Fundbüro - Siegfried Lenz - E-Book

Fundbüro E-Book

Siegfried Lenz

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Sie sind und bleiben ein Junge, der Geschichten erzählen will" - so ist Henry, die Hauptfigur in Siegfried Lenz' lang erwartetem neuen Roman. Und in einem Fundbüro lauern Geschichten schließlich überall. Henry Neff verspürt trotz seiner jugendlichen vierundzwanzig Jahre keine Lust, auf der Karriereleiter nach oben zu kommen. Attraktive Angebote schlägt er aus und sucht stattdessen Unterschlupf im Fundbüro eines Hauptbahnhofs. "Mir genügt's, da zu bleiben, wo ich bin", ist sein Motto, und schon bald gewinnt er Gefallen an seinem neuen Arbeitsplatz, der reich an Kuriositäten und absonderlichen Vorkommnissen ist. Jeder Tag beschert ihm Begegnungen mit Menschen, die die unglaublichsten Dinge verlieren und liegen lassen. Mal vermisst ein Messerwerfer sein Handwerkszeug, mal tauchen im Zug zurückgelassene Liegestühle auf, und ein andermal wendet sich eine Schauspielerin hilfesuchend an Henry, weil sie ihr Textbuch nicht mehr findet. Um den "Besitznachweis" zu führen, fordert Henry sie mit dem ihm eigenen Charme auf, Passagen aus dem Theaterstück im Fundbüro zu rezitieren. Siegfried Lenz' warmherziger Humor lässt die farbige Szenerie eines unvergleichlichen Schauplatzes vor die Leser treten - grundiert von einer zarten Symbolik des Verlierens und (Wieder-) Findens. Als Henrys Freund, der baschkirische Mathematiker Fedor Lagutin, dann aber von skrupellosen Gewalttätern bedroht wird und die Reformen der Bundesbahn den Arbeitsplatz eines Kollegen gefährden, muss Henry einsehen, dass sein Fundbüro keine Oase der Seligen ist. Er ergreift Partei und erkennt, dass das Leben mitunter dazu zwingt, sich einzumischen. "Fundbüro" ist ein einnehmender, wunderbar erzählter Roman voll menschlicher Anteilnahme und liebenswertem Witz.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 303

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Siegfried Lenz

Fundbüro

Roman

Atlantik

Für Thomas Ganske

Endlich hatte Henry Neff das Fundbüro entdeckt. Heiter betrat er den kahlen Vorraum, in dem nur ein schwarzes Schreibpult stand, setzte die Segeltuchtasche ab, zwischen deren Griffen ein Hockeyschläger lag, und nickte dem alten Mann zu, der vor dem breiten Schiebefenster stand und – anscheinend zum wiederholten Mal – einen Klingelknopf drückte. Hinter dem Schiebefenster, in der Tiefe eines nur ahnbaren Raumes, ertönte ein seltsam schepperndes Geräusch, es hörte sich an, als hakte der Klöppel mitunter und drosch danach besonders eilig auf die Glocke, und nach einer Weile näherten sich Schritte, die aus großer Ferne zu kommen schienen. Der alte Mann, der dunkel gekleidet war und zu weißem Hemd eine schwarze Krawatte trug, sah Henry erleichtert an, er bewegte die Lippen – so, als probierte er vorsorglich Wörter –, er beklopfte seine Taschen, ohne zu finden, was er suchte, und als eine dunkle Silhouette hinter der Milchglasscheibe erschien, strich er sich übers Haar und zog seine Krawatte nach.

Das Fenster wurde hochgewuchtet, und Henry erblickte zum ersten Mal Bußmann, Albert Bußmann mit seinem verdrossenen Gesicht, in dem zu weiten fleckigen Blaumann, der ihn bei gewissen Bewegungen zu umwehen schien. Auf seinen anfragenden Blick ließ Henry dem alten Mann den Vortritt – er hier, der Herr, war vor mir da –, lehnte sich gegen das Schreibpult, sah mit vergnügter Neugierde einer Verhandlung zu, die er demnächst vermutlich selbst führen würde – fast kam es ihm so vor, als sollte er noch vor seinem Einstellungsgespräch Anschauungsunterricht erhalten.

Der alte Mann gab an, sein Portemonnaie verloren zu haben, auf dem Bahnhof, bei der Fahrkartenausgabe, ein braunes Portemonnaie, das Leder alt und schon ein wenig rissig. Bußmann nickte gleichmütig, für ihn schien es ein Allerweltsverlust zu sein, er fragte kaum nach, er blickte nur ausdauernd auf die Hände des alten Mannes, wandte sich dann wortlos um und ging zu einem metallenen Schrank, dem Wertsachenschrank, den er mit zwei Schlüsseln aufschloß. Obwohl er ihnen den Rücken zukehrte, bekam Henry mit, wie er da hantierte, wie er etwas ergriff, befingerte und wieder zurücklegte, sich schließlich für einen Gegenstand entschied, den er in die große Tasche des Blaumanns gleiten ließ. Er gab nicht zu erkennen, ob er gefunden hatte, was der alte Mann vermißte, er fragte lediglich, welch ein Monogramm auf dem Portemonnaie drauf sei, und der alte Mann fragte verwundert zurück:

»Monogramm? Was für ein Monogramm?«

Damit gab Bußmann sich schon zufrieden und wollte dann wissen, ob der alte Mann sich an die Summe erinnern könnte, die er bei sich trug.

»Ja, nein, das heißt doch«, sagte der alte Mann, »es waren achthundert Mark, bevor ich die Fahrkarte kaufte, eine Karte nach Frankfurt, ich will zum Begräbnis meiner Schwester.« Und dann erinnerte er sich auch, daß die Karte zweihundertdreißig Mark gekostet hatte, mit Zuschlag, worauf Bußmann feststellte: »Demnach müssen noch fünfhundertsiebzig Mark in Ihrem Portemonnaie sein«, und ohne die Miene zu verziehen, reichte er dem alten Mann die Geldbörse und sagte: »Hier, zählen Sie nach, wir bekommen eine Bearbeitungsgebühr von dreißig Mark.«

Und als läse er aus einem Fundsachen-Service vor, fügte er hinzu: »Ein Finderlohn ist nicht zu entrichten, da ein Bahnpolizist die Fundsache eingeliefert hat.«

Eilfertig zählte der alte Mann die geforderte Summe ab, dankte knapp, wollte schon verschwinden, da reichte Bußmann ihm zwei Formulare und wies ihn an, alle Sparten auszufüllen, gleich hier, am Pult.

