mit Cornelia Kuhnert schreibt sie eine Krimiserie um die Wilhelmshavener Kommissarinnen Oda Wagner und Christine Cordes.

 

Cornelia Kuhnert lebt in Hannover und hat dort als Lehrerin gearbeitet. Sie hat bereits zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht und Anthologien herausgegeben.

 

Gemeinsam veröffentlichen die Autorinnen bei rororo ihre erfolgreiche Ostfriesland-Krimireihe um Dorfpolizist Rudi, Postbote Henner und Lehrerin Rosa, die regelmäßig auf der Spiegel-Bestsellerliste steht.

Mehr unter www.kuestenkrimi.de

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Ulrich Hollmann/Getty Images; Elisabeth Ansley/Trevillion Images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01145-8

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

PROLOG

Die drückende Hitze des Sommertages hat sich verflüchtigt. Unter den ausladenden Ästen der Linden ist es angenehm kühl. Mit unterdrückter Wut schlägt Siegfried Kaltwasser die Tür seines grünen Opel Olympia Rekord zu. Er hat weiß Gott Besseres zu tun, als sich nach Feierabend auf dem Friedhof herumzutreiben. Doch in dem Brief, der ihm anonym zugestellt wurde, steht Ungeheuerliches. Und dieser Schreiberling behauptet, Unterlagen zu besitzen, die seine verleumderischen Anschuldigungen beweisen. Als wäre das nicht genug, droht der Kerl ihm auch noch, die ganze Angelegenheit der Presse zu übergeben.

Zunächst hat Kaltwasser den Brief ignoriert, immerhin kennt er den Chefredakteur. Der ist ihm verpflichtet und würde keinen Enthüllungsartikel über ihn zulassen. Gestern steckte allerdings die Seite einer Hamburger Zeitung in Kaltwassers Briefkasten mit der vagen Ankündigung eines Skandalberichtes über einen angesehenen Leeraner Richter. Dazu ein handgeschriebener Zettel: Ehrenmal am Lutherischen Friedhof. Morgen. 19 Uhr.

Da wusste er, er muss handeln.

Strammen Schrittes marschiert er auf das Denkmal zu. Diese leidige Angelegenheit muss ein für alle Mal aus der Welt geschafft werden.

MITTWOCH

Martha

«Alles Gute im neuen Heim, Herr von Mühlbach.» Mit selbst gebackenem Brot und einem mit Salz gefüllten Steinguttopf steht Martha Frisch nach Feierabend vor der Tür ihres ehemaligen Untermieters. Der Anwalt ist in die Wohnung der unter unglücklichen Umständen gestorbenen jungen Vera Malottke gezogen.

«Danke schön, Frau Martha. Kommen Sie doch herein, die anderen sind bereits da.» Von Mühlbach nimmt ihr die Geschenke ab und führt sie in die Küche, wo Marthas Tochter Edda nebst Ehemann Peter, deren Tochter Annemieke sowie ihr Großneffe Hans und ihre Nachbarin Traudel mit einem Glas Sekt stehen.

Er drückt auch ihr ein Glas in die Hand und gießt den Sekt so schwungvoll ein, dass er überschäumt. Mit einem Teelöffel klopft er gleich darauf an sein eigenes Glas.

«Liebe Freunde», beginnt er, «Sie gestatten, dass ich Sie heute als solche bezeichne, denn Sie sind mir im Laufe der letzten Zeit zu Freunden geworden. Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Hilfe beim Einzug und bei Frau Martha und Frau Traudel für den kleinen Imbiss.» Er deutet auf den Mettigel, die Käsepikser und die Schale mit kleinen Salzbrezeln auf dem Küchentisch. «Lassen Sie uns zunächst auf gute Nachbarschaft anstoßen, dann zeige ich Ihnen mein neues Kanzleizimmer, auf das ich ein wenig stolz bin.»

«Zum Wohl.»

«Auf allzeit gute Nachbarschaft!»

«Auf dass die Klienten in Heerscharen zu Ihnen kommen.»

Gläser klingen aneinander, Edda lacht über einen Witz von Hans, und nach dem ersten Schluck geht von Mühlbach voran, das Glas in der Hand. «Und hier», mit bedeutsamer Geste öffnet er die nächste Zimmertür, «betreten Sie mein Allerheiligstes: meine Kanzlei.» Er macht einen Schritt zur Seite, damit alle eintreten können.

Auch Martha ist neugierig, denn sie kennt den Raum noch aus der Zeit, als er Vera Malottkes Wohnzimmer war. Deren Fernseher steht inzwischen in Traudels Wohnung, Hugo von Mühlbach hat keine Verwendung dafür.

Es ist ein nüchterner, männlicher Raum geworden, nichts weist darauf hin, dass hier eine junge Frau verblutet ist. Nur das weiße Bakelit-Telefon auf dem Schreibtisch erinnert noch an die vorherige Mieterin.

«Schön ist es geworden», sagt Martha aufrichtig. Hinter dem schweren Tisch aus dunklem Holz hängt ein gerahmtes Ölgemälde mit einer hügeligen Landschaft. Vielleicht ein Motiv aus seiner alten Heimat Schlesien. Auch die anderen sehen sich um, Edda tritt sogar hinter den Schreibtisch und nimmt Platz. Dabei fällt ihr Blick auf die beiden gerahmten Fotos, die einzigen persönlichen Gegenstände im Raum. Es sind Aufnahmen der Frau und der beiden Kinder, die bei einem Bombenangriff auf Leer ums Leben gekommen sind, noch bevor von Mühlbach aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt ist. Die Bilder haben schon auf seinem deutlich kleineren Schreibtisch gestanden, als er noch Marthas Untermieter gewesen ist.

Martha sieht, dass ihre Tochter nach einem der Fotos greift und es eingehend betrachtet.

«Darf ich fragen, was Sie an dem Bild so nachdenklich macht?», fragt der Anwalt.

Edda schüttelt verwundert den Kopf, als müsse sie erst einmal ihre Gedanken sortieren. «Verzeihen Sie, aber der Junge kommt mir bekannt vor.»

«Das glaube ich kaum», erwidert er mit trauriger Stimme.

