Froststerne (Bd. 2) - Anna Fleck - E-Book

Froststerne (Bd. 2) E-Book

Anna Fleck

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Beschreibung

Hüte dich vor dem Frostprinzen! Hinter dem Eis - Elvy kämpft um Eriks Liebe! "Ein Kleid aus Nordlicht, eine Krone aus Eiskristallen", raunte Ys mir ins Ohr. "Für dich, Elvy. Werde meine Prinzessin, dann lege ich dir eine ganze Welt zu Füßen." "Gegenvorschlag", presste ich heraus und blickte ihm direkt in seine unerträglich schönen, eisblauen Augen. "Du lässt mich frei und ich komme mit einer Armee zurück, um deine Herrin zu vernichten." Auf der Suche nach Erik hat Elvy das verzauberte Land hinter dem Eis erreicht – doch hier erwartet sie eine schreckliche Überraschung: Der Frostprinz Ys führt die Armee der Schneekönigin, der Sieg des ewigen Winters steht kurz bevor. Aber aufgeben ist keine Option für Elvy, Simàja und Tomte Teda! Ihre Suche nach Verbündeten führt sie vom Tunnelreich der Grautrolle über den Höhlenpalast der intriganten Sommerelfen-Fürstin bis zur großen Versammlung der Vintaelfar. Dort geht Simàja ein gefährliches Wagnis ein, um die zerstrittenen Völker Ymatàjas gegen die Kalte Herrscherin zu vereinen. Währenddessen kämpft Elvy verzweifelt darum, die Rätsel ihrer Klarträume zu lösen und Erik zu retten. Nacht für Nacht wächst ihre Risikobereitschaft … Gefährdet ihre Liebe die ganze Mission? Und kann sie dem grausamen Charme des Frostprinzen widerstehen? Ein hochspannendes, magisch funkelndes Romantasy-Abenteuer um drei ungleiche Freundinnen, die alles wagen für die Liebe und die Zukunft zweier Welten!

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Seitenzahl: 677

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Anna Fleck

Froststerne

Durch Traum und Eis

Für Nina, weil du Elvy

deine wunderbare Stimme leihst.

Von Anna Fleck bereits erschienen:

Froststerne (1) – Erinnere dich!

Meeresglühen (1) – Geheimnis in der Tiefe

Meeresglühen (2) – Wiedersehen in Atlantis

Meeresglühen (3) – Für immer versunken

5 4 3 2 1

eISBN 978-3-649-67236-4

© 2024 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise. Die Nutzung

des Werkes für das Text- und Data-Mining nach § 44b UrhG ist

durch den Verlag ausdrücklich vorbehalten und daher verboten.

Text: Anna Fleck

Covergestaltung: Carolin Liepins

Lektorat: Frauke Reitze

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-64496-5.

Inhalt

ERIK

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

DANKSAGUNG

Sie steht vor mir, warm und hell und unglaublich Elvy. Ihre Hand liegt an meiner Wange, auf meinen Lippen spüre ich noch immer ihren Kuss. Ihr Gesicht schimmert im Silberschein des Froststerns, dieses unglaublichen magischen Talismans. Er hat uns hierhergeführt: in die Tiefen der Schneefeste, zu unserem Fluchtweg. Ringsum erstreckt sich eine düstere Höhle, darin ein Gewirr aus Eisbrocken und gefrorenen Wurzeln.

Es fehlt nur noch ein Schritt in die Freiheit. Ich werde nicht zögern.

Der Gang vor uns ist kaum mehr als eine Spalte im Eis, aber ich vertraue Elvy. Sie hat so um mich gekämpft, hat mich nie aufgegeben, obwohl alle sie ein Jahr lang für verrückt gehalten haben. Es klingt ja auch verrückt – dass ich von der Schneekönigin entführt wurde. Sie ist doch nur eine Märchenfigur … hatte ich zumindest immer gedacht. Wie falsch ich lag. Die Kalte Herrscherin existiert, das Märchen ist wahr.

Alles ist wahr.

»Kommst du?« Elvy strahlt mich an, in ihren Augen Mut und Herausforderung. Hat sie jemals Angst?

»Mit dir? Überallhin.« Ich sage es leichtherzig, dabei war mir nie etwas ernster. Ihre Hand liegt in meiner, ich will sie für immer festhalten.

Und dann, mit einem Schlag, ist alles vorbei.

Ein Eishauch fegt durch die Höhle und erfüllt die Luft mit einem grauenhaften Knistern. Frostlinien zischen über den Boden und die Wände, zerstören den geheimen Gang. Ich reiße Elvy an mich, will sie schützen vor dem, was jetzt geschieht – und weiß doch, dass wir keine Chance haben.

Die Ysirka ist hier, die Kalte Herrscherin – sie, die dieses Märchen zu einem Albtraum macht. Ihr Bann trifft mich mit aller Gewalt. Eisige Finger greifen nach mir und reißen an meinem Körper, ein Sturm, dem ich nicht entkommen kann.

Elvys Schrei gellt in meinen Ohren.

Nein, bitte. Ich will nicht, dass sie das noch einmal sehen muss.

Zum zweiten Mal spüre ich diesen entsetzlichen Schmerz, spüre, wie die Kälte in mich eindringt. Sie lähmt mich, doch meine Angst ist schlimmer – denn diesmal weiß ich, was mit mir geschieht: Die Ysirka wird mich verwandeln, bis ich nichts mehr bin als wirbelnder Schnee.

Elvy. Du wolltest mich retten. Wir waren so kurz davor!

Die Kälte wird stärker. Eisige Splitter bohren sich unter meine Haut, in mein Herz, sie zerreißen mich. Ich kämpfe dagegen an, stürze mich auf meine Erinnerungen, halte mich an allem fest, was mich ausmacht und stärkt.

Elvy. Meine Hände in ihren. Sie will mich wärmen und merkt nicht, was das mit mir macht. Was SIE mit mir macht. Wie sehr ich sie küssen, ihr alles sagen will.

Vor meinen Augen wirbelt der Schnee. Ich löse mich auf, immer weiter.

Elvy, nein! Unsere Geschichte hat doch gerade erst begonnen!

Ich will nach ihr rufen, doch ich kann nicht einmal mehr atmen. Ich muss kämpfen! Mit allem, was ich bin, ringe ich die Panik nieder und greife nach den Augenblicken, die Elvy und mich verbinden … in denen sie mich verzaubert hat, trotz aller Gefahr …

Fallende Flocken, eine ferne, wunderbare Melodie. Unser Tanz zum Gesang des Nordlichts. Elvys Augen leuchten. Sie ist mir so nah, so nah wie noch nie.

Es hilft nicht. Ich kann mich nicht halten. Die Macht der Ysirka fegt meine Seele leer, mein Körper vergeht in ihrem eisigen Wind. Doch noch kann ich Elvy sehen, sie ist nicht durch ihre magische Tür geflohen. Voller Entsetzen verstehe ich: Sie will mir helfen und begreift nicht, dass die Ysirka auch sie überwältigen wird! Der Froststern auf ihrer Stirn flackert wie eine Kerze im Sturm, seine Macht ist zu schwach, um Elvy zu beschützen. Meine Seele bäumt sich auf. Ich … ich muss etwas tun! Wo finde ich die Kraft dazu, nur für einen Augenblick …

Und da ist sie: meine letzte, schönste, geheimste Erinnerung.

Elvys Haut unter meinen Händen. Sie schimmert golden im Licht der Bernsteinflammen. Ich bin zu kalt, Elvy zittert, aber sie lässt mich nicht los.

Elvy.

Ein Funke, eine Explosion.

Einen Sekundenbruchteil nur spüre ich meinen Körper wieder, doch es reicht aus: Ich werfe mich gegen Elvy, bringe sie zum Stolpern. Sehe, wie sie durch die Tür stürzt, zurück in die wache Welt. Sie ist in Sicherheit! Auch wenn ich sie nie wiedersehen werde, sie ist sicher, das war alles wert. Ich klammere mich an den Gedanken, bis ich endgültig nicht mehr kann. Bis mir alles entgleitet.

Und dann … ist da nur noch Weiß. Das kalte, endlose Weiß der Ysirka. Treibender Schnee.

Ich verliere mich darin. Vergehe.

Halt mich fest, Elvy!

Lass nicht zu, dass ich dich vergesse.

Halt mich f

Ein Schritt, dann gehe ich durch das Eis. Nach Ymatàja. Zu Erik.

Winterluft brannte auf meinen Wangen, doch zittern ließ mich nicht die Kälte, sondern das, was ich jetzt tun musste. Der Gedanke daran, wohin der nächste Schritt mich führen würde.

Ein Schritt nur, dann lasse ich die Welt der Menschen hinter mir. Wage ich das wirklich? Werde ich je in meine Heimat zurückkehren?

Ich konnte es schon erahnen, das verwunschene Reich der Unsichtbaren. Seine blau-grünen Lichter tanzten unter der gefrorenen Oberfläche des Sees, auf dem ich stand, irgendwo in der Wildnis nahe dem Polarkreis. Jenseits davon, verloren im Land hinter dem Eis, war Erik … hoffentlich.

Er MUSS am Leben sein! Ich verbot mir, etwas anderes zu glauben. Aber wenn er lebt … kann ich ihn retten?

Mit aller Kraft konzentrierte ich mich auf die Erinnerung an ihn. An seine herbstbraunen Augen, in denen alles stand, was ich an ihm liebte: sein Charme, sein Witz, sein Mut, sein Vertrauen in uns … dieser intensive Blick, der nur für mich war und dessen Bedeutung ich so lange nicht verstanden hatte …

Dann, wie ein dunkler Schatten, erschien unser letzter gemeinsamer Moment vor meinem inneren Auge. Der Moment, als die Ysirka uns überwältigt und mir Erik entrissen hatte. Als er erneut zu Schnee wurde – und mich fortstieß, damit ich entkam.