Henry lächelte, er beglückwünschte den alten Mann und trat an ihm vorbei und nickte anerkennend Bußmann zu, der ihn mit monotoner Stimme fragte: »Welch einen Verlust wollen Sie anmelden?«

»Mein Name ist Henry Neff«, sagte Henry.

»Gut«, sagte Bußmann, »und was vermissen Sie?«

»Nichts«, sagte Henry vergnügt, »noch nichts, ich soll mich hier melden, im Fundbüro.«

Bußmann musterte das junge, treuherzige Gesicht, auf dem ein Ausdruck von Unbekümmertheit lag; ein Gesicht, das nicht die gewohnte Verzagtheit oder gar Verzweiflung der täglichen Verlierer zeigte, und fragte: »Warum – warum sollen Sie sich hier melden?«

»Sie haben mich hierher versetzt«, sagte Henry, »ins Fundbüro, meine Unterlagen werden gewiß schon hiersein.«

»Dann müssen Sie mit dem Chef sprechen«, sagte Bußmann und deutete auf einen verglasten Raum vor den Regalen, in dem der mächtige Rücken eines Mannes zu erkennen war, der bei trübem Licht las. Während Henry überlegte, auf welchem Weg er zum Chef gelangen könnte, forderte ihn Bußmann mit einer Geste auf, einfach durch das kniehohe offene Fenster zu steigen und den Hügel von Koffern zu umrunden, die, wie ein Schild besagte, für eine Auktion bereitgestellt worden waren.

Bei Henrys Eintritt stand der Chef auf, ein schwerer Mann, graues Stoppelhaar, wäßrige Augen; freundlich gab er Henry die Hand und sagte: »Ich bin Hannes Harms, willkommen in der Etappe der Bundesbahn.« Er schob einige Papiere zur Seite – Henry war sicher, daß es seine Unterlagen waren –, nahm einen Schluck Kaffee aus einem Porzellanbecher und steckte sich eine Zigarette an. Dann bot er Henry einen Stuhl an, blickte auf einen weißen Vogelbauer, in dem ein Dompfaff von Stange zu Stange hüpfte und dabei einen einzigen anfragenden Ton hören ließ.

»Ein schöner Vogel«, sagte Henry.

»Eine Fundsache«, sagte Harms, »eine Fundsache wie alles hier, in einem Eilzug aus Fulda wurde er gefunden, kam direkt aus der Bischofsstadt; da wir den Vogel auf der Auktion nicht loswerden konnten, habe ich ihn zu mir genommen, ich nenne ihn Pius.«

Henry sah ihn verblüfft an und schüttelte den Kopf und sagte: »Wie kann man einen Vogel vergessen, in seinem Bauer vergessen?«

»Solch eine Frage hätte ich auch gestellt«, sagte Harms, »vor fünfzehn Jahren, als ich hier anfing – mittlerweile habe ich mir das Staunen abgewöhnt. Sie glauben nicht, was alles die Menschen heute verlieren, vergessen; selbst Dinge, von denen ihr Schicksal abhängt, lassen sie einfach im Zug liegen und kommen dann zu uns und erwarten, daß wir ihnen zu ihrem Eigentum verhelfen.« Und müde sagte er: »Nirgendwo sonst gibt es einen Ort, wo Sie so viel Zerknirschung erleben, so viel Bangen und Selbstanklagen, na, Sie werden es ja erfahren.«

Er zog die Papiere wieder zu sich heran, senkte sein Gesicht, und auf den Tisch hinabsprechend fragte er: »Neff? Henry Neff?«, und ohne Henrys Bestätigung abzuwarten, sagte er: »Unser Bereichsleiter hier hat den gleichen Namen.«

»Er ist mein Onkel«, sagte Henry, er sagte es leise, fast beiläufig, jedenfalls so, als habe die verwandtschaftliche Beziehung für ihn keine Bedeutung. Harms nickte nur, sein suchender Blick glitt über die Papiere, und Henry sah voraus, wonach er gleich gefragt werden würde, und er täuschte sich nicht; denn Harms wollte prompt wissen, ob Henry die Absicht aufgegeben habe, noch einmal als Zugbegleiter zu arbeiten, später vielleicht. Henry zuckte die Achseln: »Ich glaube nicht«, sagte er, »man hat mich hierher versetzt, und ich hoffe, vorerst hier bleiben zu können.«

»Versetzt«, sagte Harms, und sagte noch einmal: »Versetzt, ja«, und Henry entging nicht der Vorbehalt, der in der Wiederholung lag. Er musterte seinen künftigen Chef, die großen Hände, das schlaffe Wangenfleisch, er registrierte die lose gebundene Krawatte und die braune Wolljacke, und als Harms aufstand, um dem Vogel Wasser und Körner zu geben, hatte er das Gefühl, seinen Ort gefunden zu haben. Während Harms Körner aus einem Tütchen in einen Napf füllte und trockene Samen auf den Boden des Vogelbauers streute, sagte er – und es klang, als spräche er zu sich selbst –: »Sie sind jetzt vierundzwanzig, Herr Neff, vierundzwanzig, mein Gott, da müßte man die erste Schiene gelegt haben, auf ein Ziel zusteuern, wenn Sie wissen, was ich meine. Und jetzt sind Sie bei uns gelandet, auf unserem Abstellgleis, ja, in gewisser Weise müssen Sie sich wie auf einem Abstellgleis vorkommen, denn von hier aus beginnt man keine Laufbahn, bei uns gibt es keine Aufstiegsmöglichkeit, irgendwann fühlt man sich ausrangiert.«

Harms setzte sich wieder, schwieg und sah Henry fragend an, und aufgefordert von diesem Blick sagte Henry: »Kein Bedarf, Herr Harms, wirklich, das Aufsteigen überlasse ich gern anderen, mir genügt’s, wenn ich mich wohl fühle bei der Arbeit.«

