Fünf Menschen, die mir fehlen - Christie Hodgen - E-Book

Fünf Menschen, die mir fehlen E-Book

Christie Hodgen

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

“Eine Handgranate in literarischer Form.“ The New York Times

Mary wächst in einer kaputten Industriestadt auf. Ihre Mutter ist schön wie Liz Taylor und versucht mit immer wechselnden Männern einen Zipfel vom Glück zu erhaschen. Mary liebt und hasst ihre wilde Mutter genau so wie ihren großspurigen Onkel. Auch Marys andere Wegbegleiter zu einem selbstbestimmten Leben sind schräge Vögel: der Klassenidiot, die College-Zimmergenossin, die ein unerträgliches Geheimnis hütet, der hochbegabte Pianist, der scheitert. Mit literarischer Wucht setzt Christie Hodgen den Außenseitern, die unser aller Leben prägen, ein erzählerisches Denkmal.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 398

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christie Hodgen

FÜNF MENSCHEN, DIE MIR FEHLEN

Roman

Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel

Knaus

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Elegies for the Brokenhearted« bei W. W. Norton & Company.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe Christie Hodgen 2010

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: www.bürosüd.de

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-12421-2www.knaus-verlag.de

Für meine Familie

In der That ist die Ueberzeugung, daß die Welt, also auch der Mensch, etwas ist, das eigentlich nicht seyn sollte, geeignet, uns mit Nachsicht gegen einander zu erfüllen […]. Ja, von diesem Gesichtspunkt aus könnte man auf den Gedanken kommen, daß die eigentlich passende Anrede zwischen Mensch und Mensch, statt Monsieur, Sir, u. s. w., seyn möchte »Leidensgefährte, Socî malorum, compagnon de misères, my fellow-sufferer«. So seltsam dies klingen mag; so entspricht es doch der Sache, wirft auf den Andern das richtigste Licht und erinnert an das Nöthigste, an die Toleranz, Geduld, Schonung und Nächstenliebe, deren Jeder bedarf und die daher auch Jeder schuldig ist.

Arthur Schopenhauer

ELEGIE FÜR MIKE BEAUDRY

(1952–1989)

So jemanden gab es in jeder Familie, und du warst es bei uns: der Trottel, die Niete, der Säufer, der Rumtreiber, der ständige Arbeitsplatzwechsler (Müllmann, Koch, Hilfspfleger, Lieferwagenfahrer) und ständig Arbeitslose (Den Scheiß muss ich mir nicht antun, sagtest du immer), der kettenrauchende Versager mit dem Muscle-Car, einem eichelbraunen 442 Cutlass Supreme namens Michelle, der Liebe deines Lebens (Mal sehen, was mein Baby so draufhat, sagtest du immer, alle sechs Cousinen auf der Rückbank zusammengedrängt, und wie du johltest, wenn du die Scheiben runtergekurbelt und auf der Route 20 richtig Gummi gegeben hast, wie wir an den Striplokalen, den rund um die Uhr geöffneten Diners, den schäbigen Motels und Schrottplätzen vorbeibrausten, hinter denen sich schmollend die kleinen Betonziegelhäuser unseres Viertels in ein tiefes Tal duckten), du warst der ledige Onkel mit den blutunterlaufenen Augen und dem Fünftagebart, der immer in zerknittertem Hemd und Jeans und mit nach Alkohol stinkendem Atem zu spät zum Festessen kam – Michael Timothy Beaudry, eine Zeit lang warst du für uns all das.

Die Siebziger: Nixon und Carter, Kultur und Gegenkultur, ein Weg, der sich irgendwo im Wald teilte. Du warst zwanzig, dann fünfundzwanzig, dann dreißig, und die ganze Zeit sah es so aus, als wärst du gerade erst erwachsen geworden, als würde dein richtiges Leben – als Schullehrer oder Feuerwehrmann, als Ehemann und Vater, als rechtschaffener Steuerzahler – noch bevorstehen. Aber was hätte das für einen Zweck gehabt? Du hattest ein Herzleiden, einen Klappenfehler, der dich jederzeit das Leben kosten konnte, das Gleiche wie bei deiner Mutter, die starb, als du gerade erst drei warst. Es gab unglaublich viel, was du nicht tun durftest (praktischerweise gehörte dazu auch der Militärdienst), und du machtest dir einen Spaß daraus, all dem vor den Augen deiner Schwestern zu frönen. Die Hände in die Hüften gestützt, sahen sie dabei zu, wie du uns hinterm Haus durch den Garten jagtest, uns hoch in die Luft warfst und wieder auffingst, wie du mit ihren Ehemännern und Freunden Football spieltest, wie du trankst und rauchtest, rauchtest und trankst. All deine Fehler schrieben sie deinem Herzen zu. Deine Sauferei, deine Drogen, deine Schulden und dein Glücksspiel, deine ständigen Bettgeschichten (wie du ein Mädchen ungefähr eine Woche lang umgarnt hast, bis du sie auf Michelles Rückbank vögeln konntest und ihr dann das Herz brachst … doch irgendwann würdest du dafür büßen müssen, sagten deine Schwestern, bei irgendeinem Mädchen würde es dich erwischen, und der Schmerz, sie zu verlieren, würde dich umbringen, wart’s nur ab, sagten sie, diese drei langhaarigen, gehässigen Hexen, und wie recht sie behalten sollten), den Umstand, dass du keine deiner Wohnungen lange behalten konntest, dass du ständig zu unchristlicher Zeit angeklopft und – dein ganzes Leben in einen Seesack gestopft – vor der Tür gestanden hast, dass du in einem unendlichen Kreislauf zwischen Lily, Ellen und Margaret von einem Sofa zum anderen zogst: All das schrieben sie deinem Herzklappenfehler zu. »Sein Herz, sein Herz, sein Herz!«, sagten sie und meinten damit doch viel mehr, meinten, du hättest ansonsten in tausend Belangen ein besserer Mensch sein können. Später jedoch, nachdem du für immer gegangen warst, ohne ihnen mitzuteilen, wohin, saßen deine Schwestern an den Feiertagen auf den von dir durchgelegenen Sofas, aßen ihren Kuchen, tranken ihren Kaffee, rauchten ihre Virginia Slims und lasen sich gegenseitig ihre Horoskope aus der Zeitung vor, genau wie sie es schon als Kinder abends bei Tisch getan hatten – Fische, Widder, Krebs und dann nur zum Spaß auch noch den Steinbock für dich (NEHMEN SIE SICH HEUTE TROTZ IHRES VOLLEN TERMINKALENDERS EIN WENIG ZEIT FÜR IHRE FAMILIE!) –, später jedoch reckten sie an all den eintönigen Feiertagsnachmittagen, an denen sie dasaßen und über dich nachgrübelten, jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifuhr, die Köpfe zum Fenster und kamen zu dem Schluss, dass es vielleicht doch nicht dein Herz war, das dich zugrunde gerichtet hatte, sondern dass du auch sonst derselbe geworden wärst, und in jener Zeit sagten sie oft: »Wir sind ja auch nicht miteinander verwandt.«

