Frühe Erzählungen 1893-1912: Beim Propheten - Thomas Mann - E-Book

Frühe Erzählungen 1893-1912: Beim Propheten E-Book

Thomas Mann

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Beschreibung

Im Werk Thomas Manns stehen die Erzählungen gleichberechtigt neben den großen Romanen. Ihre formale Klarheit und sprachliche Präzision zeichnen sie ebenso aus wie ihr Humor und ihr psychologischer Scharfblick. Bereits der junge Thomas Mann hat die kurze Prosa als seine Form entdeckt und früh zur Meisterschaft entwickelt. Über Jahrzehnte hinweg hat der Autor immer wieder Erzählungen verfasst, die zu den wichtigsten dieses Genres gehören, darunter ›Der kleine Herr Friedemann‹ (1897), ›Tonio Kröger‹ (1903), ›Tristan‹ (1903), ›Der Tod in Venedig‹ (1912), ›Herr und Hund‹ (1919), ›Mario und der Zauberer‹ (1930) oder ›Die vertauschen Köpfe‹ (1940). In der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe (GKFA), mit Daten zu Leben und Werk.

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Seitenzahl: 18

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Thomas Mann

Beim Propheten

Fischer e-books

In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk

{408}BEIM PROPHETEN

Seltsame Orte gibt es, seltsame Gehirne, seltsame Regionen des Geistes, hoch und ärmlich. An den Peripherien der Großstädte, dort, wo die Laternen spärlicher werden und die Gendarmen zu zweien gehen, muß man in den Häusern emporsteigen, bis es nicht weiter geht, bis in schräge Dachkammern, wo junge, bleiche Genies, Verbrecher des Traumes, mit verschränkten Armen vor sich hinbrüten, bis in billig und bedeutungsvoll geschmückte Ateliers, wo einsame, empörte und von innen verzehrte Künstler, hungrig und stolz, im Zigarettenqualm mit letzten und wüsten Idealen ringen. Hier ist das Ende, das Eis, die Reinheit und das Nichts. Hier gilt kein Vertrag, kein Zugeständnis, keine Nachsicht, kein Maß und kein Wert. Hier ist die Luft so dünn und keusch, daß die Miasmen des Lebens nicht mehr gedeihen. Hier herrscht der Trotz, die äußerste Konsequenz, das verzweifelt thronende Ich, die Freiheit, der Wahnsinn und der Tod …

Es war Karfreitag, abends um acht. Mehrere von denen, die Daniel geladen hatte, kamen zu gleicher Zeit. Sie hatten Einladungen in Quartformat erhalten, auf denen ein Adler einen nackten Degen in seinen Fängen durch die Lüfte trug und die in eigenartiger Schrift die Aufforderung zeigten, an dem Konvent zur Verlesung von Daniels Proklamationen am Karfreitagabend teilzunehmen, und sie trafen nun zur bestimmten Stunde in der öden und halbdunklen Vorstadtstraße vor dem banalen Mietshause zusammen, in welchem die leibliche Wohnstätte des Propheten gelegen war.

Einige kannten einander und tauschten Grüße. Es waren der polnische Maler und das schmale Mädchen, das mit ihm lebte, der Lyriker, ein langer, schwarzbärtiger Semit mit seiner schwe{409}