»Wohl fühlen«, sagte Harms lächelnd, »ich hoffe, Sie werden bei uns Gelegenheit dafür finden.«

Er deutete auf die Sporttasche, auf den Hockeyschläger, er fragte: »Sie spielen Hockey? Eishockey?«

»Ja, bei den Blue Devils«, sagte Henry, »in der B-Mannschaft, heute abend haben wir Training.«

»Wir haben hier einige Schläger«, sagte Harms, »im ICE aus Berlin wurden sie gefunden, vermutlich hat die Mannschaft im Zug einen Sieg gefeiert und danach ihr Gerät vergessen. Sie können die beiden Schläger später begutachten. Übrigens haben auch Ihre Sportkameraden keinen Nachforschungsantrag gestellt, und das gibt mir immer wieder zu denken: wie viele sich mit ihren Verlusten abfinden. Viele belagern uns, aber viele finden auch nicht den Weg hierher, geben früh ihre Hoffnung auf.«

»Mir würde es wohl auch so gehen«, sagte Henry vergnügt, »ich hab mir angewöhnt, verlorenen Sachen nicht lange hinterherzuweinen; das meiste ist doch ersetzbar, oder?«

Harms sah ihn verwundert an, skeptisch und verwundert, er machte eine wischende Bewegung über den Tisch, stand mühsam auf, wandte sich den mit Fundsachen vollgestopften Regalen zu und sagte: »Nein, Herr Neff, nicht alles ist ersetzbar, bei weitem nicht alles, eines Tages werden Sie es einsehen.«

Dann schlug er Henry vor, mit ihm zu gehen, zu den beiden Kollegen, die bereits wüßten, daß er heute hier anfangen würde, als Nachfolger eines Mitarbeiters, der schon nach einem halben Jahr gekündigt hatte. Im Abdrehen hob Henry seinen Blick zu dem einzigen Wandschmuck des Büros – es zeigte das Photo einer historischen Lokomotive, die im Abendrot über eine Rheinbrücke dampfte –, er taxierte einen Augenblick den mächtigen altmodischen Koloß, der eine unabsehbare Zahl von Waggons schleppte, und sagte dann: »Die waren damals schon ziemlich schnell, für ihre Verhältnisse.«

»Interessieren Sie sich für alte Lokomotiven?« fragte Harms, und Henry darauf: »Nein, nicht für Lokomotiven, ich sammle Lesezeichen, neue und alte, ich habe ein paar wunderbare Stücke, sollten Sie mal sehen.«

»Gehen wir«, sagte Harms.

Der Leiter des Fundbüros führte Henry um den Stapel von Koffern herum, die für die nächste Auktion bereitgestellt waren – große, elegante Koffer waren darunter, aber auch ramponierte und erschlaffte, einige bepflastert mit den Werbemarken bekannter Hotels –, und zog ihn zu dem Spalier raumhoher Regale. Schweigend strichen sie an den vollgestopften Regalen vorbei, immer zögernder wurde Henrys Schritt, bei dem Fach, in dem Hüte, Mützen und Kappen und exotische Kopfbedeckungen gelagert waren, blieb er stehen, er zeigte auf eine Marinemütze mit der Bandaufschrift »Zerstörer Hamburg« und murmelte: »Das wird bestimmt Ärger gegeben haben.«

Harms sagte nichts, er zog Henry weiter zu dem Fach, in dem ein Haufen Regenschirme lag, schwarze und weiße und bonbonfarbene Schirme, und als Henry bemerkte, daß man hier durchaus ein Schirmgeschäft aufmachen könnte, erklärte Harms, daß Schirme auf einer Auktion grundsätzlich nur im Dutzend angeboten würden, desgleichen Spazierstöcke und Bälle und Bücher. Henry hob ein Buch vom Stapel, entdeckte sogleich das Lesezeichen, das da noch drinsteckte – eine Monatskarte für ein städtisches Schwimmbad –, die er wortlos zwischen die Seiten schob. Mit zunehmendem Erstaunen überflog er die Titel der anderen Bücher; allem Anschein nach war er überrascht davon, was alles im Zug gelesen und vergessen wird.

In einer Abseite, vor einem Fenster, das die Aussicht auf eine Laderampe bot, begegnete er Paula Blohm. Sie saß am Schreibtisch, eine untersetzte Frau mit schwarzem kurzgeschnittenen Haar und dunkelblauen Augen, auf ihrem Rollkragenpullover trug sie ein silbernes oder versilbertes Gingkoblatt. Harms machte sie miteinander bekannt und nannte Henry »unsere neue Hilfskraft«, Paula selbst stellte er als das »Zentrum des Fundbüros« vor, in dem der gesamte Schriftverkehr zusammenliefe.

»Die Hälfte, Herr Harms«, sagte Paula, »die Hälfte reicht auch«, und nachdem sie Henry die Hand gegeben hatte, fischte sie aus der Ablage ein Blatt heraus.

»Hier«, sagte sie, »das Laptop von diesem Staatssekretär ist schon in der Wuppertaler Zentrale, auch die Korallenkette ist schon da«, und da Harms darauf nur nickte, legte sie das Blatt wieder zurück und wandte sich Henry zu. Der sah auf die beiden bescheidenen Sträuße am Rand des Schreibtisches und fragte: »Haben Sie Geburtstag?«

»Vorgestern«, sagte sie, und als Henry ihr gratulierte, bedauerte sie, daß sie ihm keinen Kaffee anbieten könnte; Henry betrachtete ihr sommersprossiges Gesicht und sah in diesem Augenblick voraus, daß er es einmal berühren würde. Etwas Kühles, Beherrschtes ging von diesem Gesicht aus, das ihn eigentümlich anzog.