Doch ich ließ nicht zu, dass mich die Verzweiflung übermannte. Es durfte einfach nicht sein, dass unsere Geschichte endete, bevor sie richtig begann.

Erik! Ich komme zu dir. Ich bin schon fast da!

Nur noch ein Schritt …

Meine Finger verkrampften sich um die von Simàja. Sie erwiderte meinen Händedruck und sah mich an. Ich schaute in ihr schönes, entschlossenes Gesicht. Ein warmes Gefühl durchströmte mich: Wenigstens war ich nicht allein. Eine echte Aelfar-Prinzessin ging mit mir durch das Eis, eine Elfe des hohen Nordens. Und ich, eine Bohnenstange aus Stockholm, war ihre Freundin geworden, mehr noch, ihre Schneeschwester! Auf Simàjas Stirn funkelte das magische Zeichen, das uns zusammengeführt hatte – der Froststern, dieser einzig wirksame Schutzzauber gegen die Macht der Ysirka. Ein kalter Nadelstich zwischen meinen Augen bewies mir: Auch Bling, mein eigener Froststern, war bei mir und machte mir Mut.

In diesem Moment drängte sich Ritni zwischen uns. Die breiten gespaltenen Hufe des Silberrenkalbs stampften unruhig auf der Stelle.

Ich weiß, wie du dich fühlst, Kleiner, dachte ich und wuschelte ihm mit meiner freien Hand durch das schimmernde weiße Fell.

Aber es gab kein Zögern, kein Zurück. Wir hatten so darum gekämpft, diese letzte Pforte nach Ymatàja zu erreichen, und jetzt, trotz aller Ängste und Zweifel, mussten wir es tun.

Ich nickte Simàja zu …

... und wir gingen den Schritt gemeinsam.

Kalt glitzernder Nebel wallte auf, hüllte uns ein und riss uns fort, hinein in eine lautlose, weiße Welt. Plötzlich gab es nichts mehr, das mir Halt bot. Verschwunden der harte Grund der Eisfläche unter mir, meine Füße sanken ein, immer tiefer in ein Nichts, ein Watteweiß. Ich taumelte hindurch wie durch eine Winterwolke, mit einem Mal ganz verloren und allein.

Wo bin ich? Ist das … ein Traum?

Die Umgebung war mir fremd, doch gleichzeitig geradezu unheimlich vertraut. Wind kam auf, trieb mir Schneeflocken entgegen und ließ den Nebel tanzen. Wo sich die grauen Schwaden teilten, entdeckte ich menschenähnliche Gestalten. Wie Schatten glitten sie dahin, über diese Ebene ohne Horizont, einem Ziel entgegen, das ich nicht sehen konnte … und doch kannte. Ein Zittern, so heftig wie Schüttelfrost, erfasste mich. Ja, ich wusste, wo ich war und was ich da sah. Ich befand mich zwischen den Welten, das hier war der Weg nach Ymatàja, den ich so oft im Klartraum gegangen war. Und die Schatten ringsum waren Opfer der Ysirka, Menschen wie ich! Während ihre Körper bei uns im Koma lagen, wandelten ihre Seelen willenlos in das Reich der Unterirdischen, um dort die Armee der Kalten Herrscherin zu verstärken.

Gebt nicht auf! Ich helfe euch!, wollte ich ihnen zurufen, doch kein Laut kam über meine Lippen. Der wirbelnde Schnee wurde dichter, die Kälte nahm zu und wurde betäubend. Mit letzter Kraft wollte ich Bling beschwören, meine Hand zur Erdungsgeste formen … aber was mir im Klartraum geholfen hatte, ließ mich jetzt im Stich. Zu überwältigend war es, diesen Weg wirklich zu beschreiten, im Wachen.

Meine Gedanken trieben weg, jedes Gefühl für Zeit und Raum verließ meinen Körper. Alles verschwamm und wurde eins mit dem Eishauch, der mich umgab, mich mit sich zog, und ich wollte nichts mehr, als mich darin zu verlieren …

Ein plötzlicher Schmerz ließ mich zusammenfahren.

»Reiß dich ja zusammen, Menschlein!«, raunzte eine Stimme in mein Ohr.

Tomte Teda! Wie hätte ich meine zweite Verbündete vergessen können, diese handgroße, kaffeesüchtige Wichtelin? Schließlich war es ihre unwiderstehliche Mischung aus Arschtritt und Herzlichkeit gewesen, die mich aus meinem gewohnten Leben gerissen und bis hierhergebracht hatte – hinauf in den hohen Norden, mitten hinein in dieses dunkle Märchen.

Die Wichtelfrau saß wie immer auf meiner Schulter, hatte sich meinen Zopf geschnappt und zog kräftig daran. Die Tränen schossen mir in die Augen vor Schmerz, aber sie brachten mich auch zurück zu mir. Ob Traum oder Wirklichkeit – ich war hier, in meinem Körper, und ich war nicht allein!

Ich schaute mich um: Ja, Simàja war nach wie vor bei mir. Auch ihr schien der Nebel kurz die Sinne geraubt zu haben, doch jetzt erschien wieder der wache Ausdruck in ihren dunklen schmalen Augen. Sie drückte meine Hand und auf ihrer Stirn sah ich ihren Froststern aufleuchten. Bling antwortete mit einem feinen Pulsieren. Noch mehr Gefühl sickerte zurück in meinen Körper, brachte mir endlich Erdung und neue Entschlossenheit. Irgendwo in dieser weißen, kalten Stille war der Ausgang nach Ymatàja … und der Weg zu Erik.

Ich klammerte mich an mein Bewusstsein, während wir weitergingen, Schritt für Schritt auf einem Grund, den ich weder spürte noch sah.

»Weiter so, Menschlein! Nur Mut, Prinzessin!«, hörte ich die tiefe Stimme meiner Wichtel-Trainerin. »Vergesst nicht, ihr seid stark – und am stärksten gemeinsam! Na los, bewegt eure langen Stelzen!«

Wir gehorchten. Immer weiter gingen wir, doch der Weg wurde nicht leichter. Selbst Simàja neben mir kam auf dem unsichtbaren Boden ins Stolpern und hielt sich immer wieder an mir fest. Vermutlich focht sie ihren eigenen inneren Kampf aus, um sich nicht in dem Flockenwirbel zwischen den Welten zu verlieren.

»Nicht mehr lang, Mädels!«, spornte uns Tomte Teda an. »Vertraut euren Froststernen!«

Ich tat mein Bestes und ließ Simàja nicht los. Wie sie versuchte ich, dem Glühen auf meiner Stirn zu folgen und einen Fuß vor den andern zu setzen, auch wenn ich immer weniger wusste, wohin ich ging.

Ich wollte Tomte Teda danach fragen, aber sosehr ich auch kämpfte, die Worte ließen sich nicht formen … und das Schneetreiben wurde dichter. Seine eisige Gewalt hüllte mich ein und zog an mir wie mit kalten, körperlosen Händen. Sie schienen unter meine Kleidung zu kriechen, in meinen Kopf, griffen nach meinen Gedanken und dämpften Tedas Stimme. Immer schwerer fiel es mir, mich dagegen zu wehren, immer weniger spürte ich meinen Körper und Simàjas Hand …

Doch mit einem Mal ließ der Sturm nach, verging in einer Woge glitzernden Nebels. Das Gefühl zu fallen, immer schneller, tiefer und dann …

Fester Boden.

Blendendes Weiß.

Schnee unter meinen Händen. Echter, greifbarer Schnee.

»Zauberkraut!«

Es war Tomte Tedas Gefluche, das mich vollends zurück in die Wirklichkeit holte. Endlich gelang es mir, die weiße Betäubung abzuschütteln, die mich eine schiere Ewigkeit gefangen gehalten hatte.

War das tatsächlich geschehen? War ich in … Ymatàja?

Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Helligkeit, und ich sah, dass Tomte Teda von meiner Schulter zu Boden gepurzelt war und sich schimpfend die Kleider abklopfte.

Vorsichtig richtete ich mich auf. Ich blinzelte hinein in gleißendes Sonnenlicht – und konnte kaum glauben, was ich sah. Ich kniete neben Simàja in einer Wehe aus glitzerndem Pulverschnee, den der Wind auf diesen anderen zugefrorenen See getrieben hatte. Jedenfalls dachte ich, dass es ebenfalls ein See war, auf dem wir uns befanden. Doch wo sich in meiner Welt eine glatte Fläche dunklen Eises über das Wasser erstreckt hatte, war dieser See übersät von bizarren, hoch aufgetürmten Eisformationen. An den Ufern wiegten sich tiefschwarze, kahle Bäume in der kalten Brise, dahinter erhoben sich die Gipfel einer mächtigen, zerklüfteten Bergkette in der Ferne.

»Einen schönen Ausgang hat sich die Pforte gesucht!«, fluchte es in Bodennähe. Tomte Teda stapfte über den feinen Schnee, ohne einzusinken, was ihre Laune trotzdem nicht verbesserte. »Ausgerechnet auf den See der Wasserlanzen musste sie uns führen!« Sie hüpfte ein Stück voraus, wobei der Bommel ihrer roten Wollmütze heftig herumschwang, und zog ihren pelzgefütterten Filzumhang zurecht. »He, ihr da, verzieht euch! Wir sind keine Beute!«

Mühelos stemmte sie einen Eisbrocken hoch, größer als sie selbst, und schleuderte ihn meterweit nach vorn. Als das Geschoss landete, stob eine silberglitzernde Wolke empor – doch nicht aus Schnee: Auf einmal war die Luft über uns erfüllt von einem Rauschen und Klingeln wie von tausend Glasglöckchen. Ich erkannte, dass da ein Schwarm an uns vorbeizog, ein Schwarm aus … fingerlangen, menschenähnlichen Wesen, ihre Haut schneeweiß, die Schmetterlingsflügel glänzend wie Kristall.

