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Sibirien fasziniert einerseits durch unendliche Weite und ursprüngliche Natur, andererseits durch kulturelle Vielfalt. Jost Meyen besucht in fünf aufeinanderfolgenden Jahren den eurasischen Kulturraum zwischen Tjumen im Westen und dem Pazifik im Osten. Der rote Faden für vier seiner Reiserouten sind die Verbannungsorte der in Deutschland fast unbekannten Dekabristen. Das war eine Gruppe junger, adliger Offiziere, die sich als erste für eine Demokratisierung Russlands einsetzte, deren Putschversuch im Dezember 1825 aber scheiterte. Der an historischen Hintergründen interessierte Autor nutzt intensiv das breite Museumsangebot Russlands. Auf seiner fünften Reise begibt er sich auf die Spur der Baikal-Amur-Magistrale. Er erkundet das größte Eisenbahnprojekt des letzten Jahrhunderts und legt dafür fast 5.000 km mit dem Zug zurück. Als Alleinreisender oder mit seiner Frau auch in abgelegenen Gegenden unterwegs kommt es immer wieder zu Begegnungen mit den Einheimischen. Gerade weil Sibirien erst am Anfang seiner touristischen Erschließung steht, möchte dieses Buch zur Vorbereitung individueller Reisen dienen und motivieren. Auch diejenigen, die sich nicht selbst nach Sibirien aufmachen wollen, können durch die Lektüre neue Einblicke gewinnen und verstehen Russland besser. Es gibt in dem 'Schlafenden Land' so viel zu entdecken! Zahlreiche Fotos des Autors illustrieren seine Reiseberichte.
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Seitenzahl: 234
Vorwort
Einleitung: 'Die Prinzessin von Sibirien' und die Dekabristen
Reise 1: Eine Sommerreise in die Baikalregion mit einem Ausflug in die Mongolei 6.8. - 1.9. 2015
Reise 2: Wintermärchen am Baikal 18.2. - 3.3. 2016
Reise 3: Zwischen Angara und Jenissei 8.8. - 29.8. 2017
Reise 4: Unterwegs in Westsibirien 16.5. - 3.6. 2018
Reise 5: Die Baikal-Amur-Magistrale 27.8. - 21.9. 2019
Literaturverzeichnis
Der Autor
„Weltweit mit Reisebüro Meyen“ war unser Leitspruch. Nach dem Verkauf unserer Agentur und der Beendigung unseres Berufslebens hatten meine Frau Ingeborg und ich genügend freie Zeit für die Erkundung uns bisher noch wenig bekannter Regionen der Welt. Ein Ruhestand sollte es nicht werden.
Schon aus beruflichen Gründen hatte ich viele der beliebtesten Reiseziele von Bali bis Vancouver besucht. Aber ich bevorzuge eigentlich Touren, die kein Veranstalter so anbietet.
Bereits als Jugendlicher unternahm ich in den 1970er Jahren mit minimalen finanziellen Mitteln fünf selbstorganisierte Reisen in Afrika.
Und Südamerika durchquerte ich von Caracas in Venezuela bis nach Puerto Williams in Chile, der südlichsten Stadt der Welt. Drei Monate verbrachte ich mit meiner späteren Frau Ingeborg in den exotischen Ländern Indien und Nepal.
Warum wende ich mich jetzt Russland zu, einem eher vernachlässigten Reiseziel? Sicherlich spielt das Schicksal meines Vaters dabei eine Rolle. Er wurde im 2. Weltkrieg 1941 als junger Mann an die russische Front kommandiert und überlebte schreckliche Jahre im Kessel von Demjansk, Staraya Russa und Novgorod. Nach der Kapitulation der Reste der Kurlandarmee am 8. Mai 1945 kam er bis November 1949 in Kriegsgefangenschaft. Diese acht Jahre hatten bei ihm ein nachhaltiges Interesse an Russland geweckt.
Im Gegensatz zu manchen anderen Kriegsteilnehmern vermittelte er seinen Kindern kein Feindbild. Die von ihm gesammelte Literatur über Russland stand auch mir zur Verfügung.
Gemeinsam mit ihm unternahm ich Ende der 1980er Jahre eine erste Reise nach Leningrad und Tallinn, die uns durch die Gebiete seiner Gefangenschaft im östlichen Estland führte. Nach dem Ende der UdSSR konnte ich zusammen mit meiner Frau Staraja Russa, Novgorod und Pskow aufsuchen.
Immer neugieriger wurde ich danach auf den asiatischen Teil Russlands. Dieser gewaltige Raum zwischen Ural und Stillem Ozean hat eine Ausdehnung von 7.000 km und fasziniert durch seine unendliche Weite und Leere. Die weniger als 35 Millionen Einwohner leben überwiegend entlang der Transsibirischen Eisenbahn. Wo lässt sich Natur noch so ursprünglich erleben wie in diesem 'Schlafenden Land'? Wie wirkt sich das extreme kontinentale Klima aus? Wie verlief die russische Siedlungsgeschichte in einem Gebiet, in dem über hundert unterschiedliche Ethnien lebten oder das gänzlich unbesiedelt war? Welche außergewöhnlich große Rolle spielte die Verbannung von Sträflingen nach hier? Warum galt paradoxerweise das 'Neue Russland' trotzdem als Land der Freiheit, wo es z. B. keine Leibeigenschaft wie im übrigen Russland gab?
