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Ein entspanntes Wochenende sieht anders aus: Eigentlich will Hauptkommissar Sandner sich Erholung im Ammertal gönnen, da erleidet in München der junge Toni Brandl einen tödlichen Genickbruch. Da die Eltern in Bad Kohlgrub leben, wo der Kriminaler gerade kurt, darf er ihnen die Todesnachricht übermitteln. Dabei erfährt er, dass ihr Sohn angeblich die Schuld am Freitod der jungen Anni trug. Sofort nimmt die Polizei deren Vater ins Visier, doch der Sandner hat einen ganz anderen Verdacht …
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November 2016
ISBN 978-3-492-98304-4
© Originalausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2012
© Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2016
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: © Eric Isselee, Reinhold Leitner
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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»Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen.«
Goethe: Faust
Sie hat auf einmal die Augen weit aufgerissen. Die Iriden so blau, als wär vom Himmelsanstrich noch Farbe übrig gewesen.
Aufwachen will sie, aber es ist zu spät. Nicht begreifen kann sie, was um sie geschieht. Der Schmerz verbrennt ihre Gedanken, hinterlässt nur schwelende Trümmer. Ihre Beine zappeln. Nur kurz – mehr ein Stoßen ist es, wie beim Brustschwimmen. In die Höhe will sie vielleicht. Sich freistrampeln. Aber sie kommt nirgendwo hin. Aus dem Fleisch wird der Wille herausgepresst. Endgültig.
Pochen will das Herz. Kann nicht mehr. Zu schwer. Nur ein finaler Schlag. Die zu enge Brust möchte es aufsprengen.
Das Seil hat sich ihr tief in den Hals gebissen. Es lässt nicht locker. Gnadenlos. Kein Auskommen.
Als würde der Baum schaudern, zittert sein Arm unter der gurgelnden Last.
Dann ist es beinahe still.
Ganz leicht pendelt ihr Leib hin und her, als wär’s ein bizarres Windspiel. Zu hören ist nichts außer dem leichten, rhythmischen Knarren des Seiles.
Hin und her. Hin und her.
Eine Krähe wirft endlich ihr Krächzen in den Himmel. Kein Klageruf.
Der Boandlkramer legt die Sense beiseite und nimmt das Madl sanft in den Arm. Mit Gerechtigkeit brauchst du ihm nicht zu kommen, ihn verlangt es nicht nach dem Bösen. Er ist kein Mensch.
Der Mann ist nackt.
Was jetzt per se nicht erwähnenswert wäre – das ist unter der Dusche gängige Praxis. Allerdings ist dieser Zustand für ihn zur Gewohnheit geworden, seit er dieses Wochenende vorwiegend in Whirlpools, Dampfbädern und beim Saunieren samt balsamierenden Kräuterölen verbracht hat. Umgeben von anderen schwitzenden Leibern in allen Volumina und Schattierungen. Die Gattung Mensch ist eine variable Lebensform.
Mit diesem archaischen Event hat den Münchner Hauptkommissar Sandner sein Freund, der Doktor Aschenbrenner, beglückt. Seines Zeichens Gerichtsmediziner, hat er dem Sandner zum Vierundvierzigsten ein Wellnesswochenende in Bad Kohlgrub geschenkt. Ein skeptisches Stirnrunzeln nebst geseufztem »Dankschön« hat es ihm eingebracht. Nicht gerade Hawaiihemd – als Präsent spielt der Hotelgutschein aber für den Sandner in der gleichen Liga.
Vielleicht hat sich der Doktor gedacht, dem Kriminaler fehle ein Auffrischungskurs in menschlicher Anatomie.
Jedenfalls hat der Sandner so viel bestens durchblutetes Fleisch vor Augen gehabt, dass er gar nicht zum Nachdenken gekommen ist, in welch phantasievollen Kompositionen es ihm sonst als Mordermittler kredenzt wird. Auch ein Entspannungseffekt, neben den Massagen mit den wunderlichen Attributen, bei denen dir suggeriert wird, du gewinnst durch jeden Hauch einer Berührung ein Lebensjahr hinzu. Vom derben hawaiianischen Durchwalken ganz zu schweigen.
Weich kommt sich der Sandner vor, wie ein fettiger Reiberdatschi, durchtränkt von Vitalessenzen, bis hinauf ins Hirnstüberl. Der Münchner Wahnsinn ist weggeputzt, blank gewienert, die Gedanken frisch gepeelt. Nach ausgiebigem Frühstück würde er sich hüllenlos durch den Tag treiben lassen.
Von Bad Kohlgrub hat er noch nicht viel entdecken können. Gerade einmal den Ortskern in der Senke, wo lüftlbemalte Ziegeldachhäuser den Kirchplatz umzingeln wie drängelnde Schrazen um die beste Sicht beim Seehundbecken in Hellabrunn. Ein Kaleidoskop bukolischer Lebensentwürfe und Behausungen. Die Kurärzte für die Runderneuerung geiern in erhabenen Horten über steinernen Zeugen althergebrachtem Bauerntums mit Gästehäusern und kleinen Lädchen gepaart.
Die Arbeit geht dir hier nicht aus. Freilich kommt die Dorfkulisse geschniegelt daher, aber selbstverständlich und einnehmend schaut es aus. Du musst dich ja selbst noch daheim fühlen, wenn du geschäftig Hand anlegen sollst bei der nach Erbauung lechzenden Fremdenlegion. Die wird durch ein Kurhaus nebst Park und üppigen Wegbeschilderungen gefüttert.
Die Leut hier wissen, was sie haben. Eine Bergkulisse, die dir den Atem raubt, weil das Felsmassiv dich mit erhobenen steinernen Fingern an deine Rolle als kurzlebiger Winzling erinnert. Gemeinsam mit dem Fichtenwaldmeer und dem Moor bildet es ein lebendiges Triumvirat, welches dem Leben hier seinen Stempel aufdrückt.
Das Moor mit seinen Tümpeln und federnden Wiesen umgibt den schlummernden Ort als braungrün gesprenkelter Bettvorleger. Blau lackierte Bagger scharren wie gierige Hühner und kratzen Male in den schwarzen Grund. Beinernen Moorgeistern gleich begegnen sie dir am Wegesrand, winken dir zu mit ihren krallenbewehrten Schaufelarmen. Als der Torf in früheren Zeiten mühsam gestochen wurde, ist es hartes Brot gewesen, ans Eingemachte zu kommen. Dennoch gibt die Natur hier die freigiebige Schatztruhe – ein wenig zu besitzergreifend, wenn sie zur Abwechslung einmal wen umschließen darf mit ihrer schwarzen Brühe. Nach so einer Heilschlammpackung bist du ein ganz neuer Mensch – wenn man den Gedanken der Wiedergeburt aufgreift.
Achtzig Kilometer raus aus München, ein motorisierter Katzensprung, aber es ist, als hätte sich der Sandner auf einen anderen Planeten gebeamt. Einen grünen, frischen, der noch nicht keucht unter dem gebenedeiten Gigantismus, der wahlweise Lärmschutzwälle, Plastikburger und Spinnenphobien gebärt.
Von Henry David Thoreau ist der Satz überliefert: »Ich liebe die Natur, weil sie nicht Mensch ist, sondern Zuflucht davor.« Der ist im Sommer nie in München an den Isarauen gewesen, sonst hätte er das Sprücherl flugs hinuntergewürgt. Leib an Leib an Leib, wie die Laibe beim Hofpfister im Regal. In Bad Kohlgrub kannst du dir von den Leuten zuerst einen optischen Eindruck verschaffen, bevor du sie riechen und fühlen musst. Zumindest kommt nicht auf jeden Baum einer, der grad sein Bier wild ausbieselt oder die Grillwürscht ans überforderte Getier abgeben muss – sonst wär es eine Millionenmetropole.