«Ich kann mir nicht helfen, aber er sieht genauso aus wie der Kleine, den ich nach dem letzten großen Bombenangriff inmitten der ganzen Trümmer entdeckt habe. Mit einer blutenden Platzwunde am Kopf. Er sprach kein Wort. Niemand wusste, wie er hieß, noch wo er wohnte oder woher er kam. Er drückte nur sein Plüschpferdchen fest an sich.» Edda deutet auf das Foto. «Genauso eins wie dieses. Das hat mich sehr gerührt, denn dem Stofftier fehlte ein Bein.»

Bei diesen Worten wird Hugo von Mühlbach blass. «War das Pferd braun-weiß mit einer weißen Blesse?»

Edda nickt.

«Und hatte der Junge am linken Fuß nur vier Zehen?»

«Ja, genau. Woher wissen Sie das?»

«Weil das mein Sohn gewesen sein könnte.»

Im Raum wird es totenstill. In von Mühlbachs Gesicht spiegeln sich alle Gefühle, die ihn gerade durchströmen: Unglaube, Hoffnung, Entsetzen und wieder Hoffnung.

«Was ist aus ihm geworden?», fragt er schließlich leise, als würde er die Antwort fürchten.

Edda stellt das Foto behutsam zurück neben das andere. «Ich habe ihn mit zu uns nach Hause genommen. Ich konnte ihn doch nicht allein inmitten der Trümmer lassen. Ich hab aber gleich beim Roten Kreuz Bescheid gegeben, damit seine Mutter ihn abholen kann, wenn sie nach ihm sucht. Aber sie kam nicht. Der Junge ist dann eine Woche bei uns geblieben, bis ihn die Leiterin vom Roten Kreuz abgeholt hat.» Edda senkt den Blick. «Ich bin davon ausgegangen, dass man seine Familie gefunden hat.»

«Er hatte keine Familie mehr», flüstert Hugo von Mühlbach beinahe tonlos. «Man sagte mir, meine Frau sei ums Leben gekommen, neben ihr hätten unsere beiden Jungen gelegen. Man ging davon aus, dass Johann und Maximilian mit ihrer Mutter gestorben sind.» Mit einem Mal kommt Leben in ihn. «Aber wenn es stimmt, was Sie sagen, Edda, dann bedeutet das, dass Maximilian noch lebt.» Ein verhaltenes Lächeln wagt sich auf sein Gesicht. «Und dann werde ich ihn finden! So wahr mir Gott helfe.»

DONNERSTAG

Martha

Schläfrig wandert Marthas Blick zum weißen Wecker auf dem Nachttisch. Herrje, schon halb sieben. Da hat sie doch glatt verschlafen. Es war allerdings auch ganz schön spät, als sie gestern Abend ins Bett gegangen ist, da ist sie nach dem Weckerklingeln glatt noch einmal weggedöst. Schwungvoll wirft sie nun die Beine aus dem Bett, zieht das Rollo hoch, entriegelt das Fenster und blickt hinaus. Schäfchenwolken am blauen Himmel, dazu Windstille. Das reinste Geburtstagswetter. Zwar kann Hermann seinen Ehrentag nicht mehr feiern, aber heute wäre er dreiundsechzig geworden.

Vor dem Öffnen der Heißmangelstube will sie auf jeden Fall zum Friedhof fahren und ihm wie jedes Jahr einen Strauß Phlox aufs Grab stellen. Damals, vorm Krieg, als sie den Schrebergarten übernommen haben, hat Hermann die Stauden mit den zarten Flammenblumen neben der Laube gepflanzt. Er hat die abgestuften Rottöne der Stauden geliebt, auch wenn er sie gegen Ende seines Lebens nicht mehr sehen konnte, kam er doch erblindet aus Russland zurück. Aber Hermann hat nicht geklagt und sein Schicksal mit stoischer Ruhe und dem ihm eigenen Humor angenommen. Wenn jemand ihn bedauerte, erwiderte er: «Immerhin lebe ich!» Und er würde auch heute noch leben, wenn ihn dieser Raser nicht an jenem Novemberabend vor vier Jahren auf der Straße angefahren und einfach liegen gelassen hätte, denkt Martha mit leichter Bitterkeit, während sie sich die Haare kämmt.

Die Zeit heilt alle Wunden, hat man ihr auf der Beerdigung zugeraunt. Aber das stimmt nicht. Die Lücken bleiben. Genau wie die Narben. Immerhin hat sie gelernt, damit zu leben, denn vom Trübsalblasen wird nichts besser. Im Gegenteil: Man muss das Leben bei den Hörnern packen. Martha schlüpft Hermann zu Ehren in ihr neues Sommerkleid mit den rot-weißen Punkten, bindet sich das dazu passende Tuch um den Hals, dann zieht sie sich den leichten Mantel an, setzt ihren Hut auf und schnappt sich die Handtasche und die Blumen. Sie muss sich sputen, damit sie pünktlich den Laden öffnen kann.

Voller Elan trägt sie ihr Fahrrad aus dem Keller, steigt auf und tritt in die Pedale. In der Brunnenstraße ist um diese Zeit schon mächtig was los. Radfahrer überholen einander, ein VW Käfer hupt, weil er abbremsen muss. Kleine Mädchen mit Zöpfen und Pferdeschwänzen, ältere mit hochtoupierten Frisuren und aufgebauschten Röcken strömen zur Städtischen Oberschule für Mädchen. Martha hält nach ihrer Enkelin Annemieke Ausschau, kann sie aber nicht entdecken. Egal, sie hätte sowieso keine Zeit für einen Plausch.

Am Friedhof stellt sie ihr Rad ab und holt den Blumenstrauß aus dem Fahrradkorb. Wie immer durchquert sie das säulenumstandene Rondell des Ehrenmals für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten, um durch die Lücke in der Hecke abzukürzen. Der Friedhofsgärtner sieht das zwar nicht gern, aber Hermanns Grab liegt gleich in der nächsten Abteilung.

In Gedanken ganz bei Hermann, registriert sie aus dem Augenwinkel etwas Braunes. Sie bleibt stehen, blickt genauer hin und erkennt blitzschnell, dass hier etwas Schreckliches geschehen sein muss. Der Mann, der mit dem Kinn auf der Brust und eigenartig verrutschtem Hut an der steinernen Säule lehnt, scheint zu schlafen. Doch die rechte Hand, die halb abgetrennt am Arm baumelt, und die Blutlache neben den Beinen sprechen eine andere Sprache.