Auch nach dem Ende der Sowjetunion 1992 hörte man die widersprüchlichsten Berichte über diese Region. Mein Wunsch ist es, mir ein eigenes Bild über das wirkliche Leben in Sibirien zu machen.
Aber wo beginnen?
Eine gute Freundin erfuhr von meinen Reiseplänen und gab mir zur Einstimmung Christine Sutherlands Buch 'Die Prinzessin von Sibirien'.1 Die in Polen und Frankreich aufgewachsene Autorin beschreibt sehr lebendig das Schicksal der russischen Fürstin Maria Wolkonskaja, die ihrem Mann, einem Mitglied der Dekabristenbewegung, bis ins ferne Transbaikalien in die Verbannung folgte.
Mich beeindruckte, dass sich diese Dekabristen mutig in Geheimgesellschaften für ihre demokratischen Ziele einsetzten, obwohl ihnen die Gefährlichkeit ihres Tuns bewusst war.
Jetzt hatte ich eine 'roten Faden' für die Planung meiner Reiseroute in Sibirien. Da diese 'Staatsverbrecher' nach der Gefängniszeit über ganz Sibirien verteilt wurden, war mir schnell klar, dass ich dafür mehrere Reisen benötigen würde.
Am ausführlichsten hat sich in Deutschland Joachim Winsmann mit den 'Dezembermännern' beschäftigt. Er hat die meisten ihrer Texte ins Deutsche übersetzt und als Bücher herausgegeben. Besonders sein umfangreiches Dekabristenlexikon ist unverzichtbar. Ich nahm Kontakt mit ihm auf. Sein leidenschaftliches Engagement für diese Reformbewegung hat auch mich angesteckt.
Nach intensiver Beschäftigung mit diesen jungen Idealisten wurde mir schon während meiner ersten Reise klar, dass ich über die Dekabristen ein Buch schreiben möchte. In Russland kennt sie jedes Kind, aber in Deutschland sind sie fast unbekannt. In den Reiseschilderungen lässt sich daher nachlesen, wie ich „Auf den Spuren der Dekabristen“, so der Titel meines Buches, in Sibirien unterwegs war.
Museen sind auf meinen Reisen wichtige Anlaufpunkte. Da mich die historischen Hintergründe interessieren, ist es von großem Vorteil, dass Russland eine umfangreiche Museumslandschaft besitzt. Ein weiterer Vorteil: In Sibirien ist die Anzahl der Besucher überschaubar und das Personal hat genügend Muße, auf meine neugierigen Fragen einzugehen. Da in der Sowjetunion die Dekabristen als „erste adlige Revolutionäre“ (Lenin) hoch geschätzt wurden, blieben viele ihrer Wohnhäuser an den Verbannungsorten bis heute erhalten und werden als sogenannte Haus-Museen genutzt.
Auf allen Reisen bin ich gerne mit dem Zug in einem 3. Klasse-Wagon gefahren, weil dort eine entspannte, familiäre Atmosphäre herrscht und man leicht mit den Leuten in Kontakt kommt.
Die 5. Reise, auf der ich fast 5.000 mit der Bahn zurücklege, fällt allerdings aus dem Rahmen. Immer wieder hatte ich von dem Mythos der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) gehört. Sie gilt als das größte und teuerste Eisenbahnprojekt des letzten Jahrhunderts und führt über 4.287 durch fast unberührte Taiga von Taischet bis zum Pazifik.
Ich bin der Frage nachgegangen, wie diese Trasse unter den so schwierigen geographischen Bedingungen ab 1932 bis 2003 gebaut wurde. Hier spiegelt sich beispielhaft wider, wie mühsam die Erschließung eines riesigen Raumes ist.
Vor Ort gehe ich am liebsten zu Fuß auf meine 'Erkundungen'. Besonders gerne bin ich am Baikalsee, dem 'heilige Meer' der Russen, gewandert.
Eine besondere Herausforderung stellt natürlich die russische Sprache dar. Kann ich mich mit meinen geringen Russischkenntnissen aus zwei lange zurückliegenden Volkshochschulsemestern überhaupt verständigen? Wie sieht es mit den Fremdsprachenkenntnissen der Einheimischen aus? Aber irgendwie bin ich ja bisher überall auf der Welt durchgekommen.
Als gutes Omen nehme ich eine Episode, die ich in Pelling, einem Bergdorf in Sikkim, 2013 erlebte. Dort verbrachte ich im Hotel Garuda den Abend mit einer Gruppe von jungen Russen aus Tomsk, die wegen ihres Interesses am Buddhismus in dieses kleine Himalayaland gekommen waren. Als sie mich zum ersten Mal sahen, dachten sie tatsächlich allein aufgrund meines Gangbildes, ich sei ein Sibirjak. Also dürfte ich wenigstens nicht sofort als Fremder auffallen.
