Fritz Binde - J. C. J Ommerborn - E-Book

Fritz Binde E-Book

J. C. J Ommerborn

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Beschreibung

Ich denke nicht daran, das folgende Buch besonders zu empfehlen. Jedes ernste Buchwerk wurzelt in seiner Geschichte. Auch dieses Buch hat seine Geschichte, wer es liest, der wird diese Geschichte miterleben, und das ist sein Zweck. Dass gerade ich das Buch schrieb, glaube ich vor Gott und den Menschen verantworten zu können, ja, ich fühle mich besonders berufen, es zu schreiben, einmal als Freund Fritz Bindes in einem Zeitraum von fast 30 Jahren, das heißt in einer Zeit, die Bindes ganze Entwicklung vom Sozialisten zum Christen umfasst; dann aber auch, weil ich Fritz Binde, aus denselben gesellschaftlichen und politischen und literarischen Verhältnissen kommend wie er, meine Bekehrung zum Kreuz Jesu Christi verdanke. Endlich auch noch, weil es ein stilles Übereinkommen zwischen meinem Freund und Bruder und mir war, dass ich das Buch schreiben solle, wenn es überhaupt geschrieben würde. Das alles macht es ohne weiteres auch erklärlich, dass der größte Teil des Buches aus von Binde und mir gemeinsam erlebten Daten besteht. So hat der Leser ein unmittelbares Material und kein nachgeschriebenes, etwa von Hörensagen kommendes Schreibwerk. Die eingefügten Bilder und das Faksimile eines Briefes und schließlich auch die dem Text eingefügten Briefe Bindes an mich werden dem Leser zum Verständnis und zur Würdigung meines Buches willkommen sein. Und so möge die gutgemeinte, nicht allein berichtende, sondern auch evangelistische Arbeit ihren Gang gehen, Gott zum Lobe und den Menschen zum Segen! In einer Zeit, in der auf der einen Seite der krasseste Materialismus gepredigt wird, auf der anderen ein selbstbewusster Idealismus, verbunden mit einem selbstverlorenen Ichkult und einem Zug gefühlsschwerer Romantik die Gewissen lau und schläfrig macht, schenkt uns Ommerborn ein Buch, das in scharfumrissenen Zügen wie ein mahnender Wegweiser den Pfad zur christlichen Weltanschauung zeigt. Es ist die Lebensbeschreibung seines Freundes Fritz Bindes. In hervorragender Weise hat der Verfasser es verstanden, uns die psychologischen Grundlagen der Entwicklung Bindes vor Augen zu führen, ein Meisterwerk, das Ommerborn nur leisten konnte, da er selbst aus denselben Umwegen wie sein Freund seine Weltanschauung hat erkämpfen müssen, und zudem die angeborenen Fähigkeiten eines feinfühligen Psychologen besitzt. Über dem ganzen Werk schwebt, um mit Dank zu sprechen, die klare Erkenntnis: „Das Evangelium ist eine unversiegbare Quelle aller Wahrheiten, die, wenn die Vernunft ihr ganzes Feld ausgemessen hat, nirgends anders zu finden ist.

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Fritz Binde

Vom Kommunisten zum Christen

J. C. J Ommerborn

Impressum

© 1. Auflage 2019 ceBooks.de im Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: J. C. J. Ommerborn

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-206-7

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Inhalt

Titelblatt

Impressum

Vorwort zur 1. Auflage

Vorwort zur 2. Auflage

1. Fritz Bindes Kindheits- und Jugendjahre

2. Aus dem Mannesleben und seinem Kampf gegen Gott

3. Die Offenbarung des unbekannten Gottes

4. Als Prediger und Evangelist

5. Im Kampf mit dem Neuen

6. Fritz Bindes Arbeitswerk als Evangelist

7. Fritz Binde als Seelsorger

8. Fritz Binde als Familienvater und seine letzten Stunden

Unsere Empfehlungen

Vorwort zur 1. Auflage

 

Fritz Binde, 1894

 

Ich denke nicht daran, das folgende Buch besonders zu empfehlen. Jedes ernste Buchwerk wurzelt in seiner Geschichte. Auch dieses Buch hat seine Geschichte, wer es liest, der wird diese Geschichte miterleben, und das ist sein Zweck. Dass gerade ich das Buch schrieb, glaube ich vor Gott und den Menschen verantworten zu können, ja, ich fühle mich besonders berufen, es zu schreiben, einmal als Freund Fritz Bindes in einem Zeitraum von fast 30 Jahren, das heißt in einer Zeit, die Bindes ganze Entwicklung vom Sozialisten zum Christen umfasst; dann aber auch, weil ich Fritz Binde, aus denselben gesellschaftlichen und politischen und literarischen Verhältnissen kommend wie er, meine Bekehrung zum Kreuz Jesu Christi verdanke. Endlich auch noch, weil es ein stilles Übereinkommen zwischen meinem Freund und Bruder und mir war, dass ich das Buch schreiben solle, wenn es überhaupt geschrieben würde.