»Ich freue mich auf die Zusammenarbeit«, sagte er und gab dann Harms zu verstehen, daß er bereit sei, mit ihm weiterzugehen. Paula kniff die Augen zusammen – das war als aufmunternde Geste gemeint – und sagte: »Das schönste Porzellangeschäft in der Stadt, auch das größte – es gibt auch noch Filialen –, Neff und Plumbeck, darf ich fragen?« »Sicher«, sagte Henry, »mich darf man alles fragen; das Unternehmen wurde von Edmund Neff gegründet, das war mein Großvater, später fand er Josef Plumbeck.«

»Ein Teeservice hab ich dort gekauft«, sagte Paula, »ein blaues, chinesisches, ich hab es mir selbst geschenkt, jeden Tag trinke ich daraus.«

Henry lächelte ihr zu und sagte: »Und ich trinke am liebsten aus meinem dickwandigen Becher, aus meinem diakonischen Porzellan, wie ich es nenne.«

Harms zog ihn weiter am Spalier der Regale vorbei, an einem Fach mit Kinderspielzeug vorbei, an einem Fach mit Geschirr vorbei, in dem auch mehrere Picknick-Körbe lagen, und an der umfangreichen Abteilung mit vergessenen und verlorenen Kleidungsstücken blieb er stehen und lenkte Henrys Aufmerksamkeit auf Mäntel, Jacken, Schals und Pullover; er tat es schweigend, tat es ausdauernd, als wollte er Henry selbst ermessen lassen, wie vielfältig die Verluste sein können bei der Bundesbahn. Schmunzelnd musterte Henry die auf Bügeln hängenden Kleidungsstücke, pfiff plötzlich durch die Zähne, griff zu und zog eine braune Kutte heraus, eine Mönchskutte, die er sich vergnügt anhielt.

»Paßt«, sagte er, und dann: »Wenn Sie mich entlassen, Herr Harms, geh ich als Bettelmönch.«

»In einem Intercity aus Köln wurde das Ding gefunden«, sagte Harms, »war wohl ein Karnevalskostüm.«

»Falls die Kutte in die Auktion kommt, möchte ich mitbieten«, sagte Henry, und Harms, entschieden: »Sie sind ausgeschlossen, wir vier hier sind ausgeschlossen.«

Sorgfältig hängte er die Kutte zurück, linste durch die Regale und sagte: »Kommen Sie, ich möchte Sie noch mit Herrn Bußmann bekannt machen, er ist unser erfahrenster Mitarbeiter, von ihm können Sie viel lernen.«

Albert Bußmann hockte in seinem Blaumann am Boden, er hatte einen Rucksack ausgepackt und den Inhalt – Unterwäsche, Schachteln, ein Necessaire, Strümpfe – um sich verbreitet, in den Händen hielt er ein paar Briefe.

»Na, Albert«, sagte Harms, »hast du den Eigentümer ermittelt?«

»Keine Adresse«, sagte Bußmann, und mit einer Mischung aus Widerwillen und Unglauben: »Du kannst dir nicht vorstellen, was manche sich in ihren Briefen sagen, so etwas wagt unsereiner nicht mal zu denken.«

Als wollte er ihn beschwichtigen, klopfte Harms ihm auf die Schulter, zeigte auf Henry und stellte ihn auch diesmal als »unsere neue Hilfskraft« vor, was Bußmann gleichmütig zur Kenntnis nahm – immerhin blickte er auf und gab Henry die Hand, und als dieser sagte: »Wir kennen uns schon, von vorhin«, wollte er eine Bemerkung machen, hielt sich aber zurück und vertiefte sich in die Lektüre der Briefe.

»Nach einer Frist«, so erklärte Harms, »haben wir hier das Recht, einen Rucksack oder einen Koffer zu öffnen; auf diese Weise ist es uns schon oft gelungen, einen Eigentümer zu ermitteln. Wenn kein Nachforschungsauftrag vorliegt, wird der Eigentümer benachrichtigt und kann seinen Besitz zurückerhalten, gegen Gebühr, versteht sich.«

»Aber er muß doch wohl beweisen, daß ihm die Sachen auch wirklich gehören«, sagte Henry.

»So ist es«, sagte Harms, »er muß es glaubwürdig beweisen, und deshalb verlangen wir eine genaue Beschreibung, fragen nach Inhalt, nach Zeitwert, nach besonderen Kennzeichen, unter Umständen erkundigen wir uns auch nach dem Zug-Typ, also IC oder ICE, wenn’s nötig ist, auch nach Bahnsteig und Abfahrtszeit, wir haben da unser eigenes System.« Und dann, bevor er zu seinem schlichten Büro ging, sagte er noch: »Ich lasse Sie jetzt bei Herrn Bußmann; was Ihnen fehlt, können Sie bei ihm lernen.«

Aufmerksam blickte Bußmann dem Chef hinterher, wartete, bis der sein Büro betreten, sich gesetzt, sich über einen offenen Schnellhefter gebeugt hatte, dann richtete er sich auf, langte mit einer Hand tief in einen Stapel zusammengelegter Reiseplaids und zog eine Flasche heraus. Dann öffnete er wie selbstverständlich einen Picknick-Korb, nahm zwei Gläser und setzte sie neben den schlaffen Rucksack auf den Boden. Er füllte die Gläser. Er ließ Henry das Etikett der Flasche lesen und sagte: »Remy Martin, eine alte Frau hat ihn mir gebracht, zum Dank, zum Dank für das Album mit ihren Familienbildern; sie hatte nicht mehr damit gerechnet, das Album wiederzubekommen.«

Als er sein Glas gegen Henry hob, nahm sein Gesicht eine Leidensmiene an, aber nur vorübergehend, und nachdem sie getrunken hatten, wischte er sich mit dem Daumen über die Lippen, kurz und schnell. Bevor er die Flasche unter den Plaids versteckte, hob er sie gegen das Licht, nickte, war zufrieden mit dem verbliebenen Inhalt. Mit der Andeutung eines Lächelns, das Henry überraschte, schleifte er dann einen prallen Rucksack heran.