Die aus der Turkmenischen SSR 1991 nach Deutschland umgesiedelte Schriftstellerin Tatjana Kuschtewskaja beschreibt die Sibirier so:
„Die Sibirjaken haben einen freiheitsliebenden Geist. Die Bauern in Sibirien waren immer geradliniger, fröhlicher, gutmütiger und gastfreundlicher als die im europäischen Teil. (…) Es ist schwierig, die Wesensart der Sibirjaken sofort richtig zu verstehen, man muß wieder und wieder zu ihnen reisen.“2
Der vorliegende Bericht gibt meine subjektive Wahrnehmung wieder. Obwohl ich versuche, meine Eindrücke unvoreingenommen zu vermitteln, bleibt es doch die Perspektive eines Einzelnen und westlichen Ausländers. Auch stellt das von mir bereiste Gebiet nur einen winzigen Ausschnitt der unendlichen Weite Sibiriens dar.
Dennoch denke ich, dass meine Reisebeschreibungen zur Vorbereitung individueller Reisen hilfreich und motivierend sein können.
Entgegen verbreiteter Vorurteile lassen sich auch abgelegene Orte relativ problemlos erreichen. Die Sibirjaken helfen dem Besucher gerne weiter. Und jeder Kontakt ist für beide Seiten auch ein kleiner persönlicher Beitrag zur Völkerverständigung.
Diejenigen, die sich selbst nicht auf die Reise nach Sibirien machen wollen, gewinnen durch das informative Buch neue Eindrücke und können Russland ein wenig besser verstehen.
Ich habe hier den Begriff 'Sibirien' vereinfachend für den gesamten Raum zwischen Ural und Pazifikküste verwendet, so wie es im Allgemeinen in Deutschland üblich ist. Geographisch und verwaltungsmäßig ist der 'Ferne Osten' jedoch streng genommen eine eigene Region.
Danken möchte ich meiner Schwägerin Gabi für das Aufspüren von Tippfehlern im Manuskript. Ein ganz besonderer Dank gilt meiner Frau Ingeborg, die mich auf der dritten und vierten Reise begleitete und ohne deren Hilfe dieses Buch nicht entstanden wäre.
1 Christine Sutherland: Die Prinzessin von Sibirien, Frankfurt a. M. 1988
2 Kuschtewskaja, Tatjana: Der Jenissei – ein sibirischer Strom, Berlin 2014, Seite 12, 13
Eine Gruppe von jungen adligen Offizieren unternahm nach dem Tod von Zar Alexander I. in St. Petersburg einen erfolglosen Putschversuch, um die Autokratie der Zaren zu brechen und die Leibeigenschaft der Bauern zu beenden. Die Teilnehmer wurden später Dekabristen genannt, da sich dieser Aufstand am 14. (26.) Dezember, russisch Dekabr, 1825 ereignete. Ein Sondergericht verurteilte fünf von ihnen zum Tode, über 100 zu Zwangsarbeit und anschließender Verbannung in Sibirien.
Erst am 12. Januar 1825 hatte die knapp 20-jährige Generalstochter Maria Rajewskaja, ihre Familie stammte ursprünglich aus skandinavischem Landadel, den Fürsten Sergej Wolkonski in Kiew geheiratet.
Die Wolkonskis sollen sogar von den Rurikiden, den Gründern Russlands abstammen. Sie waren reiche Großgrundbesitzer mit tausenden Leibeigenen.
Mit 14 Jahren hatte Maria eine unvergessliche Begegnung mit dem russischen Nationaldichter Alexander Puschkin. Er verbrachte im Jahr 1820 vier Sommermonate mit der Familie Rajewski an den Mineralquellen von Gorjatschewodsk am Kaukasus und in Gursuf auf der Krim. Unter den vier Rajewski-Töchtern wurde Maria dem Dichter die Liebste. Zum letzten Mal traf sie Puschkin, als sie aufbrach, um ihrem Mann, der als Mitglied der dekabristischen Bewegung nach Sibirien verbannt wurde, zu folgen. Insgesamt elf Frauen, darunter drei Französinnen, machten sich auf den weiten Weg.
Puschkin, der gemeinsam mit den beiden späteren Dekabristen Wilhelm Küchelbecker und Iwan Puschtschin das Elitegymnasium von Zarskoje Selo besuchte und viele der Dekabristen kannte, verfasste zu ihrer Unterstützung das berühmte Gedicht 'Sendschreiben nach Sibirien', das Maria Wolkonskaja auch in ihren 'Erinnerungen' wiedergibt.3 Die erste Strophe lautet:
„Harrt aus! Sibiriens Bergwerksnacht
darf euren Stolz nicht niederzwingen!
Was ihr erstrebt, so kühn gedacht,
wofür ihr büßt, wird einst gelingen!“
Mein erstes Reiseziel ist die ostsibirischen Großstadt Irkutsk, wo sich zwei größere Dekabristenmuseen befinden. Es sind die früheren Wohnhäuser der reichen Familien Wolkonski und Trubetskoi. Von Irkutsk aus lassen sich auch mit der Transsibirischen Eisenbahn die beiden Gefängnisse in Tschita und in Petrowski Sawod erreichen.
