Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wer ist die heute fast vergessene Schwedin Elsa Brändström, die von deutschen und österreich-ungarischen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs den Titel "Engel von Sibirien" erhielt? Der erste Teil des Buches stellt das Leben dieser faszinierenden Frau im historischen Kontext dar. Sie trägt zur Rettung tausender Leben bei. Als "Mensch der Tat" vollbringt die prominenteste Vertreterin von 77 schwedischen Rotkreuzhelfern von 1915 bis 1920 in Russland eine außergewöhnliche humanitäre Leistung. In ihrem anschließenden Einsatz in Deutschland kümmert sich Elsa Brändström weiter um die Opfer der "Hinterhöfe des Krieges", zu denen auch halbwaise Kinder gehören. Sie beweist, was ein einzelner Mensch aus Mitgefühl und Verantwortungsbewußtsein zu leisten vermag. Der zweite Teil geht vertiefend auf die Faktoren ein, die das Leben der Internierten von der Gefangenschaft bis zur Repatriierung bestimmen. Sibirien steht im Zentrum der Betrachtung, da sich hier die Massenlager befinden und durch den Aufstand der Tschechoslowakischen Legion und den gnadenlos geführten Russischen Bürgerkrieg die Heimkehr der Soldaten um Jahre verzögert wird. Manche Kriegsgefangene werden als "rote Internationalisten" oder als Unterstützer der "Weißen" selbst zu Akteuren und bekämpfen sich in dieser chaotischen Zeit sogar gegenseitig. Die Darstellung bezieht unterschiedlichste Tagebuchnotizen mit ein, um so ein authentisches Bild der sibirischen Gefangenschaft zu zeichnen. Fast eine halbe Million "Zivilisten in Uniform" überlebt diese Zeit der Unfreiheit nicht, Zehntausende werden zu Invaliden. 65 Bilder und Karten ergänzen den Text. "Meyens Arbeit ist eine berührende Lektüre und eine reichhaltige Quelle für die Wissenschaft" (Badische Zeitung)
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 350
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für meinen Vater Kurt, der nach dem 8. Mai 1945 viereinhalb Jahre russische Kriegsgefangenschaft überlebte
Vorwort
Wer war Elsa Brändström?
Kindheit und Jugend
Diplomatentochter und Krankenschwester
Erste Sibirienreise
'Fixe Punkte' in Pensa und Moskau
Zweite Sibirienreise
Dritter Sibirienaufenthalt
Heimkehr
Ihr Buch „Unter Kriegsgefangenen“
„An Deutschlands Zukunft glauben“
Vierte Sibirienreise
Offenes Haus in Amerika
Welche Faktoren bestimmten das Leben der Kriegsgefangenen?
Dimension der Zahlen
Rechtlicher Rahmen
Transport
Lagerleben
Gefangenenarbeit
Kunst, Kultur und Lehre
Hilfen für die Kriegsgefangenen
Die Schutzmächte
Die Rotkreuzgesellschaften
Die Schwesternreisen
Die Tientsiner Hilfsaktion
Der Einsatz der YMCA
Unterstützung durch Russlanddeutsche
Exkurs: Zivilgefangene
Invalidenaustausch
Flucht
Repatriierung
Bilanz
Zeittafel
Fotos aus dem Album eines Plennys
Karten der Kriegsgefangenenlager
Literaturverzeichnis
Der Autor
„Ich habe gesehen, wie russische Bauersfrauen, gleich nachdem sie von ihren Söhnen und Männern Abschied genommen hatten, verwundeten Feinden zu trinken gaben. Ich habe in Sibirien gesehen, wie deutsche Gefangene ihre letzten Brotstücke mit hungernden Frauen und Kindern des feindlichen Volkes teilten. (…)
Und die Zauberformel, die hier und dort solche Wunder erzeugt, heißt 'sich gegenseitig kennen und achten lernen'.“1
Elsa Brändström