Was war eigentlich Verwandtschaft? Dein Vater, der Witwer Michael Beaudry sen., hatte meine Großmutter Virginia Mayhew, geborene Beauvier, geheiratet, eine Witwe mit drei Töchtern, der Ehemann war an Krebs gestorben, und auf amtlichen Dokumenten und in Restaurants waren sie fortan immer nur »die Beaudrys, sechs Personen« gewesen. Nach einem schwierigen ersten Jahr – Schweigen im Auto, Schweigen beim Abendessen – änderte sich alles, und keiner konnte sich mehr richtig daran erinnern, wie das Leben vorher gewesen war. Ihr wurdet zu einer Familie. Dein Zimmer wurde »Michaels Zimmer« und war nicht mehr »das Zimmer, das er Lily wegnahm, als sein Vater unsere Mutter heiratete, und jetzt müssen wir zu dritt in einem Zimmer schlafen, während der Herr ein Zimmer für sich allein hat«. Schon bald warst du ein ganz normaler Bruder, der mehr Kartoffelbrei aß, als ihm zustand, der nachmittags allein durch die Innenstadt schlendern durfte, der nicht nach Hause kommen musste, um den Abendbrottisch zu decken, dessen gelegentliche häusliche Pflichten (Laub harken, Müll rausbringen) in keinem Verhältnis zu der tagtäglichen Plackerei im Haushalt standen. Wie alle Brüder wurdest auch du von deinen Schwestern nicht als ernstzunehmender Angehöriger des anderen Geschlechts betrachtet. Es war ihnen egal, ob du sie mit Lockenwicklern im Haar sahst, die Pickel mit Zahnpasta betupft. Und es war ihnen auch egal, ob du ihre Gespräche über Dave Duncan, Jess Landry und Mike Murphy mitbekamst, die Jungen, in die sie verliebt waren. Du warst den Beschimpfungen und Bestechungen ausgesetzt, die ausschließlich bei Brüdern angewendet werden. Nachmittags stahlen deine Schwestern deinen Plattenspieler und schlossen ihn in ihrem Zimmer an, nahmen deine Lieblingsmusik (wie gern du gesungen hast! James Brown, Otis Redding, die Rolling Stones) vom Plattenteller und legten stattdessen Elvis, Bobby Darin, Doris Day auf. Wenn du abends dein Schlafzimmerfenster öffnetest, um eine Zigarette zu rauchen, verpetzten sie dich – Mom! Michael raucht schon wieder! – oder stürmten herein und verlangten ebenfalls nach einer Zigarette. Vor allem meine Mutter. Sie war in deinem Alter. Ihr wart die Jüngsten in der Familie, nur zwei Monate auseinander, seid ins selbe Schuljahr gegangen und habt oft in denselben Kursen gesessen. Du schriebst ihre Hausaufgaben ab, hast den Wortlaut ihrer Buchvorstellungen leicht verändert und sie als deine eigenen ausgegeben. Sie lieh sich Geld von dir (samstagvormittags hast du als Packer in einer Metzgerei gearbeitet), versäumte aber, es dir wiederzugeben. Schulter an Schulter habt ihr in deinem Zimmer gestanden und aus dem Fenster Rauch in die kalte Luft von New England geblasen. Von deinem Fenster aus blickte man auf einen hohen Hügel, auf dem die staatliche Psychiatrie stand, ein neugotisches Schloss mit Türmchen und Kriechblumen und einem gespenstischen Uhrenturm in der Mitte, dessen Läuten einen stündlich aus dem Schlaf riss, und ihr, du und meine Mutter, habt auf eure Befreiung gewartet, genau wie die Verrückten, die in eurer Vorstellung zu euch zurückstarrten, ihr habt gewartet und gewartet und immerzu von Flucht gesprochen. Meine Mutter dachte an Kalifornien, du an New York. Sobald du mit der Highschool fertig wärst, würdest du dich aus dem Staub machen. Ein Seesack, ein Bus, ein Highway. Auf und davon. Wie ihr beide dort gestanden und das dunkle Viertel schmaler, dicht zusammenstehender Häuser betrachtet habt, wie ihr dagestanden und von Flucht gesprochen habt, während euer Atem die Scheibe beschlug und sich miteinander vermischte, wie ihr dagestanden und Pläne geschmiedet habt, die immer wieder scheitern sollten – war das nicht Verwandtschaft?

Du warst unser Onkel – jede deiner Schwestern hatte zwei Kinder, alles Mädchen. Du warst gut geschult in den Fertigkeiten, die ein Onkel gemeinhin haben sollte: im Kitzeln, im kunstvollen Rülpsen, im Nase-aus-dem-Gesicht-Pflücken, im scheußlichen Umstülpen der Augenlider. Am Labor Day fuhrst du jedes Jahr mit uns nach Hampton Beach, hast uns in der Brandung herumgeschleudert (das nanntest du Waschmaschine) und uns Eis und T-Shirts gekauft. (Ach, der Geruch jenes Ladens, die Aufbügelfolien, Plastik, das mit Baumwolle verschmolz!) Du hattest mehr T-Shirts als alle anderen, die ich kannte – mit den Gesichtern von John Lennon und Jimi Hendrix darauf, eins mit Mick Jaggers lasziver Zunge. Im Lauf der Jahre wurden all diese T-Shirts leprös, der Aufdruck blätterte ab, bis man nicht mehr erkennen konnte, was er einmal hatte darstellen sollen, wenn man ihn nicht von Anfang an gekannt und miterlebt hatte, wie alles Stück für Stück, Tag für Tag zerbröselte; wenn man nicht zur Familie gehörte.

Einmal hast du dich an Heiligabend als Weihnachtsmann verkleidet, weil irgendwer wahrscheinlich dachte, so etwas sei die Grundlage für eine glückliche Kindheit. Welches Haus war es damals? Ich kann mich nicht mehr an all die Häuser und Wohnungen, an all die Scheidungen, Zwangsvollstreckungen und erneuten Hochzeiten, an all die Exmänner und Stiefväter erinnern. Jedenfalls hast du die Haustür aufgestoßen und kamst herein: Ho, ho!, sagtest du, und dein Bauch wackelte einen Augenblick wie ein Schälchen Marmelade. Tut mir leid, dass ich durch die Tür komme, aber der Schornstein ist kaputt. Du sprachst in dem dröhnenden, höhnischen Ton von W. C. Fields. Das war deine Vorstellung davon, wie der Weihnachtsmann redete – ein Mann, dem die Aufgaben über den Kopf wuchsen, der von Kindern die Nase voll hatte und sich nur mehr in Sarkasmus flüchten konnte.

Irgendwer, der Ehemann oder Freund einer meiner Tanten, fragte dich: »Wie läuft’s denn so, Weihnachtsmann?«, und da sagte der Weihnachtsmann, also du: Bin voll dabei und dabei voll.

Nach ein paar Bier machtest du es dir auf dem Sofa gemütlich und nahmst eine nach der anderen von uns auf den Schoß. Erzähl mal dem Weihnachtsmann, was du dir wünschst, sagtest du. Du warst eine schlechte Wahl für die Rolle, jung und schlank, betrunken und bekifft, und wir ließen uns nichts vormachen. Dein schwarzes Haar ringelte sich unter deiner Mütze hervor, dein Kostüm war an den Armen und Beinen zu kurz, wir konnten die schmutzigen Aufschläge deiner Jeans sehen. Die grauen Augen, die geschwungenen schwarzen Brauen, die berühmte Beule auf der Nase von dem Tag, als du betrunken in eine Glasschiebetür gelaufen warst, all das gehörte eindeutig zu dir. Ganz zu schweigen von deiner Stimme. Mit fünf Jahren hatte ein Virus deine Stimmbänder in Mitleidenschaft gezogen, und seitdem sprachst du wie jemand, der vom Husten ganz heiser war, mit einer rauen, gequälten Stimme, seitdem klangst du wie ein Footballtrainer, der von der Seitenlinie verzweifelte Kommandos übers Spielfeld rief, und diese Stimme war unverwechselbar. Nein, wir ließen uns nichts vormachen, wir erkannten dich sofort. Trotzdem setzten sich meine Schwester und unsere Cousinen auf deinen Schoß und nannten dir ihre Herzenswünsche. Als ich an die Reihe kam, zog ich bloß an deinem Bart, der aus Wattebäuschen bestand und an deinem Kopf mit einem Gummiband befestigt war, das man immer wieder nach vorn ziehen und zurückschnappen lassen konnte.