Es war mir aber von Deutschland aus nicht möglich, ausfindig zu machen, wie ich zu den ehemaligen Blagodatscher Bergwerken in der Region Nertschinsk gelangen kann. Dort hatten Ende 1826 die acht angeblich gefährlichsten 'Staatsverbrecher' Zwangsarbeit leisten müssen. Zu ihrer Unterstützung waren ihnen die Fürstinnen Jekaterina Trubetskaja und Maria Wolkonskaja nachgereist. Vor Ort wollte ich mich entscheiden, ob ich diese Region aufsuche oder einen Ausflug in die nahe Mongolei unternehme.
Maria Wolkonskaja - die 'Prinzessin von Sibirien' (Irkutsk)
3 Fürstin Maria Wolkonskaja: Erinnerungen, Berlin 1979, Seite 29
Endlich geht es wieder los. Diesmal also ins ferne Sibirien. Was wird mich dort an Überraschungen erwarten? Kann ich mich mit meinen geringen Russischkenntnissen dort verständigen?
Ich packe den großen schwarzen Rucksack mit maximal 14 kg Gewicht und den kleinen blauen Tagesrucksack. Alle wichtigen Papiere sind vorsichtshalber doppelt vorhanden. Das notwendige Visum habe ich ganz einfach über ein 'russisches' Reisebüro in Freiburg besorgt.
Mit nur 10 Minuten Verspätung erreicht der Zug den Fernbahnhof am Frankfurter Flughafen. In der Maschine der Lufthansa bin ich gleich von Gesprächspartnern umgeben. Rechts von mir sitzt eine junge Frau aus Archangelsk, die nach Deutschland ausgewandert ist und als Lehrerin Englisch und Deutsch unterrichtet. Von links berichtet mir eine lebhafte Russin, dass sie einen Iren geheiratet hat. Die in der Reihe hinter mir sitzenden Deutschen werden mit dem Reiseveranstalter 'Berge und Meer' eine Baikaltour unternehmen. Buchstäblich wie im Flug vergehen die drei Stunden nach Moskau. Dagegen zieht sich die 6-stündige Wartezeit in dem modernen Flughafen Domodedovo scheinbar endlos in die Länge. Um den nervenden Lautsprecherdurchsagen zu entgehen, schaue ich mich vor dem Flughafen etwas um. Für einen Ausflug ins Stadtzentrum ist die Zeit jedoch zu knapp. Da ich mit zwei nicht kooperierenden Gesellschaften fliege, muss ich auch den großen Rucksack noch einmal einchecken.
Endlich startet um 21.25 Uhr die hellgrüne Sibir 7 zu dem 5 1/2stündigen Nachtflug nach Irkutsk, wo ich am Morgen um 8.05 Uhr ankomme, dank fünf Stunden Zeitunterschied. Meine Sitznachbarin wollte mich bemuttern, aber ich habe sie wegen meiner geringen Russischkenntnisse kaum verstehen können. Es wird nicht leicht sein, mit diesem Handikap zurechtzukommen.
An dem kleinen Flughafen in Irkutsk erwartet mich sommerliche Hitze. In zentraler Lage habe ich ein Zimmer in dem bewährten Hotel Rus reserviert. Das von mir ausgewählte „Taxi“ ist ein privater PKW. Der Fahrer erkundigt sich erst einmal telefonisch nach dem Weg. Der verlangte Preis von 400 Rubel scheint mir bei der kurzen Strecke angemessen.4
Bei meiner Ankunft ist das Zimmer noch nicht frei. Also beginne ich gleich mit der Erkundung der Altstadt. Erstes Ziel ist die Angara, deren breites Band ich schon vom Flugzeug aus gesehen habe. Bald treffe ich auf eine am Boden verlaufende grüne Spur. Sie verbindet die Hauptattraktionen der 'Kulturhauptstadt' Ostsibiriens und ist sogar in Englisch ausgeschildert. Ich passiere den weitläufigen Kirowplatz mit den farbenprächtigen Blumenrabatten. Hinter dem monumentalen, grauen Verwaltungspalast, dessen Bau 1930 auf dem Platz der abgerissenen Kasaner Kirche begann und erst 1959 beendet wurde, brennt die 'ewige Flamme'. Sie erinnert an die Opfer des 2. Weltkriegs.
Von hier aus erblicke ich schon die rasch fließende Angara. Sie ist übrigens der einzige Abfluss aus dem Baikalsee. Direkt am Ufer erhebt sich ein Bronzedenkmal zu Ehren der Kosaken, die 1661 an diesem Platz einen Ostrog (Holzfestung) errichteten. Zum kürzlich gefeierten 350jährigen Jubiläum der Stadt sind viele historische Gebäude renoviert worden. Die Kirchen sind in den letzten Jahren zurückgegeben worden und strahlen wieder in frischen Farben. Die Erlöserkirche, die als Museum 'überlebt' hat, leuchtet außen weiß und innen golden. Im Jahr 1710 fertiggestellt, ist sie das zweitälteste Steingebäude der Stadt.
