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Ella und Aris: das atemberaubende Finale Schwere Seebeben erschüttern die Unterwasserwelt. Aber das ist nichts gegen Ellas ganz persönliche Naturkatastrophe: Aris' Hochzeit mit Prinzessin Elyria steht unmittelbar bevor. Doch dann stellt sich heraus, dass Ellas Mission in Pacifika eine uralte Macht des Meeres geweckt hat. Nicht nur Atlantis droht der Untergang, auch die Oberfläche schwebt in tödlicher Gefahr. Ella und Aris kämpfen um ihre Welten – und entdecken ein Geheimnis, das stärker an ihren Grundfesten rüttelt, als jede Naturgewalt es je vermögen würde ... Gibt es doch eine Zukunft für ihre unmögliche Liebe?
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Seitenzahl: 640
Für Martin, mein Immer-und-ewig
Bereits erschienen:
Geheimnis in der Tiefe (Bd.1)eISBN 978-3-649-64009-7
Wiedersehen in Atlantis (Bd. 2)eISBN 978-3-649-64091-2
eISBN 978-3-649-64321-0
© 2022 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,
Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise
Text: Anna Fleck
Covergestaltung: Carolin Liepins
Lektorat: Frauke Reitze
Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim
www.coppenrath.de
Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN
978-3-649-63908-4.
Anna Fleck
Für immer versunken
Golden
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Danksagung
Über den Autor
Ich schwimme in einem Meer von Sternen. Sie glitzern auf den schwarzen Wellen um mich herum. Wenn ich meine Arme bewege, erzittern sie, zerstäuben in goldene Funken, setzen sich dann langsam wieder zusammen. Sie fallen als leuchtende Tropfen von meinen Fingern, bei jedem meiner trägen Schwimmzüge. Ich tauche meinen Kopf unter Wasser, gleite für einen Moment unter die Oberfläche, in Dunkelheit und Kühle und Stille. Als ich wieder auftauche, wartet die Welt auf mich – sternfunkelnd und nachtblau, eine dunkle Fata Morgana … doch unzweifelhaft real.
Atlantis.
Das unterirdische Königreich, seit Jahrtausenden vom Ozean verborgen vor dem Rest der Menschheit, vielleicht das letzte große Geheimnis unserer Erde. Und ich bin ein Teil davon.
Es war nur ein kleiner dunkler Teich, in dem ich schwamm, die Ufer umgrenzt von mächtigen weißen Felsen, in ihren Schatten üppig blühendes Gebüsch und Bäume voll exotischer Früchte. Ihr Duft trieb durch die laue Nachtluft und über das Wasser, auf dem sich zahllose goldene Funken spiegelten – die Reflexionen der Sterne, die über mir in dem gewaltigen künstlichen Firmament erstrahlten und das schlafende Königreich in ein unwirkliches, verzaubertes Licht hüllten.
Träge bewegte ich meine Beine. Der nächste Schwimmzug brachte mich genau in die Mitte meiner geheimen Nachtbadestelle. Ein Blick zum Ufer, dem schmalen Streifen hellen Sands: Ja, dort lag es noch, mein Kleiderbündel. Keine Badeanzüge in Atlantis – das Einzige, was ich am Leib trug, war ein Lederband mit einer goldenen Muschel.
Ich richtete mich auf, trat Wasser, während ich mich zum hundertsten Male umschaute. Immer mit dieser einen, verzweifelten Hoffnung, die ich in mir trug, die mir das Herz so schwer machte, dass es mich fast auf den Grund zog. Und plötzlich, wie durch Zauberhand, erschien eine Gestalt auf dem höchsten Felsen am Rand des kleinen Sees. Eine schlanke, männliche Silhouette vor dem dunklen Nachthimmel, schwarz vor Dunkelblau, ein Schatten wie kein anderer. Mein Herz machte einen Sprung, mein Kopf vergaß alle Zweifel.
Ja, er ist es! Er hat es geschafft! Endlich!
Die Gestalt stieß sich ab und sprang mit einem gewaltigen Satz kopfüber in die dunklen Fluten. Das Eintauchen zerriss die Stille, wirbelte goldglitzerndes Wasser in die Höhe, verursachte eine Welle, die bis zu mir schwappte und mich überspülte. Kaum hatte ich wieder Luft geschnappt und mir das Gesicht abgewischt, erschien vor mir ein Kopf mit nassen schwarzen Haaren.
Aris.
Seine Augen blitzten, sein Lächeln strahlte.
»Du Spinner!«, japste ich. »Willst du ganz Atlantis aufwecken? Diskret ist echt was –«
Doch sein Kuss nahm mir den Atem und ich klammerte mich an ihn. Obwohl ich die Augen schloss, sah ich noch immer das Tanzen der goldenen Sterne.
»Ella«, flüsterte er. Ich spürte seine Hand an meiner Wange, die andere in meinem Rücken.
»Ich habe dich so, so vermisst«, brachte ich heraus. »Du weißt gar nicht, wie sehr –«
»Doch, ich weiß es.« Seine Stimme, sein Blick, seine Berührung … alles an ihm zeigte mir, wie sehr auch er unter der Trennung gelitten hatte.
Er zog mich näher an sich heran. Wie ich hatte er seine Kleidung am Ufer zurückgelassen und ich spürte seine Haut an meiner, die verborgene Hitze unter der Wasserkühle. Ich ließ mich einfach fallen in meine Gefühle, in seine Liebe …
»Sofort raus da!«
Die Stimme durchschlug die Stille wie ein Geschoss. Sie traf mit tödlicher Präzision und zerschmetterte mein Traumbild. Ich fuhr zusammen, öffnete die Augen und richtete mich im Wasser auf. Aris, den ich so sehr herbeigesehnt hatte, war verschwunden, genau wie das wunderbare Gefühl, in seinen Armen zu sein. Zurück blieben nur die Spiegelbilder der Sterne auf den nachtschwarzen Wellen des kleinen Teichs … und ich.
Allein.
Noch immer schlug mein Herz wie wild, doch jetzt vor Schreck, Angst und Wut. Denn dort am Ufer, direkt neben meinem Kleiderbündel, stand Dromos. Leiter des atlantischen Geheimdienstes, widerwilliger Verbündeter – aber auch Gefängniswärter. In der Hand hielt er eine Schusswaffe. Genauer gesagt, hatte er sie sogar erhoben und gegen seine Schulter gepresst – es war dieser gewehrartige Blitzwerfer, mit dem er Aris und mich auf Kreta gezwungen hatte, ihm zu folgen. Jetzt drohte er mir damit, weil ich mich hinter seinem Rücken davongeschlichen hatte.
»Raus aus dem Wasser, Oberfläche.«
Dromos’ Tonfall ließ wie immer keine Diskussion zu. Sein ganzer Auftritt zeigte, dass er es ernst meinte: Obwohl es mitten in der Nacht war, war er einsatzbereit und makellos zurechtgemacht. Sein lackschwarzes Haar streng im Nacken zusammengebunden, die graue Tunika unter dem passenden Kurzmantel mit der Seesternschließe glatt und akkurat. Ein echter Vorzeigeagent des Rats der Steine.
»Sofort!«
Zwar war ich mir fast sicher, dass er wieder mal bluffte und mich nicht gleich erschießen würde, wenn ich nicht gehorchte – aber eben nur fast. Also schwamm ich mit raschen Zügen Richtung Ufer, bis ich Boden unter den Füßen spürte.
Verdammt. Wie hat der Arsch mich gefunden?, fluchte ich stumm.
Meine innere Stimme war schon einen Schritt weiter. Viel wichtiger: Wie kommst du aus der Nummer heil wieder raus, Baby?
Schlimm genug, dass Dromos mich hier überrascht hatte. Noch schlimmer allerdings, dass er wie festgemauert neben meinen Anziehsachen stehen blieb, obwohl ich schon fast das Ufer erreicht hatte.
»Hey!«, rief ich wütend. »Wie wär’s mal mit Umdrehen?«
Doch er ließ mich nicht aus den Augen, lud stattdessen hörbar seine Waffe durch. »Du bist auch nicht anders als atlantische Frauen, Oberfläche. Und jetzt raus da, verflucht!«
Innerlich kochend verließ ich den Schutz des dunklen Wassers, ging die letzten Schritte auf Dromos zu, wollte ihm gerade einen Schwall wüster Beschimpfungen entgegenschleudern – da trat er blitzschnell beiseite und feuerte.
Nicht auf mich.
Hinaus aufs Wasser.
Ganz knapp neben den Hals des Monsters, das sich hinter mir aufgebäumt hatte, kurz vor dem Zuschnappen.
Ich stolperte rückwärts, stürzte zu Boden. Für den Bruchteil einer Sekunde erhellte der silberne Blitz ein Wesen wie aus einem Albtraum: eine Riesenschlange mit bleichen Schuppen, augenlos, das runde Maul voll nagelspitzer Zähne, der Kopf umgeben von einem drohend aufgespannten Hautsegel. Eine weitere lautlose Explosion. Volltreffer diesmal, direkt in den Kopf. Das wenige, was von dem Monster übrig war, klatschte zurück ins Wasser und verschwand unter der Oberfläche. Sekunden später begann diese zu brodeln, aufgewühlt von wer weiß was für Viechern, die ebenfalls in den schlammigen Tiefen lebten und jetzt einen unerwarteten Snack bekommen hatten.
Ich starrte auf die Stelle, nicht fähig, auch nur einen Finger zu bewegen. Dieses … dieses Ding war da gewesen, die ganze Zeit, am Grund des Teichs, meines Teichs, in dem ich so oft arglos geschwommen war und mich meinen Träumen hingegeben hatte.