Wie er mit dem Leihwagen die Hauptstraße entlanggezuckelt ist, hat den Polizisten die Grübelei überkommen. Die Kasse im Hirn hat das übliche Ergebnis ausgespuckt: Man müsste halt öfter an den Zitzen von Mutter Natur zuzeln, zum Volltanken. Wer diesen Standardsatz nicht im Repertoire hat – der haust entweder schon in der Ammertaler Wildnis oder steht auf Fläschchennahrung aus gerammelt vollen Parkanlagen.
Beim Ankommen im Wellnessressort hatten den Polizisten das Gekreisch einer Motorsäge und Musikfetzen einer Quetschn begrüßt. Besser als das ewige Hintergrundrauschen der Blechlawinen, das in der bayrischen Hauptstadt den akustischen Maßstab setzt. Eine Reminiszenz an seine Kindertage, die Quetschenmusi kennt er vom Vater her. Aufgespielt hatte der besonders entfesselt, wenn er aus dem Münchner Schlosseralltag herausgeschlüpft war, zur Verwandtschaft ins bäuerliche Hinterland. Der Sandnerbub immer dabei – freiwillig schreibt sich anders.
Gerade hat der Hauptkommissar das Wasser abgedreht, da dudelt ihm sein Handy die »Rawhide«-Melodie von den Blues Brothers vor. Kalter Guss zur Morgenstund.
»Ja, leck mi!«
Das wird der Kommissar Hartinger definitiv nicht vorgehabt haben. Ein zögerlich gewispertes »Guten Morgen, Herr Sandner« vernimmt der Kriminaler, wie er das Mobilteil unter seinen unnützen Hosen hervorgekramt hat.
»Hartinger, zefix!« Mehr bringt der Sandner nicht heraus. Er kann dem jungen Burschen bloß den Namen in die Hörmuschel speiben. Vor Augen hat er ihn, den zappeligen, bleichen Rotschopf aus Altusried, dessen Wangen wahrscheinlich wie Kohlestückchen vor sich hin glühen.
»Entschuldigung, Herr Sandner, aber ...«
»Denkts euch einfach, ich wär am Hindukusch, oder mich hättens erschossen – oder beides!«
»Wir haben einen Mord und ...«
»Und was willst von mir? Ist dir die Wiesner Sandra ned gut genug? Ihr könnt auch den Bischoff Kare löchern. Nur weil der feine Herr Hauptkommissar jetzt im eigenen Sauhaufen grunzt, ist der nicht aus der Welt. Und warum rufts ned selber an, die Madame?«
»Wir ham geknobelt, äh ... schnick, schnack, schnuck.«
»Und du hast gegen die Sandra verloren? Ausgeschmiert wird sie dich haben.«
»Da kann man nicht schummeln!«
»Ah geh, ich hätt es auch gemacht.«
»Herr Sandner, wir ham einen Toten, und es hat mit Bad Kohlgrub zu tun. Tut mir leid.«
»Es tut dir leid? Davon kann ich mir nix kaufen.«
Die Botschaft war herausgeschlüpft wie eine Natter, und der Sandner hat gewusst, dass er sie nicht zurück ins Loch stopfen könnte. Es wär auch umsonst – das greisliche Mistviech hatte zugebissen.
Die Neugier hat den Leuten viele Errungenschaften der Zivilisation beschert, die Menschheit vorangebracht durch Weltumsegelungen etwa, parfümiertes Scheißhauspapier oder grandiose Klingeltöne.
Ohne die Neugier würde allerdings das Leben vom Hauptkommissar Sandner in den nächsten Tagen bedeutend undramatischer verlaufen, aber er hat halt keine Kristallkugel im Tascherl – alles ehrliches Handwerk.
Headquarter, 9 AM:
»Die Madame« schaut in der Münchner Dienststelle Hansastraße aus dem Bürofenster, so wie es sonst ihr Chef gern praktiziert. Sandra Wiesner, Oberkommissarin, leitende Ermittelnde – klingt gut – zumindest, bis der Sandner sich genug in der Heilschlammsuhle gewälzt hat, um wieder mittun zu können.
Einsortieren ins Regal, abheften im Kopf, was der Morgen ihnen dahergeschleppt hat, wie eine listige Katz die zerfledderte Amsel. Gerade zurückgekommen aus Haidhausen, ist sie nicht recht bei der Sache. Dicht beim Tatort hat sie einst einen Lebensbeglücker genossen, der ihr ausgiebig von seinem handgenähten Schuhwerk mit atmender Sohle vorgeschwärmt hat – und mittendrin wollte er allerweil wissen, ob sie die Pille pünktlich eingeworfen hätte, falls der Gummi poröse Gemeinheiten ausheckte. Beischlaf mit Sicherheitsgurt, Helm und Airbag. Da kommst du auf schräge Gedanken, nur um einmal eine verdutzte Visage betrachten zu können. Atmende Schuhe, Jessasgott!
Und der Zufall ist ein durchdrahter Kasperl – weil direkt in einer Wohnung im Nachbarhaus ihres Ex ist heute Morgen einer dagelegen, an dem hat nix mehr geschnauft. Barfuß ist der gewesen.
Beim Parken vor dem Haus hatte ihr Magen gegrummelt. Die inneren Organe haben ein Elefantengedächtnis.
»Yves« hat er geheißen – nicht der Tote, sondern der Sohlenfetischist –, wahrscheinlich längst Familienvater mit Eigenheim im Grünen, weil eine nicht widerstehen konnte bezüglich belämmerten Gesichtsausdrucks. Mutmaßlich schwerer Samenraub – aber definitiv verminderte Schuldfähigkeit.
Sie zwingt ihre Gedanken zum Toten. Der ist dagelegen mitten im Flur auf dem Parkettboden. Die Arme nach vorne ausgestreckt, auf dem Bauch. Prellungen und Schrammen haben den Körper gezeichnet. Eine weiße Jeans, sonst nichts. Toni Brandl, jung, blond, grazile Gestalt – wieder einer aus dem Leben gerissen, vom Tod am Kragen gepackt und mitgezerrt. Reingeplatzt ist der, mitten in das Alltägliche und Banale, samt Zähneputzen und Fingernagelschneiden und Badputz am Samstag. Die Zukunftsträume und ausgekartelten Pläne hat er zerrupft wie der Wind die vorwitzigen Wolken.
Der Kopf vom Brandl ist unnatürlich überstreckt gewesen, zur Seite gedreht, als wäre der Hals aus Gummi. So haben einst ihre Barbiepuppen ausgeschaut, wenn einer ihrer Brüder seine Experimentiergelüste umgesetzt hatte. Unbequeme Lage, aber die Todesursache ist nicht recht deutlich geworden.
Manchmal hast du die klar vor unwilligen Augen, wenn beispielsweise ein Messergriff aus blutigem Wanst ragt oder ein geschundener Leib an essenziellen Stellen unvollständig daherkommt. In Brandls Fall hat es gewirkt, als ob er sich gleich aufrichten würde und das Ganze zum makabren Scherz erklären. Überflüssig und unnötig ist der Tod erschienen, wie wenn der Mann nur versehentlich den falschen Weg genommen hätte. Sackgasse. Er sollte einfach umkehren, und nix Tragisches wäre passiert.
Die Wiesner hat auf den Augenblick gewartet, bis die Endgültigkeit der Tat den Anker geworfen hat. Tief Luft holen und die Einzelheiten der Leiche studieren. Zuerst Brandls aufgerissene, starre Augen. Sie haben gewirkt, als hätte er noch etwas interessiert studieren wollen, und das Sterben ist ihm einfach dazwischengekommen. Da war nichts im erloschenen Blick vom viel zitierten Erstaunen, eher ein Funken aus Schmerz und Erkenntnis.