Das alles macht es ohne weiteres auch erklärlich, dass der größte Teil des Buches aus von Binde und mir gemeinsam erlebten Daten besteht. So hat der Leser ein unmittelbares Material und kein nachgeschriebenes, etwa von Hörensagen kommendes Schreibwerk.

Die eingefügten Bilder und das Faksimile eines Briefes und schließlich auch die dem Text eingefügten Briefe Bindes an mich werden dem Leser zum Verständnis und zur Würdigung meines Buches willkommen sein.

Und so möge die gutgemeinte, nicht allein berichtende, sondern auch evangelistische Arbeit ihren Gang gehen, Gott zum Lobe und den Menschen zum Segen!

Vorwort zur 2. Auflage

Wenn ein neues Buch innerhalb vier Wochen bereits die 2. Auflage erlebt, darf man sich ehrlich freuen. Der Herr ist mit diesem Buch. Ein Rezensent hat den Sinn des Werkes gut begriffen. Er schrieb u. a.:

„In einer Zeit, in der auf der einen Seite der krasseste Materialismus gepredigt wird, auf der anderen ein selbstbewusster Idealismus, verbunden mit einem selbstverlorenen Ichkultus und einem Zug gefühlsschwerer Romantik die Gewissen lau und schläfrig macht, schenkt uns Ommerborn ein Buch, das in scharfumrissenen Zügen wie ein mahnender Wegweiser den Pfad zur christlichen Weltanschauung zeigt. Es ist die Lebensbeschreibung seines Freundes Fritz Bindes. In hervorragender Weise hat der Verfasser es verstanden, uns die psychologischen Grundlagen der Entwicklung Bindes vor Augen zu führen, ein Meisterwerk, das Ommerborn nur leisten konnte, da er selbst aus denselben Umwegen wie sein Freund seine Weltanschauung hat erkämpfen müssen, und zudem die angeborenen Fähigkeiten eines feinfühligen Psychologen besitzt. Über dem ganzen Werk schwebt, um mit Dank zu sprechen, die klare Erkenntnis: „Das Evangelium ist eine unversiegbare Quelle aller Wahrheiten, die, wenn die Vernunft ihr ganzes Feld ausgemessen hat, nirgends anders zu finden ist.“ usw.

Ich hatte bereits bei Lebzeiten Fritz Bindes den Plan zu diesem Buch im Kopf: an der Hand der Bindeschen Entwicklungsgeschichte die Notwendigkeit einer evangelischen Weltanschauung für unsere Zeit darzutun. Fritz Binde war eben „der moderne Kulturapostel“. Als solcher wurde sein Lebensbankerott auch der Bankerott der modernen Kultur. Die Konsequenzen des Bindeschen Zusammenbruchs sind auch die unserer heutigen Gegenwart, wir müssen unser Leben wieder evangelisch orientieren, sonst wehe uns. Die Großzügigkeit und feine Plastik der Bindeschen Evangelisation zu preisen, habe ich keine Luft, auch mein Freund hat sich immer energisch dessen verwahrt, was er war, das lebt oder es lebt nicht, das Leben muss es beweisen.

Diese 2. Auflage ist um ein wesentliches vermehrt. Man hat mich dieser Tage oft wegen des „Bindeproblems“ ausgefragt. Auch der obengenannte Rezensent stößt es an. Darum ernannte ich das Werk durch Erinnerungen an die schweren Seelenkämpfe, die Fritz Binde anfangs in der Rämismühle durchzumachen hatte, wenn es überhaupt ein „Bindeproblem“ gibt, so wird es hier, denke ich, gelöst. Und nun sei dies gutgemeinte Büchlein aufs Neue Gott und den Lesern gewidmet.