»Scheiße«, keuchte ich. »Was – was war das?«
»Ein Fächerwurm.« Auch Dromos sah unverwandt hinaus auf das Wasser, die Waffe weiter im Anschlag. »Bestimmt sind da noch mehr. Also weg vom Ufer, schnell. Anziehen kannst du dich später.«
Ich verschwendete keinen Atemzug mit Widerworten. Einen Moment rang ich noch um Fassung, rappelte mich dann auf, griff mir meine Klamotten und hastete durch das Gebüsch hinter die Felsen.
Warum hat das Vieh nicht früher angegriffen? Habe ich heute mehr Unruhe ins Wasser gebracht? War es zufällig wach … oder einfach hungriger als sonst?
Egal, wie die Antwort darauf lauten mochte – mir war klar, was für ein unglaubliches Glück ich gerade gehabt hatte.
Dromos folgte mir, langsam genug, sodass ich trotz meiner zitternden Hände wieder bekleidet war, als er zu mir aufschloss. Wortlos reichte er mir das Tuch, das zu meiner graublauen Tunika-Hosen-Kombination gehörte und das ich in meiner Hast verloren haben musste.
»Danke«, murmelte ich, noch immer durchgeschüttelt, und band mir den silberdurchwirkten Stoff um den Kopf. Mein Herzschlag hallte dumpf durch meinen Körper, während ich die letzten nassen Haarsträhnen verbarg. »Also auch für das eben. Vor allem für das. Danke.«
»Du müsstest mir nicht danken, wenn du dich an unsere Abmachung gehalten hättest«, erwiderte er barsch. »Keine Alleingänge, das hast du geschworen! Wie lange geht das schon?«
»Nur ein paar Nächte«, murmelte ich. Seine misstrauisch angehobenen Augenbrauen und mein schlechtes Gewissen brachten mich zu dem Geständnis: »Okay, vielleicht war’s auch etwas öfter.«
»Dein Glück, dass ich meine Ohren überall habe.« Er sicherte die Waffe und hängte sie sich über die Schulter, sein sonst so stoischer Gesichtsausdruck ungewöhnlich aufgebracht. »Ist dir überhaupt klar, was du riskiert hast mit deiner Heimlichtuerei? Jeder hier in der Gegend weiß, dass man bei diesem Teich Abstand hält!«
Unter seiner Zurechtweisung erwachte meine Bockigkeit und ich maulte: »Wenn’s so gefährlich ist, warum stellt dann keiner ein Warnschild auf, hä?«
»Als ob du es lesen könntest, wenn eins da wäre!«
Touché. Verdammt!
Mit dieser Bemerkung hatte Dromos einen wunden Punkt getroffen. Ich bemühte mich nämlich schon seit längerer Zeit, die atlantische Schrift zu lernen – leider leichter gesagt als getan. Das System war irre kompliziert, wie eine Mischung aus Chinesisch und Hebräisch, und bisher hatte ich nichts als die absoluten Basics gemeistert.
Dromos warf einen Blick zum künstlichen Firmament. Die Sterne waren verblasst, es würde bald tagen. Ungeduldig rückte er den Waffengurt zurecht, drehte sich um und marschierte los. Ich suchte noch kurz nach einer Retourkutsche, scheiterte jedoch jämmerlich und folgte ihm.
Während er mit steifen Schritten den verschlungenen Trampelpfad entlangeilte, durfte ich mir weitere Vorwürfe anhören. »Es ist ja nicht einmal das Schlimmste, dass du dich fast fressen lässt! Weißt du, wieso ich darauf gekommen bin, dich hier zu suchen, Oberfläche? Weil ich Gerüchte gehört habe, dass die Gesandte der Herrin der Winde diese Gegend mit ihrer Anwesenheit beehrt! Dass man in manchen Nächten sehen kann, wie ihre goldenen Haare im Sternenlicht glänzen, während sie im Fächerwurm-Teich badet. Furchtlos ist sie und wunderschön! Oh, wir sind wahrhaft gesegnet!«
Ich zuckte zusammen, als mir die volle Bedeutung seiner Worte aufging. »Jemand hat mich beobachtet? Aber ich … ich war doch so vorsichtig und –«
»Vorsichtig!« Dromos schnaubte. »Das war dieses Pack bestimmt auch, das überall herumläuft und von einer göttlichen Begegnung wispert.«
Er stapfte weiter, und ich merkte, dass er echt sauer war. Weil ich unsere Abmachung gebrochen hatte und für noch mehr Gerüchte gesorgt hatte? Oder – Moment mal …
Ich glaub fast, er hatte Angst um dich, raunte meine innere Stimme verschwörerisch.
Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Wohl kaum. Dromos schien überhaupt keine Angst zu kennen, und wenn, dann bestimmt nicht um meinetwillen. Nein, viel wahrscheinlicher war, dass er sich ärgerte, weil ich ihm mal wieder eine sorgfältig geplante Mission durcheinanderbrachte. Wo er doch so stolz darauf war, immer alles perfekt vorzubereiten und unter Kontrolle zu halten. Schließlich lautete sein selbstgestellter Auftrag in Bezug auf mich: meine Anwesenheit in Atlantis geheim halten, um jeden Preis. Dass er mich überhaupt wieder an Bord gelassen hatte, als ich ihn darum bat, kurz nach unserer Ankunft auf Kreta, obwohl ich keinen vernünftigen Grund nennen konnte … Doch zu meiner Überraschung hatte Dromos zugestimmt und mich zurückgebracht in das unterseeische Königreich. Unter einer Bedingung: dass ich mich an seine Regeln hielt.
Oh Mann, und bis auf ein paar kleine Ausrutscher war ich doch auch immer brav gewesen! Also … ziemlich brav. Hatte mich und vor allem meine Haare vor aller Augen verborgen – schließlich war ich nicht scharf darauf, wieder als verhasste Oberflächen-Kreatur gejagt zu werden. Doch wie es aussah, hatten sich mittlerweile die Gerüchte der »goldhaarigen« Götterbotin durchgesetzt. Also kein Lynchmob am Teichufer, stattdessen gottesfürchtige Spanner.
Echt ’ne tolle Alternative, schimpfte meine innere Stimme. Aufgespießt oder angebetet. Gibt’s nichts dazwischen?
Ich musste ihr recht geben. Es wäre verdammt schön, einfach mal wieder nur Ella Keane zu sein. Aber dabei konnte auch Dromos mir nicht helfen.
Etwas anderes aus seinem Vortrag kam mir in den Sinn, und ich beschloss, ihn ein bisschen zu ärgern. Als der Pfad breiter wurde, schloss ich zu ihm auf und flötete: »Wer hat denn das mit dem ›wunderschön‹ gesagt? Oder war das deine eigene Interpretation?«
Er drehte nicht einmal den Kopf, aber ich sah trotzdem, wie er genervt mit den Augen rollte. »Bilde dir bloß nichts ein, Oberfläche. Die Bauerntrampel in dieser Gegend sind leicht zu beeindrucken.«
Arsch.
Bevor ich ihm seine Bemerkung zurück in den Hals stopfen konnte, hatten wir unser Ziel erreicht. Vor uns lag, in einer lauschigen Senke, eine typisch atlantische Villa: eine Ansammlung miteinander verbundener Würfelbauten, umgeben von gepflegten Obstgärten und Feldern, eingerahmt von einem dichten Ring aus Bäumen und Sträuchern. Die weißen Mauern des Bauwerks waren geschmückt mit Delfin-Fresken in verschiedenen Blautönen, die das aufziehende Morgengrauen mit einem zarten violetten Schleier versah.
Ich betrachtete das vergleichsweise kleine, doch wirklich ausgesprochen schön angelegte Haus mit einer seltsamen Wehmut. Es diente mir als Heim und Versteck – seit meiner Rückkehr … vor nunmehr sechs Monaten.
Ein halbes Jahr, verdammt.
So viel Zeit war vergangen seit unserer schrecklich erfolgreichen Mission in Pacifika, seit dem brutalen Abschied von Aris und von Atlantis. Seit einem halben Jahr sollte ich zurück an der Oberfläche sein, zurück in meinem alten Leben. Stattdessen hatte ich dem Strand von Kreta den Rücken zugekehrt und war wieder in das U-Boot gestiegen – weil ich Aris nicht aufgeben konnte. Und … weil da dieses Flüstern gewesen war, das mich an den Meeresgrund band wie ein Ankertau. Dieses Flüstern in der goldenen Muschel, das klang wie die weise Noé aus Pacifika und wie der Eingeweihte im Letzten Tempel von Atlantis. Die Stimme des Ozeans. Sie schien mir etwas zu sagen, etwas Wichtiges, dessen Bedeutung ich tief in mir spürte und doch nicht verstand.
Unwillkürlich berührte ich die Schneckenmuschel, die ich verborgen unter meiner Tunika an einem Lederband trug. Dieses Geschenk von Aris, in dem ich erst seine Stimme gehört hatte, dann den Ruf des Ozeans und nun … nichts mehr. Denn nicht lange, nachdem ich den Boden von Atlantis wieder betreten hatte, war die Muschel verstummt. Wenn ich sie jetzt an mein Ohr hielt, hörte ich nichts außer Meeresrauschen. Als ob der Zauber oder die fremdartige Technik darin den Geist aufgegeben hätte, kaum dass das Ziel erreicht war: mich zurückzuholen in das verborgene Königreich unter dem Grund des Atlantiks. Aber wer hatte das gewollt? Wozu? Darauf hatte ich noch immer keine Antwort.