»Silberlichtfeen«, knurrte Tomte Teda. »Hübscher Anblick, was?«

Ich konnte nur nicken.

»Bewundere sie nicht zu sehr«, sagte die Wichtelfrau streng. »Sie folgen verletzten oder kranken Lebewesen und fressen alle, die sich nicht mehr wehren können. Selbst wenn sie noch nicht tot sind.«

Wow. Tolles Empfangskomitee.

Ich kam rasch auf die Füße und griff ebenfalls nach einem Eisklumpen, um uns zu verteidigen. Doch der glitzernde Schwarm zog bereits ab, flog höher und höher in den Himmel hinauf. Ich folgte ihm mit den Augen … und spürte abermals, wie mich die Überwältigung packte.

Zum ersten Mal sah ich ihn wach und wirklich: den Himmel über Ymatàja. Einen Himmel, an dem nicht nur nachts, sondern auch am Tag das Nordlicht tanzte. Blau-grüne Schleier. Lebendige Magie.

Simàja neben mir blickte ebenfalls hinauf in den Himmel. Was dieser Moment für sie bedeuten musste! Sie war ja im Reich der Menschen geboren und betrat zum ersten Mal das Land ihrer Vorfahren. Sah es zum ersten Mal … und hörte es. Seinen Klang. Jetzt nahm ich sie auch wahr, die Melodie Ymatàjas, diese überirdisch schönen, wilden Töne, die von den tanzenden Nordlichtern zu uns herabglitten. Solange sie erklangen, war Ymatàja noch nicht ganz verloren.

Und auch für Erik gibt es Hoffnung.

Ich hielt mich an dem Gedanken fest, presste meine Hände gegen die Brust, als könnte ich ihn so wahr machen. In meinem Herzen spürte ich den Nachhall des Versprechens, das ich mir selbst gegeben hatte.

Er ist am Leben und ich rette ihn. Irgendwie.

Ich atmete ein, zittriger, als mir lieb war, füllte meine Lungen vorsichtig mit der eisklaren Luft dieser Märchenwelt. Dann schaute ich wieder zu Simàja hinüber. Sie stand und lauschte, ihre Augen voller Tränen, auf ihren Lippen ein strahlendes Lächeln. In mir wallte eine immense Freude auf, die meine Sorgen und die Angst für einen Moment überdeckte. Okay, die Reise hierher war scheiße gewesen, der Grund dafür noch schlimmer – aber in diesem einen, winzigen Augenblick kam es mir so vor, als ob es das wert gewesen war. Weil Simàja, meine Freundin, glücklich war.

»Wo ist das Kalb?« Tomte Tedas knurrige Frage riss uns aus unserer Versunkenheit.

Shit. Ritni!

Eiskalter Schreck durchfuhr mich und auch Simàjas Gesicht verzog sich bestürzt. Wir sahen uns um, suchten, riefen – kein Silberren ließ seine Hörnchen blicken. Auch Spuren fanden wir keine. Ritni war also nicht wie so oft ausgerückt, sondern einfach verschwunden.

»Ich hätte ihn besser festhalten sollen«, klagte Simàja untröstlich. »Er ist mir verloren gegangen im Eis zwischen den Welten. Wie konnte ich das nur zulassen? Dabei habe ich seiner Mutter versprochen, auf ihn aufzupassen!«

»Wir beide haben das«, murmelte ich. »Es ist genauso meine Schuld.«

»Nun hackt euch mal nicht gleich die Köpfe ab«, brummte Tomte Teda. »Silberrene brauchen keinen Führer zwischen den Welten. Das Eis hat den Kleinen schlicht an einem anderen Ort entlassen, vielleicht bei seiner Herde. Es geht ihm gut, ganz gewiss.«

»Du hast recht«, sagte Simàja, etwas aufgemuntert. »Außerdem trägt Ritni ja den Findefunken in sich. Bestimmt spürt er uns auf! Er braucht nur etwas Zeit.«

Keine von uns sprach aus, was wir wohl alle dachten: dass einem einsamen Jungtier in diesem wilden Land noch mehr Gefahr drohte, als vom Weg abzukommen. Sicher gab es hier Bären oder Wölfe … Aber ich wollte darauf hoffen, dass der kleine Kerl in Ordnung war und ich schon bald wieder sein freches Schnaufen hören würde.

Ich legte entschlossen die Hand an den Griff meines kleinen Messers – und plötzlich war es, als ob sich in meinem Kopf ein Schleier hob: unsere Mission! Schließlich waren wir hier nicht auf Sightseeingtour!

»Okay«, sagte ich. »Dann lasst uns jetzt keine Zeit mehr verlieren. Wir müssen –«

»... jemandem den Hintern aufreißen! Recht hast du, Menschlein!«, bellte Tomte Teda. »Trollverfluchter Weltensturm! Hat selbst mir einen Moment lang die Rübe verwirrt.«

»Jor. Er darf uns nicht entkommen.« Der Ausdruck in Simàjas Gesicht wurde diamanthart, als auch ihr wieder vor Augen trat, was uns so überstürzt durch das Eis geführt hatte: unsere Jagd nach ihrem Ex-Verlobten, dem ehemaligen Anführer der Wächter der Letzten Pforte.

Ich konnte es ihr nicht verübeln. Der Dreckskerl hatte uns alle belogen und manipuliert. Fast wäre es ihm sogar gelungen, Simàja und mich auseinanderzubringen, als wir gerade erst unsere Stärke und Freundschaft entdeckt hatten. Heiße Scham überfiel mich bei dem Gedanken daran, wie sehr er mich anfangs beeindruckt hatte. Wie ich, genau wie die Aelfar unter seinem Kommando, daran geglaubt hatte, dass er den Kampf gegen die Ysirka anführen wollte und dass er sich nur deshalb des magischen Glutspeers bemächtigt hatte, um sie damit zu töten. Stattdessen hatte er uns alle verraten und war durch die Pforte nach Ymatàja entkommen, um sich der Kalten Herrscherin als Getreuer anzubieten.

Doch nun war keine Spur von ihm zu entdecken.

»Hat ihn der Nebel auch woanders ausgespuckt, wie Ritni?«, fragte ich ratlos.

Tomte Teda runzelte die Stirn. »Möglich ist’s. Aber, trollverflucht, es gibt noch eine andere Option. Und an die möchte ich lieber nicht denken.«

»Was meinst du?«, fragte ich, doch Simàja kannte die Antwort.

»Der Fluss der Zeit«, sagte sie leise. »Davon sprichst du, nicht wahr, edle Tomte?«

»Shit.« Einen besseren Kommentar hatte ich nicht. Warum war mir das nicht gleich eingefallen? Schließlich hatte ich am eigenen Leib erlebt, wie anders, wie unberechenbar die Zeitströme zwischen Ymatàja und unserer Welt verliefen. Wenn ich im Klartraum zu Erik gereist war, lagen manchmal nur Minuten, dann wieder Tage oder sogar Wochen zwischen unseren Begegnungen, auch wenn in meiner Welt nur wenige Stunden vergangen waren. Hatte sich etwas Ähnliches abgespielt, als wir Jor und seiner Komplizin Vissa durch das Eis gefolgt waren? Wir hatten die Pforte nur wenige Augenblicke nach ihnen erreicht – aber vielleicht waren das bereits zu viele gewesen.

»Du denkst, er und Vissa könnten deutlich früher als wir hier angekommen sein?«, fragte ich. »Wie viel früher?«

»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Teda patzig. »Vielleicht haben sie nur ein paar Stunden Vorsprung und der Neuschnee hat ihre Spuren verdeckt. Aber vielleicht kommen wir auch ein Jahr zu spät. Egal, wir werden es nicht herausfinden, wenn wir hier rumstehen. Dann erfrieren wir nämlich – oder wir werden gekocht.« Sie schlug energisch ihre winzigen Hände zusammen. »Denn falls ihr euch gefragt habt, wie diese Eissäulen zustande kommen: Der See der Wasserlanzen liegt über einer Ansammlung heißer Quellen. Die brechen immer wieder aus, durchstoßen die Oberfläche des Sees und gefrieren an der Luft. Nettes Spektakel, wenn man’s von weit weg betrachtet. Von Nahem aber wird man …«

»Schon klar. Gekocht«, fiel ich schaudernd ein. »Also, was tun wir – ohne Spur, die wir verfolgen können?«

»Ich muss nachdenken«, brummte sie. »Erst einmal müssen wir runter vom See. Und dann dort rauf.« Sie zeigte auf einen Hügel, der sich hinter der schwarzen Baumreihe am Ufer erhob.

Weder Simàja noch ich hatten einen besseren Vorschlag. Wir nickten uns zu und ich zog meinen Rucksack zurecht – das Einzige, was mich äußerlich noch mit der Menschenwelt verband, mal abgesehen von meinem Nasenpiercing. Da der schmale Silberring nicht besonders auffällig war, bildete ich mir ein, zumindest von Weitem als Aelfa durchzugehen. Okay, meine Ohrmuscheln hatten nicht diese feine Spitze und ich war nicht überirdisch schön wie Simàja – doch sie hatte meine mausbraunen Haarsträhnen in einen fein geflochtenen Zopf verwandelt und mir diese fantastischen weißen Pelzgewänder mit den lichtblauen Stickborten geschenkt. Mit dem Hornmesser am Gürtel besaß ich sogar eine echte Aelfar-Waffe!