J. C. J. Ommerborn

1. Fritz Bindes Kindheits- und Jugendjahre

Fritz Binde kam am 30. Mai 1867 auf Sachsen-Meiningschem Gebiet, in Helburg, als Kind armer Uhrmachersleute zur Welt. Auf der Reise, just wie das Jesusknäblein. Wenn er sich in späteren Jahren auf diese Weise mit diesem Jesusknäblein gern verglich, leuchteten allemal seine Augen.

Durch die Landsmannschaft seiner Eltern wurde er Loburger Bürger. Sein Vater gehörte früher zu den wohlsituierten Loburger Uhrmachermeistern. In der Bindeschen Familie gab es verschiedentlich hervorragende Gelehrte und Künstler. Auch der Loburger Uhrmacher wollte mit aller Willensausbietung studieren. Statt seiner, tat das dann sein älterer Bruder und brachte es zum hervorragenden Philologen. Die Enttäuschung hat das Leben des einen nicht nur verbittert, sondern auch aus der Richtung gebracht. Vater Binde war in der Erinnerung Fritzens immer der gutwillige, leidenschaftlich heimhungrige, wissensfanatisch Entgleiste, dessen Nerven infolge der Verbitterung schwer gelitten, und dessen Gatten- und Vaterschaft die Kennmale der nervösen Verbitterung und Enttäuschung trugen.

Die Mutter Fritz Bindes, eine geborene Langbein, gehörte zu den frommen, thüringischen Frauen. Ihre stille Frömmigkeit stand auf festen evangelischen Glaubensfüßen, und sie war stark genug, das Armutsleben und das Leben der Verbitterung im Heim allezeit unentwegt auf sich zu nehmen und den Geistern zu widerstehen, die das Uhrmacherhaus zerschlagen wollten. Der Mutter stille, fromme Art ging auf das schwache Knäblein über und ist auch in den Jahren furchtbarster Kämpfe gegen Gottes werben und Suchen nicht ganz unterdrückt worden. So schwach war der auf der Reise geborene junge Weltbürger, dass seine Mutter von ihm sagte: „Er war ein Siebenmonatskind, nicht mal Fingernägel hat er gehabt. Der Herr Doktor meinte, es werde keine zwei Tage alt.“ Aber so stark und hell war sein junger Kopf, dass er in allen seinen Kinderleiden im armen Uhrmacherheim seine Sache auf die beiden Pole gestellt hat: auf sein sanftes, frommes Mutterle, und auf den Herrn Jesus.

So klug war er, dass er bald herausbekam, wie schwach die Beweisführung der landläufigen Christenart für die Existenz Gottes ist, denn er hat schon in zartester Kindheit diesen landläufigen Gott nicht begriffen, ist immer wieder mit ihm in Zwiespalt geraten, und gerade da, wo er ihn anrief und ihn nötig hatte. Schon in zartester Kindheit hat er mit diesem „unbekannten Gott“ gerungen, wenn die Armut und der Hunger ihn quälten, wenn des Vaters Art das Heim ängstigte, wenn die jungen Geschwister starben, und in tausend anderen Nöten und Fragen.

Als Mädchen, das vergötterte kleine Schwesterlein, an Diphtherie erkrankte und kein Arzt ihr helfen konnte, eilte er in leidenschaftlicher Auflehnung hinaus, drang auf Gott ein, verlangte kurz und bündig von ihm, dass er hier ein Wunder tue. „Wenn ich jetzt beim Springen auf jenen Stein komme, lieber Gott, so soll das ein Zeichen sein, dass du meinem Mädchen durchhilfst!“, rief er gen Himmel. Es gelang ihm, sein Fuß traf jenen Stein, aber das Mädchen wurde aufgenommen in den Himmel. In wildem Gram kam über den etwa Neunjährigen der Gedanke: „Entweder ist Gott grausam oder ohnmächtig, oder es gibt überhaupt keinen Gott!“

Seit jeher wollte Fritz Binde Künstler, Maler werden. Es war die Art seiner Herkunft von väterlicher Seite. Als vierjähriger Jungbursch besaß er schon einen Raritätenschrein. Häufte in seiner Schublade die vielgestaltigen Schätze auf, die seine farbenfrohen Kinderaugen am Lebenswege auflasen, bunte Papierschnitzel, Käfer, Schmetterlinge, Zinnsoldaten, Kinderpistolen, sogar ein Zeichenheft, auf dessen erste Seiten er Bäume, Hirsche, Jäger und dergleichen gezeichnet. In dieses bunte Sammelsurium brachte er täglich neue Ordnung, gewissermaßen neue Gedanken, neue Möglichkeiten, neue Künste.