Seufzend ließ ich die Muschel los und folgte Dromos durch eine verschwiegene Seitentür ins Innere der Villa. Unsere Füße glitten über dunkelblau glasierte Bodenfliesen, erhellt durch goldene Aurikalchos-Lämpchen in den Wandnischen.
»Tseia! Wo bist du?« Jetzt, wo wir keine unerwünschten Zeugen von außerhalb mehr zu fürchten hatten, war Dromos überhaupt nicht mehr auf Diskretion aus. Während er weiterstapfte, hörte ich ihn zwischen zusammengepressten Zähnen knurren: »Wie konnte sie dich nur gehen lassen? Gegen meinen ausdrücklichen Befehl! Fortjagen sollte ich sie.«
»Sie wusste nichts davon!« Mit einem Satz überholte ich ihn und stellte mich ihm in den Weg. »Ich warne dich: Wenn du sie auch nur schief anschaust, renne ich nackt und mit offenen Haaren von hier bis zum Tempel der Winde!«
»Das bringst du fertig.« Einen Moment lang musterte er mich finster, schüttelte dann den Kopf. »Was soll’s. Ich habe keine Zeit für diesen Blödsinn. Die Sonne geht bald auf, dann erwarte ich dich im Atrium zum Frühstück. Keine Trödelei, Oberfläche – wir haben etwas Wichtiges zu besprechen.« Damit ließ er mich stehen und marschierte davon.
Ich zuckte mit den Achseln, mittlerweile gewöhnt an seine brüske Art, und schlug die andere Richtung ein. Ohne Hast überquerte ich den Innenhof mit seinen duftenden Blumenbeeten und dem eleganten Wasserspiel, an dessen Grund Mosaik-Delfine Fischen aus Edelsteinen hinterherjagten. Auf der anderen Seite tauchte ich wieder ein in den Schatten der kühlen Mauern und erklomm die Treppe mit dem bronzefarbenen Handlauf. Sie führte in den ersten Stock, zu einer Zimmerflucht, deren größter Raum einen Balkon besaß und mir gehörte.
Rasch tauschte ich meine vom nächtlichen Badeausflug etwas mitgenommenen Klamotten gegen eine frische Tunika-Hosen-Kombination und zog mir das nasse Tuch vom Kopf. Eine der Wandnischen war mit smaragdgrünen Fliesen ausgekleidet und diente mir als »Frisiertisch«. Ich schnappte mir einen Perlmuttkamm, fuhr mir durch die noch feuchten Strähnen und wunderte mich abermals, wie schnell meine Haare im letzten halben Jahr gewachsen waren. Schulterlang waren sie bei meiner Ankunft hier gewesen, jetzt reichten sie mir schon den Rücken hinab. Die gute atlantische Luft? Tseias Kräutershampoo? Auf jeden Fall ein klares Zeichen dafür, wie unbarmherzig die Zeit verging – und wie lange ich bereits von Aris getrennt war. Ich legte den Kamm zurück, wollte mich schon abwenden, hielt dann aber inne. Denn die Nische war mehr als eine Ablage, sie verbarg auch mein größtes Geheimnis. Eins, das nur Aris und mir gehörte.
Wie von selbst fanden meine Hände die Fugen, wo ich eine der Fliesen in der Rückwand gelöst hatte, um mir ein Geheimfach in den Mörtel zu kratzen. Der so entstandene Hohlraum war nicht tief, aber das musste er auch nicht sein. Verstohlen zog ich das kleine, in hellgrünen Stoff eingeschlagene Päckchen heraus und wickelte es auf. Türkis und Gold schimmerte mir entgegen, eine schmale Kette mit einem wunderschön gearbeiteten Anhänger: die Dornenbienen, das Wappen von Aris’ Familie. Diese Kette hatte eigentlich eine Hochzeitsgabe für Prinzessin Elyria sein sollen, seine Versprochene. Doch er hatte sie mir geschenkt, in der Nacht vor der Verlobung.
In unserer Nacht.
Ich drückte das Päckchen an meine Lippen. Kämpfte vergeblich gegen die Enge in meiner Kehle, als ich an diese wenigen, heimlichen Stunden zurückdachte. Meine Hände auf Aris’ Brust, seinem Rücken. Sein Gesicht über mir, voller Zärtlichkeit und Leidenschaft. In seinen Augen dieses Leuchten … und dann die entsetzliche Verzweiflung, als wir uns für immer verabschieden mussten.
Verdammt.
Verdammt.
Reiß dich zusammen, blöde Kuh. Streng rief meine innere Stimme mich zur Ordnung. Tief durchatmen. Noch einmal. Na los.
Wie schon so oft gehorchte ich. Und wie immer fühlte ich mich danach kein Stückchen besser.
Ich hatte Aris nicht wiedergesehen seit dieser Nacht. Kein einziges Mal. Nur im Traum und in meiner Fantasie. Hatte in meinem Luxus-Versteck gehockt und mit meiner Entscheidung gerungen: Wenn ich nicht wie versprochen die Füße stillhielt, würde Dromos mich zwingen, Atlantis zu verlassen, und dann war wirklich alles aus. Wieder und wieder hatte ich aufbegehrt, heimliche Pläne geschmiedet … und dann doch nur die allerkleinsten Rebellionen gewagt. Hatte mich gequält mit dem Gedanken an meine Mutter und meine Freunde, die nicht wussten, wo ich war, wie es mir ging, ob ich überhaupt noch lebte.
Gewartet hatte ich, Tag um Tag. Auf eine Botschaft, ein Zeichen, ob von Göttern oder Menschen … auf irgendetwas, das mir sagte, dass meine Entscheidung die richtige gewesen war und nicht nur der Auswuchs meiner dämlichen, verzweifelten Hoffnung.
Und gefürchtet hatte ich mich – vor dem einen Ereignis, auf das so viele hier hofften: die Hochzeit zwischen dem Thronfolger von Atlantis und der pacifischen Prinzessin Elyria, welche endlich den so hart erkämpften Frieden zwischen dem Königreich und seiner abtrünnigen Kolonie besiegeln sollte. Aber so ein Mega-Event organisierte man nicht einfach von heute auf morgen, offenbar hatten allein bei der Terminwahl unzählige Würdenträger, Priester und Politiker mitzureden. Die Zeit verging, unaufhaltsam wie Ebbe und Flut … und ich war noch immer ein Sandkorn, das nichts tun konnte als warten.
Erneut holte ich tief Luft und wischte mir über die Wange. War mir da doch eine Träne entkommen …
In diesem Moment klopfte es.
»Seid Ihr fertig, Herrin?«, erklang eine brüchige, aber energische Stimme jenseits der Tür. »Der junge Rat wird schon ungeduldig.«
Hastig stopfte ich die Kette zurück in ihr Versteck, zusammen mit meinem Kummer. »Soll er doch!«, rief ich dann, hoffentlich überzeugend unbeschwert. »Moment, ich mach gleich auf …« Ich drückte die Fliese wieder vor die Nische und ging die Tür öffnen. »Aber Tseia, Sie brauchen mich nicht ›Herrin‹ zu nennen, nur vor Dromos, das wissen Sie doch.«
»Und du sollst mich nicht siezen«, kicherte Tseia und zwinkerte mir mit ihrem guten Auge zu.
Ich zwinkerte verschwörerisch zurück – das Spielchen hatten wir schon ein paar Mal durch. Dann trat ich rasch zur Seite, denn sie rauschte wie ein betagter Wirbelwind an mir vorbei, ihr üppiger grauer Haarschopf und das nussbraune Kleid wehten hinterher. Obwohl sie das eine Bein nachzog, kam sie mir immer irre dynamisch vor.
Die alte Tseia war neben Dromos die Einzige, die von meiner Anwesenheit in Atlantis wusste. Und sie wusste sogar, wer ich wirklich war – oder vielmehr was, nämlich »Oberfläche«. Offenbar vertraute ihr Dromos, auch wenn er oft über sie schimpfte. Tseia dagegen ertrug seine herrische Art mit amüsierter Gelassenheit, denn sie kannte ihn schon von klein auf. Die alte Frau war als Mechanikerin in der Werft seiner Eltern beschäftigt gewesen, bis ein schlimmer Unfall ihre ganze linke Seite verbrannt und verstümmelt hatte. Ein Auge hatte sie dabei verloren und das Gefühl in ihrer linken Hand, sodass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben konnte. Dennoch blieb sie weiter mit Dromos’ Familie verbunden und verdankte ihr einen bescheidenen Lebensunterhalt – jetzt gerade als Hausmeisterin und Allroundhilfe in meinem »Safe House«. Ich war unglaublich froh über Tseias Anwesenheit, nicht nur, weil ich sonst überhaupt keine Gesellschaft gehabt hätte. Sie hatte ein paar echt spannende Storys auf Lager und ließ mich bereitwillig zugucken, wenn sie im Haus Reparaturen durchführte.
Ihr verdankte ich auch den regelmäßigen Nachschub an atlantischen Tampons, die ziemlich genauso funktionierten wie die Oberflächen-Variante, mit dem Unterschied, dass sie aus gepresstem, saugfähigem Algenmaterial bestanden und nach Benutzung zu einem beliebten Dünger wurden. In Atlantis wurde nichts verschwendet.