Und was hättest du gern, kleine Mary Murphy?, fragtest du. Ich sagte nichts, sondern sah dich bloß an. Nichts?, fragtest du. Wie wär’s mit einem der Brillanten, die deine Schwester sich wünscht? Ich zog an deinem Bart, zerrte ihn dir vom Gesicht. Du hast mein Kinn gepackt und mein Gesicht ganz nah an deins gezogen. Sei so gut, sagtest du mit normaler Stimme, und hol dem Weihnachtsmann mal ein Bier.

Als du wieder gingst, warst du verstrahlt wie unsere Weihnachtsbeleuchtung. Ho, ho!, sagtest du. Ho, scheiß ho! Wie Nixon winktest du schwungvoll mit beiden Armen und bist dann in den Schnee hinausgestolpert. Niemand kam auf die Idee, dich aufzuhalten. Niemand in unserer Familie nahm seine Staatsbürgerpflichten ernst. Wir fuhren betrunken Auto und hinterzogen Steuern, parkten auf Behindertenparkplätzen und brachten unsere Einkaufswagen nicht dorthin zurück, wo sie hingehörten. Bei einem Verkehrsstau rasten wir den Standstreifen entlang und flennten dann der Polizei etwas vor, um keinen Strafzettel zu bekommen. Für besondere Anlässe kauften wir neue Kleidung, die wir mit nach innen gestecktem Preisschild trugen und danach wieder zu Filene’s Basement zurückbrachten. Wir stellten ungedeckte Schecks aus, gaben im Kino ein falsches Alter an, um nur den ermäßigten Eintrittspreis zahlen zu müssen, aßen von den Tellern anderer Leute. Und so kam es, dass du, stille Nacht, heilige Nacht, durch den Schnee hinausgestolpert bist.

War das nicht Verwandtschaft? Du warst uns verwandter als unsere eigenen Väter. Die Väter von uns sechs Cousinen hatten sich aus dem Staub gemacht, und diese Worte wurden so oft zusammen benutzt, dass sie miteinander verschmolzen: ausdemstaub, ausdemstaub, ausdemstaub. Wir sechs – Ginny und Little Ellen von Lily, Carrie und Little Lily von Ellen, Malinda und ich von Margaret – hatten Väter und Stiefväter und wieder neue Stiefväter, denn die schönen Beaudry-Mädchen hatten, wie weithin bekannt war, eine Schwäche für Hochzeiten und eine noch größere Schwäche für Scheidungen, und es hieß, es sei schwierig, ohne sie, aber letztlich unmöglich, mit ihnen zu leben. Meine Mutter war mit fünf Ehemännern die beliebteste und schlimmste von ihnen. Malinda und ich stammten aus ihrer zweijährigen Ehe mit Michael Murphy, Highschoolliebe und gewerkschaftlich organisierter Klempner, Sternzeichen Schütze, Alkoholiker mit Ausfallerscheinungen. Nach ihm heiratete sie einen weiteren Michael, den ihr treu ergebenen und schwer geprüften Michael Collins, Geschichtslehrer an der Highschool und Modellschiff-Fan, Sternzeichen Waage. Ihre dritte Ehe – mit einem Elektronikhändler namens Bud Francis, Sternzeichen Krebs – dauerte acht Monate und wurde mitunter völlig vergessen. Aus ihrer vierten Ehe – mit dem Mechaniker Walter Adams, Sternzeichen Waage, zwanzig Jahre älter als sie und schwarz (wie verbissen dieses Wort in unserer Familie geflüstert wurde: SCHWARZ! SCHWARZ! SCHWARZ!) – ging ein weiteres Kind hervor: Felice Shirley Adams, die – blau und verkrümmt – nicht einmal einen Tag überlebte. Und schließlich heiratete sie den Reverend Les Witherspoon, einen Prediger, den sie im Kabelfernsehen über das Ende der Welt wettern gesehen hatte, unverkennbar Sternzeichen Skorpion. Später würde ich immer wieder versuchen, meinen Freunden das ganze Who’s who der Beaudry/Murphys, all die Exmänner, Stiefväter und Halbgeschwister, das Geflecht von ersten, zweiten und dritten, die Verwandten ersten und zweiten Grades zu erklären, doch es konnte mir nie jemand folgen. »Von wie vielen Mikes reden wir hier?«, fragte mal einer. »Vier? Fünf? Das ist ja schlimmer als bei Faulkner!«

Oktober 1980, es war schon kühl, und wir – meine Mutter, Malinda und ich – waren gerade aus Michael Collins’ Mittelschichthaus in die Erdgeschosswohnung eines Vierfamilienhauses gezogen. Ich war acht, Malinda zehn. Wir waren noch so jung, dass wir schluckten, was uns unsere Mutter sagte: dass unsere neue Wohnung ein Palast sei, eine begehrte Immobilie in einer vornehmen Gegend, dass jetzt alles besser werde, dass wir hier einfach glücklich sein würden, dass wir Michael Collins schon bald nicht mehr fehlen würden und er uns auch nicht, dass wir zwar eine Weile eine Familie gewesen seien, aber keine Familie, die ewig hielt, die miteinander verwandt war.

Schmal und lang, mit glänzenden Hartholzböden, hatte die neue Wohnung etwas von einer Bowlingbahn. Als du klopftest, rannten Malinda und ich durchs Wohnzimmer und die Küche und rutschten auf unseren Socken den langen Flur zu den Schlafzimmern entlang. Wir liefen um die Wette zur Tür – wer konnte das wohl sein? –, und plötzlich hast du dagestanden, warst zu uns zurückgekehrt wie eine Figur aus der Bibel. »Was für eine Überraschung!«, sagten wir. Aber das stimmte natürlich nicht, denn wir hatten immer auf dich gewartet.

Ratet mal, wer gestorben ist!, sagtest du und kamst rein. Das war dein Lieblingsspiel. Wenn du nach langer Abwesenheit wieder auftauchtest, brachten wir uns so wieder auf denselben Stand. Rat mal, rat mal, rat mal, als wäre das Leben eine Gameshow: Rat mal, wer weggezogen ist! Rat mal, wer geheiratet hat oder sich hat scheiden lassen, gefeuert oder befördert, verhaftet, ins Krankenhaus eingeliefert, ausgewiesen wurde! Rat mal, wer spurlos verschwunden ist! Rat mal, wer an Krebs erkrankt ist! Rat mal, wem ein Kind angehängt wurde! Rat mal, wer mit einem Puerto-Ricaner geht! Rat mal, wer schwul ist!

»Wer denn?«, fragte meine Mutter. Sie rief aus der Küche, wo sie den ganzen Morgen am Tisch gesessen (in dieser Wohnung begnügten wir uns mit einem Kartentisch und Klappstühlen, mit Matratzen auf dem Fußboden, einem Schwarz-Weiß-Fernseher mit Dreizehn-Zoll-Diagonale, ebenfalls auf dem Boden, und einem karierten Schlafsofa, das wir bei irgendjemandem im Vorgarten mit dem Schild BITTE NEHMT MICH MIT gesehen hatten) und mit einem grünen Stift Kleinanzeigen eingekringelt hatte. »Wer ist gestorben?«

Sal Didonna, sagtest du. An Krebs.