Simàja nahm klaglos ihr eigenes Bündel auf, das definitiv schwerer war als meins, und rückte Bogen und Köcher auf ihrer Schulter zurecht. Mit zügigen Schritten liefen wir auf das Ufer zu, vorbei an unzähligen Säulen aus erstarrtem Quellwasser. Manche reichten mir kaum bis zur Hüfte, andere streckten sich baumhoch dem tiefblauen Himmel mit den tanzenden Lichtern entgegen. Ein fantastischer Anblick – doch ich wollte mir lieber nicht ausmalen, wie es war, wenn sich plötzlich das Eis unter unseren Füßen öffnete und ein Schwall kochenden Wassers aus den Tiefen der Erde emporschoss …

Zum Glück erreichten wir das Ufer ohne Zwischenfall. Wir stapften die flache Böschung hinauf, wo sich vergilbte Schilfbüschel unter ihren Schneehauben duckten, und liefen hinein in den Wald. Simàja und ich staunten über die Bäume – ihre schlanken Stämme waren tiefschwarz, doch eindeutig nicht durch ein Feuer verkohlt. Das dunkle Holz war überzogen mit kristallweißen Punkten, die im Sonnenlicht glitzerten wie Sterne.

»Nachtbirken«, erklärte Tomte Teda uns Neulingen in diesem magischen Land. »Ihr müsstet sie erleben, wenn die Zweite Jahreszeit beginnt. Der würzige Duft ihrer Rinde, die zartgrünen Blätter! Wenn der Wind hindurchfährt, klingt es fast wie Gesang. Und«, sie grinste uns an, »Nachtbirkenwasser ist auch nicht zu verachten. Jedenfalls wenn man es ein bisschen vergären lässt. Das Beste am Sommer, wenn ihr mich fragt!«

Ich lachte. Tomte Teda und ihre Drinks! Wenn sie in Ymatàja schon auf den geliebten Kaffee verzichten musste, gab es wohl anderes, mit dem sie sich trösten konnte. Auch wenn niemand wusste, ob es hier je wieder eine Zweite Jahreszeit geben würde. Schließlich hatte die Herrschaft der Ysirka das Land in ewigen Winter gestürzt …

Ein ohrenbetäubendes Geräusch hinter uns riss mich brutal aus meinen Gedanken. Wir fuhren herum – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie nicht weit vom Ufer entfernt die gefrorene Decke des Sees aufriss. In einer Wolke aus Sprühnebel schoss eine Wasserfontäne empor, fauchend wie ein Drache. Eisbrocken wurden hinaufgeschleudert, prasselten nieder, ein paar erreichten sogar das Ufergestrüpp. Doch schon forderte die kalte Luft ihren Tribut: Die Fontäne erstarrte. Nur wenige Augenblicke waren vergangen und der See der Wasserlanzen hatte eine Säule mehr. Über unseren Köpfen stob ein glitzerndes Klingeln dahin – offenbar hatte die Eruption einen weiteren Schwarm Silberlichtfeen aufgescheucht –, dann war alles still bis auf das ferne Knirschen und Knacken des gefrierenden Wassers.

Vorsichtig wagte ich, wieder Atem zu holen. Auch Simàja neben mir starrte wie hypnotisiert auf den See.

»Krass, oder?«, krächzte ich zu ihr hinüber. »Genau da sind wir gerade lang …«

»Jemand kommt.« Sie sagte es ganz nüchtern. »Dort hinten, über den See. In unsere Richtung. Und schnell.«

»Hmpf. Aelfar-Augen.« Ein Schnaufen Tomte Tedas. »Hebt mich hoch, na los!«

Ich strengte meine Augen an, die ohnehin schon vor Kälte tränten. Zuerst sah ich nichts außer den verformten Eissäulen, die sich auf dem ganzen langen See wie bizarre Baumstümpfe erhoben. Aber dann, mit äußerster Mühe, entdeckte ich …

Da bewegt sich was. Ein dunkler Punkt. Nein, nicht einer … viele …

»Elvy«, sagte Simàja gepresst. »Du hast sie doch im Klartraum beobachtet. Wie sehen sie aus – die Frostkrieger?«

Wir rannten. Rannten, so schnell wir konnten, durch den lichten Wald, vorbei an den schwarz glitzernden Stämmen der Nachtbirken. Tomte Teda klammerte sich an meinem Pelzkragen fest und trieb mich an. Uns saßen die dunklen Krieger der Ysirka im Nacken.

Schockiert hatten wir erkannt, dass unsere Froststerne uns offenbar nicht vor ihnen verbargen – zu zielsicher hielt die Patrouille auf uns zu.

Also rannten wir, denn eins war klar: Einem Trupp dieser Soldaten, angetrieben durch dunkle Magie, hatten wir in einem Kampf rein gar nichts entgegenzusetzen. Unsere einzige Hoffnung war, dass sie nicht auf Geheiß der Ysirka hinter uns her, sondern zufällig auf uns gestoßen waren. Vielleicht würden sie aufgeben, weil wir keine lange Verfolgungsjagd wert waren.

Weiter, weiter durch den staubfeinen Schnee, der vor allem mir jeden Schritt schwerer machte und für eine entsetzlich sichtbare Spur hinter uns sorgte. Immer wieder mussten wir gewaltige Felsbrocken umrunden. Wenigstens standen die Bäume nicht sehr dicht und auch das Unterholz ließ sich gut durchqueren – dafür stieg der Boden nun leicht an. Simàja lief unermüdlich und leichtfüßig voraus, blieb aber in meiner Nähe, obwohl sie mich bestimmt locker hätte abhängen können. Ich versuchte keuchend, Schritt zu halten – und nicht zu überlegen, ob ich an ihrer Stelle genauso tapfer gehandelt hätte.

»Bleib stehen!«, zischte Tomte Teda schließlich, als wir gerade einen besonders großen Felsen zwischen uns und unsere Verfolger gebracht hatten. Simàja runzelte die Stirn, ich aber gehorchte dankbar. Vollkommen außer Atem lehnte ich mich gegen den Felsen. »Simàja, halt Ausschau und lausch«, befahl Teda. »Kommen sie uns noch nach?«

Bitte nicht, bitte nicht …

Mein hoffnungsvolles Flehen hielt keine zwei Sekunden. Simàja lugte nur kurz um den Felsen herum und zuckte sofort wieder zurück. »Sie verfolgen uns gezielt, kein Zweifel«, wisperte sie. »Ich kann hören, wie sie näher kommen. Und sie haben Rentiere.«

»Trollverflucht! Gut, dann eben so …« Teda richtete sich auf meiner Schulter auf und legte beide Hände auf den rissigen, vereisten Felsen. Ihr Winterapfelgesicht legte sich in tiefe Falten, ihre Augen schienen zu glühen. Ich hielt die Luft an. Was kam jetzt? Ein neuer Zauber?

Doch schon ließ die Wichtelfrau die Hände sinken. Tiefe Bestürzung malte sich in ihre Züge. »So schlimm steht es? Nichts mehr da?«

»Was ist, edle Tomte?«, fragte Simàja beunruhigt. »Versuchst du, eine Erdquelle für deine Magie zu wecken, um uns zu verbergen?«

Die Wichtelin auf meiner Schulter nickte grimmig. »Oder um denen eins auf den Pelz zu brennen. Nur ist da nichts mehr. Zauberkraut!«

Ich sah, wie die beiden einen Blick tauschten … und selbst mein Menschenkopf verstand, was Sache war. Ich hatte Tedas Lektion nicht vergessen – dass jeder Bewohner Ymatàjas, jeder »Unsichtbare« ein bisschen eigene Magie in sich trug, dass man für große Zauber aber eine Quelle anzapfen musste. Eine der Quellen, wie sie in Ymatàja eigentlich überall zu finden gewesen waren, in der Erde, alten Bäumen oder eben im Fels. Sogar in die Menschenwelt waren ein paar dieser magischen blau-grünen Funken durchgesickert. Ich hatte sie selbst bei uns gesehen, verdammt, in der Rinde von Svaltis Fichte … und in den Eiswänden der Schneefeste in meinen Klarträumen. Ich wusste, dass die Ysirka die Magie Ymatàjas an sich gerissen hatte, dass sie das Land ausgepresst hatte, und Tomte Teda wusste das auch – nur dass rein gar nichts mehr geblieben war, das hatte sie wohl nicht glauben wollen.

»Versteh ich das richtig, wir brauchen Magie, um eine Chance gegen die Kerle zu haben – es gibt aber keine?«, fragte ich. »Und was jetzt? Rufen wir den Zauber-Lieferservice?« Es kam pampiger heraus, als ich gewollt hatte, aber die Angst machte mich wütend.

Tomte Teda ging es offenbar genauso, denn sie raunzte zurück: »Spar dir die Luft fürs Laufen, Menschenplage! Eine letzte Hoffnung bleibt uns: der Runenstein-Hügel. Also heb deine Beine und renn!«

Ich verlor keine Zeit mit weiterem Gemecker. Zu deutlich stand mir die Erinnerung an die dunkle, endlose Armee der Frostkrieger in den Tiefen der Schneefeste vor Augen. Auch Eriks Nähe hatte mir die Angst vor den starren Gestalten in ihren Rüstungen aus schwarzem Eis damals nicht nehmen können … erst recht nicht, weil ich wusste, dass in jedem Frostkrieger die geraubte Seele eines Menschen aus unserer Welt steckte.

Also rannte ich, rannte und keuchte und stolperte Simàja hinterher, den immer steiler ansteigenden Hang hinauf. Die Bäume und das Unterholz lichteten sich – doch der Gipfel war noch lange nicht in Sicht, als ich das erste Mal fiel.

Mist, elender! Ich war einfach keine Sportskanone, aber noch nie war es mir so schmerzhaft, so verzweifelt deutlich geworden wie jetzt.

Ich stemmte mich hoch unter den besorgten Blicken Simàjas, doch schon wenige Meter weiter stürzte ich erneut. Wieder blieb sie stehen, wartete auf mich, während selbst meine Menschenohren nun hören konnten, dass im Wald hinter uns Zweige brachen und Schnee knirschte unter dem Gewicht voranpreschender Reiter.