Vor allem aber war Tseia da, wenn ich nachts aus unruhigem Schlaf hochschreckte und schluchzend versuchte, mich wieder zurechtzufinden. Unzählige Male kam sie an mein Bett, mit einem heißen Getränk und tröstlichen Worten. In solchen Momenten fragte ich mich, die zitternden Hände um einen Becher Tee verkrampft, wer Aris in seinen schlimmen Nächten beistand. Sein bester Freund Som war fort – und damit der Einzige außer mir, dem Aris seine Ängste und Albträume anvertraut hatte. Noch schlimmer waren die schrecklichen Krampfanfälle, eine Spätfolge des Giftes der Schwarzen Perlen, mit dem sein eigener Onkel ihn gefoltert hatte. Wer half ihm, wenn er sich vor Schmerzen krümmte, wenn er dabei fast erstickte, wieder und wieder? Die Ärzte des Hofes? Ein neuer Leibdiener? Oder versuchte er immer noch, diese »Schwäche« für sich zu behalten?
»Sag mal, mein Mädchen, der junge Herr hat dich beim Baden im Fächerwurm-Teich gefunden? Ist das wirklich wahr?«
Tseias strenge Stimme rief mich in das Hier und Jetzt zurück. Ich schluckte, schob meine Gedanken zurück in ihre dunkle Ecke und nickte beschämt, was die alte Frau erst recht in Fahrt brachte.
»Also, ich hab ja bisher mein Auge zugedrückt bei deinen kleinen Ausflügen. Aber wenn ich gewusst hätte, dass du ausgerechnet dorthin gehst, hätte ich dich eigenhändig ans Bett gefesselt! Wie kannst du mir das antun! Die Götter mögen Narren schützen, aber verlassen sollte man sich darauf nicht.«
Ihr Geschimpfe war so temperamentvoll, dass ich fast kichern musste, doch es war klar, dass sie sich wirklich Sorgen um mich gemacht hatte. Das tat mir schrecklich leid, und ich versprach hoch und heilig, solche Aktionen in Zukunft … okay, nicht komplett zu lassen, aber wenigstens vorher ihren Rat einzuholen.
»Ha, die Jugend und ihre Versprechen! Wind und Staub!« Tseia schnaufte noch einmal empört, dann verzog sich ihr Gesicht zu dem vertrauten schiefen Lächeln. »Nun aber los.« Sie zupfte meine Tunika zurecht – mehr liebevoll als notwendig, ein Zeichen, dass sie mir meine gefährliche Heimlichtuerei doch verziehen hatte – und schob mich zur Tür. »Du willst doch nicht, dass der Tee kalt wird. Oder dass der junge Herr dich mit dem Blitzwerfer holen kommt.«
Ich lachte, warf ihr eine dankbare Kusshand zu und rannte hinaus.
»Was gibt es denn nun so Wichtiges?«, fragte ich kurz darauf, als ich am Frühstückstisch Platz nahm und mal wieder staunend das üppige Angebot musterte.
Vor mir stand ein rot-schwarz glasierter Keramikteller voll winziger gekochter Eier – sie stammten von den »Spatzenmöwen«, wie ich die hiesige Miniaturausgabe unserer Seevögel getauft hatte. Drum herum türmte sich eine Vielzahl weiterer atlantischer Leckereien auf dem Tisch: exotisches Obst, grünliches Gebäck mit Honig- und Kräuterfüllung, gebratene Silberflossenfische, ein Haufen Soßen und Dips von ultrasüß bis höllisch scharf, dazu die versprochene Kanne Tee. Doch heute Morgen wollte mir nichts so recht schmecken. Dromos’ Anblick hatte mir den Schrecken vom Badeteich wieder in Erinnerung gerufen. Und der Gedanke daran, wie lange ich hier nun schon festsaß, ohne dass sich etwas verändert hätte, bedrückte mich zusätzlich.
Da half es auch nicht, dass das Frühstück wie immer in dem luftigen Zimmer stattfand, das sich an einer Seite komplett zum begrünten Innenhof hin öffnete. Zart bestickte Tücher waren am oberen Rahmen befestigt und bewegten sich in der leichten Brise. Dahinter sah ich das Glitzern der Morgensonne in der Fontäne des Wasserbeckens. Insekten mit blau schillernden Flügeln taumelten von Blüte zu Blüte, hin und wieder huschte eine geckoähnliche Echse vorbei. Wunderschön, friedlich – aber kein echter Trost.
»Wenn du eine Frage stellst, Oberfläche, könntest du wenigstens so tun, als ob dich die Antwort interessiert.« Dromos’ spöttische Zurechtweisung riss mich aus meinen trüben Gedanken. »Immerhin opfere ich dir eine Menge Zeit, die ich dringend zum Wiederaufbau des Rats der Steine benötige. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was das für eine Herausforderung ist, in diesem Rattennest Ordnung zu schaffen?«
»Oh, ein bisschen schon, Oberster Ratsherr«, erwiderte ich zuckersüß. »Schließlich erwähnst du es bei jedem deiner Kontrollgänge hier.«
»Das sind Besuche«, korrigierte er. »Aus Aufmerksamkeit und Höflichkeit dir gegenüber.«
»Es ist Überwachung«, konterte ich. »Aber sehr aufmerksame und höfliche Überwachung, das stimmt. Meinen allerherzlichsten Dank!«
Hey – zuckten da etwa die Mundwinkel des Obersten Ratsherrn? Auch wenn ich es nie zugegeben hätte: Ich war tatsächlich froh über Dromos’ regelmäßige »Besuche«. In diesem letzten halben Jahr hatten wir uns erstaunlich gut zusammengerauft. Klar, er war immer noch nervtötend arrogant und rieb mir bei jeder Gelegenheit die atlantische Überlegenheit unter die Nase, aber oft genug hörte er aufmerksam zu, wenn ich von meiner Heimat erzählte. Vielleicht konnte er sich auf die Art langsam damit anfreunden, dass sich in seiner eigenen Familiengeschichte eine Vorfahrin von der Oberfläche verbarg? Ein Stigma, das ihn in der atlantischen Gesellschaft zu einem Außenseiter machte, wie ich wusste, und das sicher ein Grund für seinen brennenden Ehrgeiz war.
Im Gegenzug bot er mir einen Crash-Kurs in atlantischer Politik: welche Ziele die großen Häuser verfolgten, wer mit wem paktierte und – für mich besonders interessant – wer den Minos unterstützte oder dessen Ziele ablehnte, ob es nun der Frieden mit Pacifika oder die Rechte der Statthalter waren.
Da mir letzterer Punkt besonders am Herzen lag, wagte ich einen Schuss ins Blaue: »Deine große Neuigkeit betrifft nicht zufällig Som? Hast du endlich herausgefunden, warum der Rat so wild darauf war, ihn auf den Krakenfelsen zu schicken?«
»Nein.« Dromos strich sich sein ohnehin perfekt sitzendes Haar glatt, eine Geste, die ich schon öfter bei ihm beobachtet hatte, wenn er unzufrieden mit sich war. »Wir haben noch so viel aufzuräumen in den Unterlagen der Verschwörer. Es gibt ganze Berge von verschlüsselten Berichten und sogar Todeslisten. Aber bis wir die ausgewertet haben, können wir nur spekulieren, warum sie den Leibdiener des Ominos töten wollten.«
»Lass mich doch mit Som sprechen«, bat ich nicht zum ersten Mal. »Vielleicht fällt mir etwas auf, das ihr übersehen habt. Und er hält bestimmt dicht über mich!«
Aber wie immer biss ich bei Dromos auf Granit. »Niemand erfährt von deiner Anwesenheit, bevor wir nicht wissen, was die Götter mit dir vorhaben – oder welche Mächte auch sonst im Hintergrund die Fäden ziehen. Du wühlst mir hier nicht das Wasser auf, nicht in dieser angespannten Situation. Das ist unsere Abmachung.« Er nahm einen Schluck Tee, stellte den Becher ab und fasste mich scharf ins Auge. »Außerdem kann ich nicht garantieren, dass unsere Kanäle nach Pacifika sicher sind. Ich riskiere kein Informationsleck, nur damit du mit alten Freunden plaudern kannst.«
»Jaja, schon gut.« Ich gab mich geschlagen. Es führte kein Weg daran vorbei: Som war noch immer in Pacifika und damit für mich unerreichbar. Und vermutlich war das auch besser so, wie ich mir heimlich seufzend eingestand. Schließlich hatte Aris ihn freigegeben, um ihn vor weiteren tödlichen Palastintrigen zu schützen – und damit Som endlich seine eigenen Ziele verfolgen konnte. Ob das nun Hilfe beim Wiederaufbau des dunklen Königreichs war oder die Annäherung an eine junge Tempelwächterin namens Saa.
Seufzend nahm ich den ursprünglichen Gesprächsfaden wieder auf. »Okay, wenn du also keine Neuigkeiten hast – was wolltest du dann mit mir besprechen?«
Dromos faltete die Hände vor sich auf der Tischplatte. »Deine Zukunft, Oberfläche.« Die letzte Spur von Humor oder Spott war aus seinen Zügen verschwunden. »Sechs Monate bist du nun hier, und niemand weiß, warum. Es ist an der Zeit, weiterzudenken, meinst du nicht? So wie ich das sehe, hast du zwei Möglichkeiten: Entweder kehrst du zurück zu den Deinen. Zu den Bedingungen, die du kennst – kein Wort über uns. Und diesmal keine Rückkehr, niemals wieder.« Sein Blick fixierte mich mit ungeahnter Intensität. »Oder du bleibst. Wenn du dich dafür entscheidest … dann brauchst du eine Perspektive. Eine Aufgabe. Einen Platz im Leben.«
Er griff in seine Gürteltasche, zog etwas hervor und reichte es mir herüber: eine schmale Silbertafel, ungefähr so groß wie ein Geldschein. Beide Seiten waren dicht beschrieben mit atlantischen Hieroglyphen. Yay.