»O Gott«, sagte meine Mutter. »Und was für einer?«

Keine Ahnung, sagtest du. Krebs halt.

Seufzend ließest du dich aufs Sofa fallen. Malinda und ich setzten uns links und rechts neben dich, und du legtest die Arme um uns. Du stankst nach Tequila.

»Rat mal, wer inzwischen jüdisch ist!«, sagte meine Mutter. »Julie Smith. Hat einen Juden geheiratet.«

Rat mal, wer jetzt nachts Taxi fährt!, sagtest du. Dieser Zwerg, der ein paar Häuser weiter wohnte, wie hieß er noch gleich?

»Midgy?«, fragte meine Mutter.

Stimmt, Midgy, sagtest du. Midgy Laruso.

»Rat mal, wer seinen Mann verlassen hat!«, sagte meine Mutter und kam aus der Küche. Es war drei Uhr nachmittags, doch sie trug immer noch Bademantel und Slipper, beides aus dem gleichen lila Velours, ein Geschenk des treu ergebenen und schwer geprüften Michael Collins. Für sie ging nichts über eine Bademantel-Slipper-Kombi.

Hab ich gehört, sagtest du. Irgendwie tut der Kerl mir leid.

»Mir tut bloß leid«, sagte meine Mutter, »dass der größere Fernseher nicht in meinen Wagen passte.«

Was für ein Scheißfernseher, sagtest du. Das Gerät lief wie immer im Hintergrund, das Bild war dunkel und flimmerte. Es war Samstag, und das hieß, dass auf Channel 38 die Filme liefen, die bei meiner Mutter übertriebene Erwartungen an Männer, romantische Gefühle und den Glauben hervorriefen, dass Reichtum und Glück durch Zufall den schönsten Menschen der Welt zuteilwurden. Und meine Mutter war schön. Es verging kaum ein Tag, an dem ihr nicht irgendwer sagte, dass sie wie ein Filmstar aussehe (»Sie sind Liz Taylor wie aus dem Gesicht geschnitten«, sagten die Leute. »Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt? Wie aus dem Gesicht geschnitten. Das kriegen Sie bestimmt ständig zu hören, oder? Tut mir leid, aber es stimmt einfach«), und inzwischen glaubte sie daran. Sie sah sich die Filme und die darin spielenden Stars – Doris Day, Audrey Hepburn, Marilyn Monroe – mit geradezu verzweifelter, wütender Sehnsucht an. Das Leben, das ihr zustand, führten andere Leute – sie promenierten in Nerzmänteln, behangen mit Perlen, und fuhren Cabrios, die von Rechts wegen meiner Mutter gehörten, und sie kochte vor Wut. Sie vertiefte sich in diese Filme wie andere Leute in die Bibel und verbrachte jeden Samstagnachmittag damit, die Sonderangebote in Filene’s Basement zu durchforsten und in der offenen Umkleidekabine verschiedene Kleider anzuprobieren, die denen im Fernsehen halbwegs ähnlich sahen. Ihre Garderobe war legendär, spektakulär, äußerst unpraktisch, ihr Wandschrank randvoll mit leuchtenden Seidenkleidern und raffinierten Tweedsachen, mit Peeptoes und Netzstrümpfen, Kunstpelzen, Satintüchern. »Irgendwann«, sagte sie dann immer und betrachtete sich im Ankleidespiegel, »zahlt sich das alles aus.«

Im Fernsehen sang Judy Garland »Get Happy«, und ein Dutzend Männer in Smokings fielen vor ihr auf die Knie. Sie trug ein schwarzes Jackett, schwarze Nylonstrümpfe und schwarze Pumps. Ein Filzhut saß schräg auf ihrem Kopf. Unsere Probleme seien bedeutungslos, lautete ihre Botschaft, wir sollten sie beiseiteschieben, und alles Leid, das wir erduldeten, werde am Ende vergessen sein, werde bei der Entrückung in Flammen aufgehen. Und unablässig lief ein Störstreifen über den Bildschirm, immer und immer wieder.

Judy sang ihr Lied zu Ende, und du sagtest: Ratet mal, wer sich verliebt hat! Meine Mutter saß da und warf mit Namen um sich, nannte die brutalsten und herzlosesten Leute, die ihr einfielen – Fran Palmintere, Sheila Scalia –, doch du hast immer nur den Kopf geschüttelt und gelächelt.

Schließlich sagte meine Mutter: »Ich geb’s auf.«

Ich, sagtest du und tipptest dir mit dem Daumen an die Brust. Ich, verdammt noch mal.

»Ja, klar«, sagte meine Mutter. Sie schnaubte, prustete, sagte: »Red keinen Scheiß!« Aber so wie du dagesessen hast, den Oberkörper vorgebeugt, den Kopf in die Hände gestützt, konnten wir sehen, dass es stimmte, wir konnten sehen, dass du endlich verliebt warst, wir konnten sehen, dass du, wie du es vielleicht ausgedrückt hättest, geliefert warst. »Geht auf euer Zimmer«, sagte meine Mutter zu uns – völlig sinnloserweise, denn von unserem Zimmer aus konnten wir alles hören. Nachts lagen wir zusammen auf unserer Matratze und lauschten jedem Wort, das unsere Mutter am Telefon zu ihren Schwestern, zu Michael Collins, manchmal auch zu unserem Vater sagte. Aber wir gingen trotzdem.

Du sprachst eine ganze Weile über das Mädchen. Es hieß Sam Keller, war neunzehn und Kassiererin bei Stop & Shop. Du sagtest, du hättest sie genau wie all die anderen kennengelernt: in einer Bar. Du warst mit Freunden aus und sahst dir im Fernsehen an, wie die Red Sox mal wieder eine Führung verspielten, und da saß sie dir plötzlich mit ein paar Freundinnen gegenüber, trank einen Shirley Temple und zwirbelte ein paar Strähnen aus ihrem Pferdeschwanz um den Finger. Rotes Haar, sagtest du, ich hab eine Schwäche für rotes Haar. Ihr starrtet euch an. Schließlich brachtest du den Mut auf, sie zum Essen einzuladen, und sie willigte ein. Bei eurer ersten Verabredung warst du mit ihr in einem mexikanischen Restaurant. Du hast eine Enchilada mit Rindfleisch bestellt, sie einen Burrito mit Bohnen, und ihr habt an einem kleinen Tisch mit einer rot-weiß karierten Vinyltischdecke direkt am Fenster mit Blick auf die Straße gesessen. Ihr lerntet euch so gut kennen, wie es bei einer ersten Verabredung möglich war. Sie wohnte bei ihren Eltern, fromme Mitglieder einer Religionsgemeinschaft, von der du noch nie gehört hattest; sie war die älteste von drei Schwestern; sie arbeitete als Kassiererin, doch eigentlich hätte sie lieber Haare geschnitten, eine Kosmetikschule besucht oder vielleicht eine Frühstückspension eröffnet. Die ganze Zeit hatte sie den Mund voll und quasselte mit hoher, blecherner Stimme von dieser Frühstückspension – irgendwo auf Cape Cod oder vielleicht in New Hampshire, sagte sie, alle Zimmer mit Kamin und Himmelbetten. Sie hatte mal mit ihrer Großmutter in einer solchen Pension übernachtet und wäre am liebsten für immer geblieben.