Die Wiener 'Neue Freie Presse' berichtete am 9. Februar 1922 von einer erhebenden Feier im Festsaal der Österreichischen Gesellschaft vom Roten Kreuz, „die der Ehrung einer der aufopferndsten und hingebungsvollsten Samariterinnen des Weltkrieges, der schwedischen Schwester Elsa Brändström galt.“2 Der Präsident des Roten Kreuzes Dr. Beck überreichte ihr den höchsten Verdienstorden seiner Gesellschaft und versicherte ihr die Dankbarkeit des Volkes. Anschließend dankte ihr Dr. Bauer, der Minister für Soziale Verwaltung, im Namen der Regierung, der Präsident der Ärztekammer, der Sektionschef für das Kriegsgefangenen- und Zivilinterniertenamt, ein Vertreter der Frontkämpfervereinigung, die Präsidentin des Kriegsgefangenenvereins Irdit-Omsk und ein ehemaliger Reichstagsabgeordneter, dem die Schwester in Irkutsk in Sibirien geholfen hatte. „Der Präsident Dr. Beck wollte nun die Versammlung schließen, doch die zahlreichen im Saale versammelten ehemaligen Kriegsgefangenen bereiteten der Schwester eine spontane begeisterte Huldigung. Ein Mann rief: Hoch lebe der Engel von Sibirien! Minutenlanger Beifall folgte diesem Ausrufe.“3
Wer war diese heute fast vergessene Frau, die von den dankbaren Gefangenen aus Österreich-Ungarn und Deutschland den Titel 'Engel von Sibirien' erhielt, den sie selbst vehement ablehnte?
Sie hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, das Los dieser Not leidenden Menschen in den russischen Lagern zu lindern.
Die 1888 in St. Petersburg geborene Schwedin Elsa Brändström hatte sich nach dem Besuch des dortigen riesigen Nikolaihospitals, in dem sie auf hilflose, verwundete deutsche Kriegsgefangene traf, dafür bewusst entschieden.
Diese Publikation besteht aus zwei Teilen. Schwerpunkt des ersten Teils ist eine Darstellung der faszinierenden Persönlichkeit Elsa Brändström, insbesondere ihrer Tätigkeit als prominenteste Vertreterin des Schwedischen Roten Kreuzes in Russland in den Jahren 1915 bis 1920. Mit ihrer Spontanität und ihrem Selbstbewusstsein setzte sie sich über die zeitgenössische Frauenrolle hinweg und gewann selbst bei russischen Lagerkommandanten Respekt.
In ihrem anschließenden Einsatz in Deutschland kümmerte sie sich konsequent um die Opfer der langen Internierung, zu denen auch die Halbwaisen der dort verstorbenen Väter gehörten.
Es ist mir ein Anliegen, an die mutige Schwedin aus gehobenen Gesellschaftskreisen in ihrem historischen Umfeld zu erinnern, sie aber keinesfalls zu glorifizieren. Diese außergewöhnliche Frau vollbrachte eine vorbildliche humanitäre Lebensleistung und sollte nicht vergessen werden.
Meine wichtigste Informationsquelle war Elsa Brändströms Buch 'Unter Kriegsgefangenen in Rußland und Sibirien 1914 - 1920', das sie mit Unterstützung der Historikerin Margarete Klante 1921/22 veröffentlichte.4 Das Elsa Brändström-Archiv in Potsdam ist leider drei Wochen vor Ende des Zweiten Weltkriegs bei einem Luftangriff vollständig verbrannt. Das im Freiburger Bundesarchiv vorhandene 'Elsa-Brändström-Gedächtnisarchiv' enthält nur noch einen relativ kleinen Bestand an Quellen.
Die 1962 von Eduard Juhl, Margarete Klante und Herta Epstein herausgegebene Biographie 'Elsa Brändström - Weg und Werk einer grossen Frau' ist ihre umfangreichste Lebensbeschreibung. Der Vorteil der drei Autoren war es, dass sie die Philanthropin noch persönlich kannten und mit ihr zusammengearbeitet hatten.
Hinzu kommen Berichte deutscher und österreich-ungarischer Rotkreuz-Schwestern über ihre oft monatelangen Inspektionsreisen, wodurch die Vielfalt der Hilfsangebote gezeigt werden kann. Diese waren in Russland nur im Ersten Weltkrieg dank der verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen Kaiser- und Königshäusern möglich.
Die Systemkrise des autokratischen Zarenreichs, Revolutionen, Bürgerkrieg und Einmischung der Ententemächte bilden den Rahmen.