Allerdings war der Grundsinn seiner Seele schon damals so stark auf das Alte, Überkommene gerichtet, dass er, so oft er auch in der Schublade herumkrempelte und neu baute, schließlich alles wieder so legte, wie es ursprünglich gelegen. Genau so, wie er als Kulturkämpfer täglich und stündlich Neues gesucht, Wissenschaften durchforscht, Künste getrieben, tausenderlei Formen und Inhalte verworfen und neu geordnet, um schließlich als gereifter Mann und auf der Höhe seiner weltlichen Errungenschaften vor dem „unbekannten Gott“ seiner Kinderjahre und vor dem Kreuz Jesu Christi zusammenzubrechen und sein Leben dem alten biblischen Evangelium zu weihen.

Man kann sich denken, wie auf ein so geartetes junges Menschlein die häusliche Umgebung und die Gemütsart der anderen rückwirken und welche Eindrücke das Kindheitsleben auf die Kinderseele hinterlassen müssen. Ein altes, gutes Sprichwort sagt: „Kleine Kessel haben große Ohren.“ Das Ohr der kleinen Fritzseele muss ganz besonders fein gebaut gewesen sein, und die Gehörgänge müssen tief hinabgereicht haben in die Zusammenhänge mit dem engeren Leben und dem der Umgangsmenschen. Er legte von klein auf großen Wert auf das Christkind und merkte sich aus Muttermund haarscharf genau die Charakterisierung dieses Wunderkindes. Was bei tausend anderen an der Oberfläche der Seele wie ein Doldenhauch nur schwach haften blieb und durch äußeren Einfluss nach Belieben verwischt oder verändert werden konnte, das wuchs sich in der jungen Fritzseele zum Wesensbestandteil aus und wollte Erfüllung. An seinem fünften Christtage schickte Mutter und die etwas ältere Schwester ihn beizeiten ins Bett. Das kannte er bereits, und die Vorbereitung auf das kommende Festwunder beschäftigte ihn vollauf. Aber die Mutter regte ihn auf durch das Warnungswort: „Dass du aber nicht durch das Türfenster lugst … das Christkinds kommt selber vom Himmel, mit goldigen Flügeln und in silbrigem Kleide und putzt im Zimmer den Christbaum. Wenn du nun durch das Türfenster lugst, merkt das Christkind das und kratzt dir die Augen aus!“ Andere Kinder hätten sich in stillem Gehorchen gefügt. Anders unser Fritzle. Das Christkind vom Himmel war in seinem kleinen gedankenvollen und über alles spintisierenden Kopf kein Luftgebilde, keine Märchengestalt, sondern eine buchstäblich genaue Tatsache, so wie Mutterle sie beschrieben. Eben weil Mutterle, diese einzige und höchste Wahrheitsinstanz im engen häuslichen Leben, sie so beschrieben hatte. Das war das eine.

Dazu kam die stille, kindliche Frömmigkeit des Jungburschen, die verhaltene Ehrfurcht vor dem Jesuskindlein aus der Höhe, vielleicht auch die bereits erlebten mancherlei Erlebnisse, die mit dem königlichen Kindlein zusammenhingen, vielleicht Enttäuschungen, wie die später erlebte Enttäuschung in der Heilung des sterbenden Mädchen oder so. In der Tat, der blutjunge Fritz Binde rechnete mit dem Gotteskinde, wie mit einer buchstäblichen Tatsache. Und schließlich kam hinzu die in ihm keimende Anlage, das Erlebte oder Geglaubte künstlerisch zu verarbeiten, zu dehnen, zu bemalen, zu vergrößern, das Göttliche in wunderbaren Kinderbildern zu schauen, was Wunder nun, wenn dieser kleine kluge und fromme Jungbursch sich die Gelegenheit nicht vorbeihuschen lassen wollte, mit seinen hellen begeisterten Augen den hohen Geheimnisgast selber zu schauen und zu beurteilen? Ganz gewiss hielt ihn nichts ab als die Scheu vor den kratzenden Fingern des Christkind, und diese Scheu war so schwach in seiner mutigen Kinderseele, dass er sich nach langem Ringen im Bettlein erhob, an den Rand herankroch, den Zipfel der Gardine vorsichtig hob, mit der anderen Hand das Gesicht schützend, das Gesicht bedeckte und nur durch die Finger schaute. Und was war in dem Festzimmer zu schauen? Statt des himmlischen Kindes in goldigen Flügeln und silbernem Gewande sah er Mutter und Berta, die Schwester, am Tisch sitzen und Nüsse mit Gold- und Silberlack bekleben, um den Baum damit zu zieren. Andere Kinder hätten das gesehen, hätten die verwunderten Augen vollgesogen von den kleinbeschränkten Wahrheiten und wären, ohne sich über die zerstörte Illusion aufzuregen, wieder in die Lissen gekrochen, um entweder zu wachen oder einzuschlafen. Unser Fritzle aber? Er sah das, was er nicht sah, an erster Stelle, das fehlende Christkind, und was er sah, das wurde ihm zur Nebensache. Er wurde blass, und das aufgeregte Herz konnte sich nicht beruhigen. Nicht weil das Christkind nicht anwesend war, sondern weil das Mutterle ihm in dieser Stunde der Enttäuschung aus dem absoluten kindlichen Vertrauen glitt. Er schlich, tief innen im Herzen enttäuscht, in die Rissen zurück und weinte und stammelte vor sich hin: „Gelogen, das Mutterle hat dich belogen!“