Simàja half mir. Zurück auf zitternde Storchenbeine, die einfach nicht mehr konnten.

Ich halte sie auf. Der Gedanke stieg in mir hoch, klar und gnadenlos. Ohne mich können sie entkommen, sie und Tomte Teda.

»Ist schon gut, lauf vor«, presste ich heraus, ohne Simàja anzusehen. »Ich … ich komm hinterher, ich –«

»Sei still.« Sie sagte es ganz leise. »Ich lasse dich niemals zurück, Schneeschwester.« Damit schlang sie sich meinen Arm um die Schultern, stemmte ihre Hüfte in meine Seite und zog mich mit sich.

Ich hielt verbissen Schritt, zu berührt von ihrer selbstlosen Aktion, um Widerstand zu leisten. Keine Ahnung, woher ich die Kraft nahm. Keine Ahnung, wie Simàja das schaffte. Einen Fuß vor den anderen, weiter, weiter. Vor uns ein grauer Schatten mit roter Bommelmütze, Tomte Teda, die über den Schnee hüpfte und uns antrieb mit allem, was sie an Flüchen und Ermutigungen parat hatte.

Hinter uns erklang jetzt ganz deutlich das Stampfen von Rentierhufen und das Klirren von Waffen. Als wir die letzten dürren Bäume hinter uns ließen, wagte ich einen Blick zurück – und wollte schreien, doch mir fehlte die Luft dazu.

Denn da waren sie, knapp hundert Meter hinter uns. Frostkrieger, ein halbes Dutzend. Ihre Schuppenpanzer glänzend wie schwarzes Eis, die Gesichter hinter den Helmöffnungen blass und starr. Erfroren. Kein Laut, kein Befehl erklang, doch wie ein Mann zügelten sie ihre Reittiere und sprangen ab, um uns zu Fuß weiter zu verfolgen. Der Weg wurde zu steil und zu felsig für die Rene. Obwohl die Tiere vermutlich gehorcht hätten – auch sie standen sicher willenlos im Bann der Ysirka …

»Weiter, weiter!«, schrie Tomte Teda. »Nur noch ein paar Schritte!«

Simàja riss mich weiter über den vereisten, steinigen Grund, das letzte Stück Hang hinauf, zum Gipfel. Wir taumelten zwischen zwei aufrecht stehenden Felsen hindurch, dann sackten mir endgültig die Beine weg und auch Simàja konnte sich nicht mehr halten. Wir stürzten zu Boden, das Stampfen der gepanzerten Stiefel nur wenige Meter hinter uns.

Jetzt haben sie uns!, schrie es in mir. Wir sind geliefert, es ist aus!

Doch nichts geschah. Kein Speer traf uns, keine eisige Hand griff nach mir. Als ich mich mühsam aufrichtete und umdrehte, erblickte ich Tomte Teda, die wie ein grau-roter Hahn zwischen den beiden Felsen herumstolzierte, sich triumphierend in die Brust warf und krähte: »Jawoll! Dagegen kommt ihr nicht an, was, ihr Eisfressen?! Runensteine, Schutz allen Lebens! Na los, verzieht euch, husch!«

Keine zwei Meter vor ihr ragten die düsteren Gestalten der Frostkrieger in die Höhe. Der vorderste hatte seine Axt erhoben, eine lange Waffe mit grausam gezackter Spitze, die jeden von uns mit einem Schlag gefällt hätte … doch der Krieger senkte sie langsam und ging keinen Schritt weiter. Seine blassen, erfrorenen Augen musterten seine winzige Herausforderin und die Steine. Dann, ohne erkennbare Regung, drehte er sich um und marschierte den Hang wieder hinab. Die anderen folgten ihm.

»Und bleibt weg!«, brüllte Tomte Teda ihnen nach. Zufrieden rieb sie sich die Hände und kam zu uns herüber. Wir hatten uns inzwischen aufgerappelt und sahen ihr fassungslos entgegen. »Runensteine«, antwortete sie auf die Frage, die sie wohl in unseren Gesichtern las, und deutete mit vielsagender Geste umher. »Geschaffen aus dem Herzblut Ymas, unserem Weltenbaum. Die Ysirka mag ihn zerstört haben, aber hier wirkt sein Zauber noch immer.«

Ich sah mich um. Wir waren nicht einfach zwischen zwei Felsen hindurchgefallen, wie ich geglaubt hatte – auf dem Gipfel dieses Hügels befand sich eine ganze Reihe davon. Sieben Steine aus purem, uraltem Bernstein, wie ich vermutete, mannshoch und in einem Kreis aufgestellt. Wo der Schnee ihre goldbraune Oberfläche freiließ, erkannte ich verschlungene Muster, Linien und Punkte, die eine unbekannte Hand hineingeschlagen hatte. Muster, die mich ganz stark an die Tätowierungen im Gesicht und auf den Händen der Aelfar erinnerten … und an die Wandverzierungen in Eriks Gemächern in der Schneefeste.

»Mhm«, brummte Tomte Teda, während sie umherstapfte und unsere Zuflucht inspizierte, »wenigstens das ist noch so, wie es sein soll. Die alten Steine wehren sich gegen die Macht der Ysirka. Die hat sie noch nicht aussaugen können, oh nein!« Sie klopfte auf einen der mächtigen Blöcke, wie Simàja ihre Rentiere tätschelte. »Durch diesen Schutzring kommen ihre Schergen nicht. Also sind wir erst einmal in Sicherheit.«

»Nur werden sie uns nicht entkommen lassen«, murmelte Simàja, die neben Teda getreten war und durch die Öffnung zwischen den Steinen blickte. »Sie verteilen sich. Umzingeln uns am Fuß des Hügels.«

»Wollen sie warten, bis wir aufgeben? Oder … erfroren sind?« Ich hasste es, wie jämmerlich meine Stimme klang. Aber ein Blick in Tedas und Simàjas Gesichter zeigte mir, dass ich richtiglag: Schön und gut, dass die Frostkrieger nicht in den Steinkreis eindringen konnten – nur hatten wir keine Chance, ihnen unbemerkt zu entkommen, und bei dieser Kälte würden wir hier oben nicht lange durchhalten.

»Vielleicht planen sie noch Schlimmeres«, sagte Simàja beklommen. »Da: Einer von ihnen reitet davon. Was haben sie vor?«

»Durch Rumstehen und Jammern wird jedenfalls nichts besser«, rief Tomte Teda. »Auf! Macht euch nützlich und sucht! Runensteinkreise sind seit jeher Schutz- und Rastplätze, also muss es hier irgendwo einen Vorrat an Brennholz geben.«

Wir gehorchten. Und tatsächlich: Am Fuße eines der Steine entdeckte ich nach etwas Graben einen zugeschneiten Stapel Äste.

»Hier!«, rief ich triumphierend. »Ich hab das Holz!«

»Ich habe auch etwas gefunden.« Der Klang von Simàjas Stimme ließ mich herumfahren. Sie stand auf der anderen Seite des Kreises, ihre Augen starr auf einen Punkt zu ihren Füßen gerichtet.

Ich lief zu ihr. Im ersten Moment dachte ich, dass sie einen weiteren Asthaufen freigelegt hätte. Doch es war kein Holz. Es war ein Skelett. Nicht menschlich, zum Glück – irgendein großes Raubtier, die Knochen blank und hell.

»Ein Felsenluchs«, brummte es auf Höhe unserer Stiefel. Tomte Teda war herangekommen und stocherte zwischen den Knochen herum.

Simàja und ich wechselten einen beunruhigten Blick.

»Denkst du«, begann ich, »denkst du, es war …«

»Vissa.« Teda hielt ein Büschel Fell hoch. Schaudernd erkannte ich, dass es das oberste Stück eines Luchs-Pinselohrs war – das Fell grau, aber die Spitze blutrot. Ja, genauso hatten Vissas Ohren in ihrer Luchsgestalt ausgesehen.

»Dann hat sie ihre Verwundung nicht überlebt«, murmelte Simàja. Ihr schönes Gesicht war so weiß wie der Schnee. »Ich bin schuld an ihrem Tod.«

»Das weißt du nicht«, meinte Tomte Teda. »Ein Pfeil ins Bein muss nicht tödlich enden.«

»Du hattest keine Wahl«, ergänzte ich und umarmte Simàja. »Du wolltest mich retten. Und sie hat Silla umgebracht.«

Simàja schien wenig getröstet. »Wie lange sie wohl schon hier liegt?«, fragte sie tonlos.

»Schwer zu sagen.« Tomte Teda ließ das Fellbüschel fallen und zog nachdenklich die buschigen Augenbrauen zusammen. »Die Silberlichtfeen haben ganze Arbeit geleistet. Kann drei Tage her sein, eine Woche oder mehr. Wir sind so klug wie zuvor.«

Vor sich hin brummelnd, stapfte sie ein paar Mal um das Skelett herum, während wir ratlos zusahen.

Simàja senkte den Kopf. »Sie war nicht meine Freundin«, flüsterte sie. »Aber ich glaube, wir hätten keine Feindinnen sein müssen. Geh mit Sonne und Wind, Vissa Felsenluchs. Ich hoffe, sie tragen dich in eine glücklichere Welt.«

Lange standen wir nebeneinander vor dem bisschen, was von der stolzen Aelfa übrig geblieben war. Die Sonne beschien den Schnee zwischen den bleichen Knochen, der Wind verfing sich in glitzernden kleinen Wirbeln darin. Ob die Elemente wirklich die Macht besaßen, Seelen in die nächste Welt zu geleiten? Ich wusste es nicht, aber so unerwartet dem Tod zu begegnen, brachte mich noch mehr aus dem Gleichgewicht, als ich es sowieso schon war. Simàja ging es sicher nicht anders.