Eine Person wie Elsa Brändström ist nur im zeithistorischen Kontext zu verstehen.
Der zweite Teil des Buches geht vertiefend auf die bedrückende Lebenswirklichkeit der Kriegsgefangenen in Russland ein. Die chronologische Darstellung reicht von der Gefangennahme bis zur Repatriierung. Er thematisiert zentrale Fragen, wie zum Beispiel: Welche Rahmenbedingungen bestimmten ihr Leben? Wie versuchten die Gefangenen, sich durch Eigeninitiative ihren Lageralltag zu erleichtern? Welche Hilfen von außen waren am erfolgreichsten? Gab es Chancen, vorzeitig in die Heimat zurückzukehren, und warum verzögerte sich immer wieder die Repatriierung? Wie lassen sich die hohen Zahlen von Toten und Invaliden gerade unter der russischen Gewahrsamsmacht erklären?
Sibirien, das Land mit den räumlichen und klimatischen Extremen, steht im Zentrum dieser historischen Betrachtung. Hier befanden sich die zahlreichen Massenlager. Während die kriegsgefangenen Slawen überwiegend in westlichen Landesteilen unter erleichterten Bedingungen verbleiben konnten, wurden die 'gefährlichen' Reichsdeutschen, Deutschösterreicher, Ungarn, Türken und Juden im fernen Sibirien interniert. Durch den dort Ende Mai 1918 beginnenden Aufstand der Tschechoslowakischen Legion und den gnadenlos geführten Bürgerkrieg mussten die sich schon auf dem Heimweg befindenden Gefangenen wieder in die Lager zurückkehren. Selbst zwischen ehemaligen Kriegskameraden kam es nun zu Kampfhandlungen. Jeder einzelne wurde herausgefordert, den Anwerbeversuchen von Roten und Weißen zu widerstehen und die Neutralität zu bewahren. Der grundlegende Systemwandel führte zu einer zunehmenden Politisierung der Gesellschaft, von der die Gefangenen nicht ausgenommen waren.
Aber so wie in der Zarenzeit Sibirien das Land der Verbannung und gleichzeitig der Freiheit war, denn Leibeigenschaft existierte hier nicht, so lernten es auch die Gefangenen als ein 'Land der Gegensätze' kennen. Tausende entschlossen sich, hier eine eigene Existenz aufzubauen und zu bleiben.
„Rußland als Gewahrsamsstaat bleibt wegen zahlreicher Besonderheiten und Ausnahmen politisch und völkerrechtlich wohl das interessanteste Forschungsobjekt, und zwar für beide Weltkriege,“5 ist der Osteuropahistoriker Reinhard Nachtigal überzeugt.6 Ich sehe das genauso.
Obwohl im Ersten Weltkrieg 2,4 Millionen Soldaten der Mittelmächte in russische Gefangenschaft gerieten, hat sich die Geschichtsschreibung erst nach dem Ende der Sowjetunion 1992, als die Zentralarchive geöffnet wurden, intensiver mit diesem Massenphänomen an der Ostfront beschäftigt.7
Der Historiker Heiko Haumann wies darauf hin, dass sich Geschichte aus Fragmenten zusammensetzt. „Wir erfassen immer nur Teile der Erfahrungen, Denk- und Handlungsweise von Menschen. (…) Die Erzählungen einzelner Schicksale sollen insofern auch der scheinbaren Geschlossenheit von Strukturen und historischen Entwicklungen entgegenwirken.“8
Die vorliegende Darstellung ist in diesem Sinne ein facettenreiches Kaleidoskop aus einer Vielzahl von Erfahrungsberichten. Gefangenschaft wird von den Betroffenen in erster Linie als ein individuelles Schicksal empfunden.