Martha schluckt. Was ist hier denn passiert? Sie überlegt noch, ob sie den Strauß für Hermann einfach ablegen und loslaufen soll, um die Polizei zu informieren, als sie den blauen Siegelring an der anderen Hand entdeckt. Ach du Scheibenkleister. Genau so einen Ring trägt der Mann ihrer jüngeren Schwester Ilse.

Mit einem unguten Gefühl nähert sich Martha dem Mann. Kein Zweifel, das ist tatsächlich ihr Schwager. «Siegfried!», sagt sie mit zittriger Stimme, aber ihr Schwager rührt sich nicht. Sie tippt ihn an – und im nächsten Augenblick kippt er um. Der Hut rutscht beim Aufprall vom Kopf, die Brille fällt klirrend zu Boden. Martha atmet tief durch. Ruhe bewahren und nachdenken. Das hat sie in zwei Weltkriegen gelernt.

Die Polizei befindet sich zum Glück gleich gegenüber auf der anderen Seite der Kreuzung.

Außer Atem klopft sie Augenblicke später an die Pförtnerloge.

«Kommen Sie schnell! Hinter dem Ehrenmal liegt ein Toter.»

«Immer langsam mit den jungen Pferden», erwidert der Uniformierte mit dem Schnauzbart. «Ein Toter, sagen Sie?»

Martha nickt, beginnt zu erzählen, und der Wachhabende hört sich aufmerksam ihren Bericht an. Dann greift er zum Telefon. «Kann einen Moment dauern, bis die Kollegen vor Ort sind», sagt er, nachdem er das Gespräch beendet hat.

Das dauert Martha allerdings zu lange. Als Hermann – Gott hab ihn selig – noch im Polizeidienst gewesen ist, hat es solche Schludrigkeiten nicht gegeben.

«Dann geh ich schon mal rüber und halte beim Toten die Stellung», sagt sie und läuft zurück zum Ehrenmal. Siegfried liegt noch genauso da. Unschlüssig, wie sie sich verhalten soll, verharrt sie vor dem Bauwerk und studiert die eingemeißelten Namen der Gefallenen, um sich abzulenken. Auch die ihres Großvaters und Onkels entdeckt sie. Was für ein Irrwitz, dass Siegfried gerade hier liegt, wo er selbst gar nicht eingezogen worden ist. Nachdenklich betrachtet sie ihn. Sie hat ihn nicht gemocht. Er war ein Despot, hat ihre Schwester behandelt, als sei sie seine Leibeigene. Eine liebevolle Geste seinerseits hat Martha nie gesehen, dabei hat Ilse ihm jeden Wunsch von den Lippen abgelesen.

Was ist hier nur vorgefallen?

Neugierig betrachtet sie seinen Kopf. In den schütteren Haaren entdeckt sie keine Blutflecke. Wie er wohl ums Leben gekommen ist? Er hätte sich doch wehren müssen. Auch im Bereich der Brust sieht sie kein Blut. Nervös marschiert sie vor dem Ehrenmal auf und ab. So als wolle sie ihren Schwager beschützen, bis die Polizei kommt. Dabei droht ihm ja nun keine Gefahr mehr.

Ein ums andere Mal wirft Martha einen Blick hinüber zum Polizeigebäude. Endlich geht die Tür auf. Kommissar Onnen und ihr Großneffe Hans treten heraus und überqueren schnellen Schritts die Straße. Onnen mit Hut und wehendem Mantel, Hans in Polizeiuniform.

«Tante Martha, ich hab mir schon Sorgen gemacht, weil die Heißmangelstube noch geschlossen ist. Die Zeitung hab ich vor die Tür gelegt», sagt Hans.

Onnen zieht missbilligend die rechte Augenbraue hoch und steckt die Hände tief in die Taschen seines Trenchcoats. «Wo ist die Leiche?», fragt er in forschem Ton.

«Kommen Sie.» Zu dritt schreiten sie die Stufen zu den backsteinernen Säulen hoch. Martha zeigt mit der Hand zum Kreuz auf dem mittig stehenden Quader. «Dahinter liegt er. Es ist mein Schwager, Siegfried Kaltwasser. Das hab ich Ihrem Kollegen vorhin schon gesagt.»

«Richter Kaltwasser ist Ihr Schwager?» Onnen wirft ihr einen überraschten Blick zu und betritt, ohne eine Antwort abzuwarten, das Ehrenmal. Martha und Hans folgen ihm.

«Tatsächlich, Richter Kaltwasser.» Der Kommissar lässt seinen Blick schweifen und dreht sich dann zu Martha um. «Haben Sie etwas angefasst, Frau Frisch?»

«Nein, ich habe Siegfried nur angesprochen. Als er nicht antwortete, habe ich ihm auf die Schulter getippt. Da ist er umgekippt.»

«Wie bitte? Ich fasse es nicht», poltert Onnen los. «Wachtmeister Frisch, benachrichtigen Sie die Spurensicherung und Doktor Wollenweber. Wir müssen sichern, was noch zu sichern ist. Das sieht nach einem Ritualmord aus. Die fast abgehackte Hand. Dazu die roten Blumen, die auf den Stufen liegen. Das alles spricht Bände.»

«Jawoll, Herr Kommissar», erwidert Hans zackig und will schon los, da hält Martha ihn zurück.

«Äh, Hans, der Phlox ist von mir. Eigentlich sollte der Strauß auf das Grab meines Mannes. Aber als ich Siegfried entdeckt habe, sind mir die Blumen vor Schreck aus der Hand gefallen.» Sie bückt sich, um sie aufzuheben, doch Onnen hält sie an der Schulter fest.

«Gute Frau, haben Sie noch alle Tassen im Schrank? Das ist ein Tatort. Hier bleibt alles so, wie es ist. Das müssten Sie als Polizistenwitwe eigentlich wissen.» Er dreht sich zu Hans um. «Nun machen Sie hinne, Frisch, oder haben Sie meine Anweisung nicht verstanden?»