»Und was sollen wir nun tun, edle Tomte?«, fragte sie schließlich.

Die Wichtelin schüttelte den Kopf, dass ihre grauen Locken und der rote Bommel nur so wackelten. »Kaffee kochen, Kindchen. Sag mir bloß nicht, du hast keinen mitgebracht.«

Simàja und ich glotzten sie an. Und dann, obwohl alles so düster und trostlos schien, schlich sich ein kleines Lächeln in unsere Gesichter.

Eine Viertelstunde später zog vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte Ymatàjas der Duft von frisch gekochtem Kaffee durch die Winterluft. Wie sich herausstellte, war Simàja gut vorbereitet gewesen, als sie Jor hinterhergeeilt war, um mich zu befreien. Kein Wunder, wie sie mir verriet, denn trotz des Verbots ihres Großvaters hatte sie heimlich beschlossen, mich nach Ymatàja zu begleiten. Und so befanden sich in ihrem Bündel nicht nur die Rentierfelle, die uns bereits im Schneesturm der Menschenwelt vor dem Kältetod bewahrt hatten und uns jetzt als Sitzplatz dienten, sondern auch ein Kupferkessel, eine Notration Brocha und vor allem: der kleine Lederbeutel mit echtem Menschenkaffee, den Simàja an ihrem strengen Großvater vorbei ins Aelfar-Lager geschmuggelt hatte. Auch ein Funkenwicht hatte mitreisen dürfen, wohl verwahrt in einer kurzen Röhre aus Rentierhorn, die Simàja um den Hals trug. Der Holzvorrat, den ich entdeckt hatte, würde nicht reichen, um uns durch die Nacht zu bringen, so viel war selbst meinem Großstadtkind-Hirn auf den ersten Blick klar – aber für ein Lagerfeuer zur Hebung der Truppen-Moral genügte es.

Wir wärmten unsere Bäuche also erst mit der würzigen Brocha-Fleischbrühe und gönnten uns dann einen Kaffee zum Dessert, ergänzt durch je eine Kugel Schokolakritz aus der Packung, die mein Vater mir als Geburtstagsüberraschung in der Jackentasche versteckt hatte – in der Menschenwelt, vor einer gefühlten Ewigkeit.

Oh Mann, Papa, seufzte ich insgeheim. Und du denkst, ich bin brav auf einer Schulexkursion …

Ich ließ mir den süßlich-herben Geschmack der Lakritzkugel auf der Zunge zergehen und beobachtete dabei, wie Simàja ihre Portion genoss. Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu und ich musste grinsen. Beim ersten Kosten hatte sie die Süßigkeit beinahe angewidert ausgespuckt – inzwischen war sie wohl bekehrt.

»So. Und was fangen wir nun wirklich an?«, fragte ich, als ich mich wieder etwas handfester fühlte. »Es wird langsam dunkel und mir ist jetzt schon saukalt. Haben wir echt keinen anderen Plan, als hier oben zu Eiszapfen zu werden?«

Tomte Teda, die sich gerade schamlos den letzten Kaffee nahm, warf mir einen strengen Blick zu. »So schnell wird man nicht zum Eiszapfen, wenn man sich auskennt. Wenn wir uns eine Schneehöhle bauen, schaffen wir es vermutlich bis zum Morgen … aber ich fürchte, so viel Zeit lassen uns die Eisfressen nicht. Simàja, du hast doch vorhin bemerkt, dass einer von ihnen fortgeritten ist, richtig?«

Meine Freundin antwortete mit einem Aelfar-Nicken – sie wiegte den Kopf hin und her. Die Flechtsträhnen in ihrer Stirn und die langen schwarzen Zöpfe, die ihr ovales Gesicht einrahmten, begleiteten die Bewegung in perfekter Anmut.

»Du glaubst, sie wollen uns angreifen?«, fragte ich unruhig. »Ich dachte, die Steine schützen uns!«

»Nicht vor allem«, erwiderte unsere Wichtel-Trainerin düster.

»Meinst du etwa …«, ich schluckte, »denkst du, sie holen die Ysirka?«

»Die wird sich kaum für uns herbemühen«, winkte Teda ab. »Aber irgendeine Trollerei hecken sie aus. Wir sollten besser nicht hierbleiben, um das herauszufinden.«

»An den Frostkriegern kommen wir allerdings nicht vorbei«, warf Simàja ein. »Auch nicht im Schutz der Dunkelheit und selbst dann nicht, wenn sie ein Mann weniger sind. Meine Pfeile haben zwar Hornspitzen, doch diese Eisrüstungen durchdringen sie nicht.«

»Können wir einen Bannkreis versuchen?«, schlug ich vor. »Simàja und ich sind mittlerweile echt gut darin und –«

»Was, willst du eine ganze Horde Frostkrieger bannen?«, unterbrach mich Tomte Teda. »Ihr seid gut, Mädchen, aber für so etwas reicht eure Magie noch lange nicht.«

»Und was ist mit deiner Vogelpfeife?«, fragte ich. »Kannst du damit nicht ein cooles Lufttaxi für uns rufen? Riesenadler oder so was?«

Jetzt schaute sie mich an, als ob ich ernsthaft einen an der Waffel hätte. »Es gibt keine ›Riesenadler‹ in Ymatàja«, knurrte sie. »Jeder Vogel, den ich rufen könnte, wäre gerade mal stark genug für mich selbst. Bring mich bloß nicht auf dumme Ideen, Menschlein. Ich lasse euch nicht allein und irgendetwas wird uns schon einfallen.«

»Auch wenn wir entkommen – wie soll es weitergehen?«, sagte Simàja bedrückt. »Wir wollten Jor daran hindern, der Ysirka den Glutspeer zu bringen. Was, wenn ihm das längst gelungen ist? Wenn sie ihn zur Belohnung zum Frostprinzen gemacht hat, wie er es beabsichtigt hat? Dann ist alles zu spät und es ist meine Schuld. Weil ich blind war.«

Ich wollte mir nicht ausmalen, wie es in ihr aussehen mochte. Schließlich hatte Jor ihr die große Liebe vorgespielt – nur um sie mit seiner Komplizin Vissa zu betrügen und am Ende alle zu verraten. Zwar hatte Simàja die Verlobung per Pfeilschuss aufgelöst, aber das half ihr wohl wenig.

»Blödsinn, er hat uns alle getäuscht«, versuchte ich, sie zu trösten. »Und ich glaube nicht, dass sein Plan Erfolg hatte. Hieß es nicht, die Ysirka braucht nur noch den Frostprinzen zu ernennen, um endgültig die Macht in Ymatàja zu übernehmen und in die Menschenwelt durchzubrechen? Ist bisher nicht passiert, oder? Ich glaub, das hätten wir gemerkt.« Ich zwinkerte ihr zu, aber mein schwacher Witz zeigte keine Wirkung.

Auch Tomte Teda schnaufte nur. Dann sah sie düster zum Himmel empor, an dem die grün-blauen Schleier der Aurora inzwischen deutlich heller strahlten. »Die Nacht kommt. Kein noch so schlauer Plan wird uns vor der Kälte retten, wenn wir weiter herumsitzen. Wir müssen schnellstens die Schneehöhle bauen, sonst –«

»Machn du da?«

Wir fuhren zusammen. Vom Rand des Steinkreises her war eine Stimme ertönt. Teda kam blitzschnell auf die Füße, auch ich sprang auf. Simàja stand längst, in der Hand ihren kurzen Dolch mit der Hornklinge.

Doch keine Bedrohung war zu sehen. Stattdessen hörten wir ein zweistimmiges, helles Kichern. Dann flog ein Schneeball hinter dem nächsten Runenstein hervor und knallte genau gegen Tedas Kaffeebecher.

»Volltreffer! Gewonnen!«

Tedas empörter Schrei ging in Siegesjubel unter, und bevor eine von uns reagieren konnte, kullerten zwei dunkelgraue Bündel die Schneewehe neben dem mächtigen Bernstein herunter, direkt auf uns zu.

Kurz vor unserem Lagerfeuer kollidierten sie miteinander, blieben liegen und entrollten sich. Zum Vorschein kamen zwei etwa kniehohe Gestalten in Latzhosen und Westen, ihre Kleidung so staubgrau wie ihre furchige Haut. Hinter ihren Beinen schaute ein kurzer Schwanz mit pelziger Quaste hervor. Kopf und Rücken zierte eine wilde Wuschelmähne aus schwarzem Fell und aus ihren Gesichtern – irgendetwas zwischen Kleinkind und Greis – blickten uns große goldene Augen neugierig an.

»Machn du da?«, erklang es erneut.

»Oh nein!«, stöhnte Tomte Teda voller Inbrunst. »Das hat uns gerade noch gefehlt! Grautrolle!«

Simàja schien längst nicht so widerwillig. »Das also sind Grautrolle? Davon hat man mir schon viel erzählt!«

»Nur Schlechtes, ganz sicher!«, knurrte Teda unheilvoll.

Fasziniert ließ Simàja sich auf die Knie nieder, um die beiden Neuankömmlinge besser mustern zu können.

»Hübsches Ding!« Prompt nutzte der eine Troll die Gelegenheit, um an ihren Zöpfen zu ziehen, der andere grapschte nach dem Funkenwicht-Rohr, das um ihren Hals hing. »Meins!«

»He! Nicht!« Vergeblich versuchte Simàja, sich zu befreien, bis ich die beiden Nervzwerge beherzt an ihren Schwänzen packte und von ihr weg in den Schnee schleuderte.

Das störte sie leider kein bisschen, denn sie krähten begeistert und stürzten wieder heran. »Noch mal!«

Schon klammerten sie sich an meine Beine, einer rechts, der andere links, ich trat um mich, hüpfte – umsonst.