»Was ist das?«, fragte ich misstrauisch.
»Lies doch selbst.« Die kleine Spitze konnte er sich wohl nicht verkneifen.
Ich gönnte Dromos meinen Todesblick, machte mich aber an die Arbeit. Okay, ein paar der Schriftzeichen kannte ich tatsächlich: Da war das Symbol für »Haus« – oder Höhle, Gebäude, Wohnort, je nach ergänzendem Kringel, seufz –, etwas, das »Geschenk« bedeutete, dann seltsamerweise das Zeichen für »Delfin«. Irgendetwas klingelte bei diesem Symbol in meinem Hinterkopf, aber ich bekam es nicht recht zu fassen.
Dromos erbarmte sich. »Es ist die Eigentumsurkunde für diese Villa. Sie gehört dir.«
Ich starrte ungläubig auf die Silbertafel in meinen Händen. Moment, war das ein Geschenk? Von Dromos, dem Obersten Ratsherrn? Der Rat der Steine schenkt mir etwas? Sofort war mein Argwohn wieder erwacht. »Was soll der Scheiß?« Sein missbilligendes Schnaufen beachtete ich nicht und setzte nach: »Willst du mich bestechen? Damit ich auch weiterhin stillhalte und die Finger vom Thronfolger lasse?«
»Das ist eine Belohnung.« Dromos sprach ganz nüchtern. »Eine, die längst überfällig ist. Atlantis verdankt dir viel. Zu der Villa gehört ein Gut, das ordentliche Erträge liefert. Wenn du dich entscheidest zu bleiben, hättest du ein unabhängiges Auskommen.«
Ich starrte weiter.
Dromos ignorierte mich gekonnt. »Nun zu deiner Aufgabe. Die Perspektive, von der ich sprach. Was ich dir anbiete, ist eine Arbeit. Für mich.«
Okay, jetzt war ich richtig baff. »Du willst mich zur Ratsagentin machen?«
»Wohl kaum. Ich erkenne einen hoffnungslosen Fall, wenn ich ihn sehe.« Jetzt huschte ein Lächeln über seine Lippen – spöttisch, aber mit einer Spur Sympathie. »Du wärst eine Beraterin. Für alles, was mit der Oberfläche zusammenhängt. Ich habe dir gesagt, dass wir unser Verhältnis zu euch neu einordnen wollen, und dafür brauchen wir so viele Informationen wie möglich. Dein Wissen wäre nützlich.«
Und du hast gedacht, er hört sich deine Storys von oben an, weil er Frieden mit seiner Herkunft schließen will, murmelte es in mir. Stattdessen hat er dich getestet.
Ich watschte mich innerlich ab. Mann, wie blöd von mir! Dass der Kerl nichts ohne Hintergedanken tat, hätte ich echt langsam wissen müssen.
Auf sein Angebot hatte ich jedenfalls nur eine Antwort: »Ich soll dir als Spitzel gegen meine eigenen Leute dienen?« Kühl lehnte ich mich in meinen Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Vergiss es.«
»Weise es nicht zu schnell ab. Du könntest viel für euch erreichen. Und niemand, der für den Rat arbeitet, ist ein Spitzel.« Seine abfällige Betonung des Wortes zeigte mir überdeutlich, wie sehr es ihn noch immer traf. »Wir schützen Atlantis seit Jahrtausenden, genau wie Pacifika. Du musst unsere Methoden nicht gutheißen. Aber wenn du etwas bewegen willst – nun, ich biete dir genau diese Chance.«
Er klang erstaunlich ehrlich. Für einen Moment schossen mir Möglichkeiten durch den Kopf: statt mysteriöser Aufträge flüsternder Stimmen ein handfestes Jobangebot. Ein Weg für mich, die Regeln dieser Welt zu verändern, statt mich von ihnen treiben zu lassen?
»Okay. Ich denk drüber nach.« Ich atmete einmal tief durch. »Hör zu, ich bin dir dankbar. Für dein Angebot und auch für das hier.« Sorgfältig legte ich die Eigentumsurkunde auf den Tisch. Sie kam mir plötzlich so schwer vor wie ein Bleibarren. »Aber was die Perspektive angeht, von der du gesprochen hast – da sehe ich nur einen Weg. Wenn mich hier niemand braucht, wenn ich mir diesen … diesen Ruf nur eingebildet habe, dann muss ich zurück in meine Welt. Ich bin schon viel zu lange hier.«
Dromos antwortete nicht. Seine grauen Augen wanderten von mir zu der Silbertafel, doch er rührte sie nicht an. Ich schenkte mir Tee nach, sog den tröstlichen Duft ein und versuchte, mein schweres Herz in den Griff zu bekommen. Dann sah ich wieder zu Dromos, der noch immer reglos auf seinem Stuhl saß, sein Agenten-Pokerface unlesbar.
»Warum kommst du ausgerechnet jetzt damit?« Etwas an seiner Art, an diesem ganzen Zukunftsgerede hielt mein Misstrauen wach. »Was sagst du mir nicht?«
Sein Gesicht blieb ausdruckslos. »Die Zeit geht ins Land und bringt Veränderungen. Auf die müssen wir uns alle vorbereiten.« Er verstummte, ohne seine Andeutung zu erklären – doch das musste er auch nicht.
Ich verstand sofort, worauf er anspielte. Und die Erkenntnis erwischte mich eiskalt. »Scheiße. Es ist die Hochzeit, oder? Gibt es endlich einen Termin?«
Dromos senkte den Blick zur Tischplatte, wo seine Rechte den Rest eines Gebäckstücks herumschob. »Oberfläche. Der Hochzeitstag wurde vor Monaten festgelegt, gleich im Rahmen der Verlobungsfeier. Was glaubst du eigentlich, wie viel Vorbereitung für so etwas nötig ist?«
»Wie bitte? Aber … ich hab dich so oft gefragt!« Ich wollte aufheulen, ihn anbrüllen, geschockt durch diese erneute Täuschung – aber ich schaffte nur ein atemloses: »Wann?«
»Morgen.«
»Morgen?! Du – du –« Jetzt schäumte sie hoch in mir, die heiße Wut. »Scheiße! Ich hab nicht einmal versucht, ihn zu sehen! Kein Kontakt, nichts, wie abgemacht! Und trotzdem verarschst du mich? Seit Monaten?!«
»Und wenn du es gewusst hättest? Was hättest du dann getan?«
»Keine Ahnung! Irgendwas!«
»Ganz genau. Das riskiere ich nicht.«
»Er weiß nicht mal, dass ich hier bin! Du hast mich das schwören lassen! Findest du das fair?« Ich sprang auf, kurz davor, mich auf ihn zu stürzen. Mein Stuhl kippte um und knallte zu Boden.
Dromos blieb sitzen und fixierte mich mit ungerührtem Blick. »Du warst selbst der Meinung, dass es das Beste ist. Das Beste für ihn. Damit er sich keine falschen Hoffnungen macht. Jetzt setz dich wieder und lass uns vernünftig reden.«
»Deine Vernunft kannst du dir sonst wohin schieben!«, fauchte ich. »Ich hab dir geglaubt! Warum tust du so was?«
»Weil es meine Aufgabe ist. Die muss ich erfüllen – so schwer sie mir manchmal auch fällt.«
»Schwer fällt, von wegen! Du bist ein Kontrollfreak! Ein verlogener, gefühlloser, beschissener –«
»Hör doch, Oberfläche.« Dromos’ Stimme war immer noch voll kühler Vernunft. »Niemand kann etwas an der Situation ändern. Es geht hier um Frieden für Millionen von Menschen. Nicht um deine Gefühle.«
»Das weiß ich«, stieß ich hervor, mühsam gebremst. Aber, verdammt, wollte ich ihm etwas in die Fresse knallen!
»Dann verstehst du vielleicht auch, dass ich geschwiegen habe, um es dir leichter zu machen. Wir alle müssen unsere Pflicht tun. Und der Ominos, nun …« Auf einmal wich Dromos meinem Blick aus. »Allem Anschein nach tut er das … sehr gut.«
»Was willst du damit sagen?« Noch immer stand ich vor ihm, zitternd vor Wut.
Doch Dromos kam nicht dazu, mir zu antworten. Denn in diesem Moment begann das Geschirr auf dem Tisch zu klirren. Ein Lämpchen rutschte aus seiner Wandnische und zersprang auf den Fliesen. Der Boden unter meinen Füßen erzitterte, erschüttert von gewaltigen Stößen.
»Ein Erdbeben!« Mit einem Satz war Dromos auf den Beinen.
Auch ich war vor Schreck zusammengefahren. »Oh Gott, schon wieder?«
Er antwortete nicht, schob mich nur in Richtung Garten. »Los, schnell raus hier, ins Freie!«
Ich stoppte. »Was ist mit Tseia?«
»Die weiß, was zu tun ist. Vorwärts jetzt!«
Ein erneuter Erdstoß erschütterte den Boden unter uns, so heftig, dass ich in die Knie ging. Von der Dachumrandung stürzten Teile des hellen Mauerwerks herab und landeten krachend zwischen den blühenden Büschen im Innenhof.
Der Schreck trieb mir fast den Atem aus dem Leib, trotzdem bewegte ich mich nicht von der Stelle. »Sie ist bestimmt noch oben! Mit ihrem schlimmen Bein kommt sie nicht so schnell die Treppe runter.«
»Verflucht, ich hole sie! Jetzt geh!« Dromos zog mich grob auf die Füße und verpasste mir einen Stoß in den Rücken.