Es sei wie bei allen Verabredungen gewesen, sagtest du. Du hättest dich gelangweilt, dich bemüht zuzuhören, ein Gähnen unterdrückt. Du hast dagesessen und sie gemustert: braune Augen, blasser Teint mit einer Andeutung winziger brauner Sommersprossen, die Lippen aufgesprungen, die Ohrläppchen fleischig, der Körper klein und pummelig. Alles in allem war sie hübsch, aber nicht schön; jemand, den du als vögelbar bezeichnen würdest. Nach dem Essen fuhrst du sie nach Hause und versuchtest ohne großes Verlangen, sie zu küssen – du legtest den Arm so auf den Sitz, dass er gewissermaßen um ihre Schultern lag –, doch sie schlüpfte aus dem Wagen, noch ehe du mehr erreicht hattest. Du sahst zu, wie sie mit schwingendem Pferdeschwanz das Haus betrat, und dann fuhrst du voller Selbstsicherheit davon – es kam dir vor, als habe ein Spiel begonnen, an dessen Ende ihr miteinander ins Bett gehen würdet. Ihr gingt noch ein paarmal aus – zehn Mal, um ehrlich zu sein, sagtest du –, und jedes Mal endete es wieder so: Sie stieg so gleichmütig aus deinem Wagen wie aus einem Taxi. Bei eurer letzten Verabredung gingst du ihr nach, folgtest ihr bis zur Tür und ergriffst ihren Arm, aber sie riss sich los und schlug dir die Tür vor der Nase zu. Danach riefst du immer wieder an, hast Nachrichten bei ihrer Mutter und ihren Schwestern hinterlassen, ja, sogar bei ihrem Vater, doch sie rief nie zurück.

Deine Stimme glich einer Maschine, die bei ihrer Arbeit brummte, deine Worte klangen schleppend und monoton und flossen ineinander. Immer wieder sagtest du: Ich kapier’s nicht. Ich kapier’s einfach nicht. Dieses Mädchen, sie sah durchschnittlich aus, hatte triviale Interessen, war langweilig, jung, prüde. All das ergab für dich keinen Sinn. Aber das ist wohl Liebe, sagtest du. Du sagtest, du warst noch ein paarmal allein in dem mexikanischen Restaurant, um euer Rendezvous Revue passieren zu lassen. Du hast eine Enchilada für dich und einen Burrito für sie bestellt und beides allein gegessen. Hast versucht, dich an all das zu erinnern, was du gesagt hattest, an alles, was sie gesagt hatte. Alles, woran du dich noch erinnern konntest, schriebst du auf Cocktailservietten.

»Sag bloß nicht, du schleppst eine SERVIETTE mit dir herum!«, sagte meine Mutter. »O Gott!«

Sie hat oft über ihren Hund geredet, sagtest du. Ein Corgie namens Snuffles.

»Snuffles?«, fragte meine Mutter. »SNUFFLES?«

Ich glaube, so heißt er, ja, sagtest du.

»Mein Gott!«

Ich weiß. Es ist wirklich saublöd.

»Jesses noch mal«, sagte meine Mutter. Wenn sie verblüfft war, waren Christus und seine verschiedenen Pseudonyme, Ableitungen und Verballhornungen alles, was ihr einfiel. Sie lachte – ein kurzes, lautes Bellen, das einen Augenblick die Wohnung erfüllte und dann wie ein geplatzter Ballon erstarb.

Ich weiß, sagtest du, ich weiß. Es ist jämmerlich. Du sagtest, du hättest deinen Job als Barkeeper verloren, weil du dich ständig krankgemeldet und lieber auf dem Parkplatz des Stop & Shop in deinem Wagen gesessen hättest, um Sam Keller beim Eintippen der Lebensmittel zuzuschauen.

»Ogottogott«, sagte unsere Mutter.

Dann bist du eine Weile verstummt, und Malinda und ich lauschten dem Fernseher. In unserer Stadt schien jegliche Firma einzugehen und ihren eigenen Ruin noch mit wahnwitzigen Werbespots voranzutreiben. Der Sprecher eines Möbelgeschäfts brüllte: ALLESMUSSRAUS! TOTALERRÄUMUNGSVERKAUFWEGENGESCHÄFTSAUFGABE! Oben riefen sich die Nachbarn von einem zum anderen Ende der Wohnung schroffe Fragen und Anschuldigungen zu. »Wo ist die verdammte Schere?«, fragte der Mann. »Keine Ahnung«, schrie die Frau. »Beweg deinen faulen Arsch und guck selber nach!« Die Frau war hochschwanger, und wir fürchteten uns vor der Geburt des Babys, vor dem bevorstehenden Geplärr. Michael Collins und sein schöner Vierzimmerbungalow waren längst Geschichte; dies hier war das Leben, das wir jetzt führten, das Leben in einer Wohnung, und in diesem Leben tat man so, als könnte man nichts hören, nichts sehen, nichts riechen, schmecken oder spüren und sich an nichts, nichts, an rein gar nichts erinnern.

Als euer Gespräch weiterging, stelltest du die Frage, auf die Malinda und ich gewartet hatten. Hey, sagtest du, als wärst du gerade erst auf den Gedanken gekommen, kann ich eine Weile hier wohnen?

Einen Monat später konnten wir uns schon nicht mehr an das Leben vor deinem Einzug erinnern. Unsere Mutter, die einen der Jobs angenommen hatte, die sie an jenem Tag in den Kleinanzeigen eingekringelt hatte (Bürokraft bei einem Stromunternehmen, Schreibtischarbeit von neun bis fünf, Dateneingabe), überließ uns voll und ganz deiner Obhut. In jenem Herbst verbrachten wir mehr Zeit mit dir als je zuvor oder danach. Du warst unser Vater. Du machtest uns morgens das Frühstück, brachtest uns zur Schule, holtest uns nachmittags wieder ab. Unsere Probleme wurden zu deinen Problemen. Wenn die Lehrer uns mit einer Nachricht nach Hause schickten (dreimal war Malinda ohne jeglichen Grund in Tränen ausgebrochen; ich starrte fast den ganzen Tag aus dem Fenster und reagierte oft nicht, wenn ich aufgerufen wurde; wenn Malinda und ich beim Mittagessen und in der Pause zusammen waren, hielten wir uns an den Händen und sprachen mit keinem anderen; wir kamen mehrere Tage hintereinander in derselben Kleidung zur Schule; all das galt in der Sprache der Schule als »Warnsignal«), dann warst du es, der den Brief erhielt und die Sache ansprach (Hör auf zu heulen, sagtest du zu Malinda und Hör auf, aus dem Fenster zu starren zu mir. Zu uns beiden sagtest du: Zieht euch was anderes an und hört auf, Händchen zu halten, Herrgott noch mal).