Da explodierte auf einmal ein Schwarm glitzernder Funken um uns herum.

»Schluss jetzt!«, donnerte Teda.

Das wirkte. Die kleinen Grautrolle ließen mich los, rutschten zu Boden und glotzten die Urheberin des magischen Knallerbsenregens staunend an.

Ein paar Herzschläge lang war alles still.

»Noch mal?«, versuchte es dann einer der beiden hoffnungsvoll.

»Nichts da!«, blaffte Tomte Teda ihn an. »Wenn ihr jetzt nicht Ruhe haltet, rufe ich den Großen Grauen herbei, der frisst euch Trollkinder mit Haut und Haar! Er hört auf Tomtes, das wisst ihr!«

Noch weiter rissen sie ihre goldenen Augen auf – die Münder aber klappten sie zu.

»Alles in Ordnung bei euch?«, fragte Teda streng in unsere Richtung.

Simàja und ich sahen uns an. Da überlegten wir, wie wir gegen die Frostkrieger bestehen konnten, und ließen uns kalt von solchen Winzlingen erwischen! Peinlich berührt nickten wir, jede von uns auf ihre Art.

Tomte Teda nickte zurück, dann fixierte sie das kleine Überfallkommando, das nun ganz brav vor ihr stand. »Fein. Jetzt macht euch wieder vom Acker, Trollplagen.« Etwas versöhnlicher setzte sie hinzu: »Wird bald gefährlich hier. Habt ihr die Frostkrieger nicht gesehen?«

Schon waren die zwei wieder obenauf. »Kriegen uns nicht, die Eisfressen!«, krähten sie. »Zu groß! Zu lahm!«

Derart von sich selbst ermutigt, hüpften sie hoch und schlugen sich auf die Brust. Der rechte verkündete: »Ich bin Nuk! Das ist meine Schwester Nîm!«

»Er ist mein Bruder!«, ergänzte Nîm hilfreich. »Aber ich bin größer!«

»Gar nicht!« Ihr Bruder zog an ihren Haaren, die hier und da zu Zöpfen gebändigt waren, wie ich nun erkannte. Seine Schwester antwortete mit einem handfesten Tritt und prompt brach eine Keilerei aus.

Simàja und ich guckten hilflos zu, während Tomte Teda sich leidgeprüft die Schläfen rieb. Die Meinungsverschiedenheit war aber wohl nicht groß, denn nur Augenblicke später hörten die beiden auf – um nahtlos und mit schief gelegten Köpfen wieder zum Gesprächsanfang zurückzukehren. »Machn du da?«

Okay, mittlerweile verstand ich genau, was Tomte Teda gegen diese Grautrolle hatte: Sie nervten.

Simàja allerdings schien ein besseres Herz zu besitzen als wir. Oder mehr Geduld. Freundlich – aber ohne sich abermals zu tief hinabzubeugen – antwortete sie den beiden: »Ich bin Simàja vom Bernstein-Clan. Das sind Tomte Teda und Elvy Langspeer. Wir sind leider in einer misslichen Lage. Die Frostkrieger dort unten belagern uns. Entweder wir erfrieren hier oder wir fallen ihnen in die Hände. Wir brauchen einen Fluchtweg, wissen aber keinen.«

»Wir schon!« Die beiden Grautrollkinder krähten es gleichzeitig.

»Schwachsinn!« – Das hatte ich erwartet, von Tomte Teda zu hören. Stattdessen sah ich ungläubig, dass sich ihre Stirn nachdenklich runzelte.

»Liegt er etwa hier oben auf dem Hügel, euer Eingang?«, fragte sie.

»Ja! Na klar!«, kam die großspurige Antwort. Dann aber zog Nîm ihren Bruder Nuk kurz an der Weste beiseite und die beiden steckten die Wuschelköpfe zusammen.

Ich tauschte einen Blick mit Simàja. Was sollte das jetzt wohl? Und von welchem Eingang war die Rede?

»Tomte Teda, was –« Ich kam nicht dazu, meine Frage auszusprechen, denn in diesem Moment packte Simàja mich am Arm und deutete zwischen den Steinen hindurch den Hang hinab.

Ich folgte ihrem Finger mit den Augen und sog scharf die Luft ein. Im Wald am Fuß unseres Hügels herrschte bereits das dunkelblaue Zwielicht der Winterdämmerung. Doch die Luft war so klar, dass ich auch ohne Aelfar-Augen sah, wie sich Lichter zwischen den kahlen Bäumen hindurch näherten. Zahlreich und schnell waren sie – und golden wie die Harzflammen, die ich in der Schneefeste gesehen hatte. Fackeln? Die Fackeln weiterer Frostkrieger?

Ich schaute Simàja fragend an, sie antwortete mit einem grimmigen Menschennicken.

Rasch drehten wir uns wieder zur Mitte des Steinkreises um. Was immer die Grautrollkinder anbieten wollten, wir mussten es schnell herausfinden.

»Wir kriegen Gesellschaft«, kündigte ich an. »Oder vielmehr, die da unten. Was ist jetzt mit diesem ›Eingang‹?«

»Ihr könnt mit in unsere Tunnel«, erklärte Nîm. »Aber wir wollen ein Geschenk.«

»Ein großes!«, ergänzte ihr Bruder. »Und keine Tricks! Ohne uns findet ihr den Eingang nie!«

Tomte Teda winkte ab. »Alles Unsinn. Euer Eingang nützt uns nur, wenn er hier im Steinkreis ist. Ist er aber nicht.«

»Isser wohl!«, blökte Nuk empört und hüpfte zu dem mächtigen Bernstein, neben dem die beiden anfangs aufgetaucht waren. »Genau hier, guck!« Triumphierend räumte er etwas Schnee weg und offenbarte ein Loch, das wohl in die Tiefen der Erde führte. Dann merkte er, was er getan hatte.

Seine Blödheit trug ihm einen weiteren Tritt seiner Schwester ein, während ich mir ein Prusten nicht verkneifen konnte.

Auch Simàjas Mundwinkel zuckten und Tomte Teda grinste zufrieden vor sich hin.

»Egal!«, rief Nîm herausfordernd und stellte sich breitbeinig vor den Eingang. »In Trolltunnel kommt man nur mit einem Troll! Also: Geschenk!«

»Das ist doch eh viel zu klein für uns«, sagte ich.

Simàja schaute hoffnungsvoll zu Tomte Teda. »Bietet uns der Steinkreis noch genug Magie für einen Übergang?«

»Könnte reichen«, knurrte die. »Aber wenn wir sie ihm nehmen, schwindet sein Schutz, vielleicht für immer. Und, Zauberkraut noch eins! Wir würden uns in Trollhände begeben! Denen ist nicht zu trauen!«

»Ich glaub nicht, dass wir die Wahl haben«, warf ich nach einem hektischen Blick zum Fuß des Hügels ein. Die Frostkrieger hatten offensichtlich einen Plan gefasst. Zahlreiche Gestalten tauchten aus dem Unterholz auf, ihre schwarzen Eispanzer und Waffen schimmerten im Fackelschein. Sie scharten sich um einen besonders großen Krieger. Ich konnte ihn nicht gut erkennen, aber sein Helm schien bestückt mit silbrig-weißen Spitzen, wie Eissplitter. Ihr Anführer?

Auch Simàja hatte das Geschehen beobachtet, stand aber anders als ich nicht wie erstarrt herum, sondern warf bereits Schnee auf unser Feuer und raffte unser Gepäck zusammen.

»Wir dürfen nicht zögern«, rief sie uns zu und drückte mir meinen Rucksack in die Hand.

»Geschenk!«, tönte es wieder vom Fuß des Runensteins.

»Edle Tomte?«, fragte Simàja drängend.

Die edle Tomte rang sichtlich mit sich und ihrer Abneigung gegen alles Trollige – aber sie sah genau wie wir, was dort unten vor sich ging. Einige der Frostkrieger schwärmten aus, die anderen formierten sich zu einem Stoßtrupp.

Wo ist der Kerl mit dem Eissplitter-Helm? Verdammt, ich hatte ihn aus den Augen verloren, dabei war er mir besonders gefährlich vorgekommen!

»Also gut«, knurrte Tomte Teda. »Wir nehmen an. Sucht euch ein Geschenk aus. Mädels, zeigt ihnen unseren Kram.«

»Du meinst, Simàjas und meinen Kram«, präzisierte ich säuerlich – doch mir war klar, wie sinnlos es war, in unserer Situation auf Besitzverhältnissen herumzureiten. Wenn selbst unsere Auskenner-Tomte vor den Forderungen dieser kleinen Biester einknickte, ging es eindeutig um Regeln, die man nicht brechen durfte.

Widerwillig öffnete ich meinen Rucksack. Schon stürzten sich Nuk und Nîm darauf und begannen, darin herumzuwühlen – ebenso in Simàjas Bündel. Deren Sachen interessierten sie leider kein bisschen. Mein Menschenkram dagegen sorgte für einen Entzückensschrei nach dem nächsten. Mühsam versuchte ich, ihre grapschenden kleinen Hände im Zaum zu halten und vor allem mein Handy und Gerdas Skizzen vor ihnen zu bewahren. Eriks Brille und der Zwiering befanden sich zum Glück immer noch sicher in den Taschen meines Gewands.

»Nun los doch, sucht euch etwas aus!«, drängte Tomte Teda.

»Das!«, schallte es zurück – und ich konnte es nicht fassen: Die kleinen Mistviecher hielten tatsächlich meinen Laptop hoch!

»Nichts da!«, protestierte ich wütend und wollte ihnen das Teil entreißen – aber so klein die Grautrolle auch waren, so kräftig wehrten sie sich.

»Das! Das! Das!«, schrien sie im Chor.