»Mal sehen, wie es mit uns beiden geht«, sagte er, »wie gut und wie lange. Pack aus!«

Zur Betriebsversammlung nahmen sie Henry nicht mit. Obwohl es unter Umständen auch um seine Existenz ging – nach einem Gerücht, das früh zu ihnen gefunden hatte, wollte die Bahn, um wieder fit und profitabel zu werden, fünfzigtausend oder noch mehr entlassen –, ließ Harms ihn allein im Fundbüro zurück, als Notbesetzung, als Stallwache. Henry war nicht enttäuscht, war nicht besorgt. Allein mit den registrierten Verlusten der Reisenden, mit den Beweisen ihrer Vergeßlichkeit, kochte er sich zuerst Kaffee und aß ein paar von den Roggenkeksen, die er auf Paulas Schreibtisch fand. Dann schlenderte er an den vollgestopften Regalen vorbei, rauchend, verwundert manchmal, mitunter amüsiert, die gestapelten Bücher untersuchte er einzeln auf Lesezeichen, fand aber nur die Monatskarte für ein Schwimmbad. Nachdenklich betrachtete er die in einem offenen Kistchen liegenden künstlichen Gebisse – einige schienen sich gegenseitig anzufletschen –, und an dem Fach mit dem Kinderspielzeug konnte er nicht vorübergehen, ohne eine Puppe und einen Teddybär so aneinanderzudrücken, daß sie in verzweifelter Umarmung dalagen.

Den Tennisball, den er zwischen farbigen Bauklötzen entdeckte, ließ er mehrmals auf dem Boden aufspringen, legte ihn dann in die Mitte des Gangs zwischen den Regalen und holte seinen Hockeyschläger. Prüfend blickte er sich um, eine bauchige Thermoskanne plinkerte ihm zu, er hob sie aus dem Fach und setzte sie auf den Boden, sechs Schritte entfernt. Henry schlug ein paar variierende Bälle, leicht angeschaufelt zunächst, dann kurz und trocken, mit einem weit hergeholten Schlag traf er die Kanne so hart, daß sie sich überschlug und mit offenem Deckel unter ein Regal kullerte. Als er sie hervorholte und auf ihren Platz zurückstellte, hörte er Schritte, gleich darauf die Klingel.

Nach kurzem Zögern ging Henry zur Ausgabe und wuchtete das Schiebefenster hoch; vor ihm stand ein Mädchen, ein dickes Mädchen mit schönem, sanftem Gesicht, das ihn hilfesuchend anblickte. Henry bemerkte, daß das Mädchen kurz davor war, zu schluchzen – seine leicht abfallenden Schultern zuckten und hoben und senkten sich, und seine Lippen zitterten –, und daß es Mühe hatte, zu sprechen. Guten Tag, sagte Henry freundlich und entschloß sich zu einer Frage, die er zum ersten Mal in seinem Leben gebrauchte: »Womit kann ich Ihnen dienen?«

Jetzt begann das Mädchen zu schluchzen, und schluchzend und mit einer Stimme, als wollte sie ihn um Entschuldigung bitten, gab sie an, ihren Ring verloren zu haben, ihren Verlobungsring.

»In der Zugtoilette war es«, sagte sie, »ich wollte mir die Hände waschen und nahm den Ring ab, und dann hörte ich die Durchsage, der nächste Halt, ich lief zu meinem Abteil – werden Sie den Ring finden?«

»Kommen Sie«, sagte Henry, »kommen Sie, wir wollen erst einmal einen Nachforschungsantrag ausfüllen«, und er stieg durch das Fenster, führte sie zu dem schwarzen Pult und reichte ihr ein Formular. Das Mädchen starrte auf das Formular, sah zu ihm auf, blickte wieder auf das Formular, unschlüssig, wo es beginnen sollte. Henry trat nah an sie heran, er deutete auf das Wort »Verlierer«, er sagte: »Hier, hier muß der Name des Verlierers eingetragen werden«, und unwillkürlich war er versucht, ihre Hand zu führen.

»Jutta Scheffel«, flüsterte sie, und Henry, ohne ungeduldig zu werden: »Schreiben Sie es hin, Jutta Scheffel.«

Und dann fragte er sanft weiter – in der Reihenfolge, die das Formular vorgab –:

»Wohnort?«

»Flensburg.«

»Straße?«

»Am Hang 49.«

»Abfahrtsort?«

»Flensburg.«

»Zielbahnhof?«

»Düsseldorf.«

Das Mädchen antwortete leise, doch prompt, und füllte die Sparten aus. Erst als sich Henry nach der Abfahrtszeit und dem Namen des Zuges erkundigte: ›Mozart‹ vielleicht, oder ›Theodor Storm?‹, stockte es und schüttelte den Kopf und sagte: »Ich weiß es nicht«; auch auf die Frage nach der Zugnummer schüttelte es den Kopf.

»So«, sagte Henry, »das hätten wir schon mal.« Er nickte ihr belobigend zu und wollte dann wissen – er sprach den vorgedruckten Text nach –, welcher Gegenstand als verloren angemeldet werden sollte. Das Mädchen schluchzte so heftig auf, daß Henry ihm reflexhaft eine Hand auf die Schulter legte; eine Weile ließ er die Berührung dauern, wobei er die kleinen Zuckungen und Stöße spürte, und begann dann, die Schulter leicht zu beklopfen. Er war nicht einmal erstaunt, daß das Mädchen sich allmählich beruhigte, und als sie ihn mit erhobenem Kopf ansah, reichte er ihr ein Papiertaschentuch und sagte: »Ein Ring also, Ihr Verlobungsring, können Sie ihn beschreiben?«

Sie antwortete nicht gleich, sie schien erst in ihrem Gedächtnis forschen zu müssen, ehe sie sagte: »Ein Topas, ein Topas aus dem Ural.«

Da sie selbst offenbar nicht schreiben wollte oder konnte, nahm Henry den Kugelschreiber und trug ins Formular ein, was er aus ihr herausfragte.

»Wert, können Sie ungefähr den Wert angeben?«

»Es ist ein Erbstück«, sagte das Mädchen, »den Ring hat schon die Mutter meines Verlobten getragen.«

»Erbstück besagt hier nichts«, sagte Henry, »wir müssen den Wert angeben, also: tausend Mark, zweitausend Mark?«

Er notierte schließlich, was er selbst für angemessen hielt, wiederholte einige Trostworte, Beschwichtigungsworte, ließ das Mädchen unterschreiben und versicherte ihm, daß er sein Möglichstes tun werde, um den Ring wiederzubeschaffen. Zuversichtlich wandte sie sich um, ging zur Holzbank, setzte sich und gab ihm zu verstehen, daß sie hier warten wolle, es könnte auch länger dauern, wenn sie nur den Ring wiederbekäme, der ihr mehr bedeutete als alles andere; als Krankenschwester habe sie Geduld gelernt. Langsam sprechend versuchte Henry ihr beizubringen, daß es sinnlos sei, hier zu warten. Obwohl die Dienststelle im allgemeinen erfolgreich arbeite, stellte sich ein Erfolg keineswegs prompt ein, jedenfalls nicht im Laufe einer Stunde, es muß geschrieben, telephoniert, herumgefragt werden.