Optogramme kommen ihr in den Sinn. Eine obskure Wissenschaft, die mittels ausgefuchster Apparaturen beweisen wollte, dass im starren Auge das letzte Bild zu generieren wäre. Das allerletzte Bild. Wen hat er gesehen, der Toni? Ist es eine Überraschung gewesen, oder hat er das erwarten müssen? Hat er sich verzweifelt gewehrt bis zuletzt?
Eine Mischung aus Weihrauch und Sandelholz hat die Polizistin erschnuppern können. Ungewöhnlich. Findest du sonst eher in weiblicher Umgebung. Geschmackvoll eingerichtet, nichts Billiges. Erdfarbene Wände, mannshohe exotische Pflanzen. Der Gang durch die Wohnung hat ihr gezeigt, dass er ein ordentlicher Mensch gewesen sein musste, im Leben. Nirgendwo herumflackende Socken, keine benützten Gläser auf dem Tisch, keine Zeitungen. Als hätte er die Welt aufgeräumt verlassen wollen. Aber von »wollen« kann keine Rede sein, wenn du abgekragelt wirst wie ein überreifer Gockel.
Alles hat seinen routinierten Gang genommen. Die Spurensicherung hat gewerkelt, der Doktor Aschenbrenner sich mit der Leichenschau abgefrickelt. Die Rädchen haben ineinanderge-griffen. Ruhig ist es zugegangen.
Und die Wiesner? Hat mitgespielt, die passenden Fragen gestellt, die Leut instruiert.
Plötzlich hat sich ein seltsames Gefühl in ihr Raum geschaffen. Als würde sie aus dem Körper schlüpfen wie aus einem Gewand und sich von außen zuschauen. Die sachlich-kühle Beamtin hat ihren Leichenjob gemacht, während daneben eine Frau gestanden ist, die, angewidert von all der Gewalt, den Blick vom Ermordeten abwenden musste. Gewundert hat die sich, wer diese große, dünne Blonde ist, die sich da geschäftsmäßig, ohne jede Regung, nach der Todesursache erkundigen und im Leben des Ermordeten wühlen kann wie in ihrem Handtascherl. Kurz und knapp sind ihre Anweisungen gewesen, umsichtig ihr geschulter Blick.
Die Leiche ist vom hergeschundenen Opfer zum spannenden Objekt mutiert. Die Entpersonalisierung hat erste derbe Sprüche unter den Anwesenden herausgekitzelt.
Einem Uniformierten ist prompt ein saudummer Kinofilm eingefallen, ein anderer hat beste Erfahrungen mit einer nahe gelegenen Metzgerei weitergegeben. Getuschelter Geheimtipp – besonders der warme Leberkas würde auf der Zunge zergehen. Als wär das Kalb von Engeln gesandt. Pure Fleischeslust hat das Antlitz des mondgesichtigen Beamten erleuchtet. Kälbernes Manna.
Nur einen Moment hat sie gedauert, ihre kleine Astralwanderung, dann hat die Wiesner die Emotionen wieder verstaut gehabt und weggeschlossen, an einem sicheren Ort.
In seinem Bad Kohlgruber Zimmer versucht sich der Sandner, das Handy am Ohr, in sein weißes Bademäntelchen einzuhüllen. Die Freikörperkultur verliert angesichts der dienstlichen Situation gegen anerzogen-katholisches Schamgefühl.
Es mag Telefonate geben, da stellst du dir den Gesprächspartner gern einmal ohne verbergendes Gewand vor. Sei es, weil der dich ordentlich runterputzt und du einen relativierenden Input brauchst, sei es, weil die angenehme Stimme deine Phantasie schürt, bis dir der Hut brennt. Hier ist das für keinen der Beteiligten eine bedenkenswerte Option. Während der Hauptkommissar einhändig mit dem Gürtel kämpft, lässt er sich vom Hartinger die Ereignisse schildern. Dass die Eltern vom Ermordeten im Kurort zu Hause wären und sie sich gedacht hätten, wo er schon einmal da ist ...
»Natürlich hätten das auch die Murnauer Kollegen übernehmen können, aber wenn Sie am Montag eh ...«
»Ich versteh scho, was ihr euch gedacht habts«, unterbricht ihn der Sandner gähnend, »bin ja ned deppert. Falls es was gibt, eine Gschicht im Ort, weiß der Kuckuck, ist es schon schlauer, wenn ich ein wenig nachhör. Hab ja sonst nix vorgehabt heut. Und jetzt erzählst mir, wie ihr ihn gefunden habt und was ihr schon wisst.«
Er hat sich gleich ordnungsgemäß angezogen. Jeans und schwarzes Sweatshirt. Unspektakulär. Der Sandner kommt eh unspektakulär daher. Nicht zu verwechseln mit unscheinbar. Die verstrubbelten braunen Haare, der leichte Bauchansatz und die Falten in den Augenwinkeln geben ihm einen Ausdruck von kreativem, genussfreudigem Lebenshunger.
Er hat den Hang, bemerkt zu werden. Nicht, dass er die selbstverliebte Diva gibt, aber Aufmerksamkeit holt er sich gewöhnlich nicht im Probierpackerl. Das fällt im Wellnesshotel nicht schwer, da wirst du mit ihr genudelt, bis du glauben magst, du bist Ludwig II.
Der Sandner hat seine Siebensachen zusammengepackt und ist samt Rollkoffer ins Erdgeschoss. An der Theke kommt ihm ein Lächeln aus, weil sich selbst die herbstliche Morgensonne abhakeln müsste, um zu strahlen wie sein Gegenüber, eine kleine, stämmige Schwarzhaarige im Dirndl.
Bei manchen Menschen bräuchtest du genormte Sonnengläser.
Ihr akzentuiertes »Guten Morgen!« springt ihm kreuzfidel ins Gesicht. Für auswärtige Ohren haben die Leut im Ort alle ein serviles, entschärftes Bayrisch im Programm. Ob du aus München daherkommst oder Wanne-Eickel, scheint linguistisch denselben Modus Operandi herbeizuführen.
Aber es hilft nix, den Morgen zu beschwören – von dem ist der Sandner bereits gebratzt worden wie das Viech vom Tellereisen. Er nickt dem Madl zu und setzt ihr dann auseinander, dass er jetzt abreisen wird.
Ihre Enttäuschung schaut annähernd echt aus. Dass er doch heut noch alle Wellnessangebote nutzen könnte, erfährt er im Gegenzug. Und sein Zimmer müsste ja erst mittags geräumt sein. Was er dazu meint? Ihr Eifer färbt ihm die Wangen. Die junge Frau könnte sofort bei ihm auf der Dienststelle anfangen, so gschwind, wie sie ein schlechtes Gewissen herauskitzeln kann, in offenherziger Unschuld. Er erscheint als Undankbarkeit auf zwei Beinen.
Weil er ihren Enthusiasmus nicht keulen will, erzählt er ihr die Mär von der Besteigung des Hörnles, die er heut noch vorhätte – natürlich ohne Sessellift. Flirt mit urwüchsiger Natur nebst Gipfelkreuz tätscheln – das versöhnt sie offensichtlich mit seiner Entscheidung. Ihr »Viel Spaß, Herr Sandner« kommt dennoch ein bisserl gebremst.
Die Gaudi hat er für heute abgehakt.
Kurz blitzt es in ihm auf, wie er sich im Dampfbad räkeln würde und hinterher durchkneten ließe – nachdem er den Eltern des Toten die traurige Nachricht überbracht hat. Aus, rum ums Eck, da hätte er gefühlsmäßig den Holzklotz geben müssen.
Das Frühstücksbüfett kann er abschenken. Es gibt Geschichten, die willst du hinter dir haben, ohne lang herumzutändeln. Da kann der Magen gern den Revoluzzer geben – beim Sandner ist aktuell Diktatur des asketischen Geistes angesagt. Ein Haferl Kaffee hat der ihm wenigstens vergönnt.