Ein Einheimischer führt mich zu den Statuen des Heiligen Peter und der Heiligen Fevronia von Murom aus dem 13. Jahrhundert, den Beschützern der Familie. Als Vorbilder des christlichen Ehelebens soll das Paar in der gleichen Stunde gestorben sein. Wenn ich die Nase des Bronzekaninchens anfasse, das sich auf der Rückseite versteckt hat, wird es mir Glück bringen. Warum also nicht.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht die noch beeindruckendere barocke Epiphaniaskathedrale (1746). Sie diente als Bäckerei und hat jetzt wieder ihre eigentliche Bestimmung, ist großflächig ausgemalt und reich verziert. Die Kirchen vermitteln auch durch die vielen brennenden Kerzen eine andächtige Stimmung und werden keineswegs nur von älteren Frauen aufgesucht.
Auf dem Rückweg zum Hotel entdecke ich ein Blini-Restaurant. Drei kleine Pfannkuchen gibt es für nur 100 Rubel. Unterschiedlichste Aufstriche kann man sich aussuchen.
Irkutsk besitzt eine Touristeninformation, die sich in einem Komplex aus mehreren traditionellen Holzhäusern befindet. Das Europahaus, das prächtige zweistöckige Gutshaus der Familie Schastiny, kann für Tagungen und als Unterkunft genutzt werden. Ein Museum informiert über das Stadtleben, ein weiteres über die Geschichte des Teehandels. Ein Platz in der Nähe ist den Partnerstädten gewidmet. 1999 wurde z. B. ein Freundschaftsvertrag zwischen Pforzheim und Irkutsk geschlossen.5 Die jungen Mitarbeiter der Touristeninformation sprechen Englisch und können weiterhelfen. Für mich besonders erfreulich: den Besuchern stehen zwei PCs mit doppelter, kyrillischer und englischer, Tastatur zur Verfügung, was mir den Zugang zum Internet ermöglicht. So kann ich mit meiner Frau Ingeborg Mails austauschen.
Von hier aus sind es nur ein paar Schritte zum blau gestrichenen Dekabristenhaus der Familie Wolkonski. Das zweistöckige Gebäude wurde zunächst in dem 30 km entfernten Verbannungsort Urik erbaut und nach der Erlaubnis zum Umzug 1847 nach Irkutsk transportiert.
Im Garten existieren noch das Blockhaus für die Angestellten und die Ställe für die Pferde. Nach der Generalamnestie durch Zar Alexander II. im Jahr 1856 kehrten die meisten der wenigen noch lebenden Dekabristen ins europäische Russland zurück. Das Wolkonski-Haus erlebte eine wechselvolle Geschichte, so diente es in den 1920er Jahren z. B. als Kommunalka (Wohngemeinschaft) für 20 Familien, bevor es schließlich als Museum genutzt wurde. Die wertvollsten Originalgegenstände sind das pyramidale Klavier (Wien 1792) und der Lichtenthal-Flügel (1831) aus St. Petersburg. Maria Wolkonskaja, die besonders gerne italienische Lieder sang, hat ihre Villa zum kulturellen Zentrum der Stadt gemacht.6 Heute werden in dem Gebäude Konzerte und Theaterstücke auch für Touristengruppen angeboten.
Haus der Familie Wolkonski in Irkutsk
Im Museum gibt es in jedem Zimmer Informationsblätter in mehreren Sprachen, die Beschriftung der Ausstellungsgegenstände ist jedoch ausschließlich russisch.
Zum Stadtjubiläum ist in dem kleinen benachbarten Park eine Bronzestatue der jungen Fürstin Maria Wolkonskaja, der 'Prinzessin von Sibirien', aufgestellt worden. Diesen Ehrentitel hat sie sich als Wohltäterin und Kulturförderin verdient. Sie kümmerte sich um das Findelhaus und um Grundschulen und eröffnete ein erstes Theater in Irkutsk. Das Denkmal ist laut Inschrift allen Dekabristenfrauen gewidmet, die zu 'Engeln' der verurteilten Männer wurden.
Abends kehre ich mit einem Rucksack voller Lebensmittel ins Hotel Rus zurück. Obwohl ich ein Zimmer in der fünften Etage habe, fordern der Straßenlärm, die Zeitumstellung und die Hitze nun ihren Tribut. Also nutze ich die Schlaflosigkeit, um mitten in der Nacht mit dem Schreiben meines Reisetagebuchs zu beginnen.