Aber da erschien Tseia schon auf der anderen Seite des Gartens. Sie hatte die Seitentür nach draußen geöffnet und winkte uns ungeduldig herüber. Dromos warf mir einen giftigen Blick zu. Ohne weiteren Kommentar rannte ich los, quer durch die Blumenbeete, während der Erdboden unter mir zitterte und bebte wie von Riesenhänden geschüttelt.
Die Umrandung des Wasserspiels riss, die Fontäne erstarb. Ich verlor das Gleichgewicht, stolperte zur Seite, ein weiteres Stück Fries von der Dachkante zerbarst genau an der Stelle, wo ich mich eben noch befunden hatte.
Weiter, schnell, raus!
Dromos holte mich ein, schob mich vor sich durch die Tür, riss Tseia hoch und rannte mit ihr in den Armen weiter, als trüge er nichts als ein Kleiderbündel.
Ein paar Herzschläge später standen wir alle drei unter freiem Himmel, in sicherer Entfernung zu den zitternden Mauern. Ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte, hörte das Erdbeben auf. Mit weit aufgerissenen Augen blickte ich um mich. Über der Villa stiegen Staubschleier auf. Ein langer Riss zog sich durch die Delfin-geschmückte Fassade, doch das Gebäude wirkte ansonsten heil. Ringsum ertönten Schreie von Menschen, die in den umliegenden Höfen wohnten und ebenso wie wir ins Freie geflüchtet waren, doch die hohen Büsche und Bäume verhinderten, dass ich jemanden sah.
Neben mir hörte ich das Murmeln von Tseia, die beide Hände vor die Brust gelegt hatte und ihren Oberkörper wiegte, tief ins Gebet versunken. Dromos dagegen verschwendete keine Zeit mit Bitten an die Götter. »Gut, es ist vorbei. Ich gehe rein und überprüfe die Schäden. Ihr bleibt hier. Und du«, seine blassen Augen fixierten mich drohend, »keine Extratouren, klar? Verbirg deine Haare. Tseia, gib ihr dein Halstuch. Und pass gut auf – falls jemand auftaucht, um zu helfen, wimmelst du ihn ab.«
»Sehr wohl, Herr«, erwiderte die alte Frau, und dann, weniger unterwürfig: »Sei vorsichtig, Junge.«
Dromos antwortete nicht und verschwand wieder in der Villa.
»Oh Mann«, murmelte ich, während ich mir gehorsam Tseias Tuch um den Kopf band. »Das … das war heftiger als die letzten Male, oder? Und ihr hattet wirklich früher nie Erdbeben?«
Erst jetzt, wo der schlimmste Schreck abgeklungen war, merkte ich, wie erschüttert ich war, im wahrsten Sinne des Wortes. Zu Hause kannte ich Erdbeben nur als Horrorstory aus den Nachrichten, doch keine davon hatte mich darauf vorbereitet, so etwas am eigenen Leib zu erfahren. Es war unheimlich und zutiefst verstörend, vom scheinbar so festen Erdboden verraten zu werden. Hilflos, machtlos fühlte ich mich dabei, und es gab keinen Ausweg, keine Chance auf Flucht vor dieser Urgewalt. Es änderte auch absolut nichts, dass ich das hier nun schon zum achten Mal hatte erleben müssen. Immer wieder war es auf neue Weise schrecklich und überwältigend. Und es hatte nicht nur Atlantis getroffen – auch in Pacifika bebte die Erde, auch dort lebten die Menschen jetzt in Angst.
Mit leisem Stöhnen ließ Tseia sich zu Boden sinken; ich tat es ihr gleich. »Der Zorn der Götter kommt über uns«, krächzte sie. »Aber warum? Ich habe in allen Tempeln der Umgebung gefragt, niemand kann es erklären.« Flehend legte sie ihre vernarbte linke Hand auf meinen Arm. »Wenn du etwas weißt, sag es uns, bitte!«
»Tseia«, flüsterte ich beklommen, »glaub mir doch endlich, ich weiß gar nichts. Ich bin Oberfläche, das ist alles.«
Verdammt, sogar Tseia war auf die Seite der Gesandten-Gläubigen gewechselt, obwohl sie es doch besser wissen musste!
»Schon gut, du wirst deine Gründe haben«, murmelte sie und tätschelte meine Hand. Mit etwas festerer Stimme fuhr sie fort: »Es ist die Hochzeit, die fehlt. Warum hat das Königshaus auch so lange gewartet? Sicher liegt es an den Eidbrechern und ihren Forderungen! Nun, morgen wird endlich alles gut.«
Ich wollte ihr etwas Unverbindliches antworten – doch die Worte verwandelten sich zu Staub in meinem Mund. Auch sie hatte also Bescheid gewusst und mir nichts gesagt!
Zum Glück kehrte in diesem Moment Dromos zurück. »Nur oberflächliche Schäden, soweit ich sehe«, meldete er und half Tseia auf die Füße. »Ihr schlaft trotzdem bis auf Weiteres im Freien. Richtet euch unverzüglich ein und nehmt alles Wichtige mit.«
»Sir, yes, Sir.« Ich hatte es aufsässiger sagen wollen, aber mir gelang nur ein Murmeln.
»Das ist kein Scherz«, erwiderte er, doch ohne die Schärfe, die ich erwartet hatte. »Es geht um eure Sicherheit. Diese Erdbeben … sie werden stärker. Mit jedem Mal. Nehmen zu an Intensität und Häufigkeit. Unsere Gelehrten meinen, eine Regelmäßigkeit zu erkennen. Wie eine Springflut, die sich aufbaut, heißt es.«
Ich überschlug blitzschnell, was das bedeutete. »Soll das heißen, die Beben haben keinen natürlichen Ursprung?«
»Keinen, den wir kennen. Ebbe und Flut sind auch natürliche Phänomene, doch wer ihre Ursachen nicht kennt, hält sie für das Werk der Götter. Wir müssen weiter forschen.«
»Vielleicht zürnt uns Der aus der Tiefe!«, schaltete sich Tseia mit unheilvoller Miene ein.
»Einige dieser Fanatiker scheinen das jedenfalls zu glauben«, knurrte Dromos, während er zum Haus zurückmarschierte. »Denen ist alles recht, um das Volk aufzuwiegeln.«
Ich hielt Schritt. Auf der einen Seite war ich wieder einmal fasziniert von der Selbstverständlichkeit, mit der in Atlantis Wissenschaft und Götterglaube miteinander einhergingen – doch auf der anderen Seite wollte ich Fakten haben. »Was meinst du damit? Gibt es Unruhen bei den Statthaltern?« Schließlich war Der aus der Tiefe in erster Linie der Gott dieser atlantischen Bevölkerungsgruppe. Ich hatte bereits am eigenen Leibe erlebt, was geschehen konnte, wenn diese normalerweise so friedliebenden Menschen den Kampf gegen die Ungerechtigkeiten aufnahmen, die ihnen das »Königsvolk« seit Jahrtausenden aufzwang.
Als ich Dromos durch die Seitentür zurück in das Innere der Villa folgte, hörte ich ihn sagen: »Diese Gruppe, mit der du zu tun hattest, Die Arme des Kraken … sie sind damals nicht konsequent genug verfolgt worden. Oder es gibt Nachahmer, das untersuchen wir noch. Wie dem auch sei, seit die Beben begonnen haben, werden wieder Parolen verbreitet, die zu Gewalt aufrufen. Und schlimmer noch –«
Wir betraten den Innenhof und ich zuckte zusammen beim Anblick der Verwüstung, die das Beben in dem so liebevoll gepflegten Garten angerichtet hatte. Doch weitere Gedanken konnte ich jetzt nicht darauf verwenden. »Was?«, hakte ich bei Dromos nach.
Der drehte sich zu mir um und sagte: »Vor vier Monaten wurde der Eingeweihte des Letzten Tempels getötet. Zusammen mit den verbliebenen drei Wächtern. Sie konnten ihn nicht schützen.«
Ich sog entsetzt die Luft ein. »Und das waren die Arme des Kraken?« In meinen Magen rumorte es reflexhaft bei der Erinnerung an diese Statthalter-Terrorgruppe. Unwillkürlich hatte ich wieder vor Augen, wie rücksichtlos sie die Verteidiger des Letzten Tempels – ihre eigenen Leute! – auf der Jagd nach uns niedergemetzelt hatten. Wie ihr Anführer Kio bis zuletzt versucht hatte, seinen wahnsinnigen Plan zur Vernichtung des Königsvolks umzusetzen … und gestorben war, um uns mit in den Tod zu reißen.
Dromos zuckte mit den Schultern. »Wer auch immer das getan hat, hat jeden Respekt vor Dem aus der Tiefe verloren – oder ist so verblendet, dass er wirklich glaubt, in dessen Namen alles tun zu dürfen.« Er ging in die Hocke und hob ein Stück des herabgestürzten Frieses auf – vorher ein kleines Kunstwerk, jetzt nur noch Trümmer. »Diese Irren zerstören jeden Fortschritt, den sie durch den Minos errungen haben. Und ganz sicher werden sie durch ihr Tun keine weiteren Beben verhindern.« Urplötzlich lag sein Blick auf mir. »Ich frage mich, ob du etwas damit zu tun hast, Oberfläche.«
Vollkommen überfahren schnappte ich nach Luft. »Ich? Wie kommst du denn auf so was?«
»Das erste Beben kam kaum eine Woche, nachdem ich dich wieder mit zurückgenommen habe. Nachdem du angeblich diesen ›Ruf‹ gehört hast.«
»Wie sollte denn meine Rückkehr so etwas auslösen? Du bist es doch, der mir ständig versichert, wie ungöttlich ich bin!«
Mal ganz abgesehen davon, dass es keine Götter gibt, knurrte es in mir.