Kurz drauf ist er auf dem Weg durch den Ort. Die gute Laune ist ein treuloses Luder. Die hat ihm knapp zugewunken – und ab über alle Ammertaler Berge. Gebrauchen kann er sie eh nicht. Du trällerst dir kein lustiges Liedchen in Vorbereitung auf einen abgründigen Moment. Duster und kalt wird es in dir.
Er hat sich vorgestellt, zu Fuß bliebe ihm ein bisschen Zeit, sich auf die Situation einzulassen. Jetzt fuchst ihn seine Entscheidung. Mit dem Auto zwei Minuten – da hätte er die hundsverreckte Geschichte schon durch. Könnte auch sein, jemand hat die Eltern schon informiert, aber das ist kein Wettlauf. Da musst du nicht zwingend der Erste auf dem Treppchen sein. In alter Zeit wär dem Überbringer solcher Botschaften umstandslos der Schädel abgeschlagen worden – stellvertretend.
Die Sonne will sich partout keine Blöße geben, und die Vögel tschilpen daher, als wär’s tatsächlich ein pfundiger Tag.
Der Sandner ruft den Aschenbrenner an. Beim zweiten Läuten ist der Gerichtsmediziner am Handy.
»Ja Josef, was schnaufst denn so? Nimmst du das Handy mit ins Dampfbad, oder wanderst grad aufs Hörnle? Hast Spaß, ja?«
»Woran ist er gestorben, Asche?«
Schweigen in der Leitung. Dann ein geplärrtes: »Des gibt’s doch ned!«
»Oiso?«
»Perlen vor die Säu!«
»Dank dir schön. Ein andermal führen wir ein gepflegtes Gespräch über Schizzo-Massagen, aber jetzt interessiert mich das Körperliche vom Toten.«
»Shiso! Perilla frutescens! Depp, ignoranter! Den Toten hams ziemlich zamfallen lassen, Prellungen, diverse Blutergüsse – und gestorben? Wart, ich such gschwind meine Notizen. Oiso, wenn du es wirklich genau wissen musst?«
»Genau.«
»Also es schaut so aus, das ist jetzt bloß mein Erfahrungswissen, als ob ihm der Zahnfortsatz des zweiten Halswirbels gebrochen wurde. Und höchstwahrscheinlich nicht durch Sturz oder Schlag.«
»Aha. Und wenn so ein Fortsatz durch ist, passiert was?«
»Das führt zu einer Quetschung des oberen Rückenmarks – da schnaufst du nimmer und bewegst dich nimmer – sofortiger Exodus. Aus die Maus. Für dich als Laien: Den Hals umgedreht hams ihm, Genick gebrochen.«
»Ja leck mi am Arsch – wer schafft so was? Grobian der Barbar?«
»Entweder rohe Gewalt oder a passable Technik. Schadet ja nie, wenn du was Gscheites gelernt hast. Vielleicht ein Todesgriff – exzessiver Genickdrehhebel. Wie du es halt aus sinnfreien Prügel-Streifen kennst. Ein Griff und – kracks, verendet das böse Muskelpaket. Ob das real wie geschmiert funktioniert, fragst vielleicht einen von den Pullacher Agentenkasperln. So viel zum ersten Eindruck. Du weißt doch das Sprücherl: Genaueres nach der Obduktion.«
»Wir suchen also einen Bären, einen Catcher oder die Todeskralle der Shaolin. Sauber.«
»Hätt ich ned präziser ausdrücken können – so manche Frau könnt’s bestimmt genauso, ein Kind schließ ich erst mal aus. Was hast jetzt du heut damit zu tun, sag?«
»Des frag ich mi scho seit einer halben Stund und krieg keine Antwort zam, die mich beruhigt.«
Der Sandner beendet das Gespräch und stapft weiter tapfer bergan. Kurz vor zehn ist es mittlerweile. Oberes Kurgebiet. Dass er sich gleich mit einer Wanderung abfretten muss, hätte er sich nicht gedacht.
»Home is made for coming from«, hat der Lee Marvin einst gesungen. Ob der Sandner unter einem »Wand’rin’ Star« geboren ist, wagt er zu bezweifeln. Gerade gibt er den »städtischen Jammerlappen«, der jeden lächerlichen Fußmarsch mindestens zum Jakobsweg deklariert. Nur, dass am Ende keine Absolution seiner wartet.
Erste Schweißperlen künden von mangelnder Trekkingform. Herrschaftszeiten! Vielleicht sollte er mehr Rad fahren – generell. Besser noch, sich keine depperten Vorsätze aufzuschaufeln – generell. Das hört sich bei Weitem gesünder an. Pfeif aufs schlechte Gewissen, Sandner. Dazu fehlt ihm aktuell die Puste.
Vor einem kleinen Häuserl aus den Sechzigern darf er schließlich stehen bleiben und verschnaufen. Der Zaun könnte einen frischen Anstrich vertragen, das Unkraut im Gärtchen muss keinen Anschlag befürchten. Naturprediger würden das struppige Ensemble zum Biotop adeln.
Vor der Haustür steht ein Paar, zum Kirchgang gerüstet. Sonntagsgwand – sogenannter Landhausstyle im Münchner Shopping-Slang. Rot-weiße Karos unter gedecktem Garn, züchtige Krägen, sparsam präsentierte Haut. Der Morgen ist, trotz Sonnenbestrahlung, herbstlich zapfig. Auf behütete Bronchien solltest du nicht verzichten – die Messe ist ja keine Ü-30-Party im paarungszeitigen Großstadtdschungel.
Die drei mustern sich sekundenlang, schätzen einander ab.
»Was wollens?«, herrscht der Mann ihn schließlich an, Ungeduld in der Stimme.
Der Sandner kramt nach Wörtern im passenden Kleid.
»Polizist bin ich aus München, Josef Sandner«, sagt er, »könnt ich kurz hereinkommen?«
»Passt grad schlecht, vielleicht nach der Mess«, verkündet ihm sein Gegenüber und verschränkt die Arme.
»Kommens«, widerspricht die Frau und macht ihm die kleine Holzpforte auf. Einen finsteren Blick bekommt sie von ihrem Begleiter dafür geschenkt.
»Um Ihren Sohn geht’s, könnten wir uns drin hinsetzen?« Der Sandner mag weder drumrum reden noch am Gartenzaun stehen bleiben.
»Was is?«, fragt der Mann, ohne auf die Aufforderungen zu reagieren.
Einen sturen Hund hat er da vor sich. Hilflos schüttelt der Münchner den Kopf.
»Ihr Sohn ist heut Morgen in seiner Wohnung aufgefunden worden.«
»Aufgefunden?«, fragt die Brandl, »was is mit ihm passiert?«
»Ich muss Ihnen sagen, dass er tot ist. Es tut mir leid.«
»Tot«, brummt der Mann und nickt, wie zur Bestätigung.
Die Frau dreht sich abrupt um, sperrt die Tür auf und verschwindet im Haus. Nachdem der finstere Kerl wie ein Baum verwurzelt, geht der Sandner der Frau nach. Einen dunklen Flur, dominiert vom massigen eichenen Garderobenschrank, tappt er zögernd entlang. Aus einem Raum, ganz am Ende, offenbar der Wohnküche, hört er sie kurz aufschluchzen.
Wie er hereinkommt, hantiert sie mit einem Spülhadern. Auf dem Tisch mit dem geklöppelten Deckerl stehen noch zwei halb volle Kaffeehaferln, eines davon mit »Morgenstund hat Gold im Mund«-Aufschrift. Goldene Lettern auf hellblauem Porzellan. Über der roh gezimmerten Eckbank wird der geschnitzte Jesus gekreuzigt. Eine einsame Strohblume hat ihm wer unter den rechten Arm geschoben – vielleicht zum Trost. An der Wand ein gelbstichiges Bild aus alter Zeit. Eine Ansammlung ernst dreinschauender Leut im Festtagsgwand vor einem rustikalen Bauernhaus. Im Zentrum das mächtige Ochsengespann nebst vollbärtigem Familienoberhaupt. Das wiederkäuende Hab und Gut, wohlgenährt mit glänzend-gestriegeltem Fell. Was du dein Eigen nennst, dafür brauchst du dich nicht schämen.