Daher wird auf Memoiren von Heimkehrern und besonders auf die Tagebücher von Kriegsgefangenen zurückgegriffen. Diese Texte dokumentieren sehr unterschiedliche Erlebnisse, wobei zu berücksichtigen ist, dass sie fast nur von privilegierten Offizieren oder Medizinern geschrieben wurden und oft nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Der Leser erfährt durch persönliche Aufzeichnungen die subjektive Sicht des Schreibenden in speziellen Augenblickssituationen. Aber das zufällig und wirklich Erlebte sagt mehr über die Alltagserfahrungen eines Gefangenen aus und ergänzt andere historische Quellen. Sehr informativ sind etwa das in der Literatur wenig bekannte, von Walther Soeding sachlich geschriebene 'Tagebuch meiner sibirischen Gefangenschaft 1915-1920' oder der aufmerksame und kritische Bericht der deutschbaltischen Krankenschwester Andrea Stegmann, 'Erinnerungen aus bewegter Zeit 1915-20' aus dem Emmendinger Tagebucharchiv.
Solche authentischen 'Erzählungen' kommen der Absicht des Autors entgegen, der deskriptiv-narrativen Methode zur Vermittlung von Geschichte an historisch Interessierte den Vorzug zu geben.
Selbstverständlich wird vom Leser eine kritische Grundhaltung gegenüber diesen subjektiven Quellen erwartet. Das bezieht sich auch auf Zitate, etwa von Elsa Björkman-Goldschmidt. Sie verfasste die erste Biographie (1933) von Elsa Brändström und kolportierte häufig in wörtlicher Rede 'Originalaussagen' ihrer lebenslangen Freundin, die in gleicher Übersetzung in der Literatur immer wiederholt wurden, hier aber in einer Neuübertragung durch meine Frau Ingeborg verwendet werden.
Der Leser sollte auch berücksichtigen, dass in der Erinnerungsliteratur Erlebnisse mit den Einheimischen wiedergegeben wurden, die in der Ausnahmesituation der Feindschaft und im Chaos der Revolutionen stattfanden. Neben sachlichen und differenzierten Berichten gab es andere, aus denen sich ein abwertendes, populäres Bild 'des Russen' entwickelte, das unheilvolle Folgen hatte.
In diesem Buch stehen die reichsdeutschen Kriegsgefangenen im Vordergrund, nicht die aus dem zerfallenden Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn oder aus dem Osmanischen Reich.
Ideal wäre ein Vergleich zwischen den Lebensbedingungen der Gefangenen der Mittelmächte in Russland und denjenigen russischer Gefangener in Deutschland und in der Donaumonarchie. Eine Gegenüberstellung von Kriegsgefangenschaft im Ersten und Zweiten Weltkrieg würde trotz mancher Ähnlichkeiten fundamentale Unterschiede aufweisen. Welche Kontinuitätslinien sind trotzdem erkennbar? Solch ein weitgehendes Projekt ist in dieser Darstellung nicht vorgesehen.
Auf mehreren Sibirienreisen besuchte ich damalige Gefangenenorte wie Omsk, Krasnojarsk, Irkutsk und Tschita, in denen sich die Schwedin aufgehalten hatte. Ich konnte dort aber nicht einmal mehr Hinweise auf die von den Kriegsgefangenen angelegten Friedhöfe finden.9 Elsa Brändström besuchte 1929, neun Jahre nach dem Ende ihrer Sibirieneinsätze, noch einmal den Friedhof in Krasnojarsk, wo tausende Gefangene begraben worden waren. Ganz niedergeschlagen fand sie hier nur noch wenige Grabsteine vor.
Dagegen kann man in Deutschland heute noch vereinzelte, gepflegte Grabstätten russischer Gefangener aus dem Ersten Weltkrieg antreffen, wie etwa beim großen Lager von Parchim oder in Albersdorf beim Arbeitslager Osterrade. Mahnmale sinnlosen Sterbens so vieler junger Menschen. Die Namen erinnern an Einzelschicksale, nicht die abstrakten Zahlenangaben. Die meisten der russischen Zivilisten in Uniform wussten nicht, warum sie in den Krieg ziehen mussten. 10
In den von mir aufgesuchten sibirischen Heimat- oder Geschichtsmuseen kannte kein Mitarbeiter den Namen Elsa Brändström, auch nicht im Forschungszentrum über den russischen Bürgerkrieg in der ehemaligen Residenz des Obersten Regenten Alexander Koltschak in Omsk.