»Sei’s drum, wir wissen eben noch nichts über die Ursache.« Dromos ließ den Stein wieder fallen, stand auf und klopfte sich den Staub von den Händen. »Ich muss aufbrechen. Es gibt viel zu tun und diese ständigen kleinen Katastrophen machen meine Arbeit nicht leichter. In den nächsten Tagen werde ich kaum Zeit haben, herzukommen. Wir reden später weiter.«
Später.
Die Wucht dessen, was in diesem Wort mitschwang, traf mich wie ein erneuter Erdstoß. »Nach der Hochzeit, meinst du«, presste ich heraus.
Dromos trat einen Schritt näher und fasste mich genau ins Auge. »Du wirst keinen Unsinn machen, oder?«, fragte er harsch. »Ich könnte das verhindern, das weißt du. Dich hier einsperren. Wachen aufstellen.«
»Ich mache keinen Unsinn«, sagte ich, das Kinn auf die Brust gedrückt. Meine Stimme klang erbärmlich dünn. Seine Drohung war ernst gemeint, kein Zweifel. Aber das hier war meine eigene Entscheidung. Meine Wahl. Und ich wusste: Auch wenn sie mir schier das Herz brach, wieder und wieder – sie war richtig. Mit diesen Gedanken stieg eine eigenartige Ruhe in mir auf. »Ich liebe Aris«, sagte ich leise. »Und ich weiß nicht, ob das je aufhört. Trotzdem bin ich in der Lage, vernünftig zu handeln – und das werde ich auch.« Ich sah ihm direkt in seine blassgrauen Augen. »Du glaubst mir nicht? Dann sperr mich ein. Hast du ja schon mal getan. Nur zu – versuch’s.«
War da ein schmerzhaftes Zucken in Dromos’ Gesicht bei meiner Anspielung? Dachte er daran, wie er mich entführt, bedroht und verprügelt hatte, alles zum Schutz von Atlantis? Doch er schüttelte den Kopf und jede Spur von Betroffenheit verschwand.
»Du hast mir dein Wort gegeben. Das reicht mir.« Er wandte sich zum Gehen. Nach zwei Schritten drehte er sich jedoch noch einmal um, und als er wieder sprach, war sein Tonfall ungewöhnlich sanft. »Oberfläche. Die Welt wird nicht untergehen. Zumindest nicht morgen. Denk in Ruhe nach. Über die Gründe, wegen derer du zurückgekehrt bist. Wegen derer du bleiben willst. Alle Gründe. Und auch über mein Angebot. In drei Tagen komme ich wieder, und du sagst mir, was du entschieden hast. Wenn du dann gehen willst, bringe ich dich persönlich zurück an eure Küste.«
»Drei Tage«, sagte ich. »Nicht länger. Versprich es.«
»Ich verspreche es. Drei Tage.« Er hob seinen Arm, als wollte er mir die Schulter drücken, überlegte es sich wohl auf halbem Wege anders und rückte stattdessen umständlich die Seesternschließe seines Kurzmantels zurecht. »Lass dir von Tseia einen Schwarzalgentee machen. Der klärt den Kopf.«
Damit drehte er sich um und verschwand aus dem Innenhof wie Nebel, den die Sonne vertreibt.
Eine Stunde später hielt ich tatsächlich einen bunt glasierten Keramikbecher mit bittersüßem Schwarzalgentee in der Hand. Tseia hatte ihn mir quasi aufgedrängt, meine Hilfe beim Aufräumen dagegen abgewehrt – sie wolle zuerst die Statik der erschütterten Villa prüfen – und mich in meine Gemächer verbannt. Nun saß ich in der Polsterecke des Balkons unter dem aufgespannten hellen Sonnensegel. Ich senkte mein Gesicht so tief in meinen Becher, dass ich den warmen Dampf des Tees auf meiner Haut spürte. Versuchte, nachzudenken … und die finstere Unruhe in meinem Herzen zu bändigen.
Doch ich wusste kaum, wohin mit mir. Dieser Tag hatte mir keine Chance gelassen. Erst entkam ich knapp einem Monster, dann einem Erdbeben. Doch nichts davon war vergleichbar mit der Nachricht von der königlichen Hochzeit. Dieser Verbindung zwischen dem Thronerben von Atlantis und der Prinzessin von Pacifika, die endlich beiden Reichen Frieden und Gerechtigkeit geben sollte. Ein Freudentag für Millionen von Menschen … der gleichzeitig meine letzte Hoffnung zerstörte.
Wenn ich den Kopf hob, konnte ich in der Ferne den Palast sehen, dieses immense, fünfflügelige Bauwerk, das sich wie ein Berg in die Höhe reckte und das Firmament von Atlantis zu stützen schien. Irgendwo in diesem gigantischen Ameisenhügel war Aris. Wie einsam er sich fühlen musste, ohne jeden Freund oder Vertrauten. Sicher, er hatte noch seine Eltern, die ihn zweifellos liebten – doch durch ihre Stellungen als Minos und Hohepriesterin von Atlantis waren sie wohl eher ferne Satelliten für ihn. Und morgen würde er eine Frau heiraten, die diese Ehe genauso wenig wollte wie er, die in ihm vielleicht noch immer nur den Unterdrücker ihres Volks sah. Oder – oder lagen die Dinge jetzt etwa anders? Was hatte Dromos mit seiner Anspielung beim Frühstück gemeint? Hilflos verkrampften sich meine Hände um den Becher. Das war alles so abgefuckt … und doch so unwichtig, mit Blick auf das große Ganze. Ein paar Sandkörner waren also unglücklich? Wen kümmert’s?!
Keine Chance. Wir hatten niemals eine, von Anfang an. Aber warum, verdammt, konnte ich dann nicht endlich aufgeben? Warum hoffte ich noch immer? Wie dumm, wie selbstzerstörerisch konnte man sein?
Alles sehr gute Fragen, flüsterte meine innere Stimme. Aber eigentlich geht es nur um die eine: Warum bist du noch hier?
Verdammt, ich weiß es nicht. Ich stellte den Becher ab und atmete tief durch. Am Strand von Kreta war ich mir so sicher, dass mich etwas zurückruft. Dass ich hier gebraucht werde. Aber was, wenn –
»Wasserauge! Du bist es wirklich!«
Eine Mädchenstimme, hell und fröhlich, zerriss die schwarze Stimmung, die mich so fest eingesponnen hatte. Ich hob den Kopf – und blickte in das strahlende Gesicht von Tis.
Im nächsten Moment steckte ich in einer Umarmung von Weltklasse: Denn da war ja nicht nur Tis, die pfiffige kleine »Kanalratte« mit dem schwarzen Wuschelkopf, sondern auch ihr Haustierchen – der kleine Landoktopus, der mir geholfen hatte, mein Abenteuer in Pacifika zu überleben. Die beiden stürzten sich so begeistert auf mich, dass ich in einem Gewühl aus Menschenarmen und rot-gelb geringelten Tentakelchen rücklings in die Polster knallte.
»Ich konnt’s erst gar nicht glauben!«, juchzte Tis. »Du wolltest doch zurück an die Oberfläche! Aber dann habe ich diese Nachricht bekommen …«
Und sofort verstanden, dachte ich froh, obwohl es nur ein Wort war: »Wasserauge.« Okay, hatte ich Dromos’ Regeln von wegen Kontaktsperre eben doch etwas gebeugt. War immer wieder heimlich zum nahegelegenen Kanal gelaufen, brav mit Kopftuch, klar!, hatte auf Boote des Schiffervolks gewartet und deren Besatzungen ausgefragt – bis endlich jemand Tis kannte und versprach, ihr meine Botschaft auszurichten.
»Oh Ella, ich freu mich so! Guck, Krìpi, jetzt wird alles gut! Los, erzähl: Was ist passiert? Hat die Göttin einen Sonderauftrag für dich? Kann ich diesmal helfen? Komm schon, sag Ja!«
»Langsam!«, röchelte ich lachend. »Ruf erst mal Creepy zurück, bitte, er drückt mir die Luft ab!«
»Aus, Krìpi!«, befahl Tis sofort streng und gab mich endlich frei. Auch ihr kleiner Kumpel brach den Angriff auf mich gehorsam ab und robbte an mir hinunter, bis er einen bequemen Platz auf meinem Knie gefunden hatte. Dort saugte er sich fest – eine Berührung, die ich anfangs unglaublich ekelig gefunden hatte, die mir aber im Lauf unserer gemeinsamen Reise so vertraut geworden war wie das Gefühl, das Fell von Snowflake durchzuwuscheln, meinem verfressenen Lieblingshund in Cornwall.
Der kleine Oktopus verdrehte seinen Körper, als wollte er einschmeichelnd den Kopf schief legen, und sah mich aus seinen babyblauen Augen groß an. Mit einem Lächeln hielt ich ihm meine Hand hin und er umschlang meinen Zeigefinger entzückt mit einem Fangarm – ein Oktopus-Guten-Tag. »Ich hab dich auch vermisst, Creepy«, flüsterte ich glücklich. »Und dich natürlich!«, fügte ich mit einem Blick zu Tis hinzu.