Unter dem gelblichen Licht der Lampe tummeln sich zwei Stubenfliegen. Es riecht nach kaltem Zigarrenrauch und Kiefernharz.
Der Sandner sagt nichts. Hinter sich hört er schwere Schritte.
»Des hat ja so kommen müssen«, murmelt der Mann.
Seine Gemahlin zuckt zusammen, ihre Schultern heben sich, als würde der Satz ihr ins Genick dreschen.
Der Sandner wendet sich um und schaut dem Brandl in die Augen. Die Miene wirkt schroff und abweisend wie ein steiler Felsgrad. Nix zum Festhalten. Nur der Kehlkopf hüpft auf und ab. Seine Hände ballen sich zu Fäusten.
»Wie meinens des, hat er Feinde gehabt, Ihr Sohn?«
Der Vater des Toten fährt sich mit der Hand über das kurz rasierte Haupt. Sein starrer Blick ist auf den Sandner gerichtet oder durch ihn hindurch zum Jesus an der Wand. Antwort gibt der aktuell keine.
»Wir wissen von gar nix, wir haben keinen Kontakt gehabt.« Und zu seiner Frau gewandt: »Irene, komm, wir müssen los.«
Die Aufforderung ruft bei Tonis Mutter ein fügsames, stilles Nicken hervor. Sie reißt sich von der Spüle los. Ehe sichs der Sandner versieht, befindet er sich wieder draußen vor der Tür. Etwas anderes hat er erwartet. Nichts, was er vorausahnen hätte können. Vielleicht einen Orkan, vielleicht die verschlingende Leere, gegen die er sich gewappnet hat. Da gibt es kein Gesetz, keine Regel. Das Unfassbare ist ein brutales Viech. Wenn es dich anfällt, hältst du nicht stand. Es reißt dir die Brust auf, drückt dir die Gurgel ab und stößt dir gewaltige Bratzen in den Magen. Nicht sein darf, was nicht sein kann. Das »Nimmermehr« kommt als Felsbrocken daher, der dir das Hirn zerhaut. Wehrlos wirst du umhergeschleudert und bist ausgeliefert.
Aber diese Eltern? Was treibt die um? Noch nicht einmal Wut. Kein: »Was ist passiert?« Stoisch scheint der Brandl den Tod seines Sohnes hinzunehmen. Passt gerade schlecht vor der Messe. Als hätte sich ein lang prophezeites Schicksal endlich erfüllt, und die quälende Ungewissheit wäre vorbei. Nur der Zeitpunkt hat nicht harmoniert. Wenn hier die Wahrheit rausspitzt, hat der Sandner gerade im Ort um Arbeit gebettelt. Kruzifix! Er könnte dem Hartinger die Löffel lang ziehen, wie einem Schulbub. »Stell dich ins Eck und mucks dich nimmer.«
Die Brandls geben dem Sandner nicht eine Sekunde, seine wirren Gedankenbänder zu entknoten. Sie setzen sich gleich in Bewegung.
Warum man den Staatsanwalt Wenzel nie hört, wenn er ins Büro kommt? Die Wiesner beschäftigt sich in letzter Zeit zu viel mit der Beschaffenheit von Schuhsohlen. Vielleicht verbirgt sich aber einfach ein Federkleid unter dem dezenten braunen Anzug, das würde zu seiner knöchernen Physiognomie passen. Er zieht seine Kreise und stößt lautlos herunter, um sich kleine Nager zu krallen.
»Frau Oberkommissarin Wiesner, was haben wir an Fakten?«
Ein Mäuschen ist die Wiesner nicht, da würde er sich gscheit verschlucken an dem Bissen.
Der Staatsanwalt kommt dicht an den Schreibtisch und reckt ihr auffordernd seinen Schädel entgegen. Gleich eine Watschn oder später? Dass der Wenzel diesen Sonntag Bereitschaft haben muss, wäre für Schicksalsgläubige Grund, Klagegesänge anzustimmen oder sich in die Tonne zurückzuziehen.
Die Wiesner nimmt ihn hin wie einen Platzregen ohne Schirm. Über roulierende Dienstplangestaltung ist der Mörder halt nicht informiert gewesen. Für den Wenzel ist es auch kein Feiertag.
Aktuell ist er in der Warteschleife, der »Ober« soll ja anstehen. Oberwenzel. Das macht ihn augenscheinlich nervös. Um alle Fettnäpfchen ist er grazil herumgetänzelt, nur der Sandner hat ihn ab und an aussehen lassen, als trüge er Holzpantinen zum Schwanentanz. Und dass der ihn letztes Jahr um ein Haar von einer Autobahnbrücke geschmissen hätte, ist keine vertrauensfördernde Maßnahme gewesen. Auch wenn sich der Polizeiapparat drauf geeinigt hatte, dass der Sandner in einem emotionalen Ausnahmezustand gewesen wär, Schock – halt gerade nicht alle Schrauben parat im Kasterl. Kommt vor. Für den Wenzel unverständlich, weil für ihn der Hauptkommissar sowieso eingeliefert gehört. Lieber heute als morgen. Der offensichtliche Mordversuch war für ihn eine Bestätigung gewesen, quot erat demonstrandum. Dass der Staatsanwalt zu allem Überfluss mit der ehemaligen Frau Sandner verbandelt ist, könnte man demgegenüber als Randnotiz abhandeln.
»Schön«, leitet die Wiesner ihre Rede ein. Sie weiß, dass sie und ihr Team in Sippenhaftung genommen sind, und da kann der Hahn krähen, sooft er lustig ist, anbieten wird sie dem Wenzel nichts, um den Sandner auszuschmieren. Obwohl es sich in seinem Stuhl recht bequem anfühlt.
»Also, eine anonyme Anruferin hat uns heut Morgen eine Leich in einer Wohnung in der Sedanstraße gemeldet. Stimme klang jung, sie hat vom Telefon des Toten angerufen. War also in der Wohnung, wahrscheinlich nach dem Tod, weil der Aschenbrenner sagt, der Brandl Toni wär Samstagabend so um acht gestorben respektive umgebracht worden.«
»Wieso schließen Sie die Frau gleich als Täterin aus?«
»Mein Menschenverstand sagt mir, dass du nicht in der Nacht jemanden umbringst, neben der Leich zwölf Stunden hockst und dann anonym die Polizei rufst, aber schau mer mal.«
»Vielleicht Reue? Sie hätte doch zurückkommen können. Beziehungstaten widersprechen allzu oft der gesunden Logik, Frau Oberkommissarin.«
»Dankschön für den Hinweis. Wir sind erst am Anfang, aber des läuft alles so weit. Die Nachbarn und das Umfeld werden grad befragt, Kontoauszüge und Telefon schau ich mir grad an. Für die Spurensicherung ist es wie Weihnachten. Da kriegen wir sicherlich Präsente. In der Wohnung hat es offenbar einen Kampf gegeben. Der Tote hat diverse Verletzungen.«
»Und das Opfer, was ist das für einer?«
»Eine schillernde Gestalt. Erst seit einem Jahr in München. Zuvor in Asien herumgekommen. Irgendwas mit Meditation und Esoterik hat er betrieben, ned weit weg von hier. Calm&Peace heißt sein Laden am Winthirplatz. Der Hartinger und der Winter sind gerade auf dem Weg zu seinem Kompagnon, einem Herrn Stangassinger.«
»Ah so? Sie schicken die beiden unerfahrenen Beamten zur Befragung?« Der Wenzel runzelt die Stirn ... und du selber sitzt dir hier den Oasch breit, glaubt die Wiesner die Satzergänzung aus den Falten herauslesen zu können.