Nach dem reichhaltigen russischen Frühstück im Hotel treffe ich vor dem Eingang einen österreichischen Motorradfahrer, der mit einer Mongolin verheiratet ist. Er fährt gerne wieder die 8.000 km lange Strecke zurück, während seine Frau lieber fliegt. Er empfiehlt mir, unbedingt einen Abstecher nach Ulan-Bator zu unternehmen. Ich überlege, wie sich das noch einplanen lässt. Da ich über den weiteren Verlauf meiner Reise noch einige Fragen habe, gehe ich noch einmal zur Touristeninformation. Dort ist gerade eine Gruppe von jungen Erfurtern mit schweren Rucksäcken eingetroffen. Wie viele Reisende unterbrechen sie hier die Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn, um einige Tage am Baikalsee zu verbringen. Die Auswahl an lokalen Veranstaltern mit unterschiedlichsten Angeboten ist groß. Die Erfurter erzählen mir von ihren Erlebnissen mit den grantigen Prowodnizi (Schaffnerinnen), die ihrem Ruf gerecht würden.
Heute arbeitet eine junge Frau namens Maria Timschenko an der Auskunftstheke. Sie ist längere Zeit als Au Pair in Deutschland gewesen und spricht perfekt Deutsch. Ihre besondere Hilfsbereitschaft ist ein Glücksfall für mich.
Nach einem Imbiss beim Busbahnhof möchte ich natürlich auch das zweite, kleinere grauweiß gestrichene Dekabristenmuseum aufsuchen, das in den 1850er Jahren als Wohnhaus für eine Tochter der Familie Trubetzkoi errichtet wurde. Die französischstämmige Gräfin Catherine Loubrevie de Laval war seit 1820 mit Fürst Sergej Trubetzkoi verheiratet, der als einer der Gründer der Dekabristenbewegung eigentlich als 'Diktator' für eine Übergangszeit vorgesehen war, aber beim Aufstand am 14. (26.) Dezember 1825 versagte. Seine Frau Jekaterina Trubetzkaja starb 1854 nach 28 Jahren in Sibirien und wurde im Irkutsker Kloster zu Mariä Erscheinung neben drei ihrer Kinder begraben.
Die Ausstellung im Trubetzkoi-Haus ist nach einer gerade abgeschlossenen Grundsanierung modern und anschaulich gestaltet. Sogar eine englische Beschriftung ist hier vorhanden, etwas Seltenes in Museen in Sibirien. Manche der kopierten Dokumente könnten aber noch eine bessere Qualität haben. Insgesamt gewinnt man einen recht guten Eindruck vom Leben der Dekabristen und der Familie Trubetzkoi.
Danach setze ich wieder die Besichtigung der Stadt fort. Die Lenin- und die Karl-Marx-Straße sind die wichtigsten Achsen der Altstadt.
Ich folge Letzterer in Richtung Fluss, entlang imposanter Steingebäude. Ich passiere die klassizistischen Bauten des ältesten Kinos und des Drama-Theaters (1897), die damals mächtige Russisch-Asiatische Bank (1912), eine riesige Lenin-Statue und das Heimatkundemuseum (1782/1883). Das in einem auffallenden, maurischen Stil errichtete Museum war das erste in Sibirien. Es zeigt in meterhohen Glaskästen originale ethnologische Sammelstücke hiesiger Völker aus dem 19. Jahrhundert. Anlässlich des 70. Jahrestags des Sieges im 2. Weltkrieg werden in einer Sonderausstellung in der 1. Etage eindrucksvolle damalige Plakate gezeigt. Ein Beispiel: unter der Überschrift „Wir rächen uns“ sieht man eine Mutter mit ihrem verletzten Kind inmitten von Ruinen.
An der Angara ist die Bronzestatue des Zaren Alexander III. (1908) wieder aufgestellt worden. Der doppelköpfige Adler hält den Zarenerlass über den Bau der Transsibirischen Eisenbahn (1891) im Schnabel, welche 1898 Irkutsk erreichte und der Handels- und Verwaltungsstadt weiteren Aufschwung gebracht hat. Auf dem Platz vor dem Zarendenkmal ist viel los: hier tanzen Hare-Krischna-Jünger. Kinder kurven mit Tretautos herum oder reiten auf Ponys. Bis zum 1. September dauern ja noch die dreimonatigen Sommerferien. Auf einer Temperaturanzeige lese ich 34 Grad plus.
Auf dem Rückweg durcheile ich ein mehrstöckiges Einkaufszentrum und die Markthalle, in der es ein überwältigendes Angebot gibt.
Trotz des verheerenden Stadtbrands von 1879 haben in Irkutsk noch viele Holzbauten überlebt. Kunstvoll sind die geschnitzten Verzierungen an den bunten Fensterrahmen. Leider sind die Hausfundamente oft nicht solide genug. Wegen der extremen Temperaturen sind inzwischen schon manche Häuser bis zu den Fenstern in den Boden gesunken. Ein halbes Jahr liegt die durchschnittliche Temperatur unter null Grad. Ich sehe mehrere ausgebrannte Ruinen. Oft werden die alten Gebäude mutwillig angezündet, um freie Bauplätze zu schaffen. Wer will heute noch mit der Toilette im Garten und der Wasserpumpe an der Straße leben? Auch ehemalige Prachtvillen stehen leer.
Es scheint so, als sei die Zeit für viele Holzhäuser abgelaufen.