Dieser erste 'Große Krieg' mit Millionen von Opfern wurde leichtfertig von wenigen Männern begonnen. Die anschließende Gefangenschaft beim Feind bedeutete eine jahrelange Verlängerung des Leidens und Sterbens auf den 'Hinterhöfen' des Krieges.
Der zunehmenden Brutalisierung der modernen, industriellen Kriegsführung standen das Bemühen einer rechtlichen 'Zivilisierung des Tötens' und der Bedeutungszuwachs humanitärer Organisationen gegenüber. So haben sich die Rotkreuzorganisationen neutraler Länder wie Schweden, Dänemark und der Schweiz durch ihre Fürsorgetätigkeit hohe Anerkennung erworben.
Danken möchte ich Dorothee Philipp für die mühevolle Suche nach Tippfehlern.
Reinhard Nachtigal ließ mich an seinem fundierten Wissen teilhaben. Jederzeit war er bereit, meine Fragen zu beantworten. Dank für seine motivierende Unterstützung.
Ein ganz besonderer Dank gilt meiner Frau Ingeborg, die mir während der gesamten Entstehungszeit dieses Buches hilfreich zur Seite stand. Sie übersetzte Texte aus dem Schwedischen, wagte sich an die Erstkorrektur des Manuskriptes und begleitete mich auf zwei Reisen nach Sibirien.
Wohlfahrtsmarke 1951
1 Eduard Juhl, Margarete Klante, Herta Epstein: Elsa Brändström. Stuttgart 1962, Seite 356. Auszug aus Elsa Brändströms Rede 'Liebestätigkeit als völkerversöhnende Macht', gehalten auf der Weltkirchenkonferenz am 26. August 1925 in Stockholm.
2 'Neue Freie Presse' aus Wien vom 9.2.1922. Titel: 'Ehrung der Schwester Elsa Brändström'
3 Ebenda
4 Margarete Klante ergänzte diese Darstellung 1923 durch den Aufsatz ,Die deutschen Kriegsgefangenen in Rußland'. Hans Weiland und Leopold Kern gaben 1931 in Wien das zweibändige, großformatige Sammelwerk 'In Feindeshand' im Auftrag der 'Bundesvereinigung der ehemaligen österreichischen Kriegsgefangenen' heraus, eine Fundgrube unterschiedlichster Einzelberichte.
5 Reinhard Nachtigal: Kriegsgefangenschaft an der Ostfront 1914 bis 1918, Frankfurt a. M. 2005, Seite 133
6 Lange Zeit beschäftigte sich die Geschichtsschreibung intensiv mit dem noch tiefgreifenderen 2. Weltkrieg, in dem 35 Millionen Soldaten gegenüber 8 Millionen im 1. Weltkrieg das Elend der Gefangenschaft erleiden mussten. Erst der amerikanische Historiker Gerald H. Davis erinnerte 1982 in seinem Aufsatz 'Deutsche Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg in Rußland' an die 'vergessene' und nicht ausreichend untersuchte Thematik.
7 Ergebnisse sind u. a. folgende Standardwerke: Reinhard Nachtigal: Rußland und seine österreich-ungarischen Kriegsgefangenen (1914-1918), Remshalden 2003. Georg Wurzer: Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2005.
8 Heiko Haumann: Geschichte Russlands. Zürich 2003, Seite 12
9 Der als Folge des 1. Weltkriegs 1919 gegründete Volksbund für Deutsche Kriegsgräberfürsorge besitzt keinerlei Unterlagen über Kriegsgefangenenfriedhöfe in Russland aus der Zeit vor 1918.
10 Dazu eine bekannte Anekdote aus dem 1. Weltkrieg: „Soldaten verschiedener Nationen werden gefragt, wofür sie kämpfen. Der Franzose antwortet: pour la gloire, der Engländer: for business, der Deutsche: für König und Vaterland, der Russe: ne mogu snatj, wasche blagorodie - das kann ich nicht wissen, Euer Wohlgeboren.“
„Auf der Rückreise aus Sibirien, wo ich seit 1915 unter den Kriegsgefangenen als Abgeordnete des Schwedischen Roten Kreuzes gearbeitet habe, betrachte ich es als meine Pflicht, die Verhältnisse darzulegen, in denen sich die Kriegsgefangenen heute befinden.