Sofort sprintet ihr Großneffe los. Allein mit Kommissar Onnen, greift Martha seine Vermutung auf. «Wieso denken Sie an einen Ritualmord? Deutet es nicht eher auf einen Überfall hin?»

«Das kann man zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen», weicht Onnen der Frage aus.

«Aber die Hand. Das passiert doch nicht einfach so!»

«Halten Sie sich da raus, Frau Frisch. Wir ermitteln gründlich und ordentlich. Zumal es sich bei dem Opfer um einen Richter handelt. Wir kriegen den Täter. Da können Sie sich drauf verlassen.» Er zieht eine Zigarettenschachtel aus der Tasche seines Mantels und zündet sich eine an. «Was haben Sie eigentlich so früh auf dem Friedhof zu suchen? Normalerweise sind Sie doch um diese Zeit in Ihrem Geschäft, wenn ich Ihren Neffen richtig verstanden habe.»

«Mein Mann hätte heute Geburtstag», erwidert sie kämpferisch. «Ich wollte ihm einen Strauß Blumen bringen. Das hab ich ja gerade schon gesagt.»

«Stimmt. Ist Ihnen irgendetwas Verdächtiges aufgefallen?»

«Nein. Aber ich vermute, Siegfried ist schon ein paar Stunden tot. Er ist ja ganz steif.»

 

Keine Viertelstunde später trifft die Spurensicherung ein. Interessiert verfolgt Martha, wie ihre Blumen in eine Tüte gepackt werden, genau wie Zigarettenkippen und einzelne Bonbonpapiere. Zwei Wachtmeister durchforsten die Hecke nach Hinweisen, und auch Doktor Wollenweber kommt angeradelt.

«Moin. Das ging ja schnell», begrüßt Onnen ihn mit einem Händeschütteln.

«Ich hatte im Kreiskrankenhaus um die Ecke zu tun. Also, wissen wir schon, wer der Tote ist?»

«Siegfried Kaltwasser. Wie es aussieht, kam er gewaltsam zu Tode. Er liegt da vorn.»

«Du meinst doch nicht etwa Richter Kaltwasser?», fragt Wollenweber entsetzt.

«Doch. Genau den.» Onnen zündet sich die nächste Zigarette an. «Seine rechte Hand ist fast abgetrennt, und am Hals habe ich eine Verletzung gesehen, die … aber schau selber. Du bist der Experte.»

«Der Richter also. Dann gehe ich besser ganz besonders gründlich vor», murmelt Wollenweber und wirft Onnen einen Blick zu, den Martha nicht recht deuten kann. Interessiert beobachtet sie, wie der Arzt sich neben ihren Schwager hockt und ihn anschaut, wobei er ihn kaum anfasst.

Bestimmt zehn Minuten verstreichen, bis Wollenweber aus der Hocke hochkommt. «Ihr könnt ihn jetzt wegbringen, ich untersuche ihn in der Klinik. Wie es aussieht, wurde Kaltwasser erdrosselt. Dem ersten Augenschein und der Strangulationsmarke nach zu urteilen mit einer dünnen Schlinge. Dazu kann ich nach der Obduktion mehr sagen. Ich gehe davon aus, dass die Verstümmelung post mortem erfolgte. Das Tatwerkzeug war kein wirklich scharfer Gegenstand, darauf deuten die Wundränder hin. Wenn er bei dieser brutalen Aktion noch gelebt hätte, müsste er Fesselungs- und Knebelspuren aufweisen. Freiwillig lässt sich schließlich niemand die Hand abhacken. Man legt sie höchstens für einen anderen ins Feuer, wie das Sprichwort sagt.»

Er grinst in die Runde. Als niemand lacht, redet er weiter.

«Bei all dem Blut auf dem Boden kann ich aber jetzt schon mit Sicherheit sagen, dass es direkt nach dem Exitus geschehen sein muss. Und dieser Fakt verrät uns außerdem, dass der Mord hier am Ehrenmal verübt wurde.» Wollenweber sieht auf. «Wobei ich bei der Tat schon fast von einer Hinrichtung sprechen würde.»

Martha läuft es kalt den Rücken herunter.

«Kannst du den Todeszeitpunkt schon eingrenzen?», will Onnen wissen und hält Wollenweber die Zigarettenpackung hin.

«Danke, aber nicht so früh am Morgen.» Wollenweber fährt sich mit dem Zeigefinger über seinen fransigen Schnauzbart. «Zum Todeszeitpunkt kann ich vorerst nur vage Aussagen treffen. Die Leichenstarre ist dabei, sich zu lösen. Zumindest geringfügig. Das kann jedoch auch den warmen Nachttemperaturen geschuldet sein. Geh mal davon aus, dass der Tod vor ungefähr zwölf Stunden eingetreten ist. Plus/minus, versteht sich. Aber wie gesagt, ich schau ihn mir ja noch genauer an.»

«Danke, wäre schön, wenn es schnell ginge.»

«Weiß ich. Ich trinke übrigens gerne einen guten Bordeaux.» Grinsend greift Wollenweber nach seiner Arzttasche, verabschiedet sich und steigt auf sein Fahrrad.

Kaum ist Wollenweber verschwunden, wendet sich Onnen an Martha: «Wo waren Sie eigentlich gestern Abend, sagen wir mal ab achtzehn Uhr?»

«Wieso?»

«Sie sind mit dem Toten verwandt, und Tötungsdelikte geschehen nun mal zum großen Teil innerhalb der Familie. Also: Wo waren Sie?»

Beleidigt blickt Martha den Kommissar an. «Sie wollen mich doch nicht allen Ernstes verdächtigen, meinen Schwager ins Jenseits befördert zu haben? Aber bitte schön: Bis achtzehn Uhr war ich im Geschäft, das ich gleichzeitig mit meiner Ladennachbarin Traudel Maier verlassen habe. Zusammen haben wir uns auf den Heimweg gemacht. Sie wissen ja, dass wir in demselben Mietshaus wohnen.»

«Und danach?»