»Ich schlage Ihnen vor, daß Sie jetzt nach Hause gehen«, sagte er. »Wir haben Ihre Adresse, sobald wir fündig werden, erhalten Sie eine Nachricht.«

Wieviel Zeit sie sich ließ, aufzustehen, wie lange sie unentschlossen und verzagt dastand, ehe sie Henry dankte, mit einer Stimme, die ihn ahnen ließ, was bei diesem Verlust auf dem Spiel stand.

Kaum hatte sie das Fundbüro verlassen, zog Henry das Schiebefenster herunter, steckte sich eine Zigarette an und machte gutgelaunt einige knappe Ausfallschritte nach beiden Seiten, gerade so, als wollte er an einem sperrenden Gegner vorbeiziehen. Er war zufrieden mit sich. Er hatte, so empfand er es, eine Probe bestanden. Wenn die anderen von ihrer Versammlung zurückkämen, würde er etwas zu erzählen haben. Das dachte er und schlenderte den Gang zwischen den Regalen hinab, weniger verwundert jetzt über all das Vergessene und Verlorene, als vielmehr ungläubig und erheitert bei dem Gedanken, daß er auf einmal berufen war, mit den alltäglichen Verlierern zu reden, sie aufzurichten, ihnen zu helfen. Er trat ans Fenster, blickte auf die zerbröckelnde Laderampe, auf die von Löwenzahn und Gras überwachsene, einst großzügige Anfahrt, deren Verlassenheit auch das Sonnenlicht nicht aufheben konnte; wie oft hatte er um Auskunft bitten, nachfragen müssen, ehe er hierhergefunden hatte.

Vor dem Fach mit den registrierten Kleidungsstücken blieb er stehen, zog nach kurzem Nachdenken die Mönchskutte heraus, hielt sie sich zum zweiten Mal an, fand es nicht genug und schlug sich in den schweren braunen Stoff und band die Kordel um. Gern hätte er sich so in einem Spiegel gesehen, doch im Fundbüro, wo fast alles aufgehoben wurde, fand sich kein Spiegel. Er legte die Hände zusammen, gefiel sich einen Augenblick in angenommener Andacht und ging dann, von einem plötzlichen Einfall verführt, zum Büro des Chefs; dort stand das Telephon. Henry beschloß, seine Schwester Barbara anzurufen, in der Einkaufsabteilung von Neff und Plumbeck, wo sie Verantwortung trug; er wollte sich als Bruder Aloisius melden und sie raten lassen, welch ein Kleidungsstück er gerade trug. Und dann wollte er ihr vorschlagen, ihr die Beichte abzunehmen, noch am selben Abend. Er bewunderte seine Schwester, er liebte sie, oft genug hatte er sich eingestehen müssen, daß er Mitleid für sie empfand, für dieses hochgewachsene, sehnige Mädchen, das bereits zweimal verlobt gewesen war. Als er den Hörer abhob, rief ihn die Klingel zur Ausgabe.

Im Gehen warf Henry die Kutte ab, sprang über einen Koffer und zeigte sich einem selbstbewußten Antragsteller, der zum Gruß an die Ballonmütze tippte. Weder verzagt noch mit sich hadernd stand er da in seinem großkarierten Leinenhemd, er schien sogleich Zutrauen zu Henry zu finden und erklärte, daß er in einem Personenzug nach Hannover einen kleinen Holzkasten vergessen hätte, vielleicht vierzig mal sechzig Zentimeter, einen Kasten aus poliertem Teakholz.

»Inhalt«, fragte Henry, »können Sie Angaben über den Inhalt machen?«

»Ich hatte zwei Koffer bei mir«, sagte der Mann, »außerdem einen Rucksack und einen Strauß für meine Agentin, das war der Grund, warum ich den Kasten beim Aussteigen liegenließ, mein Arbeitszeug.«

»Arbeitszeug?« wiederholte Henry.

»Ich bin freier Artist«, sagte der Mann, »in dem Kasten sind drei Messer, Wurfmesser, ihre Klingen wurden in Toledo geschmiedet, sie tragen das Qualitätssiegel.«

»Sind Sie Messerwerfer?«

»Ich bin Mitglied in der Liga freier Artisten, Sie können meinen Ausweis sehen.«

»Solch ein Kasten wurde eingeliefert«, sagte Henry, »mein Kollege hat ihn vorhin registriert, ich habe ihn in die Geschirrabteilung gestellt, warten Sie.«

Henry holte aus dem Fach, in dem Tassen und Teller, Thermoskannen und Bestecke aufgehoben wurden, den Kasten, dessen Deckel mit dem Abziehbild einer Taube verziert war. »Dieser hier?« Der Artist wollte den Kasten sofort an sich nehmen, doch Henry hinderte ihn daran und nahm sich das Recht, den Kasten zu öffnen und den Inhalt zu überprüfen.

Fein aufgereiht in ihren Klemmen, mit der Schneide nach unten, lagen da die drei Messer, an ihren unverhältnismäßig schweren Griffen ließ sich bereits erkennen, daß sie zu keinem gewöhnlichen Gebrauch bestimmt waren.

»Das dürfte Ihnen doch wohl genügen«, sagte der Artist, »und falls Sie noch Zweifel haben sollten, dann schauen Sie sich das Gütesiegel von Toledo an, es ist auf jeder Klinge.«

Frisch erworbene Skepsis ließ Henry zögern, er hob ein Messer aus dem Kasten, erprobte mit dem Daumen die Schärfe der Schneide, suchte das Siegel von Toledo und konnte sich immer noch nicht entschließen, den Kasten auszuhändigen.