»Nun lass es ihnen schon!«, schnaubte Tomte Teda. »Nutzloses Eisen-Gedöns!«

»Spinnst du? Der war sauteuer!«, fauchte ich zurück. »Ich hab da Sachen drauf, die sind nur lokal gespeichert! Und … und es ist meiner, es ist –«

Meiner, aus meiner Welt! Meine Bilder, meine Recherche, mein letzter Anker …

Shit, kamen mir etwa die Tränen? Ich blinzelte sie ärgerlich weg – und bemerkte, dass Simàja ihren Bogen gezückt hatte, einen Pfeil auf der Sehne.

»Sie kommen«, flüsterte sie gepresst.

Ich fuhr zusammen, schaute den Hügel hinab. Ja, sie kamen. Sie kamen von allen Seiten. Mit ihnen kam die Angst, sprang voraus mit einem Riesensatz, nahm mir die Luft.

»Okay, er gehört euch«, krächzte ich und ließ meinen Laptop los, so plötzlich, dass die Trollgeschwister damit zu Boden purzelten. Was sie jedoch erst recht begeisterte. Mit fröhlichem Quieken tollten sie über den Schnee und warfen sich ihre Errungenschaft zu wie ein Frisbee. Ich sah weg, meine Augen wurden stattdessen hypnotisch angezogen von den nahenden Frostkriegern.

»Schluss mit dem Blödsinn!«, fuhr Tomte Teda Nuk und Nîm an. »Ihr habt euer Geschenk, nun lasst uns ein! Simàja, Elvy, was steht ihr da herum? Kommt her, schnell!«

Aber keine von uns konnte sich losreißen. Denn jetzt trat er aus dem Schatten des Waldes hervor – derjenige, den ich als Anführer vermutet hatte. Sein Helm ließ nur die Augen frei, doch darin herrschte nicht der schneegebannte, seelenlose Ausdruck der anderen Frostkrieger. Trotz der Entfernung sah ich den kalten Glanz in seinem Blick, den wachen Geist. Die Eissplitter auf seinem Helm formten eine Art Krone, die im Schein der Fackeln und des Nordlichts über uns ebenso überirdisch schön wie grausam wirkte. Sein grauer Umhang trieb hinter ihm her wie Nebelschwaden im eisigen Abendwind, als er sich nun den Hügel hinauf näherte. Jeder Schritt war wie eine Drohung, die Magie der Runensteine zu zerstören und uns aus ihrem Schutz zu zerren, bis hin vor den Thron seiner Herrin, der Ysirka.

Er war es – der Frostprinz. Als sein Blick mich traf, durchzuckte mich ein Schmerz, so tief und heftig, dass er mir kurz den Atem nahm.

In seiner linken Hand hielt der Frostprinz eine Waffe, die Simàja und ich nur allzu gut kannten: schwarzes Holz, gehärtet in Hunderten Feuern, genährt mit jedem Funken Magie, den die Aelfar in unserer Welt hatten ergattern können. Ich hatte gesehen, wie diese Waffe das allererste Mal zum Leben erwacht war, ihre Spitze glühend rot. Jetzt sprühte sie vor eiskalten blauen Flammen.

Der Glutspeer.

Eine magische Waffe, geschaffen, um die Ysirka zu töten, gestohlen von einem erbärmlichen Verräter. Wir hatten alles versucht, um ihn aufzuhalten, waren ihm durch das Eis nach Ymatàja gefolgt … doch er hatte sein Ziel erreicht und sah uns nun triumphierend entgegen.

»Jor«, hauchte Simàja.

»Er ist es.« Simàjas Lippen waren blutleer, ihr Blick starr. »Jor ist der Frostprinz. Es ist ihm gelungen, er hat den Glutspeer der Ysirka gebracht. Das … das darf nicht –«

Ihr Pfeil flog von der Sehne, trotz ihrer Erschütterung tödlich genau gezielt. Doch ehe er dem Frostprinzen nahe kam, hob dieser den Glutspeer, und eine eisblaue Flamme verwandelte das Geschoss noch im Flug zu Asche.

»Kommt endlich!«, brüllte Tomte Teda.

Ich packte Simàja am Arm und zerrte sie mit mir, weg von dem Frostprinzen, der jetzt das Zeichen zum Angriff gab. Seine Krieger schwärmten an ihm vorbei, den Hügel hinauf, während er abermals den Glutspeer hob. Die eisblaue Flamme an seiner Spitze glühte heller, heller …

Dann waren wir außer Sicht, vor unseren Füßen im Schnee gähnte der Eingang zu den Trolltunneln, nicht größer als ein Dachsbau. Nuk und Nîm waren schon darin verschwunden, ihre hellen Stimmen feuerten uns an. Ich wusste, was kam, noch bevor Tomte Teda uns »Sagt ›Kjällevis‹!« entgegenblaffte.

Wie hätte ich vergessen können, dass mich dieses Zauberwort schon einmal auf handliche Größe geschrumpft hatte, bei Svalti, der freundlichen Mäusewichtelin? Dort hatte es mir die Magie ihres Baums ermöglicht, hier sollten uns die Runensteine helfen.

Weder Simàja noch ich zögerten auch nur einen Herzschlag.

»Kjällevis!«

Ein Schimmer, ein Rauschen wie von unsichtbaren Flügeln, die schneebedeckten Runensteine glühten auf in dunklem Gold … schon waren wir auf Augenhöhe mit Tomte Teda. Sie trieb uns über die verschneite Schwelle des Trolleingangs.

Ich stolperte, blickte zurück, sah, wie eine entsetzliche blaue Flamme in das magische Rund hinter uns fuhr und die mächtigen Bernsteine in Brand setzte. Die Trollkinder brüllten irgendeine Beschwörung, der Ausgang schloss sich hinter uns … und dann herrschten ringsum nur noch Stille und Dunkelheit.

Mit zitternden Beinen lehnte ich an der erdigen Tunnelwand. In meinen Ohren fauchte das Echo der Eisflamme, mein geschrumpftes Herz schlug hart und schmerzhaft. Vor meinem inneren Auge nichts als der Anblick des Frostprinzen. Grausig und prächtig zugleich hatte er ausgesehen in seiner blauschwarz glänzenden Rüstung, dem nebelhaften Umhang und dem Helm mit der Krone aus Eissplittern. Der Fluss der Zeit hatte Jor also wirklich viel eher als uns freigegeben und ihm ermöglicht, sein Ziel zu erreichen: Er war zum General der Ysirka geworden, gebot über einen Teil ihrer Macht, befehligte ihre Armee.

Und er hatte uns erkannt.

Ich zweifelte keine Sekunde daran: Das war Erkennen gewesen in den Augen hinter den dunklen Helmschlitzen, das Erkennen von Gegnern. Unsere Froststerne hatten uns also wirklich nicht vor ihm verborgen. Jetzt wusste er, dass wir ebenfalls Ymatàja erreicht hatten – und dass wir ihm nichts Besseres entgegenzusetzen hatten als ein wenig eigene Magie und Klingen aus Silberren-Horn.

Neben mir regte sich Simàja. Der Froststern auf ihrer Stirn erhellte ihre schönen, scharfen Züge. Vermutlich hatte sie gerade Ähnliches gedacht wie ich, denn sie sagte leise: »Er wird uns jagen.«

Ich nickte bedrückt.

»So, wie wär’s endlich mit ein bisschen Licht?«, tönte eine vertraute, brummige Stimme den dunklen Gang hinab zu uns. »Ihr habt ein Geschenk bekommen, jetzt ehrt das Gastrecht!«

»Trollaugen brauchen kein Licht! Nur Blindschleichen von oben!«, quakte es frech zurück, entweder von Nuk oder Nîm.

»Aber wir sind keine Trolle, Yma sei Dank!«, kam die prompte Retourkutsche. »Also los!«

Es ging noch ein paar Mal hin und her, dann erbarmten sich die Trollkinder und brachten uns einige Wurzelenden, die ein erstaunlich helles, fahl-grünliches Licht abgaben.

»Warum nicht gleich so«, knurrte Tomte Teda. »Auf, führt uns zu eurem König! Ich hab mit ihm zu reden.«

Bevor die Kleinen eine weitere Frechheit parat hatten, erklangen neue Stimmen: »Halt! Wer geht da?« – »Genau, wer geht da?«

Im gleichen Moment stürmten zwei weitere Trolle um die Ecke. Sie sahen aus wie eine größere Version von Nuk und Nîm, waren also erwachsen und vor allem … bewaffnet. Jeder von beiden hielt einen schweren Hammer in der Hand und baute sich bedrohlich vor uns auf. Der Effekt wurde allerdings etwas gestört, weil der Tunnel zu eng für die beiden war, um nebeneinanderzustehen. So rempelten und drängelten sie sich um den besseren Platz, bis der größere von beiden sich durchsetzte.

»Gezücht von oben!«, schnaubte er, schnupperte an mir und bleckte dann die Zähne. »Ein Mensch! Hah! So was wie dich haben wir früher gefressen!«

Ich ließ mich nicht einschüchtern. »Ach was? Da muss ich dich warnen, dieser Mensch hat einen Lakritzkern!«

Simàja unterdrückte ein Kichern.

Der Trollwächter schnaufte entrüstet. »Was wollt ihr in unserem Reich?«

»Genau, was wollt ihr hier?«, kam das Echo des anderen. Zwar war er kleiner, aber dafür stand seine dunkle Mähne besonders wüst nach oben ab. »Antwortet Tunnelwächter Grim!«

»Freies Geleit zu Wurzelkönig Grogrok«, parierte Tomte Teda.

Die Trollwächter brachen in schallendes Gelächter aus.

»Er empfängt zurzeit nicht«, verkündete der namens Grim dann mit feistem Grinsen und zog seine grau-grüne Weste zurecht. »Aber vielleicht können wir euch trotzdem weiterhelfen. Für ein kleines Geschenk –«