Wenn unsere Mutter mit einem Mann, den sie bei dem Stromunternehmen kennengelernt hatte (ein Manager, der zehn Jahre älter als sie und zweimal geschieden war und von dem sie stets mit großem Respekt sprach: »Mr. Greenburg«, sagte sie immer, »ist ein sehr bedeutender Mann. Mr. Greenburg ist sehr beschäftigt. Mr. Greenburg ist Jude, eine faszinierende Religion. Die Juden stehen einander sehr nah, sie sind überaus loyal, sehr geheimnisvoll, jede Menge Tradition«) – wenn sie abends mit diesem Mann etwas trinken ging, dann fuhrst du uns in Michelle in der Stadt herum. Es gab eine Menge dunkler Lokale, in denen Freunde von dir als Barkeeper arbeiteten, und die besuchten wir alle der Reihe nach. Deine Freunde zapften dir Biere, und Malinda und ich saßen neben dir an der Bar und drehten uns auf den vinylgepolsterten Hockern. Aus winzigen Schälchen mit Brezeln und Käseflips, aus kleinen Plastikspießen mit Orangenschnitzen und wächsernen roten Kirschen stellten wir Mahlzeiten zusammen. Wir machten unsere Hausaufgaben, während du mit deinen Freunden (alles blauäugige, rotgesichtige Iren, die wie Kennedys dritten Grades aussahen) über Sam, Sam, Sam und noch mal Sam redetest. Du hast in Erinnerungen geschwelgt, Strategien entwickelt, über Ratschläge nachgedacht und sie zurückgewiesen. »Du solltest losziehen und dir ein neues Mädchen anlachen«, sagten deine Freunde, »geh aus, lach dir eine andere an und fick sie.« An dieser Stelle verstummten sie, sahen uns an und sagten: »Hoppla. Entschuldigt meine Ausdrucksweise. Knall sie. Such dir eine andere und knall sie. Das macht den Kopf frei.«

Nach den Bars fuhren wir jedes Mal eine Weile auf den dunklen Parkplatz des Stop & Shop und starrten den hell erleuchteten Laden an wie eine Kinoleinwand. Wann immer Sam Keller arbeitete, beobachteten wir, wie sie an der Kasse stand und die Tasten drückte, wie sie mit den anderen Kassierern und Eintütern plauderte. Sie hatte die Angewohnheit, winzige Korrekturen an ihrem Pferdeschwanz vorzunehmen, und zog ihn immer fester. Ich saß auf der Rückbank und betrachtete Sam, aber auch dich, musterte die Veränderungen in deinem Gesichtsausdruck, von verzückt zu wehmütig, von bitter zu heimtückisch zu hoffnungslos. Malinda saß vorn und spielte die ganze Zeit am Radio herum. Sie mochte dieselbe Musik wie unsere Mutter – Helen Reddy, Carly Simon, Diana Ross, Barbra Streisand –, Lieder, bei denen es um den Kitzel und die Enttäuschung der Liebe ging. Sie kannte sämtliche Texte und sang sie mit einer Stimme, die viel älter als ihre eigene klang.

Herrgott, sagtest du oft, wie lange müssen wir uns diesen Mist noch anhören?

»Wie lange müssen wir hier sitzen?«, fragte Malinda dann. »Wie lange willst du deine Freundin noch anstarren?« Das war eine Strategie, die sie von unserer Mutter gelernt hatte. Sie stritten sich bei jeder Gelegenheit, und Malinda hatte eine Begabung für sokratische Argumentation. »Meinst du wirklich, dass du dein Potenzial voll ausschöpfst?«, fragte unsere Mutter immer, wenn sie über eine von Malindas mangelhaften Mathearbeiten die Stirn runzelte. »Glaubst DU es denn?«, fragte Malinda dann. »Warum sollte es nicht so sein?«

Zurück in der Wohnung, nahmen wir unsere Plätze ein. Malinda legte sich in das Bett unserer Mutter, hörte Radio und schwelgte in ihren persönlichen Fantasien von Ruhm und Glück, bis sie einschlief, und ich setzte mich neben dich aufs Sofa und schaute mir an, was gerade auf Channel 38 lief – The Three Stooges, Tom und Jerry, Creature Double Features. Du trankst eine Dose Schlitz nach der anderen, bis du so blau warst, dass dir der Unterschied zwischen deinen Träumen und deinen tatsächlichen Lebensumständen nicht mehr peinlich war. Ich und Sam, sagtest du dann, wir heiraten und ziehen nach Cape Cod. Sie will auf Cape Cod wohnen und eine Frühstückspension aufmachen. Ich kauf dort ein Haus und richte es erstklassig her. Und als Überraschung hol ich sie irgendwann von der Arbeit ab, an einem Freitag vielleicht, sag ihr, sie soll in den Wagen steigen, und dann fahr ich sie hin und zeig es ihr. Eine Weile hast du herumgesessen, alberne Pläne geschmiedet und das Problem Sam Keller durchgearbeitet wie einen Rosenkranz. Es gab eine Lösung, und du würdest sie finden. Du warst voller Hoffnung. Die Hindernisse, die dir im Weg standen (du hattest kein Geld, sie liebte dich nicht), waren bloß unbedeutende Einzelheiten, falls sie dir überhaupt in den Sinn kamen.

Doch im Lauf des Abends schlug deine Stimmung um. Der Fernseher schien dich irgendwann zu hypnotisieren, und du begannst, dich der Wahrheit zu stellen und mit monotoner Stimme zu sprechen. Sie will mich nicht, sagtest du, aber ich will keine andere. Das war ein Problem, eine Zwickmühle, die Hölle. Falls es eine Lösung für den ganzen Schlamassel gab, dann wusstest du nicht, wie sie aussah. Scheiße, sagtest du manchmal und legtest den Kopf in beide Hände. Du kniffst die Augen zu und riebst sie mit den Handballen, bis heiße Tränen an deinen Handgelenken hinabliefen. Scheiße, sagtest du dann. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Ich hörte dir zu, ohne eine Antwort zu geben, und nickte bloß. Wenn du nicht wärst, sagtest du einmal zu mir, wüsste ich nicht, was ich tun soll. Wenn ich darüber rede, habe ich das Gefühl, dass es mir besser geht, es scheint die einzige Art zu sein, wie ich’s aushalten kann, und ich schwöre bei Gott, wenn ich nicht darüber rede, platze ich.

Beim Reden strichst du mir durchs Haar, und ich wusste, dass du in Gedanken durch ihr Haar strichst.

Das Seltsame ist, sagtest du, dass ich manchmal glaube, das Ganze hat gar nichts mit ihr zu tun. Es ist, als wäre bei mir alles klar gewesen, und plötzlich ging’s nicht mehr weiter. Wie bei einer Autopanne oder so. Als wäre das alles nur zufällig im Beisein von Sam passiert. Es ist ja nicht so, dass sie besonders toll wäre. Dass sie außergewöhnlich wäre. Um ehrlich zu sein, hat sie mich zu Tode gelangweilt. Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Also, wenn du’s genau wissen willst, wär ich manchmal am liebsten tot.

Oft schlief ich dabei ein und wachte am nächsten Morgen in meinem Bett auf, ohne mich erinnern zu können, wie ich dorthin gekommen war. So ging es wochenlang, und die ganze Zeit über kam mir alles irgendwie seltsam vor, als sei irgendwas nicht in Ordnung, und ich hatte das Gefühl, dass das Leben, das wir führten, befristet war, dass es nicht mehr lange so weitergehen sollte. Das galt nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt. Es war eine seltsame Zeit, brutal und unheilschwanger. Die Leute, die über uns wohnten, stritten sich so oft, dass es zum Haus zu gehören schien wie das Anspringen der Heizung. Sie lieferten sich lange, lautstarke Gefechte, die mit ordinären Ausdrücken begannen – »Leck mich, du verdammtes Arschloch!« – und dann immer mehr eskalierten bis zu dem Punkt, da ihnen die Worte ausgingen und nur noch Geschrei, Gepolter und das Stampfen von Füßen zu hören waren. Du oder meine Mutter oder ihr beide rieft dann immer: Ruhe da oben, sonst holen wir die Polizei! Hier unten sind Kinder!, und dann beruhigten sie sich eine Weile, aber nie besonders lange. Die Schwangere sah so aus, als könnte sie das Baby keinen Tag länger im Bauch behalten, als würde sie jeden Moment platzen. Währenddessen schmachteten amerikanische Geiseln im Iran, und Reagan wurde zum Präsidenten gewählt. Da war irgendwas – das begriff sogar eine Achtjährige –, das aus dem Ruder lief, das nach einer Erklärung schrie. Die Welt war verrückt geworden.