Wir entdecken hier bereits die heilige Wahrheitsliebe und den Willen zur Wahrheit, vor Gott wohlangesehene Charaktereigenschaften, die Fritz Binde nicht nur in seinen Lebenskampfjahren, als Freidenker, als Sozialist, als Philosoph und Schriftsteller Tag und Nacht begleitet haben. Wenn wir weiter in Fortsetzung dieser Lebensbeschreibung auf Stunden und Erlebnisse stoßen, die uns unlogisch oder sonst wie unfassbar erscheinen, so brauchen wir, um Fritz Binde zu verstehen, nur daran zu denken, dass der in die Irrwege des Kulturlebens verstrickte Mensch die Wahrheit suchte, und sich von dieser Wahrheit die stärksten Vorstellungen machte. Sein Zusammenbruch als Weltmensch war ja nichts anderes, als die Enttäuschung an den Wahrheiten der Welt, die Millionen anderer ohne weiteres als Wahrheiten hingenommen, die diesen klugen, hellen Kopf, dieses durchdringende Vertrauenwollen aber viel tiefer in die Wurzelbestände dieser „Wahrheiten“ blicken ließ als jene Million anderer, Leichtgläubiger. Eben weil er als Evangelist so absolute Wahrheiten zu verkünden hatte, machte ihn das Evangelium so warm, so arbeitsfroh, so unsäglich glücklich, konnte er denen so viel geben, die von ihm so viel verlangten.

Ein weiterer Wesenszug an Fritz Bindes Kindheitsjahren mag hier noch erwähnt werden, weil auch er ihn bis zum Tode begleitet hat, die Liebe zu den Armen. „Meine Eltern waren arm, darum werde ich mein Leben lang die armen Leute lieben!“ sagte er. Er stammte ja aus wirklich armem Hause. Mit den Ärmsten und Elendesten stand er allwöchentlich vor der Wurstküche des reichen Schlachtermeisters, um auf die kostenlos verteilte Wurstbrühe zu warten, wer dieserart Bittgänge, halbe Bettelgänge, aus Erfahrung kennt, der wird sich über das arme Herkommen Fritz Bindes keine Illusionen machen.