»Na na«, sagt sie lässig mit dazugehöriger Handbewegung, »die bringen ihn natürlich daher, und ich red mit ihm.«
Das gefällt. Das Hierarchische ist dem Wenzel näher als die gestutzten Augenbrauen. Die Stirn entknittert sich.
»Ich wart auf die Berichte, da muss eine Geschwindigkeit rein. Sagen Sie mir Bescheid wegen der Lagebesprechung, und lassens die Presseabteilung bloß nicht wieder verhungern«, ermahnt er, »ich darf es dann immer gradebiegen. Diesmal nicht!«
Was er sonst gerne dürfte, behält die Wiesner für sich. Vielleicht hätte er sogar seine Freude dran.
»Morgen ist der Hauptkommissar Sandner wieder ...«
Die Tür fällt hinter dem Wenzel ins Schloss.
Doch nicht befragen, nur herbringen, tippt die Wiesner in ihr Handy und schickt die Message an den Hartinger.
Geben ihn am Lieferanteneingang ab. Trinkgeld?, kommt es prompt zurück. Manchmal überrascht sie der Hartinger mit einem spaßigen Zufallstreffer.
Ob nun der Winter und der Hartinger unerfahren sind, steht auf einem anderen Blatt. Der Winter ist ein Frischling bei der K11. Nachdem Sandners Freund, der Bischoff Kare, sein eigenes Team bekommen hatte und zum Hauptkommissar befördert worden war, hat sich die Wiesner für den Winter Johannes stark gemacht. Nicht, weil er ein blondmähniger, muskelstrotzender Kleiderschrank mit Knackarsch ist – obwohl es kein Fehler sein muss, bei der Arbeit ein optisches Schmankerl als Dreingabe zu erhalten. Er hat bei einem Fall ihren Bodyguard geben dürfen – ihren persönlichen Tarzan. Was sie von ihm dabei wahrgenommen hat – ausgenommen diverse depperte Sprüche –, hat ihr ein gutes Gefühl vermittelt. Das sollte – nach der nötigen Feinjustierung bezüglich Machoallüren – eigentlich passen. Der Sandner hat auf ihr Gefühl gebaut. Er spricht ihn die meiste Zeit mit »Jonny« an. Das wär ja auch eine Form von Johannes und noch dazu eine Ehre. Der Jonny Winter wäre nämlich ein Bluesgott gewesen, bevor ihn die Drogen fertiggemacht hätten. Heute leider nur noch eine lebende Andeutung. Der Bursch hat seinen Namensvetter nicht gekannt, aber versprochen, bei YouTube reinzuspechten. Der »Jonny« ist an ihm hängen geblieben.
Gleich am dritten Tag hat er so viel gelernt wie andere in drei Jahren. Wie er der Wiesner sein nächtliches Erlebnis mit dem Sandner geschildert hat, ist er noch ziemlich verwirrt gewesen. Kein Wunder – polizeiliche Intervention der besonderen Art.
Er durfte nämlich den Hauptkommissar nach Hause fahren, Untergiesing, Lohstraße, wo der Auer Mühlbach fröhlich plätschert und sich neuerdings der Eisvogel tummelt. Nicht zu verwechseln mit Obergiesing – der Giesinger Berg, einst gefürchtet bei den Kutschern, trennt die Stadtteile. Oben plätschert nix. Da versucht sich höchstens der Verkehr vergeblich im Fließen, gebremst durch Staustufen aller Art. Für Obergiesing lohnt ein zweiter Blick. Dann sieht man, wie kommod es sich dort leben lässt in den schönen alten Wohnungen, und man trifft auf Kneipen, die sich einen Teufel scheren um weltstädtische Ambiance-Konzepte. Kein Tand, kein Klimbim. Erholung für die angeschlagenen Sinne.
Dort oben auf dem Berg an der Verkehrsschlagader Silberhornstraße, just bei der U-Bahn-Station, hat sich eine Gestalt mit Bierflasche in der Hand über einen Liegenden gebeugt, der sehr hergeschunden ausgesehen hat. Der Jonny ist reaktionsschnell auf die Bremse und aus dem Wagen.
»Polizei«, hat er gebrüllt, »was machens da? Flasche weg!«
Der Sandner hat noch »sei stad!« gemahnt, aber zu spät.
Der Angerufene ist sofort losgewieselt, und die beiden Beamten durften hinterherhecheln. Sie haben ihn in ein Haus rennen sehen, und kurz drauf ist in einem Zimmer im dritten Stock das Licht angedreht worden. Endlich vor der Wohnungstür, haben sie erst durchschnaufen müssen, sturmgeläutet, und weil nix drauf passiert ist, hat der Jonny die lumpige Tür auframmeln dürfen. Er hat sich sofort eingebremst – der Sandner dito –, quasi mitten in der Bewegung sind sie erstarrt.
Vor ihnen im Flur hat sich der Bursch aufgebaut, hin und her schwankend, betrunken oder alternativ umnachtet. Ein Grischberl mit strähnigen Haaren, Tarnhosen und dünnem Windjackerl. Er hat in der Hand eine Leine gehalten. An deren anderen Ende hat sich ein enormer schwarzer Bullterrier aufgehalten, mutmaßlich für die Bärenhatz hergezüchtet.
Der Sandner hat seinem Kollegen einen finsteren Blick zugeworfen, den der nicht zu deuten wusste.
»Hauts ab, ihr Wichser, sonst könnts was erleben«, hat der Hiasl vor ihnen gejohlt, und der Hund hat die Botschaft knurrend untermalt. Nachdem der Sandner nur stocksteif dagestanden ist, hat der Jonny Initiative ergreifen wollen.
»Spielt der Krambambuli da sonst dei Fünferl-Fanny? Mach bloß kan dummen Fehler«, hat er deeskalierend das Grischberl gewarnt.
Den Hauptkommissar hat es amüsiert.
Vom Angesprochenen ist nur ein Zähnefletschen gekommen, frei nach der Theorie, dass Herrchen und Hund sich im Laufe der Zeit mimisch und körperlich angleichen. Da hätte der Milchbubi im Studio allerdings gscheit auftrainieren müssen, inklusive Anabolikakur.
Sie sind im Gang saublöd herumgestanden, alle vier. Belauert haben sie sich, wie beim Sergio Leone. Den Hund fixiert. Minutenlang. Bis der Sandner auf die Uhr geschaut hat. Rien ne va plus.
»Wenn der das Viech jetzt ned anbindet, schießt du dem Deppen ins Knie«, hat er den Jonny angewiesen. Ganz ruhig.
»Was?«, haben beide Männer verblüfft nachgefragt.
»Schieß ihm ins Knie. Sagst halt, du hast auf den Hund gezielt. Ich zähl bis drei.«
Das Grischberl ist schlagartig nüchtern geworden.
»Seids ihr komplett deppert, ihr zwei!«
»Eins.«
Der Jonny hat die Waffe herausgerissen und entspannte Schusshaltung eingenommen, inklusive vorgerecktem Kinn.
»Zwei.«
Das Zielobjekt hat hektisch von einem Polizisten zum anderen geschaut. Komplett überfordert, Achterbahn im Kopf.
»Des dürft ihr fei ned, des ...«
»Und ...«
Er ist mit dem Hund rückwärts zur offenen Küche getorkelt, hat an der Leine gezerrt und sie hektisch um ein Tischbein geschlungen. Kurzes, heiseres Aufbellen vom Tier. Das war’s.
»Peng«, hat der Sandner dazu bemerkt.
Kein Mucks mehr vom Hund. Schlau war er. Intellektuell und bezüglich Sozialkompetenz seinem Herrchen weit überlegen. Dagegen ist der auf Geißeltierchen-Niveau dahergeschwommen. Wahrscheinlich hat der Zerberus noch an der Börse spekuliert. Vor dem Tisch hat er anstandslos gekauert, die Beamten im Blick.