Weder in Europa noch in Amerika dürfte es unbekannt sein, daß Tausende von unglücklichen Kriegsopfern noch unter dem Joch der Gefangenschaft schmachten. (…) Wer den Gefangenen kennt, weiß, daß er selbst nach fünf oder sechs Jahren der Gefangenschaft nur ein Verlangen im Grunde seiner Seele hat, nämlich, noch einmal sein Vaterland und die Seinen wiederzusehen... (...)
Die Notschreie der Sterbenden sind nie zu der Außenwelt gedrungen und werden nie zu ihr dringen. Niemand wird je erfahren, was sie gelitten haben, deren Gebeine seit Jahren in dem brennenden Sand Turkestans und unter der Eisdecke Sibiriens ruhen...
Im Namen aller Gefangenen rufe ich das Internationale Rote Kreuz und den Völkerbund an, die sich bemühen, die Wunden zu heilen und die Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten des Krieges zu mildern. Ich beschwöre sie, unverzüglich Schiffe, Gelder, Kleidung und Lebensmittel zur Verfügung zu stellen und gegebenenfalls Abgeordnete nach Russland zu senden, (…) um vor Beginn des nächsten Winters Sibirien und Rußland völlig von Kriegsgefangenen zu räumen.“11
Wer war diese junge Frau, die bei ihrer Rückkehr am 8. Juli 1920 diesen Aufruf an das Internationale Komitee des Roten Kreuzes in Genf verfasste und sich für die Kriegsgefangenen der Mittelmächte so vehement einsetzte? Die von ihrem Vater den Grundsatz übernommen hatte, mit der ganzen Person für die als richtig erkannte Aufgabe zu leben?
11 Eduard Juhl, Seite 351 ff
Die Schwedin Elsa wurde am 26. März 1888 als ältestes Kind von Anna und Edvard Brändström in St. Petersburg geboren. Das Paar bekam nach ihr noch die beiden Söhne Per und Erik. Die empfindsame Mutter Anna hatte nach einer nur zweimonatigen Ehe sechs Jahre um ihren verstorbenen ersten Mann Graf Axel Piper getrauert, bevor sie sich mit 31 Jahren neu verheiratete.12 Tief religiös besaß sie stets starkes Mitgefühl und litt fast körperlich mit, wenn sie etwa von 'russischen Gewalttaten in Finnland' hörte oder wenn einer ihrer Hausangestellten erkrankte. Sie besaß aber auch viel Humor und ihre Tochter Elsa 'erbte' von ihr ein ansteckendes Lachen.
Ihr Vater Edvard war Offizier und Schwedischer Militärattaché in der russischen Hauptstadt. Vor allem dieser geradlinige, strenge Vater, der sich in Russland durch sein manchmal impulsives Verhalten die Bezeichnung 'le général furieux' erwarb, übte auf seine Tochter einen prägenden Einfluss aus. Sie handelte ganz in seinem Sinne, und er dürfte sehr stolz auf sie gewesen sein. Bis zu seinem Lebensende stand Elsa in einer engen, vertrauten Beziehung zu ihrem Vater.
1891 kehrte die Familie nach Schweden zurück. Elsas russische Amme betreute das Kleinkind dort auch weiterhin. 1896 wurde der Vater für zehn Jahre in die Garnisonsstadt Linköping in Östergötland versetzt, wo er den Chefposten des Königlichen Leibgrenadierjäger-Regiments übernahm, zuerst als Oberleutnant, nach zwei Jahren dann als Oberst. Seine 'kraftvolle Persönlichkeit' prägte das Regiment und wurde sehr positiv bewertet.13 Edvard Brändström praktizierte einen kameradschaftlichen Führungsstil. Seine Untergebenen durften ihm Fragen zu seinen Anordnungen stellen und frei ihre Meinung äußern, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Seine Fürsorglichkeit ging manchmal etwas weit. Aus Gründen der 'Sittlichkeit' gab er zum Beispiel eine Bestimmung heraus, nach der die weiblichen Angestellten der Marketendereien mindestens 45 Jahre alt sein mussten.