In diesem armen Uhrmacherheim wurde Fritz Binde 14 Jahre alt und sehnte sich zu dem Tage, wo er Maler werden konnte. In der Volksschule hatte man bereits seine Zeichnungen prämiiert. Das ganze Städtchen sprach von seinen künstlerischen Fähigkeiten. Er wurde nicht Maler; sein Vater stellte ihn kurzerhand an die Uhrmacherwerkbank, um ihn auszubilden. In der kleinen thüringischen Stadt, die sein Vater sich nach mehrmaligem Hin- und Herziehen zum Aufenthalt erkoren, kannte jeder jeden anderen, wie das nur in einer kleinen Stadt möglich und angenehm ist. Das heißt, diese idyllische Spießbürgerei hat noch eine andere Seite. Gerade der Spießbürger ist Klassenmensch, wie im Duodezstaat die Standesunterschiede viel krasser hervortreten als im großen Reichsverband. Bindes Vater, der arme Uhrmacher, ist nie auf den Gedanken gekommen, er gehöre mit dem Fabrikarbeiter zu derselben Gesellschaftsklasse. O nein, er war ein selbständiger bürgerlicher Mann, der Bürger schlechthin. Und Fritz Binde, der blutjunge Uhrmacherstift, der Sohn dieses armen Uhrmachers ging ganz selbstverständlich in den freisinnigen Turnverein, wo Millionärssöhne und Buchhalterstifte und dergleichen bürgerliche Elemente seine Kameraden und Freunde wurden. Die Sozialdemokratie stand damals noch in den ersten Entwicklungsstadien. Eugen Richter war Trumpf, und die Spar-Agnes und die freisinnige Partei beherrschten die ganze politische Lage. Was etwas war, was irgend frei aussehen wollte, das ging zu Eugen Richter; was nichts war und alles werden wollte, das ging zu August Bebel und den Roten. Seltsam, wie die jungen Richterschen Elemente es heraus hatten, wes Geistes Kind der Uhrmacherlehrling war. Im Äußeren bot Fritz Binde mit seiner kleinen Gestalt ganz gewiss kein imponierendes Bild, und um seiner wirtschaftlichen Verhältnisse Willen würde kaum ein Bourgeois-Söhnlein sich bemüht haben, ihn anzufreunden. Da mussten schon ganz andere Berührungspunkte liegen. Der junge Uhrmacher war ein Bildungsstreber. Und er war ein ernster junger Mensch. Mit ihm ließ sich bereits interessant reden. Er studierte auch leidenschaftlich Französisch und Englisch und sogar Latein, und was damals so obenauf lag in der politischen Luft, das sog er mit weiten Lungen ein.

Seine Liebe zu Seinesgleichen, das heißt zu den Armen, bewahrte ihn einmal vor anmaßendem, über sich selbst hinauswollendem Auftreten, und dann bewahrte diese Liebe ihn vor dem Sumpf des landläufigen Proletariats; er war kein Massentier; er war durch und durch eine Individualität. Wie hätten die zigarettenschmauchenden und biertrinkenden Richterschen Turner diesen interessanten jungen Burschen nicht bald entdecken und für sich reklamieren sollen? Mein alter Freund sagte mir in unseren langjährigen Verkehrsjahren zweimal dasselbe Wort: „Ich habe nie verstehen können, warum die Menschen so hinter mir hergelaufen sind!“ Zuerst sagte er mir das Wort in unserer sozialistischen Zeit und das andere Mal, als wir dasselbe Evangelium des Kreuzes verkündeten. Und beide Male musste ich ihm antworten: „Das ist sehr einfach, du bist immer ein interessanter Kerl gewesen!“

So war es denn auch damals. Kaum war er im freisinnigen Turnverein warm geworden, als ihm auch schon die vornehmsten Kameraden auf den Fersen saßen. Einen dieser Art hat Fritz Binde sehr fein beschrieben:

„Gleich am Ende meines ersten Turnabends sprang einer mit ausgespreizten Beinen, ausgehakten Händen und hochgeworfenem Kopf großmächtig vor mich hin und rief mich an: „wir wollen Freundschaft machen!“ Ich sah zu dem flachshaarigen Bullenbeißer hinauf und sagte wie übertölpelt: „Wer sind Sie denn?“ „Das ist das Millionärssöhnlein!“, antwortete statt seiner ein hinzugesprungener dicker Knirps. Der Lange versohlte im Handumdrehen dem Kleinen das Leder und wandte sich wieder mir zu: „Also auf Du und Du!“ Dabei reichte er mir die Hand, und ich reichte ihm die meine. Er war tatsächlich das „Millionärssöhnlein“. In seiner herumhüpfenden, alle gebieterisch anfallenden, über alle verfügenden Art war er mir unleidlich. Nur um mich ihm gegenüber zu erproben, duldete ich ihn. Er rühmte sich täglich mit großem beweglichen Munde seines Wahlspruchs: „Ich hasse, was da staubig, nur an das Frische glaub ich!“ Staubig schienen ihm „Pfaffen, die Bibel und alles Zünftige.“ Frisch nannte er freies Denken, Eugen Richter und den Turnverein. Sein Lieblingsthema war die freie Konkurrenz. Ging man mit ihm, so fegte er immer mit dem Stock um sich her, als müsse er vor sich her den Weg säubern, um sich freie Bahn zu machen. Sprach man mit ihm, so rückte er einem immer näher auf den Leib, hauchte einem ins Gesicht und trat einem aus die Füße. Um jemanden herbeizurufen oder abzuholen, steckte er zwei Finger in den Mund und tat einen gellenden pfiff. Und gab es keinen anderen Weg mehr, einen Aufruhr gegen seine Autorität niederzuschlagen, so bot er einem das geöffnete, wohlgefüllte, silberne Zigarettenetui an. „Du hast einen frischen Geist, du hättest studieren müssen!“ sagte er zu mir. Er wusste, wie weh er mir damit tat. „Du weißt, dass meine Eltern leider arm sind!“ sagte ich. „wer arm ist, ist immer selber schuld daran!“ „Ich glaube, es ist im Allgemeinen weniger Sünde, arm zu sein, als Millionär zu sein!“ „Sünde ist überhaupt Unsinn! Es gibt nur eine Sünde, das ist die Dummheit!“ „Vielleicht gibt es noch eine zweite Sünde, das ist die Frechheit!“ Da präsentierte er mir sein silbernes Zigarettenetui. Ich lehnte aber ab.“