Die aber schien überhaupt nichts dagegen zu haben, hier die zweite Geige zu spielen, und war schon längst beim nächsten Schritt. »Ist das Schwarzalgentee?«, fragte sie eifrig und tippte gegen meinen Becher. »Kann ich auch welchen? Gibt’s kein Gebäck? Oh, da ist ja eine Schüssel Honigschnecken, klasse. Weg, Krìpi, das magst du eh nicht! Fang dir Knisterkäfer, drüben an der Brüstung sind welche.«
Während Tis ihre Kommandos gab, mir meine Snacks klaute, die Schönheit der Delfinvilla kommentierte und über meine langen Haare staunte, überlegte ich, was ich ihr wohl erzählen durfte. Wenn ich Dromos gefragt hätte, vermutlich gar nichts – aber das hier war Tis, verdammt! Auf die Kleine konnte man sich felsenfest verlassen. Außerdem hatte sie sich unbemerkt auf meinen Balkon gestohlen – sie konnte bestimmt fast so gut klettern wie Creepy! –, also würde niemand von ihrem heimlichen Besuch erfahren. Die Liste meiner Verbündeten hier war eh erschreckend kurz.
Trotzdem ließ ich sie erst einmal plappern. Schließlich wollte ich wissen, wie es ihr in den letzten sechs Monaten ergangen war. Offenbar sehr gut: Die Lieferdienste mit ihrem Boot Sika lohnten sich immer mehr und selbst in der »nervigen« Schule kam sie jetzt besser klar – dank der Nachhilfe eines jungen Schreibers in Ausbildung, der seit Kurzem ebenfalls zum Haus der Dornenbienen gehörte … Flin! Wehmütig dachte ich an den schlacksigen Teenie, der als Einziger unserer tapferen Soldatentruppe die Mission in Pacifika überlebt hatte. Sein Bruder Orlon war dort in meinen Armen gestorben, aber Flin bekam jetzt immerhin die Chance auf eine bessere Zukunft. Auch wenn das hieß, sich mit Tis herumschlagen zu müssen.
»Er ist ganz in Ordnung – für ’ne Landratte«, lautete ihr abschließendes Urteil und schon musste ich wieder grinsen.
Als Tis sich schließlich den Mund so mit Gebäck vollgestopft hatte, dass selbst sie eine Redepause brauchte, nutzte ich die günstige Gelegenheit und berichtete ihr, wieso ich mich entschieden hatte, nach Atlantis zurückzukehren. Und obwohl ich mich bemühte, die Sache mit der »Stimme des Ozeans« so sachlich wie möglich zu schildern, war Tis sofort Feuer und Flamme.
»Also bist du nicht nur von der Herrin der Winde auserwählt, sondern auch von Dem aus der Tiefe!« Ihre dunklen Augen wurden noch größer vor Begeisterung. »Oh, ich wusste es, die Götter lassen uns nicht im Stich! Bist du hier, um uns ihren Willen zu übermitteln? Was sollen wir tun?« Erwartungsvoll strahlte sie mich an.
»Äh. Keine Ahnung?« Sosehr ich diese Gesandten-Gerüchte hasste – Tis zu enttäuschen, fühlte sich trotzdem supermies an.
Doch sie stopfte sich eh schon die nächste Honigschnecke in den Mund, spülte sie mit einem Riesenschluck Tee herunter und redete weiter: »Du wirst es schon wissen, wenn die Zeit gekommen ist. Auf jeden Fall bin ich so, so, so froh, dass du zurück bist!« Sie stockte kurz. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Dass die Erde so wackeln kann … das wusste ich gar nicht. Es … es ist ein bisschen unheimlich. Nicht, dass du denkst, ich hätte Angst!« Mutig hob sie das Kinn, schielte dann besorgt in Richtung Brüstung, wo ihr achtarmiges Haustier die hiesige Insektenwelt terrorisierte. »Krìpi ist nur so unruhig, seit die Beben angefangen haben.«
»Hey, du – ich meine, er muss sich keine Sorgen machen«, beruhigte ich sie lächelnd. »Zusammen seid ihr unschlagbar, das weißt du doch!«
Tis’ nächste Worte bewiesen hingegen, dass es hier um mehr als Kinderängste ging. »Die anderen sind schon alle weg«, flüsterte sie. »Ich glaube, das hat noch niemand gemerkt. Die Statthalter denken, die haben sich nur verkrochen. Aber Krìpi und ich sind ihnen gefolgt. Sie verschwinden nach draußen. Ins Meer. Sie verlassen uns.«
»Sie? Wer denn?«, fragte ich.
»Na, die Achtarme. Jeder Oktopus in Atlantis ist fort. Sogar der Große Weiße vom Krakenfelsen, hab ich gehört. Niemand weiß, wie und wohin, aber er ist weg.«
»Bist du sicher?« Doch ich kannte die Antwort schon vor dem heftigen Nicken, das Tis’ perlengeschmückte Zöpfe durch die Luft wirbeln ließ. Denn sosehr die Kleine aufregende Geschichten liebte – wenn es hart auf hart kam, konnte sie Fakten von Gerüchten trennen.
»Ich glaube, Krìpi bleibt nur wegen mir«, vertraute sie mir an. »Er würde auch am liebsten fort. Bei jedem neuen Beben kann ich ihn kaum beruhigen.«
Die Ratten verlassen das sinkende Schiff, flüsterte es in mir und einen Moment lang erstickte die Angst jeden vernünftigen Gedanken. Konnte das stimmen? Waren Atlantis und sein Schwesterreich dem Untergang geweiht? Doch gleich darauf bäumte sich mein Trotz auf. Kommt nicht infrage! Wir haben das schon zwei Mal verhindert. Wenn’s sein muss, schaffen wir es auch noch ein drittes Mal!
Ach was, willst du jetzt gegen Erdbeben kämpfen?, erklang es ironisch in mir. Und ohnehin, was heißt »wir«? Das dynamische Trio existiert nicht mehr, schon vergessen? Som ist weit weg in Pacifika. Und Prince Charming hält morgen Märchenhochzeit mit Miss Unterwasser.
Volltreffer. Genau in die Magengrube.
»Ella?« Eine schmutzige kleine Hand und ein rot-gelb geringelter Tentakel wedelten vor meinem Gesicht herum. »Alles in Ordnung, Wasserauge? Du bist plötzlich so blass!«
»Ach, das ist nur … der Kreislauf«, murmelte ich.
Als Strafe für meine Lüge bekam ich sofort einen frisch gefüllten Becher Tee und die allerletzte Honigschnecke aufgedrückt, zusammen mit einem Schwall Ermahnungen von Mama Tis zum Thema »anständig essen und trinken«.
Gehorsam putzte ich den mageren Rest weg, den mir meine kleine Besucherin von Tseias Imbiss gelassen hatte. Besser fühlte ich mich dadurch kein Stück.
»Sag mal«, murmelte ich nach einer Weile, »diese … diese Hochzeit morgen. Bestimmt ganz schön großer Trubel deswegen im Palast, oder?«
»Mmh.« Mit einem Mal wurde Tis einsilbig und war verdächtig interessiert daran, das Innere der Gebäckschüssel nach letzten Krümeln abzusuchen.
Sie ist nicht blöd, denk dran, rügte meine innere Stimme. Wenn du etwas wissen willst, frag lieber direkt.
Das stimmte, so wenig es mir auch gerade gefiel.
»Hast … hast du Aris gesehen in den letzten Monaten?«, rang ich mir also ab. »Konntest du vielleicht mit ihm sprechen?«
Tis produzierte ein winziges Kopfschütteln. Diesmal regte sich keine Strähne ihrer Haarpracht. »Er hat mich nicht gerufen. Kein einziges Mal. Ich mein, ich weiß, wie ich heimlich in seine Gemächer komme, aber ich will nicht, dass er böse auf mich ist. Jetzt ist ja alles so … anders. Ich hab mich ein paar Mal in die Arena reingeschlichen. Da trainiert er manchmal, ganz frühmorgens oder wenn’s schon dunkel ist. Aber da sind auch immer Leibwächter und Diener, und die passen irre auf, ob wer in seine Nähe kommt. Er hat mich nicht mal gesehen.« Sie hob die schmalen Schultern, als ob sie sich für ihre Worte entschuldigen wollte.
Ich nickte mechanisch. Leider schaltete Tis ihren Plappermaul-Modus wieder ab und verstummte, sodass ich mich zu einer weiteren Frage zwingen musste: »Und … was ist mit der Prinzessin?«
Mit dem Thema wurde Tis wieder etwas wärmer. »Die ist voll hochnäsig. Nix kann man ihr recht machen, sagen ihre Dienerinnen. Dabei ist sie bloß eine pacifische Prinzessin! Und die soll die nächste Herrin der Winde werden? Pfft. Oft genug in den Tempel geht sie ja, aber ich glaub, die hat noch viel zu lernen!«
Wider Willen zuckten meine Mundwinkel bei dieser knallharten Kindermund-Bewertung. Tis grinste zurück und kramte bereitwillig ein paar Palastklatsch-Beispiele für Elyrias »Hochnäsigkeit« hervor.
Meine innere Stimme ließ sich allerdings nicht beirren: Das ist ein Ablenkungsmanöver, merkst du das nicht? Stichwort »nicht blöd«? Sie weiß genau, was du eigentlich hören willst, und rückt nicht raus damit!
»Tis«, unterbrach ich die Kleine leise. »Wie kommt sie denn mit Aris aus? Ich meine, sie … sie sollen doch morgen heiraten. Verstehen sie sich?«
Die letzte Unterhaltung, die ich zwischen dem zukünftigen Traumpaar miterlebt hatte, war jedenfalls alles andere als Glück verheißend abgelaufen. Aris hatte die gesamte Mission in Pacifika