Martha bemerkt Onnens lauernden Blick. «Zu Hause habe ich mit meinem neuen Untermieter ein Schwätzchen gehalten. Karl ist der Sohn meiner Cousine und absolviert ein Volontariat bei der Zeitung. Die jungen Leute haben es ja heutzutage schwer, eine bezahlbare Unterkunft zu finden. Karl wohnt seit gestern in Herrn von Mühlbachs ehemaligem Kanzleizimmer. Wie Sie vielleicht noch nicht wissen, hat er die frei gewordene Wohnung von Fräulein Malottke im Parterre angemietet.»

«Na denn», murmelt Onnen, den das aber auch nicht weiter zu interessieren scheint, weshalb Martha fortfährt.

«Und bei dem war ich anschließend. Ich hab sogar Zeugen dafür: Traudel Maier, meine Tochter Edda, meinen Schwiegersohn Peter und meine Enkelin Annemieke. Wir waren eingeladen, um seinen Einstand mit ihm zu feiern. Bis fast elf Uhr haben wir zusammengesessen. Soll ich Ihnen die Namen und Adressen aufschreiben, damit Sie meine Angaben überprüfen können?», fragt Martha provokant.

Onnen geht nicht darauf ein, starrt stattdessen nachdenklich an ihr vorbei.

«Dann geh ich jetzt», sagt Martha. Immerhin geht es schon auf halb zehn Uhr zu, wie sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr feststellt.

«Jaja. Aber geben Sie mir doch eben noch die Adresse Ihrer Schwester.»

 

So schnell Martha kann, radelt sie zur Heißmangelstube. Jetzt rasch das Geschlossen-Schild in die Tür hängen und dann weiter zu Ilse. Vielleicht schafft sie es, vor Onnen da zu sein. So, wie sie ihn einschätzt, überbringt er die Nachricht von Siegfrieds Tod nicht gerade einfühlsam. Und Ilse ist doch so zartbesaitet.

Als Martha vor ihrem Laden hält, staunt sie, dass das Schild schon hängt. Sofort geht sie nach nebenan zu Traudel, die an der Repassiermaschine sitzt und die Laufmasche eines Seidenstrumpfs aufnimmt. Bei Marthas Eintreten legt sie die Nadel beiseite und steht auf.

«Sag mal, was ist denn passiert? Ich hab mir direkt Sorgen gemacht! Ist ja noch nie vorgekommen, dass du die Stube nicht öffnest. Drei deiner Kundinnen waren schon bei mir und haben sich beschwert. Ich hab gesagt, die sollen ihre Wäschekörbe bei mir abstellen und hab sie dann rübergebracht und das Schild in die Tür gehängt. Ist alles in Ordnung?»

«Ach, Traudel, danke. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich erlebt habe.» Martha stützt sich am Tisch ab. «Ich wollte Hermann zum Geburtstag ein paar Blumen bringen, stell mein Rad beim Friedhof ab und entdecke am Ehrenmal meinen toten Schwager.»

«Nein!», ruft Traudel aus. «Magst du dich setzen, ich hab frischen Tee. Dann kannst du alles in Ruhe erzählen.»

Martha schüttelt den Kopf. «Ein andermal gerne. Aber jetzt muss ich zu Ilse. Ich möchte bei ihr sein, bevor die Polizei dort aufschlägt.»

«Ojemine. Die arme Ilse. Ich hab Siegfried gestern Mittag noch quicklebendig im Richtertalar ins Amtsgericht gehen sehen. Und nun ist er tot. Meinst du, es war ein Herzschlag?»

«Nein, ganz sicher nicht. Er wurde ermordet.»

«Ermordet?»

«Man hat ihm sogar eine Hand abgehackt. Jedenfalls so gut wie.»

Entsetzen macht sich auf Traudels Gesicht breit. «Abgehackt?», fragt sie stockend.

«Ja. Aber behalt das bitte noch für dich. Ich muss jetzt los, Ilse ist doch ganz alleine.»

«Sind die Zwillinge denn nicht da?»

«Nein, die leisten seit ein paar Wochen ihren Wehrdienst ab, den haben sie doch vor zwei Jahren eingeführt. Siegfried war das ganz recht. Zucht und Ordnung sind ihm immer besonders wichtig gewesen.» Martha beißt sich auf die Unterlippe. Sie muss aufpassen, dass sie nicht über ihren Schwager lästert. Und über Tote soll man erst recht nicht schlecht sprechen. «Du, ich muss jetzt wirklich los. Wir reden später.»

«Heute Abend kommt die Kochsendung vom Wilmenrod. Ich bereite uns einen Toast Hawaii vor, wenn du magst.»

Trotz der schrecklichen Ereignisse schmunzelt Martha. Seit Traudel den Fernseher von Hugo von Mühlbach «geliehen» bekommen hat, entwickelt sich Traudels Wohnzimmer zum hauseigenen Kinosaal. Was sie sichtlich genießt.

«Mal sehen. Ich muss mich jetzt wirklich sputen.»

 

Vor dem zweistöckigen Gründerzeithaus der Kaltwassers parkt ein grün-weißer Polizeikäfer. Da war Martha offenbar nicht schnell genug. Na, dann ist das eben so. Energisch drückt sie auf den Klingelknopf. Nach dem zweiten Versuch öffnet Hans die Tür.

«Tante Martha!» Er blickt sie ein wenig vorwurfsvoll an.

«Was guckst du so?», fragt sie und drängt sich an ihm vorbei ins Haus. «Ilse ist meine Schwester und braucht meinen Beistand. Wo sitzt ihr?»

«Im Salon.»

Martha zieht sich den Mantel aus, legt den Hut auf die Ablage und geht voraus.

«Ilse!» Sie eilt auf ihre jüngere Schwester zu, die weinend auf dem Brokatsofa sitzt und ein Taschentuch in den Händen knetet.

Kommissar Onnen blickt sie ungehalten an. «Frau Frisch, was soll das? Wir brauchen Sie im Moment nicht.»

Martha lässt sich nicht beirren. «Dass Sie mich nicht brauchen, ist mir klar. Aber meine Schwester braucht mich jetzt.» Sie setzt sich neben Ilse und legt ihr den Arm um die Schulter. Sofort beginnt Ilse wieder hemmungslos zu weinen.

«Ach, Martha! Siegfried ist tot. Was soll ich jetzt nur machen?»