»Nun, was ist?« fragte der Artist mit aufkommender Ungeduld. Henry blickte in sein kantiges Gesicht, registrierte die zusammengepreßten Lippen, den fordernden und zugleich ärgerlichen Ausdruck, er war sicher, daß der rechtmäßige Besitzer des Kastens vor ihm stand; dennoch glaubte er, ihm einen letzten Eigentumsbeweis nicht erlassen zu können: »Bitte«, sagte Henry, »nur noch eine kleine Bestätigung, einen einfachen Beweis, der einem Profi nicht schwerfallen dürfte: zwei, drei Zielwürfe bitte, und Sie können Ihren Kasten haben.«

Ohne erstaunt zu sein, ja mit einer freudigen Bereitschaft sagte der Artist: »Von mir aus – nichts leichter als das«, und hielt auch gleich nach einem geeigneten Hintergrund Ausschau, musterte die Tür hinter den Regalen, ging zu ihr, strich mit den Fingerkuppen über das gebeizte Holz und nickte zufrieden: »Darf ich bitten?«

»Was fehlt denn noch?« fragte Henry, und der Artist darauf, sachlich: »Ich bin es gewohnt, mit einem Partner zu arbeiten.«

Nur einen Moment schwankte Henry, dann stellte er sich mit dem Rücken gegen die Tür, sein Körper suchte enge Berührung mit dem Holz, reckte sich, sackte leicht zusammen, reckte sich noch einmal, und ohne Aufforderung streckte er beide Arme schräg nach unten.

»Fertig?« fragte der Artist, bedeutungsvoll, wie er es gewohnt war; Henry antwortete nicht, sondern schloß nur die Augen, und schon surrte ein Messer durch die Luft, knapp aus dem Handgelenk geschleudert. Ratschend setzte es sich im Holz fest, in erträglichem Abstand von Henrys linker Schulter. Er öffnete die Augen, sah, wie der Artist einen Ärmel seines Holzfällerhemdes hochkrempelte, und hörte ihn sagen: »Gut gemacht, und jetzt ruhig bleiben, jetzt riskieren wir noch den Königswurf.«

Dieser Königswurf wurde nicht ausgeführt, denn noch bevor sich das Messer aus der Hand des Artisten löste, um knapp über Henrys Scheitel ins Holz zu fahren, rief eine Stimme: »Was ist denn hier los, seid ihr verrückt geworden?«

Aufgebracht, mit erhobenen Armen kam Harms heran, stellte sich zwischen sie, so, als wollte er Henry Deckung geben, und fuhr den Artisten an: »Nehmen Sie erst mal das Ding weg, ja.«

Der Artist legte das Messer in den Kasten und sagte: »Ruhig, nur ruhig, der Herr dort wollte einen Beweis haben, und den hat er bekommen.«

Henry stieß sich von der Tür ab und bestätigte die Worte des Artisten: »So ist es, ich wollte sichergehen, darum habe ich diesen Beweis verlangt, der Kasten gehört ihm wirklich.«

Dies Bekenntnis konnte Harms nicht besänftigen, er winkte Bußmann zu sich und trug ihm auf, den Rest zu regeln – »Übernimm du das jetzt, Albert« –, Henry forderte er auf, vorauszugehen ins Büro.

Er bot Henry keinen Stuhl an. Er blickte zum Photo mit der historischen Lokomotive hinauf und schüttelte den Kopf, dann wandte er sich Henry zu, musterte ihn lange und bekümmert und gab schon durch sein Schweigen zu erkennen, wie enttäuscht er war. Da Henry sein Schweigen aushielt und auch entschlossen schien abzuwarten, welche Vorwürfe man ihm machen würde, zuckte Harms schließlich die Achseln und sagte: »Na gut, Herr Neff, wenn Sie es selbst nicht gemerkt haben, werde ich es Ihnen sagen: Sie haben sich unmöglich benommen. Sie wollen sich, wie Sie mir erklärt haben, wohl fühlen bei der Arbeit, Sie wollen bei allem Ihren Spaß haben, ich vermute, daß Sie nichts ernst nehmen. Von mir aus können Sie bei Ihrer Haltung bleiben. Hier aber, auf dieser Dienststelle, kommen Sie damit nicht weiter.«

»Was habe ich denn groß gemacht?« fragte Henry, und Harms antwortete: »Ein Varieté, Sie haben aus der Dienststelle ein Varieté gemacht, oder doch für eine Varieté-Einlage gesorgt; offenbar ist es Ihnen nicht einmal bewußt.«

Harms ergriff eine Schere, die auf seinem Schreibtisch lag, setzte die Spitze auf eine schwarze Kladde und sah Henry erwartungsvoll an: »Nun, sehen Sie es ein?« »Von Ihnen, Herr Harms«, sagte Henry, »von Ihnen habe ich gelernt, daß einer, der hier sein verlorenes Eigentum zurückhaben möchte, erst einmal beweisen muß, daß er auch wirklich Anspruch darauf hat. Ich hab doch weiter nichts getan, als solch einen Beweis verlangt.«

»Aber auf welche Art«, sagte Harms, »Sie sind einfach zu weit gegangen«, und bitter fügte er hinzu: »Stellen Sie sich nur mal vor, wenn ein Messer Sie getroffen hätte, in die Brust oder am Ohr, was meinen Sie, was hier losgewesen wäre, oder in den Hals, ein Messer in den Hals. Ich hätte die Verantwortung, mir würde man die Schuld zuschieben, ich kenne doch die höheren Etagen.«

Bußmann trat ein, blickte von einem zum anderen und erkannte sogleich, daß er ungelegen kam und sich kurz fassen mußte, und so sagte er nur: »Ich hab den Kerl abgefertigt; er hat die Bearbeitungsgebühr bezahlt und unterschrieben. Übrigens läßt er grüßen und hofft, daß er noch einmal bei uns auftreten kann, vielleicht auf unserem Betriebsfest.«

»Ach, Albert«, sagte Harms, »manchmal möchte man aufhören, an die Normalität zu glauben.«