Im Dezember fiel der erste Schnee, und einen kurzen Tag lang war alles herrlich, einen kurzen Tag lang sah es so aus, als hätte die Welt eines ihrer leuchtenden Geheimnisse enthüllt. Alle liefen mit rosigen, glücklichen Gesichtern herum und winkten sich zu, von Hoffnung, Wehmut oder Freude erfüllt. Als du uns an jenem Morgen vor der Schule absetztest, machtest auch du einen glücklichen Eindruck. Als du fuhrst, drücktest du zweimal Michelles Hupe, und als wir uns umdrehten, winktest du uns fröhlich zu. Nachmittags holtest du uns wieder ab und fuhrst mit uns zu Friendly’s, wo wir uns an die Theke setzten und den Köchen bei der Zubereitung der Hamburger zusahen. Wir tranken jede Menge Kakao. Einer der Köche, ein hagerer Mann mit Augenklappe, sagte: »Tolle Kinder«, und du sagtest: Die beiden sind aber auch mein ganzer Stolz, als würde es stimmen, als wären wir deine Töchter.

An jenem Abend stelltest du dich mit einem Blumenstrauß vor Sam Kellers Kasse an, während wir draußen im Wagen saßen und zuschauten. Als du an die Reihe kamst, überreichtest du ihr die Blumen und versuchtest, ihr dein Leid zu erklären, doch sie starrte dich nur mit verwirrtem Gesichtsausdruck an. Während du sprachst, schoss ihr Blick hin und her, sie stand mit abgewandtem Körper da und kaute Kaugummi. Sie sagte irgendwas, und dann gingst du, hast mit gesenktem Kopf und den Händen in den Taschen den Laden verlassen. Zu Hause betrankst du dich und redetest die ganze Zeit von ihr, gingst immer wieder durch, was wie gesagt worden war, und brachtest die zahlreichen Gegenargumente vor, die dir in der Hitze des Gefechts nicht eingefallen waren. Sie findet mich zu alt, aber das stimmt nicht, wenn sie mich richtig kennenlernen würde, würde sie begreifen, dass wir füreinander geschaffen sind. Du konntest gar nicht mehr aufhören. Als meine Mutter nach Hause kam und wir die Reste vom Vortag aßen, erzähltest du die ganze Geschichte noch einmal, und als du aufgegessen hattest, fingst du wieder von vorn an, bis meine Mutter sich über den Tisch beugte und dir eine Ohrfeige gab. »Wie erbärmlich willst du denn noch werden?«, fragte sie. Sie habe es satt, sagte sie, sie könne es nicht mehr hören. Habe es satt, dass du herumlägst, dich zwischen den Beinen kratzen und ständig über Sam, Sam, Sam, Sam, Sam auslassen würdest. »Himmelherrgott noch mal!«, sagte sie. Sie ging ins Wohnzimmer, zum Sofa, riss das weiße Laken weg. Dann kam sie damit in die Küche und hielt es dir vor die Nase. »Das Laken fühlt sich an wie Schmirgelpapier! Sieh dir das mal an! Das ist erbärmlich! Das ist ekelhaft!« Sie knüllte es zusammen und hielt es dir vors Gesicht.

Du stießt ihre Hand weg. Mach mal halblang, ja?, sagtest du und stütztest den Kopf in die Hände. Mein Gott, vor den Kindern!

»Den Kindern geht’s gut«, sagte sie. »Nicht sie haben hier Probleme.«

Nein?, sagtest du. Tatsächlich nicht? Du glaubst, die Kinder haben keine Probleme? Du glaubst, ihnen geht’s gut? Kennst du sie überhaupt? Kannst du dich überhaupt noch an ihre verdammten Namen erinnern?

Und dann habt ihr beide dagestanden und euch angeschrien, die Gesichter knallrot, nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt, und Malinda und ich sahen uns an, versenkten die Blicke ineinander, es war einer jener glühend heißen, an den Rändern flimmernden Augenblicke wie direkt vor einer Migräne. Alles war schwer auseinanderzuhalten, nichts war schwer auseinanderzuhalten, sofort ging es um deine Schulden und deine Sauferei, um deinen verlorenen Charme, es ging um ein Mädchen, das du letztes Jahr geschwängert hattest, es ging darum, dass dein kaputtes Herz eine Erfindung sei, dass du das nur zu deinem Nutzen behaupten, dass du dich damit allem entziehen würdest, was du nicht ertragen könntest, es ging darum, dass von dem lebenslustigen Rebellen, der du einmal warst, nichts mehr übrig sei, dass sich der einzige Grund, warum man bereit sei, dich zu ertragen, längst in Luft aufgelöst habe. Was Malinda und mich betraf, ging es um unsere schlechte Ernährung, um fehlende Disziplin, darum, dass wir bis Mitternacht aufblieben, um die Ringe unter unseren Augen, um die vielen abstumpfenden Gewaltszenen, die wir im Fernsehen sahen, es ging um unsere Kleidung und unser verfilztes Haar, um unsere Probleme in der Schule, es ging um Michael Collins, um unseren trunksüchtigen Vater.

Du hältst mich für krank?, fragtest du. Ich soll hier der Kranke sein? Du kriegst deine eigenen Kinder kaum zu Gesicht. Dein eigen Fleisch und Blut, und du kriegst sie kaum zu Gesicht.

»Du weißt ja nicht, wovon du redest«, sagte sie. »Ich arbeite mich krumm, um ihnen ein Dach über dem Kopf zu bieten.«

So ein Schwachsinn, sagtest du. Du bist doch die ganze Zeit mit diesem ach so wichtigen Rabbi Soundso unterwegs.

»Den Kindern geht’s gut«, sagte sie.

Stimmt doch gar nicht, sagtest du. Sie sehen beschissen aus. Sie haben keine Freunde. Sie essen nur noch Spaghetti aus der Dose und sehen echt beschissen aus.

»Malinda schert sich doch einen Dreck darum, wo ich bin oder was ich mache«, sagte meine Mutter. »Und Mary ist hart im Nehmen. Mary weint nie.«

Du hast doch keine Ahnung! Du weißt doch gar nicht, wovon du redest! Deine eigenen Kinder!

Irgendwann klopften die Leute über uns auf den Fußboden und riefen: »Ruhe da unten! Sonst holen wir die Polizei! Hier versucht ein Baby zu schlafen!«

Und als ihr die Ironie des Ganzen saht, begannt ihr zu lachen und konntet nicht mehr aufhören, ihr krümmtet euch vor Lachen, und währenddessen schlüpften Malinda und ich ins Wohnzimmer, wo wir uns aufs Sofa setzten und uns Hand in Hand Tom und Jerry anschauten. In dieser Welt, die wir liebten, mussten die Figuren einen schweren Schlag nach dem anderen einstecken und sprangen doch jedes Mal unversehrt wieder auf.

Als ihr die Beherrschung wiedergefunden hattet, sagte meine Mutter: »Du suchst dir besser bald eine andere Bleibe.«

Kein Problem, sagtest du. Macht mir verdammt noch mal nichts aus.