Den ganzen Tag bin ich schon auf den Beinen. Obwohl ich nur einige Straßenzüge durchstreift habe, kann ich bestätigen, Irkutsk mit seinen über 600.000 Einwohnern ist eine außergewöhnliche, sehenswerte Großstadt.
Der nächste Tag wird richtig anstrengend!
Vom Busbahnhof fahre ich mit einer Marschrutka, einem kleinen Sammelbus, die 70 km nach Listwjanka an den Baikalsee. Dieses langgestreckte Dorf liegt im Süden des Sees, dort, wo die Angara entspringt. Es ist sicherlich der von Touristen am häufigsten besuchte Ort. Der schmale, kiesige Strand an der Straße ist voll belegt, einige Gäste wagen sich sogar in das höchstens 16 Grad klare warme Wasser. Ausflugsschiffe kreuzen über das 'sibirische Meer'.
Auf dem Baikaltrail Richtung Bolschije Koty
An vielen Ständen wird geräucherter Omul angeboten, eine Lachsart, die es nur im Baikal gibt. Am zentralen Markt nehme ich eine kleine Stärkung zu mir und komme mit meinem Tischnachbar, einem Armenier, ins Gespräch. Dann breche ich auf dem 'Großen Baikaltrail' nach Norden auf. Etwa 18 km ist die nächste Siedlung Bolschije Koty entfernt. Von dort soll man mit einem Tragflügelboot abends zurückkehren können. Erst einmal heißt es, bei der großen Hitze von 400 m auf eine Passhöhe von 900 m zu steigen, und dann, einem Tal folgend, zur Küste hinunter zu wandern. Obwohl dieser Weg durch schattigen Kieferwald führt, viele Stämme sind schwarz von früheren Bränden, bin ich froh, als mir Einheimische einen Bach zeigen, wo ich meine leere Wasserflasche wieder auffüllen kann. Am Ufer angelangt, trinke ich wieder das herrlich klare und kühle Wasser direkt aus dem größten Süßwassersee der Welt. Ich laufe an idyllischen Plätzen vorbei, an denen gezeltet wird. Wanderer, die morgens mit dem Schiff Bolschije Koty erreicht haben, kommen mir entgegen. Einer der letzten ist ein Spanier. Er meint, ich bräuchte noch über eine Stunde bis zur Anlegestelle. Da er nicht weiß, wann das letzte Schiff abfährt, drehe ich vorsichtshalber um. Alles wieder zurück, noch einmal der mühsame Aufstieg hoch zum 'Pass'. Kurz nach 20 Uhr, nachdem ich 7 ½ Stunden ohne Pause gewandert bin, treffe ich endlich wieder in Listwjanka ein. Am unangenehmsten ist jetzt das Warten in einer langen Schlage, bis ich nach über einer Stunde endlich einen Sitzplatz (!) in einer Marschrutka ergattern kann. 'Reiche Schweizer' nehmen sich ein Taxi für 2.200 Rubel, ich komme dank des Schlangestehens mit 120 Rubel davon. Durch die dunkle, menschenleere Stadt wanke ich zurück ins Hotel. Wasser!
Das Wolkonski-Haus-Museum suche ich am nächsten Vormittag noch einmal auf, weil der Dekabristenforscher Joachim Winsmann mich gebeten hat, herauszufinden, ob sein auf dem Postweg versandtes Dekabristenlexikon angekommen sei. Diesmal treffe ich auf eine Englisch sprechende Mitarbeiterin der Museumsleitung, die den Erhalt des Buches nicht bestätigen kann. Sie ist auch skeptisch, ob ich die wichtigsten Plätze der Dekabristen ohne einen Führer überhaupt finden kann. Ob sie Recht behält?
Schon in Deutschland habe ich die Fahrkarte der Transsibirischen Eisenbahn von Irkutsk nach Tschita im Internet gebucht. Mit dem Expresszug Nr. 2 bin ich für die Strecke von 1.000 km knapp 17 Stunden unterwegs. Dabei ist zu beachten: die angegebenen Zeiten richten sich nach der Moskauer, nicht der lokalen Zeit. In Irkutsk im Osten entspricht die Uhrzeit also nicht der Tageszeit: es ist schon fünf Stunden später.
Abends mache ich mich auf den Weg zum Hauptbahnhof auf der gegenüberliegenden Seite der Angara. Wenn an der Leuchttafel das Gleis (Put) angegeben wird, strömen alle Passagiere mit ihrem oft umfangreichen Gepäck dorthin. Bevor man in seinen Wagon einsteigen darf, kontrollieren die Schaffnerinnen Pass und Fahrkarte peinlich genau. Im Großraumwagen der 3. Klasse gibt es 54 Betten und 2 Toiletten. Der Platzkartny-Wagen hat im Gegensatz zum indischen Sleeper nur zwei Betten übereinander.7 Immer erhält man weiße, frische Bettwäsche.
