0,99 €
Im Werk Thomas Manns stehen die Erzählungen gleichberechtigt neben den großen Romanen. Ihre formale Klarheit und sprachliche Präzision zeichnen sie ebenso aus wie ihr Humor und ihr psychologischer Scharfblick. Bereits der junge Thomas Mann hat die kurze Prosa als seine Form entdeckt und früh zur Meisterschaft entwickelt. Über Jahrzehnte hinweg hat der Autor immer wieder Erzählungen verfasst, die zu den wichtigsten dieses Genres gehören, darunter ›Der kleine Herr Friedemann‹ (1897), ›Tonio Kröger‹ (1903), ›Tristan‹ (1903), ›Der Tod in Venedig‹ (1912), ›Herr und Hund‹ (1919), ›Mario und der Zauberer‹ (1930) oder ›Die vertauschen Köpfe‹ (1940). In der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe (GKFA), mit Daten zu Leben und Werk.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 20
Thomas Mann
Der Weg zum Friedhof
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
An Arthur Holitscher
Der Weg zum Friedhof lief immer neben der Chaussee, immer an ihrer Seite hin, bis er sein Ziel erreicht hatte, nämlich den Friedhof. An seiner anderen Seite lagen anfänglich menschliche Wohnungen, Neubauten der Vorstadt, an denen zum Teil noch gearbeitet wurde; und dann kamen Felder. Was die Chaussee betraf, die von Bäumen, knorrigen Buchen gesetzten Alters flankiert wurde, so war sie zur Hälfte gepflastert, zur Hälfte war sie’s nicht. Aber der Weg zum Friedhof war leicht mit Kies bestreut, was ihm den Charakter eines angenehmen Fußpfades gab. Ein schmaler, trockener Graben, von Gras und Wiesenblumen ausgefüllt, zog sich zwischen beiden hin.
Es war Frühling, beinahe schon Sommer. Die Welt lächelte. Gottes blauer Himmel war mit lauter kleinen, runden kompakten Wolkenstückchen besetzt, betupft mit lauter schneeweißen Klümpchen von humoristischem Ausdruck. Die Vögel zwitscherten in den Buchen, und über die Felder daher kam ein milder Wind.
Auf der Chaussee schlich ein Wagen vom nächsten Dorfe her gegen die Stadt, er fuhr zur Hälfte auf dem gepflasterten, zur anderen Hälfte auf dem nicht gepflasterten Teile der Straße. Der Fuhrmann ließ seine Beine zu beiden Seiten der Deichsel hinabhängen und pfiff aufs Unreinste. Am äußersten Hinterteile aber saß ein gelbes Hündchen, das ihm den Rücken zuwandte und über sein spitzes Schnäuzchen hinweg mit unsäglich ernster und gesammelter Miene auf den Weg zurückblickte, den es gekommen war. Es war ein unvergleichliches Hündchen, Goldes wert, tief erheiternd; aber leider gehört es nicht zur Sache, {212}weshalb wir uns von ihm abkehren müssen. – Ein Trupp Soldaten zog vorüber. Sie kamen von der unfernen Kaserne, marschierten in ihrem Dunst und sangen. Ein zweiter Wagen schlich, von der Stadt kommend, gegen das nächste Dorf. Der Fuhrmann schlief, und ein Hündchen war nicht darauf, weshalb dieses Fuhrwerk ganz ohne Interesse ist. Zwei Handwerksburschen kamen des Weges, der eine bucklicht, der andere ein Riese an Gestalt. Sie gingen barfuß, weil sie ihre Stiefel auf dem Rücken trugen, riefen dem schlafenden Fuhrmann etwas gutgelauntes zu und zogen fürbaß. Es war ein maßvoller Verkehr, der sich ohne Verwicklungen und Zwischenfälle erledigte.
Auf dem Wege zum Friedhof ging nur ein