Ein paar Tage später saßen wir wie üblich abends zusammen vor dem Fernseher und sahen uns ein Footballspiel an, als plötzlich Howard Cosell die Sendung unterbrach. Wir konnten an seiner Stimme hören, dass irgendetwas Schlimmes passiert war. Ich hoffe, es ist was Wichtiges, sagtest du. Mitten im Spiel. Und so war es auch. Jemand hatte John Lennon erschossen.

Ach du Scheiße!, sagtest du. Und dann, mit einem Blick auf mich: Tut mir leid. Tschuldigung. Heiliger Strohsack. Ach du lieber Himmel. Du bist aufgestanden und hast umgeschaltet, als würde das irgendwas an der Nachricht ändern. Der nächste Sender zeigte eine blonde Reporterin an einer Straßenecke, hinter ihr hatte sich eine Menschenmenge versammelt, einige Leute liefen umher und redeten aufgeregt aufeinander ein, manche weinten, andere blickten mit ausdruckslosem Gesicht in die Kamera, dahinter heulten Sirenen, Autos fuhren durch die Nacht, und im Hintergrund New York. Wir lagen im Bett und kamen uns vor wie in einem Gefängnis, fassungslos bei dem Gedanken, dass woanders noch Leute wach waren und umherwanderten, durch die Straßen fuhren, Bericht erstatteten, dass woanders jemand erschossen worden war und wir hier auf dem ausziehbaren Sofa lagen und all das verpassten.

Da muss ich hin, sagtest du, als hätte man dir etwas Wichtiges weggenommen, als hätte man dir persönlich ein Unrecht angetan. Dieser Mann, dieser John Lennon, war plötzlich ein Freund von dir: jemand, der dich verstand, der für das Gleiche stand wie du, jemand, der verrückt nach einem Mädchen gewesen war und wie du den Verstand verloren hatte, jemand, der sich zum Entsetzen seiner einstigen Fans völlig verändert hatte. Die Nachricht hatte sich bereits verbreitet, und die Leute standen vor dem Krankenhaus, in dem er gestorben war. Da muss ich hin, sagtest du. Da muss ich hin.

Ich sagte das, was ich immer sagte, die einzige Wendung, die ich kannte. Damals war ich eine Mitläuferin, eine Anhängerin, eine Jüngerin. Ich sagte: »Ich auch.«

Du sahst mich an und zogst eine Braue hoch. Der nächste Tag war ein Schultag. Wir schreiben dir eine Entschuldigung, sagtest du. Wir schreiben, du hättest die ganze Nacht gekotzt. Morgen setzen wir erst Malinda ab, und dann fahren wir.

Woran ich mich von diesem Ausflug am besten erinnern kann, das ist weder die lange Fahrt noch dass John Lennon auf allen Radiosendern lief und wir deshalb das Gefühl hatten dazuzugehören; es ist auch nicht der Kitzel der immer näher kommenden und schließlich vor uns auftauchenden Stadt, groß und schimmernd; auch nicht der Blick durch Michelles Fenster auf so vieles, das ich noch nie zuvor gesehen hatte – ein Auto, das mit Aufklebern übersät war, ein Mann mit einem Irokesenschnitt, so stachelig, dass er wie eine Waffe aussah, Autos, die ohne Reifen auf der Straße standen, Hunde in Pullovern, zwei händchenhaltende Männer, Unmengen von Taxis und Menschen, Menschen, Menschen, so viele Menschen überall, dass sie unmöglich alle geboren worden sein konnten. Es ist weder das Dakota, prachtvoll, imposant und unheimlich, noch die nicht weit davon entfernt wartende Menge im Central Park, Hunderte von Menschen, die dicht gedrängt zusammenstanden, die meisten von ihnen in regloser Ehrerbietung, während andere herumliefen, eine rothaarige Frau, die immer wieder schluchzte und zu allen, wenn auch zu niemand Bestimmtem, sagte: »Er ist nicht tot, er ist nicht tot, es stimmt nicht, das behaupten sie bloß.« Noch sind es die Leute, die zittrig und langsam und mit trauriger Stimme seine Lieder sangen. Und es ist auch nicht die verblüffende Vorstellung, dass ein einzelner Mensch so vielen anderen so viel bedeutet haben konnte.

Woran ich mich am besten erinnern kann, das ist nichts von all dem, sondern ein kurzer Moment in Harlem, Welten entfernt von John Lennon und all jenen, die um ihn trauerten. Wir hatten uns auf den Heimweg gemacht, und anfangs fiel dir das Fahren schwer, so viele Autos, so viele Fußgänger, so viele Einbahnstraßen, so viele blinkende Lichter, so viele Schilder mit Zeichen und Namen, die uns unbekannt waren, so viel Lärm und Bewegung (die Luft war erfüllt von Gehupe, Sirenengeheul und Geschrei), doch irgendwann schienst du dich darauf einzulassen, schienst nicht mehr nach irgendetwas zu suchen, sondern fuhrst einfach, schautest, bist von Straße zu Straße gegondelt, von Viertel zu Viertel, jedes anders als das vorige, jedes ein Fingerzeig für Tausende unterschiedliche Leben. Genau das taten wir, als wir nach Harlem kamen, und plötzlich war es, als wären wir in den dunklen Überresten einer untergegangenen Stadt gelandet. In dieser Gegend hatte es einmal Geschäfte gegeben, doch viele davon – offenbar die meisten – standen inzwischen leer. In dieser Gegend hatte man alle möglichen Waren ge- und verkauft, die Schilder hingen noch über den Eingängen, aber die Türen, die Schaufenster, durch die man hätte hineinschauen können, versessen auf irgendeine Kostbarkeit, die Scheiben, an denen man sich die Nase hätte platt drücken können, die vom kräftigen Atem des Betrachters beschlagen wären, diese Schaufenster waren jetzt mit Brettern vernagelt, verschwunden, so viele Läden für Secondhand-Kleidung, für Kleidung in Übergrößen, für Eisenwaren, für gebrauchte Bücher und Schallplatten, Spielzeug, Schreibmaschinen, Elektrogeräte: alles verschwunden. In diesen verfallenen Sandsteinhäusern waren Menschen zur Welt gekommen und gestorben, sie hatten dort geheiratet und sich geliebt, hatten geschlafen, gearbeitet und gegessen, gelebt und geatmet, doch jetzt waren diese Gebäude mit Brettern vernagelt, verlassen, viele hatten keine Türen mehr und sahen aus wie tote Männer mit offen stehenden Mündern.

Wir machten die ersten nervösen Atemzüge zweier Menschen, die erstmals im Leben in der Minderheit waren. Alle, absolut alle anderen waren schwarz. Wir sahen zwei Mädchen mit Zöpfen, die die Hände einer Frau mit roten Lippen, einem knöchellangen Pelzmantel und einer schräg aufgesetzten Pelzmütze hielten. Wir sahen Knäuel von Menschen, eingezwängt in bauschige Mäntel mit Kapuzen, die Gesichter völlig verdeckt. Wir sahen einen geschniegelten Mann in buntem Anzug und glänzenden Schuhen, einem langen kamelbraunen Mantel, einem breitkrempigen Hut und Stiefeln mit hohen Absätzen. Guck mal!, sagtest du, als er vorüberging. Guck mal, wie der geht! So einen Gang hatte ich noch nie gesehen. Bei uns zu Hause ging man zielgerichtet, aber das hier, das war extrovertiert, überschwänglich, glich einem kaum gezügelten Tanz.