Es wird eine kurzweilige Fahrt in dem vollbesetzten Zug. Eine mitreisende Russin gehört zur älteren Generation, die in der Schule noch einige Jahre Deutschunterricht gehabt hat. Sie hilft mir geduldig bei meinen Sprachbemühungen. Ein südkoreanischer Rucksackreisender ist froh, sich mit mir auf Englisch unterhalten zu können. Er wird noch drei Tage bis Wladiwostok unterwegs sein und hat bisher keinen einzigen ausländischen Touristen im Zug angetroffen. Eine ganz junge, mutige Schülerin übt mit uns beiden ihre ersten englischen Sätze. Auch die Prowodniza, bei der man Tee, Kekse, Süßwaren und Suppen kaufen kann, ist nett. Die lustigen Fotos von unserer Abteilgesellschaft sind leider verlorengegangen.
Als um 22 Uhr das Licht gelöscht wird, schlafe ich sofort ein. Um 1 Uhr nachts bringen die in Ulan Ude Aus- und Zusteigenden Unruhe in den Wagon. Aber das gleichmäßige Rütteln lässt mich mit Unterbrechungen bis 11 Uhr schlafen. Viele verbringen die weite Fahrt auch tagsüber liegend.
In Tschita herrschen angenehme Temperaturen. Mein gediegenes Hotel Dauria ist nur 700 m vom Bahnhof entfernt. Es wirkt noch sehr sowjetisch. In jeder Etage residiert eine Dame. Dabei haben die meisten Hotels in Russland heute eine Videoüberwachung der Gänge und der öffentlichen Räume. Der Kontrolleur der vielen Kamerabilder hat seinen Platz an der Rezeption und macht auf mich immer einen sehr gelangweilten Eindruck.
Die Stadt hat eine bewegte Vergangenheit. 1652 legten Kosaken am Fluß Ingoda ein Winterlager an. In der gewalttätigen Revolution von 1905 übernahmen für zwei Monate Arbeiter die Macht. Im Bürgerkrieg stand Tschita unter japanischer Kontrolle und war von 1920 bis 1922 sogar die Hauptstadt der 'Demokratischen Fernöstlichen Republik'. Heute ist in der Militärstadt Tschita, die bis in die 1990er Jahre für Ausländer gesperrt war, nur noch wenig Historisches erhalten. Im Zentrum dominiert der weitläufige, leere Leninplatz. Die monumentale rot-braune Leninstatue ist umgeben von repräsentativen Gebäuden aus der Sowjetzeit. Im gleichen Stil ist das „Haus der „Offiziere“ gebaut, in dem das Transbaikalische Militärmuseum untergebracht ist. Dahinter befindet sich noch ein Ausstellungsplatz mit Panzern und Artilleriegeschützen und eine Gedenkstätte für die im Afghanistankrieg Gefallenen. Der sich anschließende Park des Sieges mit dem Riesenrad und dem Karussell bietet demgegenüber ein friedliches Bild.
Erzengel Michael Kirche mit Dekabristenmuseum in Tschita
Aber ich habe ja Tschita als Reiseziel ausgesucht, weil sich hier ab 1827 das Gefängnis für etwa 80 Dekabristen befand. Noch heute heißt die Straße „Damskaja Ulitsa“, in der 8 ihren Männern nachgereiste Ehefrauen in Häusern gleich neben dem Palisadenzaun des Gefängnisses gewohnt haben. In die kleine Blockhauskirche mit grünem Kupferdach aus dem Jahr 1771, dem ältesten Gebäude der Stadt, wurden die Gefangenen zum Gottesdienst geführt. Die aus Lothringen stammende Pauline Gueble, die auf abenteuerliche Weise ohne Russischkenntnisse nach Sibirien gelangte, heiratete hier ihren Geliebten Iwan Annenkow. Den adligen Damen brachte die vielseitige Frau die Haushaltsführung bei. Neben der Kirche existiert noch das Grab der kurz nach der Geburt gestorbenen Tochter Sonja von Maria Wolkonskaja.
Heute ist in der vormaligen Erzengel-Michael-Kirche ein sehenswertes Dekabristenmuseum mit vielen Originalgegenständen untergebracht. Drei ältere Damen empfangen mich als den einzigen Besucher. Auf meine Frage, ob eine Exkursia (Führung) in deutscher Sprache möglich sei, telefonieren sie eine ehemalige Deutschlehrerin herbei. Die sympathische Frau bietet mir einen Termin am Vormittag in zwei Tagen an. Gerne bleibe ich dafür einen Tag länger hier. Sie zeigt mir jetzt schon einmal die Lage des ehemaligen Gefängnisses, der Häuser der Damen und des Gefängniskommandanten.
Obwohl in Tschita über 300.000 Einwohner leben, scheint es kein Internetcafé zu geben. Also spaziere ich in das Büro einer Firma. Die netten Leute stellen mir gleich wie selbstverständlich einen PC zur Verfügung, so dass ich meine Mails abrufen und ein Lebenszeichen senden kann.
Was für ein Luxus ist doch dieses selbstbestimmte Reisen! Da ich nun einen Tag länger als geplant in Tschita bleiben werde, kann ich für morgen einen Ausflug zum buddhistischen Zentrum bei Aginskoe unternehmen.