In ihr Schluchzen hinein sagt Kommissar Onnen: «Zum Beispiel unsere Fragen beantworten. Was hat Ihr Mann gestern Abend auf dem Friedhof gemacht?»

«Ich weiß es nicht. Der geht sonst nie dorthin. Nicht mal zum Grab seiner Eltern.»

Onnen spult eine Frage nach der anderen ab, aber auf keine hat Ilse eine Antwort. Weder weiß sie, mit wem er sich dort verabredet haben könnte, noch ob er Feinde hatte.

«Ich hab ihn gestern beim Mittagessen das letzte Mal gesehen. Als er zum Abendbrot nicht da war, hab ich mir noch keine Gedanken gemacht. Es kommt öfter vor, dass er in seinem Büro länger über den Akten brütet, wenn am nächsten Tag ein Prozess ansteht. Manchmal trifft er sich auch mit einem Kollegen noch auf ein Bier, ohne mir Bescheid zu geben, oder übernachtet auswärtig, wenn er Termine weiter weg hat. Gegen zehn bin ich ins Bett gegangen. Ich hatte Kopfschmerzen und habe eine Schlaftablette genommen. Wissen Sie, seit meine Söhne den Wehrdienst leisten, komme ich vor Sorgen um sie nicht in den Schlaf. Was, wenn auch sie in einen Krieg ziehen müssen?»

Martha kann Ilse verstehen. Sie haben oft darüber gesprochen, und Martha hat stets versucht, Ilse zu beruhigen, aber es sind damals eben zu viele junge Männer gefallen.

«Da wir getrennte Schlafzimmer haben, hab ich auch nicht bemerkt, dass er nicht in seinem Bett geschlafen hat», gesteht Ilse nun.

Na, unter einer guten Ehe versteht Martha etwas anderes. Aber für glücklich hat sie die Verbindung zwischen ihrer Schwester und dem um einige Jahre älteren Kaltwasser ohnehin nie gehalten. Eher ist es Martha so vorgekommen, als hätte Ilse bei der Vermählung ihren Verstand am Altar abgegeben. Aber sei’s drum. Ilse ist ihre Schwester, und deshalb ist sie jetzt für sie da.

Endlich verabschieden sich Kommissar Onnen und Hans, Martha begleitet sie zur Tür. Als sie zurück in den Salon kommt, sitzt Ilse immer noch wie versteinert auf dem Sofa.

«Ich benachrichtige deine Söhne, damit sie so schnell wie möglich kommen», schlägt Martha vor.

«Mach das. Die Nummer der Kaserne steht in dem schwarzen Lederbuch neben dem Telefon.» Sie zeigt auf den Beistelltisch.

Die Nummer ist rot umkringelt, und schnell hat Martha den Pförtner am Apparat. Der kann ihr nicht weiterhelfen, verbindet sie aber mit einer anderen Abteilung. Das geht noch dreimal so weiter, bis sie endlich ihren Neffen Heinz sprechen kann. Mit wenigen Worten informiert sie ihn und legt anschließend den Hörer auf.

«Die Jungs kommen noch heute nach Hause. Ihr Vorgesetzter wird ihnen das sicher gestatten.»

Ilse nickt nur und starrt vor sich hin.

«Soll ich dir einen Tee kochen?»

«Nein danke. Sei mir nicht böse, aber ich möchte jetzt alleine sein.»

«Sicher? Vielleicht legst du dich oben hin, und ich bleibe hier sitzen. Dann bin ich da, wenn du mich brauchst.»

Ilse lächelt schwach. «Nein, nein, geh nur. Ich schaffe das. Wirklich.»

Schweren Herzens zieht Martha den Mantel an, setzt den Hut auf und nimmt ihre Tasche. Es fällt ihr nicht leicht, ihre Schwester wie ein Häuflein Elend zurückzulassen, aber wenn Ilse es so möchte, dann soll es so sein, alt genug ist sie schließlich.

«Wenn etwas ist, ruf bei Herrn von Mühlbach an», sagt sie zum Abschied, «dann bin ich im Nu wieder hier. Die Telefonnummer habe ich in das Buch geschrieben.»

Nachdenklich schließt sie ihr Fahrrad auf. Egal, was Martha von ihrem Schwager gehalten hat, für ihre Schwester hat sich von jetzt auf gleich alles geändert. Niemand wird ihr mehr sagen, wo es langgeht. Niemand kommandiert sie herum wie eine Dienstbotin oder weist sie vor anderen rechthaberisch in die Schranken, wenn sie es wagt, ihre Meinung zu sagen. Eigentlich kann Ilse froh sein, Siegfried los zu sein, denkt Martha, auch wenn sie das natürlich niemals laut aussprechen würde.

Sie wirft einen Blick hinauf zum Erkerfenster. Vermutlich sitzt ihre Schwester noch wie ein waidwundes Reh auf dem Sofa. Na, zumindest wirtschaftlich wird Ilse keine großen Einbußen haben, ihre Witwenrente dürfte sich sehen lassen. Und das ist sehr beruhigend.

Martha tritt in die Pedale, in Gedanken immer noch bei ihrer Schwester. Am Ende wirkte Ilse deutlich gefasster, als Martha es erwartet hätte. Zum Glück. Sie selbst hingegen muss die letzten Stunden erst einmal verdauen. Der Anblick des toten Siegfried mit der halb abgetrennten Hand ist wahrlich nicht ohne gewesen.

Von fern hört sie die Kirchglocken schlagen. Zwölf Uhr. Sie sollte schleunigst in die Heißmangelstube fahren. Dort wartet einiges an Arbeit. Andererseits kann sie nicht einfach so tun, als sei alles in Ordnung. Spontan beschließt sie, zu ihrer Tochter Edda zu fahren.

Hans

In der Mittagspause gibt es zwei Stullen mit Spiegelei und ein Glas frische Milch. Seine Mutter schmiert ihm die Butterbrote jeden Morgen. Es hat doch einen Vorteil, bei den Eltern zu wohnen. Und wenn erst das Häuschen fertig ist, das seine Eltern gerade bauen, haben sie deutlich mehr Platz als jetzt.