Dieser dumme Junge wäre kaum berufen gewesen, im Leben Fritz Bindes eine einschneidende Rolle zu spielen, wenn sich in dem Millionärssöhnlein nicht der soziale Typus verdichtet hätte, der auf den armen Uhrmacherstift wie Feuer und Flamme wirken musste. Wenn wir im Verlauf dieses Buches genau zuschauen, so erkennen wir bald den roten Faden in Fritz Bindes Leben, der ihn in den Sozialismus und über den Sozialismus zum Evangelium Jesu Christi führen musste. Die in bitterer Armut und Abhängigkeit aufgewachsene und durch die Armut konsequent entwickelte Psyche des jungen Uhrmachers dachte und fühlte proletarisch; der Millionärssohn forderte ihren stärksten Widerspruch heraus und zwar so gründlich, dass der kaum halbwüchsige Bursche in sich die stärksten Sympathien mit der Klasse der Besitzlosen, wohlverstanden der Klasse, fühlte und wusste. Das Millionärssöhnlein war sein Klassengegner, die Klasse forderte die Klasse heraus, der Besitzlose ergriff ohne weiteres, seiner Klasse nur gefühlsmäßig bewusst, die Partei und die Interessenvertretung seiner Klasse. Das verstehen wir aus den Worten heraus, mit denen er den jungen Geldprotzen abfertigte, aber das verstehen wir noch viel deutlicher, wenn wir ihn ganz kurze Zeit nachher in einer gewissen Augenblickslage beobachten.

In dem Städtchen herrschte Eugen Richter und das Bismarcksche Sozialistengesetz, die Partei Bebels musste sich in die Spelunken verkriechen und lief auch dort wohl Gefahr, gepackt und zertreten zu werden. Es hieß in der Tat etwas, unter diesen Umständen für Bebel Partei zu nehmen. Für Fritz Binde, den Knaben, hieß es besonders viel, weil sein allezeit schlagfertiger, mit dem Stock agierender Vater erst recht kein Freund der proletarischen Revolutionspartei war. Alles das hinderte den Knaben nicht, seinen innersten Gefühlen prompt Ausdruck zu geben ganz im Sinne Bebels und des Sozialismus. In das Städtchen kam August Bebel in eigener Person, um in einer elenden Spelunke die verfolgten roten Brüder zu trösten und zu befestigen. Die paar roten Fabrikarbeiter aus dem Städtchen lind der Umgegend sperrten sich mit ihrem Papst gegen die Häscher der Bourgeoisie luftdicht ab; kein Mensch ahnte, dass in dem Loch des „roten Kneipwirts“ weltbewegende Fragen behandelt wurden. Aber des Stadtschreibers und des Ellenkrämers Söhne, ebenfalls Fritz Bindes Turnvereinskameraden und waschechte Richterjünger, wussten es und schnüffelten unter den dicht verhangenen Fenstern des Lochs umher, um etwas zu erhaschen. Fritz Binde war mit von der Partie.