Seine Vorgesetztentätigkeit wurde in einem Zeitungsartikel abschließend sehr positiv bewertet: „Ohne Übertreibung kann man behaupten, dass das Regiment, an dessen Spitze Brändström stand, mit guten Gründen Anspruch darauf erheben konnte, zu den am besten geführten, geübten und organisierten der schwedischen Armee gerechnet zu werden.“
In der Stadtverordneten-Versammlung von Linköping wurde der auch an der Lokalpolitik interessierte Offizier zum Wortführer gewählt.
Per Henrik Edvard Brändström (1850-1921)
Das damalige Linköping war mit seinen 13.000 Einwohnern ein konservatives, dem schwedischen Königshaus treu ergebenes Städtchen. Die einflussreichen germanophilen Familien Brändström, Björkman und Douglas verstanden sich als monarchistisch gesinnte Patrioten. Sie waren von historisch bedingten Vorbehalten gegenüber Russland aufgrund der im 'Großen Nordischen Krieg' erlittenen Niederlage und wegen der Annexion des vormals schwedischen Finnlands durch das russische Zarenreich im Jahr 1809 geprägt.14 Auffallend ist, dass sich Frauen gerade aus diesen Familien im Ersten Weltkrieg besonders für die Kriegsgefangenen der Mittelmächte einsetzten. Überraschenderweise herrschten bei den Brändströms nicht die üblichen autoritären, großbürgerlichen Erziehungsgrundsätze. Der Vater erwartete vielmehr von seinen Kindern eine eigene Meinung, die sie begründen sollten. Sie durften dem Familienoberhaupt widersprechen! Das 'Vaterkind' Elsa wuchs mit für jene Zeit außergewöhnlichen Freiheiten in einem gutsituierten Elternhaus in der zentral gelegenen Drottninggatan auf. Mit Kindermädchen, Köchin, französischer und deutscher Gouvernante. Ab 1896 besuchte Elsa die Vorschule, zwei Jahre später die Höhere Schule für Mädchen. Ihre Banknachbarin war die 21 Tage jüngere Offizierstochter Elsa Björkman. Obwohl die beiden Mädchen ganz unterschiedliche Charaktere hatten, blieben sie lebenslang in Verbindung. Sogar während Elsa Brändströms letzten Lebenstagen in Cambridge (USA) war ihre Kindheitsfreundin anwesend. Björkman war es auch, die 1933 die erste Biographie der tatkräftigen Samariterin verfasste.
Den Schulunterricht nahm die Tochter des Regimentskommandanten nicht so wichtig. Regelmäßig die Hausaufgaben zu machen, hielt die Schülerin für „verfehlte Frauenkraft“. Dagegen zeigte das hochgewachsene, sportliche Mädchen, das durch seinen raschen Gang und sein unbekümmertes Lachen auffiel, andere Qualitäten. Als ihre Chemielehrerin Hilda Strandell während des Unterrichts Nachricht von einem schweren Unglücksfall in ihrer Familie erhielt, aber die Stunde zu Ende bringen musste, stand Elsa gerade an der Tafel und hatte eine Aufgabe zu lösen. Sie spürte als einzige in der Klasse die wachsende Verstörung der Lehrerin und übernahm spontan den Unterricht, bis die aufgewühlte Erwachsene sich wieder beruhigt hatte. Die Lehrerin schrieb später über Elsa: „Persönlich bewahre ich eine meiner allerkostbarsten Erinnerungen an sie. Sie half mir über einen der schmerzlichsten Momente meines Lebens hinweg - sie war damals 15 Jahre alt. Sie wusste es selbst nicht, aber diese kleine Tat ist mir später wie ein Vorzeichen ihres Einsatzes in einer leidenden Welt erschienen: Geistesgegenwart, Taktgefühl, Barmherzigkeit - das war schon für das Kind eine natürliche Lebensäußerung.“15
Elsa besuchte diese Schule in Linköping von 1898-1906
Die in einem christlichen Elternhaus aufgewachsene Elsa wurde im Konfirmationsunterricht von religiösen Zweifeln befallen und unsicher, ob sie für das Abendmahl schon reif genug sei. Sie sprach darüber offen mit dem Domprobst. Als er ihr erklärte, dass keinerlei Glaubenszwang bestehen würde, war sie zur Konfirmation bereit.