Hans packt seine Butterbrotdose ein, trinkt die Milch aus und macht sich auf den Weg zum Büro des Kommissars, der eine Lagebesprechung anberaumt hat. Vor der Tür trifft er auf seinen Kollegen Brettschneider, der sich um Kaltwassers Auto gekümmert hat. Fräulein Schneider, Onnens Sekretärin, sitzt schon am Tisch, um das Gespräch zu protokollieren. Heute trägt sie ein hellblaues Kostüm mit einem engen Rock. Die Knie aneinandergelehnt und zur Seite gekippt, stenografiert sie alles mit, was Onnen sagt. Dabei ist sie noch schneller als Hans, der den Stenografiekurs immerhin als Jahrgangsbester abgeschlossen hat. Zwischendurch hebt sie immer wieder den Blick und lächelt Hans an, wobei sich feine Grübchen auf ihren Wangen bilden. Jedes Mal wird er dann ein wenig rot.

«Gab es aufschlussreiche Spuren am Wagen?», fragt Kommissar Onnen.

Brettschneider schüttelt den Kopf. «Nein. Der Opel stand abgeschlossen am Friedhof, die Aktentasche des Richters lag auf dem Beifahrersitz.»

«Einen Raubmord können wir also ausschließen.» Onnen drückt auf das Zigarettenkarussell, das aufspringt und die Zigaretten in die Höhe hebt. Er nimmt eine heraus und zündet sie an. «Wir haben Kaltwassers Schlüsselbund, den Autoschlüssel, seine Geldbörse mit Inhalt und Ausweispapieren. Vielleicht hat er sich mit dem Täter sogar dort verabredet? Wenn man seiner Frau glauben darf, geht er normalerweise nie auf den Friedhof.» Er wirft Hans einen Blick zu. «Welchen Eindruck haben Sie von der Witwe, Wachtmeister Frisch?»

Hans fühlt sich ein wenig geschmeichelt bei dieser Frage. Er ist es nicht gewohnt, dass Onnen seine Meinung hören will. «Auf mich wirkte sie völlig verstört und überrumpelt, als wir ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht haben.»

«Stimmt. Das kann aber auch gespielt sein.»

Hans zuckt zusammen. «Sie wollen doch nicht andeuten, dass Sie Ilse Kaltwasser verdächtigen, etwas mit dem Tod ihres Mannes zu tun zu haben. Nie und nimmer!», sagt er mit fester Stimme. «Tante Ilse kann noch nicht einmal eine Fliege totschlagen. Ihrem Mann wurde beinahe die Hand abgehackt. Das hätte sie im Leben nicht gemacht. Geschweige denn gekonnt.»

«Frauen wachsen manchmal über sich hinaus.»

«Meine Großtante hat eine gute Ehe geführt, das weiß ich», sagt Hans im Brustton der Überzeugung.

Das Telefon klingelt, und Onnen greift zum Hörer. «Wollenweber», raunt er den anderen zu. «Du bist ja heute von der ganz schnellen Truppe.» Er hört zu, was der Arzt sagt, und wiederholt es in Häppchen für die anderen. «Von hinten gewürgt … Kehlkopf zertrümmert … erstickt.»

Wollenweber erläutert augenscheinlich noch mehr, Onnen lauscht aufmerksam. Als er auflegt, zündet er sich die nächste Zigarette an und inhaliert tief. «Meine Herrschaften, Doktor Wollenweber vermutet, dass Richter Kaltwasser mit einer Garrotte stranguliert wurde. Das sieht in der Tat nicht nach einem Eifersuchtsdrama aus.»

Fräulein Schneider hält mitten im Stenografieren inne und sieht Onnen mit einem überraschten Gesichtsausdruck an. «Mit einer Garrotte? Wie schreibt man das?»

Der Kommissar bläst den Rauch kraftvoll aus seiner Lunge. «Was weiß ich? Das ist ein Folterinstrument, das häufig im Mittelalter benutzt wurde. Dabei legte der Henker eine Schlinge von hinten um den Hals des Verurteilten. Mithilfe eines Stocks drehte er sie dann langsam enger und enger. Diese spanische Schlinge wurde später durch ein Metallband oder ein Metallseil ersetzt und so noch effektiver. Die Methode kommt immer noch bei Bandenkriegen in Südeuropa zum Einsatz. In Marseille oder Palermo zum Beispiel.» Onnen zieht erneut an seiner Zigarette. «Das macht die Sache natürlich leichter.»

«Wieso?», wundert sich Hans.

«Das ist doch selbsterklärend. Lesen Sie denn keine Zeitung? Kaltwasser hatte jüngst mit einer Bande von Bankräubern zu tun. Das ging doch groß durch die Presse. Erinnern Sie sich nicht? Zwei wurden gefasst, der dritte ist flüchtig.» Onnen drückt die Zigarette im Aschenbecher aus. «Suchen Sie alle Zeitungsartikel heraus, die Sie darüber im Archiv der Ostfriesischen Rundschau finden. Ich kümmere mich um die Akte zu dem Fall.»

Martha

Auch Edda ist von dem grausamen Verbrechen an ihrem Onkel erschüttert. «Die Hand beinahe abgehackt. Und stranguliert. Dass es so was in Leer gibt! Man denkt doch immer, hier passiert nichts.»

«Na ja, das kannst du so ja nun nicht sagen», widerspricht Martha. «Denk nur an das Fräulein Malottke.»

«Das war was ganz anderes, Mama.»

Sie sitzen in Eddas Wohnung über dem Kolonialwarengeschäft am Küchentisch, der bereits gedeckt ist. Auf dem Herd simmert ein Erbseneintopf vor sich hin, es duftet verlockend. Drei kleine Glasschälchen mit selbst gemachtem Apfelkompott stehen schon bereit, das Besteck liegt an den Plätzen.

«Meinst du, dass Tante Ilse es schafft, sich um die Beerdigung und die Trauerfeier zu kümmern? Onkel Siegfried hat sie doch nichts allein machen lassen.» Edda schenkt Wasser nach. «Oder regeln Heinz und Joachim die Dinge für sie?»

Martha schüttelt den Kopf. «Das glaube ich nicht. Deine Vettern sind doch gerade erst achtzehn. Ich denke, ich werde Ilse anbieten, ihr zur Seite zu stehen. Mich belastet das ja nicht so.»