Ohne Widerstand hat sich der verstörte Hundehalter verhaften lassen. In die Hosen hatte er sich gebieselt, schwache Blase offensichtlich.
Wie sie grad mit ihm rauswollten, ist ein Bub an ihnen vorbeigestürzt, in die Wohnung rein und hat das Tier umhalst. Seine Mutter hat derweil die Nachbarwohnung aufgesperrt.
»Des is der Django«, hat der Kleine den Schwarzen vorgestellt, während er ihm das Fell zerzaust hat.
Seine Mutter hat ums Eck gelugt, was da los wär.
»Können Sie sich um den lieben Django kümmern, bis das Herrchen wieder da ist, dauert ein wenig.« Der Hauptkommissar hat mit dem Polizeiausweis gewedelt.
»Ja, freilich«, hat die Frau verdattert retourniert, »aber was ...«
Mehr hat der Jonny nicht mehr gehört, sie sind schon mit ihrer Beute auf dem Weg nach draußen gewesen. Der Sandner musste die traurige Gestalt noch ein wenig rupfen.
»Du feiges Würschterl, hätt ma den Django derschießen sollen, oder was?«
Einen dicken Fisch haben sie sich nicht geangelt. Sein besoffener Trinkkumpan hat den Asphalt küssen müssen, Resultat Platzwunde, und das Freunderl sich verzupfen wollen, wegen einem Brieferl Kokain im Tascherl.
»Aber des nächste Mal, Jonny, brüllst ned wie ein Jochgeier. Bequem hinhatschen hätten wir können! Musst ned so prahlen mit deinen strammen Wadln«, hat der Hauptkommissar ihn abschließend ermahnt.
Doch ein Initiationsritual, hat die Wiesner dem Jonny beigestimmt, Marke Sandner’scher Humor. Was er denn bei »drei« hätte tun sollen, hat der Frischling von ihr wissen wollen. Die Wiesner hat mit den Schultern gezuckt.
In Bad Kohlgrub ist der Sandner mit den Eltern des Toten den Berg wieder hinuntergezuckelt – das heißt, er ist gezuckelt, die beiden haben einen strammen Marschrhythmus aufgenommen. Die Frau hatte sich bei ihrem Gatten untergehakt – oder er hat ihren Arm eingeklemmt gehabt. Ausgesehen hat es, als würde er sie den Weg entlangzerren.
Bald ist es der Sandner leid gewesen, Schritt zu halten. Es ist sowieso schweigsam dahingegangen. Er ist zurückgeblieben. »Das hat ja so kommen müssen.« Damit kann er sich nicht zufriedengeben. Da hat ihm der Brandl einen Bissen zugeworfen, und jetzt triefen ihm die Lefzen. So kann er nicht ruhig zurückfahren, Herrgottsakrament!
Runter geht’s bis zur Kirche. Er lässt das Paar endgültig ziehen und schaut sich um im Karree. Ins Gotteshaus will er nicht, obwohl er Kirchen schon etwas abgewinnen kann, rein baulich und atmosphärisch. In einer Burg hausen will auch keiner mehr. Im Winter den Arsch von der Mauer hängen zu lassen, weil das Klo erst hundert Jahre später erfunden wird, ist keine Alternative. Einzig im Betrachten liegt der Zauber. Wo eine Kirch gebaut ist, kann der Gasthof nicht weit sein. Das Elementare, Seite an Seite. Geglaubt haben die Leut allerweil etwas und gefressen auch. In alter Zeit sicherlich ein leerer Ort, wenn die Glockenschläge eisern gemahnt haben, als würde dem sündigen Menschen der Messdiener persönlich mit dem Klöppel den Buckel bläuen. Einen schrägen, misstrauischen Blick hättest du bekommen statt einem Frühschoppen, unchristlicher Heide.
Heutzutage muss man natürlich fußläufig entweder einen Banktempel oder ein Einkaufszentrum hochziehen, damit die Leut eine Wahl haben in ihrer Religionsausübung. Das haben sie zum Beispiel in der Münchner Messestadt hervorragend gelöst. Nur der Kirchturm muss allerweil am höchsten sein, a bisserl Anspruch gehört dazu.
Der Franz Grillparzer hat geschrieben, Religion wäre die Poesie der unpoetischen Menschen.
Wie der Hartinger dem Hauptkommissar mitgeteilt hatte, wäre der Tote lange in Indien gewesen, bezüglich spiritueller Unterweisung, und hätte zuletzt die wissensdurstigen Münchner mit Weisheiten hinduistischer Meister versorgt. Bei der universellen Sinnfindung hat er mitgekartelt.
Wie man in Indien einen besonderen Sinn finden kann, den es in den Garmischer Bergen nicht gibt, hat sich dem Sandner bisher nicht erschlossen.
Seine Tochter, die Sanne, versucht ab und an, ihm die buddhistische Lebenssicht näherzubringen, quasi Crashkurs an den spärlichen Wochenenden, an denen sie sich in München blicken lässt. Seit sie in Wien mit dem Flötenhansl von den Philharmonikern haust, sind die Gelegenheiten dazu dürftig genug. Bezüglich Weisheit scheint er eh eine hoffnungslos imprägnierte Haut zu besitzen. Die hat ihn nicht bewässern können. Vieles ist ihm jedoch charmant dahergekommen, unter anderem, dass ein Buddhist nie danach trachtet, unbelehrbare Mitbürger aufs Blut zu triezen oder gar Reisighaufen für sie aufzuschichten. Friedfertigkeit findest du bei den anderen Weltreligionen höchstens in ihren Propagandaschriften. Von daher lässt sich der Sandner von seiner Tochter gern in Gespräche über das Dasein verstricken. Er teilt auch ihren Grant auf die »gschissenen Chinesen«. Denen ginge das Herschinden eines Mönchs im geräuberten Land so selbstverständlich von der Hand wie humanen Leuten das Zähneputzen.
Aber Indien ist eine andere Nummer. Mit den Hinduweisheiten hat der Sandner bis dato nix am Hut. Das Kamasutra solltest du nur büffeln, wenn du mindestens das Sportabzeichen in Silber dein Eigen nennst. Von transzendentaler Meditation und Ashrams hat er zum ersten Mal im Zusammenhang mit den Beatles gehört. Ob man darüber hinaus die Levitation mittels yogischem Fliegen, alternativ Quantenphysik, geisteskräftig überlisten kann, ist dem Sandner schnurzwurscht, solang noch Schuhe verkauft werden. Wenn dir wer für exklusive Erkenntnis das Geld aus der Tasche leiern will, wartest du besser, bis es Volkswahrheit beim Discounter gibt. Manche Lehre leert vor allem das Geldsackerl und als Dreingabe das Hirnstüberl – ein gspaßiger Kreislauf. Weisheit einkaufen zu wollen zeugt von wenig Talent dazu.
Als junges Madl ist die Corina, seine Exfrau, mit einer Freundin in Rajasthan umhergezogen. Backpacking. Exzerpierende Mitteilung: Wer nicht selbst dort gewesen wär, hauste im Tal der Ahnungslosen. Bei jedem Ortsnamen solltest du kundig-wissend aufschnauben. Ein exklusiver Verein, die Indientraveller. Als hätte sie alle ein Nahtoderlebnis beglückt, inklusive passender Lightshow.
Den Nahtod haben aber prozentual gerechnet eher die Einheimischen vor Augen, außer man reist gern mit einem der busähnlichen Vehikel, oder du probierst es mit eigenhändigem Autofahren. Selbst die Komplexität der Verdauung wird in salbungsvolle Sätze gehüllt, weil die sinnlichen Erfahrungen so exorbitant seien. Nein – das ist nicht einfach nur gedankenarmes, glubschäugiges Daherscheißen, wie du es im Rest der Welt praktizieren magst.