Einer aus dem Strom eiliger Passanten scherte aus, einer im schwarzglänzenden Regenmantel, scherte aus und trat vor das erleuchtete Schaufenster des Porzellangeschäfts von Neff und Plumbeck. Henry sah es und überquerte die Straße. An die Hauswand gedrückt und gegen den Strom arbeitete er sich näher heran, blieb unmittelbar hinter der Gestalt stehen und betrachtete still, was diese betrachtete. In einer Sonderausstellung – schön geordnet auf ansteigenden Stufen und Tischchen und vom scharfen Licht kleiner Lampen so angestrahlt, daß die dünnwandigen, bläulich schimmernden Gefäße fast durchsichtig erschienen – wurde da altes Porzellan gezeigt, chinesisches Porzellan. Ein Schild wies darauf hin, daß die Stücke zweihundertsechzig Jahre auf dem Grund des chinesischen Meeres überdauert hatten, im Bauch des portugiesischen Frachtseglers Maria de Santa Cruz, der in einem Taifun untergegangen war; ein anderes Schild belehrte, daß die Porzellankunst unter dem Kaiser K’ang-hsi ihre größte Blüte erlebte. Henry beugte sich so weit vor, daß seine Wange den hochgeschlagenen Kragen des Regenmantels berührte, und flüsterte: »Unverkäuflich, was Sie sehen, ist unverkäuflich und übrigens auch unerschwinglich.«

Paula war nicht so überrascht, wie er es erwartet hatte – vermutlich hatte sie beim Betrachten der zarten Tassen und Kannen auch an ihn gedacht. Ohne sich ihm länger zuzuwenden, fragte sie, was sie anscheinend schon still beschäftigt hatte: ob der Tee aus diesem Geschirr wohl anders schmeckt als aus der neuen Fabrikware; sie glaubte, etwas müsse sich aus diesen wunderbaren Gefäßen doch herausschmecken lassen, das Alter, das Chinesische Meer. »Nicht zu vergessen: der Taifun«, sagte Henry. Belustigt sah Paula ihn von der Seite an, sie ließ sich nicht täuschen von dem treuherzigen Ausdruck seines Gesichts, mittlerweile wußte sie, daß es riskant war, seinem Wort zu vertrauen, einfach, weil er fast alles in Frage stellte und kaum etwas wichtig nahm. Er wollte nicht wissen, in welche Richtung sie zu gehen beabsichtigte, er schloß sich ihr wie selbstverständlich an; einmal, als sie vor einer Ampel standen, ließ er sie hochblicken an dem mächtigen Gebäude von Neff und Plumbeck und sagte: »Dort, im vierten Stock, arbeitet meine Schwester Barbara, sie ist verantwortlich für den Einkauf.«

»Und Sie«, fragte Paula, »warum arbeiten Sie nicht auch da, mit Porzellan zu arbeiten muß doch Freude machen, und außerdem könnten Sie für die Familie tätig sein?«

»Mir hat man keinen Posten angeboten«, sagte Henry, »vielleicht hat man früh gemerkt, daß ich nicht ausreiche und meinen Lebensinhalt nicht im Porzellan finden möchte, weder in chinesischem noch in japanischem oder holländischem Porzellan. Jedenfalls war man sehr erfreut, als ich erklärte, zur Bahn zu gehen wie mein Onkel.«

Plötzlich griff er nach ihrem Handgelenk und zog sie zu einer schwarzen beschrifteten Tafel, die vor dem Eingang zu einem Kellerlokal stand. »Frische Nordsee-Muscheln«, las er langsam und glaubte, damit habe er bereits eine Einladung ausgesprochen, und wartete nur noch auf ihre Zustimmung, doch Paula tat einen Schritt zurück und machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung: »Nein, nicht heute, ich hab noch etwas vor.«

»Dann beeilen wir uns«, sagte Henry, »bitte«, und ohne seinen Griff um ihre Hand zu lösen, führte er sie die nassen Steinstufen hinab. Es war kühl in dem schlichten, gekachelten Gastraum, nur ein einziger kahlköpfiger Mann saß da vor einem Muschelberg und vermied es, sie anzublicken. Sie entschieden sich für den Tisch neben dem Eingang zur Küche, Henry schnupperte, er sagte: »Senf und Zwiebel, oder riechen Sie etwas anderes?«

»Die gehören wohl dazu«, sagte Paula und zündete sich eine Zigarette an. Obwohl Henry hier schon mehrmals gegessen hatte, erkannte der Wirt ihn nicht wieder; schweigend, mit hochgezogenen Augenbrauen, nahm er die Bestellung entgegen, und als er in der Küche verschwand, sagte Henry: »Haben Sie diese Halsmuskeln gesehen? So sieht ein georgischer Ringer aus.«

Um zu servieren, hatte der Wirt sich eine graue Schürze vorgebunden, mit übertriebenem Schwung setzte er die Schüsseln vor sie hin, fächelte sich den Duft der Muscheln zu, ließ seine zerrissenen Augenbrauen spielen und wünschte guten Appetit. Den Mosel probierte er zu Paulas Erstaunen selbst.

Beide hatten keine Mühe, das Muschelfleisch mit einer Schalenhälfte zu lösen; Henry kaute versonnen, kaute nachdenkend, gerade so, als wollte er dem geheimsten Geschmack der Muschel auf den Grund kommen, Paula lächelte verständnisvoll, sie wußte, worauf er aus war. Und nach einer Weile fragte sie: »Das Meer, nicht, Jod und Salz und Algen, bestimmt schmecken Sie das Meer heraus, oder?«

»Nur eine Welle«, sagte Henry, »immer, wenn ich etwas esse, das aus dem Meer kommt, muß ich an eine große Welle denken, sie riß mich um, damals, auf einer Klassenreise, auf einer Nordfriesischen Insel, ich mußte Wasser schlucken, viel Wasser. Seitdem weiß ich, wie das Meer schmeckt.«

»Und«, fragte Paula, »wollen Sie den Geschmack jetzt wiederfinden?«

»Den Geschmack schon«, sagte Henry, »aber nicht die Welle.«

»Das ist wohl immer so«, sagte Paula. »Wenn man an etwas denkt, fällt einem gleich noch etwas anderes ein.«

Henry trank ihr zu, er schien einverstanden zu sein mit ihrer Bemerkung, er sagte: »Wenn ich gewußt hätte, wieviel Freude die Arbeit im Fundbüro macht – ich hätte mich schon früher zu Ihnen versetzen lassen.«

Für einen Augenblick sah Paula ihn skeptisch an. »Freude?« fragte sie, »meinen Sie das im Ernst?«