«Du hast Onkel Siegfried nicht gemocht, stimmt’s?»

«Wie kommst du darauf?» Martha fühlt sich ertappt.

Ihre Tochter lächelt versonnen. «Ach, Mama. Ich kenn dich doch. Wenn wir bei den Kaltwassers zum Geburtstag eingeladen waren, war das immer eine ganz steife Angelegenheit. Selbst deine Frohnatur war perdu. Aber wenn Tante Ilse und die Jungs ohne Onkel Siegfried zu uns gekommen sind, dann waren es stets fröhliche Nachmittage.»

«Stimmt. Er war mir nicht wirklich sympathisch.» Martha zuckt mit den Schultern. «Aber das musste er ja auch nicht. Hauptsache, Ilse war mit ihm glücklich. Und das war sie. Vor allem, als endlich die Zwillinge geboren waren. So lange hatte sie darauf gewartet, Mutter zu werden. Dass er sie wie eine Putzfrau behandelt hat, steht auf einem anderen Blatt. Ich hätte mir das nicht gefallen lassen. Da war dein Vater ein ganz anderes Kaliber.» Martha lächelt. «Der hat mich auf Händen getragen.»

«Er fehlt mir auch», gibt Edda zu. Sie wirft einen Blick zur Wanduhr und steht auf. «Möchtest du mit uns essen? Es ist genug Eintopf da. Ich habe für zwei Tage gekocht. Kompott habe ich auch ausreichend.» Sie streicht sich die karierte Schürze glatt.

«Danke schön, das ist lieb, aber ich muss wieder los. Ich wollte dir nur eben sagen, dass Onkel Siegfried gestorben ist. Nicht, dass du es von jemand anderem erfährst. Man weiß schließlich, wie schnell sich solche Neuigkeiten in der Stadt verbreiten.»

In der Diele schlüpft sie in Mantel und Hut, streicht ihrer Tochter kurz über den Arm und öffnet die Wohnungstür. «Grüß Peter und Annemieke lieb von mir.»

 

Den Nachmittag über ist Martha ordentlich beschäftigt. In der Mittagspause hat sie die Ladentür verschlossen gelassen. Da ihre Kundinnen wissen, dass von eins bis drei niemand hier ist, stand auch keine mit ihrem Wäschekorb vor der Tür.

Während eine Tischdecke nach der anderen durch die Walzen läuft, wandern Marthas Gedanken zu Siegfried. Warum hat man ihn erst umgebracht und ihm dann die Hand abhacken wollen? Fest steht: Das war kein zufälliger Überfall, sonst hätte der Täter sich Siegfrieds Geldbörse geschnappt und wäre damit abgehauen. Ach, es ist zum Mäusemelken. Sie kann grübeln, so viel sie will, sie findet keinen Anhaltspunkt. Vielleicht fällt ihrer Schwester ja doch noch etwas ein. Martha wird auf jeden Fall nach Ladenschluss noch einmal zu ihr fahren und ihre Hilfe anbieten. Es wird sicher eine große Trauerfeier werden. In welchem Lokal sollte man die abhalten? Und dann eine Kaffeetafel mit Butterkuchen am Nachmittag oder lieber mittags Hühnerbrühe und belegte Brötchen?

 

«Hühnerbrühe», sagt Ilse, als Martha am Abend bei ihr vorbeischaut. «Wir werden den Leichenschmaus in der Waage abhalten. Das hätte Siegfried gefallen.»

Inzwischen sind auch Heinz und Joachim eingetroffen und sitzen mit ihrer Mutter am Esstisch im großen Salon. Wie jung und verletzlich sie wirken, trotz ihrer schmucken Uniform.

«Muss es denn die Waage sein, ich meine, das ist das teuerste Restaurant der Stadt», gibt Martha zu bedenken.

«Für Siegfried war stets nur das Beste gut genug», entgegnet Ilse und schnieft. «Da kann ich ihm doch bei seinem irdischen Abtreten nichts Schlechteres bieten.»

«Er kriegt es ja nicht mit, aber du musst das natürlich wissen», sagt Martha.

Ilse nickt eifrig. «Die ganzen Honoratioren der Stadt werden anwesend sein. Was sollen sie denn für einen Eindruck von uns haben, wenn ich in ein günstigeres Lokal ausweiche. Nein, dem Gerede möchte ich mich nicht aussetzen.» Sie lässt sich ermattet gegen die Stuhllehne sinken. «Lieb von dir, dass du dich um den Bestatter und die Organisation der Trauerfeier kümmerst. Ich habe dazu einfach nicht die Kraft. Und die Jungs auch nicht.» Sie greift nach den Händen ihrer Söhne. «Stimmt doch, oder?»

Heinz und Joachim stimmen wortlos zu. Martha vermutet, dass sie am liebsten losheulen würden, sich aber nicht gestatten, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Dass die Kerle immer noch glauben, den starken Mann markieren zu müssen. Auch Männer dürfen weinen. Hat Hermann damals auch, als sein Bruder in Russland gefallen ist.

«Lasst uns überlegen, wie die Traueranzeige aussehen soll», sagt sie forsch, um nicht weiter daran zu denken.

FREITAG

Martha

Martha ist extra früh aufgestanden und eine Stunde eher als sonst im Geschäft gewesen, um die liegen gebliebene Wäsche vom Vortag zu mangeln. Als ihr Hans die Zeitung bringt – ausnahmsweise die aktuelle und nicht die vom Vortag wie sonst – versucht sie, Neuigkeiten über Siegfrieds Tod zu erfahren, aber Hans sagt mit fester Stimme: «Tante Martha, nun hör auf. Du weißt ganz genau, dass ich dir nichts über den Stand der Ermittlungen verraten darf. Außerdem bin ich in Eile. Ich war gestern den ganzen Tag im Archiv der Ostfriesischen Rundschau, um die Artikel über den letzten Prozess herauszusuchen, den Onkel Siegfried als Richter geführt hat, und gleich ist eine Besprechung, in der ich darüber berichten soll.»

Kaum ist Hans weg, nimmt Martha die Zeitung zur Hand. Richter Kaltwasser brutal ermordet