Dem Sandner ist klar, dass mit Exportweisheit die Menschen zu faszinieren sind. Vielleicht ist die einheimische Weisheit vom akuten Aussterben bedroht, und du findest sie nur noch in entlegenen Fleckerln, bei der ein oder anderen Hex respektive dem bergkundigen Eigenbrötler. Kontemplation inbegriffen.
Die Gastwirtschaft brummt. Unter der Kanzel wird auch nicht mehr Leben sein. Einheimische und Gäste fraternisieren bei der ersten Halbe des Morgens.
»Zum Vogelwirt«. Nicht zuletzt der schräge Vogel verweist darauf, dass du die Leut auch ornithologisch charakterisieren könntest. »Die Menschen werden alle zu Adlern, wenn man ihnen die Wege zum Glück bahnt«, hat der Kaiser Friedrich einst behauptet. Ohne die rechte Anbahnung können sie gschwind zu Aasgeiern mutieren, weiß der Münchner aus dem kriminalistischen Alltag. Da besteht ein naher Verwandtschaftsgrad. Alternativ böten sich auch goldnarrische Elstern an.
Der Sandner setzt sich zu einem älteren Pärchen an den Eichentisch, Tendenz zu Rotkehlchen, Erithacus rubecula, Familie der Fliegenschnäpper. Fleecepullis im Partnerlook, die rosige Gesichtshaut cremeglänzend.
»An guadn Morgen, is recht?«, fragt der Polizist und greift nach der Karte.
Die beiden lächeln und nicken synchron. Vielleicht geht er als Hiesiger durch, und die Tischgefährten frohlocken über den assimilatorischen Charakter der Begegnung. Wie das Bedienungsmadl sich vor ihm aufbaut, in ganzer fescher Blüte, bestellt er sich ein Kännchen Kaffee und eine Butterbrezn. Ein besserer Magentratzer zum Anfang. Dabei fällt ihm auf, dass ihm hier an einem Tag mehr Leut freundliche Grußworte in die Ohren träufeln als in München in einem Monat – falls das Wetter harmoniert.
In alter Zeit hätte er einfach ins Rathaus marschieren können und sich alle Geschichten brühwarm abgeholt. Ratlos schaut er sich um, bis sein Blick durchs Fenster auf vorbeihastende Kirchgänger fällt. Alle im Sonntagsstaat.
Beim Seelenhirten wird er anklopfen, sobald der seine reuigen Schäflein wieder aus dem Pferch gelassen hat. Ein unbestimmtes Gefühl hat er im Bauch, dass es eine sündige Geschichte sein könnte bei dem Burschen, vielleicht mit ein bisserl Fleischeslust garniert.
Die Wiesner und der Hartinger sitzen in der Dienststelle im Westend dem plaudernden Herrn Stangassinger gegenüber. Zu Wort gekommen sind sie bis dato bei Brandls Geschäftspartner nur sporadisch. Was an sich kein Fehler sein muss. Hat sich schon bei der Inquisition ausgezahlt, allerdings nebst mechanischem Firlefanz.
Der Hartinger gähnt ausgiebig, reibt sich die Augen und glotzt beständig auf die Uhr, während er die Finger auf der Tischplatte steppen lässt. Körpersprache: übermüdeter Zappelphilipp mit subtilem Hang zur Aggression.
Seine Kollegin hat die Beine übereinandergeschlagen, den Kopf leicht schräg gelegt und hört dem Mann aufmerksam zu.
Ein Fescher ist der Herr Stangassinger. Weißes Hemd zur Jeans, schmales Gesicht, das blonde Haar fällt ihm immer wieder über die Augen. Etwas Spitzbübisches hat er an sich, als wär’s der erwachsene Tom Sawyer. Die feingliedrigen Hände hat er samt Unterarmen ruhig auf die Tischplatte gelegt. Überhaupt strahlt er trotz Redebedarfs eine geballte Ladung an Konzentration aus. Als wär die Luft um ihn verdichtet. Ein melancholischer Ausdruck verziert seine Mundwinkel.
Der Tod vom Brandl hat ihn gepackt – er ist ein passabler Schauspieler –, oder die Wiesner hat eine Wahrnehmungsstörung. Drei Möglichkeiten. Nicht unangenehm, ihm gegenüberzusitzen. Ganz im Gegenteil. Der Oberkommissarin schießen neben dem Gegenübersitzen zahlreiche Varianten ein – durch den Kopf allerdings nicht. Ausblenden hilft nur partiell – mit dem Herrn Stangassinger könnte sie in adäquater Umgebung die Unterhaltung jederzeit nonverbal gestalten. Solche tief gehenden Gedanken machen die Befragung eines potenziell Tatverdächtigen nicht geschmeidiger. Da hilft nur, die Situation kurz und schmerzlos hinter sich zu bringen.
Schauens, die Menschen in einer Großstadt sind alle ein bisserl schizophren«, verkündet der Mann den Ermittlern. »Einerseits wollens alles leistungsoptimiert, den Geist, den Körper und das Glück. Alles messbar – da findest du dann Power-Yoga, Yoga zum Abspecken, Balance-Yoga, weiß der Kuckuck. Wissens, dass es sogar Hunde-Yoga gibt? Doga nennen das die Amis. Demnächst schleppens ihr Federviech daher, und du sollst Byrda machen. Na ja. Da probierst mit einer Zehnerkarte, ob es zielorientiert vorangeht, und schindest dich ab. Für mich wär des nix. Da gibt’s ja noch die andere Seite – dass die Leut spüren, Mensch, verdammt, da fehlt doch was. Vielleicht spüren sie das körperlich und werden krank, oder sie machen den Gedanken weg mit After-Work-Partys und Shopping und weiß der Geier. Ganz profan, ich kann noch so schnell laufen im Hamsterrad und komm doch nirgendwo an – weil ohne Erkenntnis und die Erfahrung, Teil des großen Ganzen zu sein, ist der Mensch nichts mehr als ein kleines, gefühlloses Viech im Käfig.«
Der Hartinger schnauft laut. Mindestens ein großes Viech. Kategorie: Büffel. Gleich wird er hyperventilieren. Da dockt was an in seinem Hafen – das Schifferl würde er am liebsten auf den Grund schicken. Die Reiseroute kennt er in- und auswendig.
»Und das ist ein Drahtseilakt«, fährt Brandls Kompagnon unbeirrt fort, »den Menschen ein Angebot zu machen, indem man sie einlädt, universelle Erfahrungen zu machen. Einfach gesagt ist jede Yogapraxis ein Teil des Ganzen, eine Methode, spirituelle Energie zu erwecken. Jeder kann das erfahren. Das hat mit sportlicher Leistung nix zu tun. Du wirst deine Beziehung zum Göttlichen und den Sinn des eigenen Lebens befragen. Es bringt dich dir selbst näher, vielleicht lässt es dich auch deinen Lebensweg, dein Leid betrachten, es ist ein Geschenk...«
Jetzt langt’s. Der Hartinger springt auf. Das Gesicht spiegelt körperliche Schmerzen wider. Vielleicht hat er einen Krampf – unter psychosomatischen Aspekten wär es naheliegend. Die nächste Stufe wär, dass er sich mit Schaum vorm Mund auf dem Boden wälzen müsste. Vielleicht wär Meditation nicht verkehrt für den jungen Kommissar. Aber da würde er sich wohl eher eine Holzkeule aufs Hirn dreschen, um die innere Einkehr anklopfen zu lassen.
»Okay, die Oberflächlichkeit der Gesellschaft und das spirituelle Brimborium mal beiseitegelassen«, herrscht er den Stangassinger an, »welche Rollenaufteilung gab’s da zwischen Ihnen beiden? Wie sind Sie zueinander gekommen?«
Leicht irritiert blickt der Yogalehrer hoch zum zuckenden Kommissar. Der Wiesner ergeht es ähnlich. Synchron ziehen sie die Augenbrauen nach oben.