Frühe Erzählungen 1893-1912: Das Eisenbahnunglück - Thomas Mann - E-Book

Frühe Erzählungen 1893-1912: Das Eisenbahnunglück E-Book

Thomas Mann

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Beschreibung

Im Werk Thomas Manns stehen die Erzählungen gleichberechtigt neben den großen Romanen. Ihre formale Klarheit und sprachliche Präzision zeichnen sie ebenso aus wie ihr Humor und ihr psychologischer Scharfblick. Bereits der junge Thomas Mann hat die kurze Prosa als seine Form entdeckt und früh zur Meisterschaft entwickelt. Über Jahrzehnte hinweg hat der Autor immer wieder Erzählungen verfasst, die zu den wichtigsten dieses Genres gehören, darunter ›Der kleine Herr Friedemann‹ (1897), ›Tonio Kröger‹ (1903), ›Tristan‹ (1903), ›Der Tod in Venedig‹ (1912), ›Herr und Hund‹ (1919), ›Mario und der Zauberer‹ (1930) oder ›Die vertauschen Köpfe‹ (1940). In der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe (GKFA), mit Daten zu Leben und Werk.

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Seitenzahl: 21

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Thomas Mann

Das Eisenbahnunglück

Fischer e-books

In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk

{470}DAS EISENBAHNUNGLÜCK

Etwas erzählen? Aber ich weiß nichts. Gut, also ich werde etwas erzählen.

Einmal, es ist schon zwei Jahre her, habe ich ein Eisenbahnunglück mitgemacht – alle Einzelheiten stehen mir klar vor Augen.

Es war keines vom ersten Range, keine allgemeine Harmonika mit »unkenntlichen Massen« und so weiter, das nicht. Aber es war doch ein ganz richtiges Eisenbahnunglück mit Zubehör und obendrein zu nächtlicher Stunde. Nicht jeder hat das erlebt, und darum will ich es zum besten geben.

Ich fuhr damals nach Dresden, eingeladen von Förderern der Literatur. Eine Kunst- und Virtuosenfahrt also, wie ich sie von Zeit zu Zeit nicht ungern unternehme. Man repräsentiert, man tritt auf, man zeigt sich der jauchzenden Menge; man ist nicht umsonst ein Untertan Wilhelms II. Auch ist Dresden ja schön (besonders der Zwinger), und nachher wollte ich auch zehn, vierzehn Tage zum »Weißen Hirsch« hinauf, um mich ein wenig zu pflegen und wenn, vermöge der »Applikationen«, der Geist über mich käme, auch wohl zu arbeiten. Zu diesem Behufe hatte ich mein Manuskript zuunterst in meinen Koffer gelegt, zusammen mit dem Notizenmaterial, ein stattliches Konvolut, in braunes Packpapier geschlagen und mit starkem Spagat in den bayrischen Farben umwunden.

Ich reise gern mit Komfort, besonders, wenn man es mir bezahlt. Ich benützte also den Schlafwagen, hatte mir Tags zuvor ein Abteil erster Klasse gesichert und war geborgen. Trotzdem hatte ich Fieber, wie immer bei solchen Gelegenheiten, denn eine Abreise bleibt ein Abenteuer, und nie werde ich in Verkehrsdingen die rechte Abgebrühtheit gewinnen. Ich {471}weiß ganz gut, daß der Nachtzug nach Dresden gewohnheitsmäßig jeden Abend vom Münchener Hauptbahnhof abfährt und jeden Morgen in Dresden ist. Aber wenn ich selber mitfahre und mein bedeutsames Schicksal mit dem seinen verbinde, so ist das eben doch eine große Sache. Ich kann mich dann der Vorstellung nicht entschlagen, als führe er einzig heute und meinetwegen, und dieser unvernünftige Irrtum hat natürlich eine stille, tiefe Erregung zur Folge, die mich nicht eher verläßt, als bis ich alle Umständlichkeiten der Abreise, das Kofferpakken, die Fahrt mit der belasteten Droschke zum Bahnhof, die Ankunft dortselbst, die Aufgabe des Gepäcks hinter mir habe und mich endgültig untergebracht und in Sicherheit weiß. Dann freilich tritt eine wohlige Abspannung ein, der Geist wendet sich neuen Dingen zu, die große Fremde eröffnet sich dort hinter den Bogen des Glasgewölbes, und freudige Erwartung beschäftigt das Gemüt.