Ob er von den revolutionären Brandreden Bebels etwas gehört und verstanden hat, mag dahingestellt bleiben. Gleich nach der geheimen Versammlung trafen die drei Burschen auf den jungen Sohn des roten Kneipwirts, und die beiden Bourgeois-Söhnlein begannen ihn zu ulken und zu puffen, was tat der Uhrmacherstift? Er nahm ohne weiteres für den roten Altersgenossen Partei und ries den beiden anderen zu: „Ist das eure Freiheit? Ist das euer Freisinn? Schämt euch, schämt euch!“ Selbstverständlich waren die beiden Richterjünger aufs höchste verblüfft, und als man sich gefasst hatte, donnerte man ihm zu: „Du bist ein verkappter Sozialdemokrat, ja, das bist du!“ „Ich bin weder das eine noch das andere, ich bin vorläufig nichts als im Bunde mit meinem Gewissen.“ Das reizte die anderen zum Lachen, aber der Knabe Fritz Binde lachte nicht. Und wir erkennen ohne weiteres den Gedanken- und Interessenweg, den seine blutjunge Knabenseele bereits deutlich eingeschlagen. Er selber sagt darüber: „Über die sozialistische Revolutioniererei wusste ich nichts; aber ich hatte bald heraus, dass dieser mir entsetzlich unheimliche August Bebel es mit der Sache der Armen furchtbar ernst nahm.“

In dieser noch kindlich unreifen Erkenntnis war sein Gewissen also mit dem Revolutionär Bebel und der Sozialdemokratie einig.

Fritz Binde muss bei aller Abneigung gegen den Beruf dennoch ein tüchtiger Uhrmacherlehrling gewesen sein, denn der Vater stellt ihn bald an Gehilfenarbeiten, weil er nicht in der Lage war, einen Gehilfen zu bezahlen. Seine Hauptkundschaft wohnte auf dem Lande; er musste weite Fußmärsche machen, um die Uhren abzuholen, und wieder abzuliefern und den schmalen Verdienst zu sammeln. Von der Malerei war keine Rede mehr. Um ihn an die Werkbank auch innerlich zu fesseln, gab der Vater ihm wöchentlich eine Mark Taschengeld. Diese Mark ging in der ersten Zeit für Zeichenpapier und die Turnvereinsabende drauf. Mit dieser Mark konnte der kluge und sehr männliche Fritz Binde allerdings keine hervorragende Rolle spielen; die besser ausgestatteten Laufmannslehrlinge waren ihm über. Desto energischer entwickelte sich sein Innenmensch. Und auch hier lenkte ihn, ganz gegen die Absichten seines strengen Vaters und seiner Freunde, das Schicksal auf seine eigenen Wege. Eines Tages stand der nunmehr stark Fünfzehnjährige vor dem Schaufenster der Buchhandlung und studierte die Aufschriften der Bücher. Eben hatte man einen ganz neuen, ganz und gar zeitgemäßen Buchartikel ausgestellt. Eine ganze Reihe blau-grauer Bücher mit der Aufschrift: „Das Wissen der Gegenwart“ bannte sein Auge. Und das war die Entscheidung für sein ganzes späteres Leben. Der Wille zum Wissendwerden schlug wie eine Flamme über seinem ganzen Menschen zusammen. Zum Wissendwerden an der Gegenwart. Er war also bereits ganz und gar der moderne junge Mensch, und das mit fünfzehn Jahren, in dem kleinen Thüringer Nest, aufgewachsen unter verschämter Armut, von Kind auf an den lieben Gott aus Muttermund gewöhnt, wie an die Staupen aus losen Vaterhänden. Ja, in der Tat, war das nicht Pflanzenart, die unter der roten Revolutionssonne eines Karl Marx zum flatternden blutroten Mohn werden musste? An Gott, an dem Heim, an den engeren und weiteren Verhältnissen enttäuscht, immer gebändigt und nie frei, es sei denn im zehrenden Hassen, und dabei das heiß sehnende, schönheitsbegehrende Erlösungsahnen im Herzen, sollte das nicht die Pflanzschule des Sozialismus sein? Jawohl, dieser kleine, schmächtige und künstlerisch empfindsame arme Uhrmacherstift, er war der Typus des Sozialisten im Kindheitsstadium; wenn der auf einmal die blaugrauen Buchreihen sah mit der Aufschrift: Wissen der Gegenwart, dann musste sein ganzer Innenmensch sich auf die Zehenspitzen erheben und schauen, und dann musste er sich zum ersten Mal selber entdecken und seine Lebensaufgabe: „Ich will Wissen; ich will ein wissender werden!“