Im Jahr 1906 beendeten die beiden 18-jährigen Elsas ihre Schulzeit. Gemeinsam wurden sie bei Anna Sandströms Lehrerinnen-Seminar in Stockholm angemeldet. Die Eltern Brändström sahen die zweijährige Ausbildung als eine Übergangszeit an, bevor ihre Tochter ihnen in die Metropole St. Petersburg nachfolgen sollte, wohin der Vater im gleichen Jahr als Schwedischer Gesandter berufen worden war.
Für ihre Tochter, die sich eine spätere Tätigkeit an Volkshochschulen vorstellen konnte, war der moderne Lehrplan mit Psychologie, Literatur und Geschichte nur wenig geeignet. Ihre Freundin kolportierte in ihrer zweiten Biographie von 1969 eine freimütige Äußerung Elsas gegenüber ihrer Lehrerin: „Bara jag ser en bok, så får jag sprallan!“16 (Schon beim bloßen Anblick eines Buches werde ich zappelig.) Die selbstbewusste Tochter aus gutem Hause erkannte früh, dass sie ein Tat-Mensch war: „Jeder Mensch, den ich treffe, interessiert mich mehr als ein Roman, warum soll ich dann Romane lesen?“17 Ihre Stärke lag in der Diskussion aktueller sozialer Probleme, über die sie durch die Aktivitäten ihres Vaters gut informiert war.
Elsa wurde im Dom von Linköping konfirmiert Die Familie lebte ganz in der Nähe des Schlosses
Zur Vorbereitung auf Repräsentationsaufgaben an der Botschaft gehörten gute Fremdsprachenkenntnisse. So wurde Elsa in den Ferien zum Einzelunterricht nach Paris geschickt oder lebte in einer englischen Familie. Besonders begeisterten die sportliche junge Frau die Alpentouren in der Schweiz, die „halsbrytande bergbestigningar“. Höhepunkte in der von ihr als 'dunkle Zeit' empfundene Ausbildung am Seminar waren dreiwöchige Sommerreisen durch Westeuropa an der Seite des Vaters.
Nach Beendigung der Ausbildung wurde jede Schülerin zu einem Abschlussgespräch gebeten. Die Seminarleiterin meinte, so berichtete Elsa, „es gebe wenige Zukunftsmöglichkeiten für mich in Schweden. Nicht einmal in Europa. Vielleicht würde ich nach Amerika passen.“18 Diese Prognose sollte zutreffen. Elsa verließ 1908 Schweden und lebte nach den Stationen in Russland und Deutschland ab 1934 bis zu ihrem Tod 1948 in den USA!
Im Rückblick äußerte sich Elsa Brändström positiv über ihre Zeit im Sandströmschen Seminar. Dort habe man ihr für vieles die Augen geöffnet. Auch sei sie etwas 'geduckt' worden, was bei ihrer ausgeprägten Selbstsicherheit wohl kein Schaden gewesen sei.
12 Die geborene Anna Wilhelmina Eschelsson war mit dem 1742 in Goslar geborenen späteren Hamburger Bürgermeister Johann Daniel Koch verwandt.
13 Siehe Bundesarchiv Freiburg: BArch MSG 200/44 (N878/72)
14 Der junge schwedische König Karl XII. erwarb sich in dieser von 1700 bis 1721 dauernden bewaffneten Auseinandersetzung mit Zar Peter I. den Status eines 'Kriegshelden'. Die Niederlage Schwedens bedeutete für das Land das Ende als europäische Großmacht und für etwa 35.000 Schweden eine langandauernde Kriegsgefangenschaft, aus der nur wenige zurückkehrten. Entgegen der Konvention von Poltawa (1709) kamen auch Gefangene nach Sibirien. Fast alle Offiziere (800) lebten ab 1713 in Tobolsk. Ich sah 2018 beim Besuch der alten sibirischen Hauptstadt Tobolsk noch ein Gebäude am Kreml, das von den schwedischen Kriegsgefangenen errichtet wurde.
15 Elsa Björkman-Goldschmidt: Elsa Brändström, Stockholm 1969, Seite 38
16 Ebenda, Seite 42
17 Ebenda, Seite 42
18 Ebenda, Seite 46
Als Elsa Brändström im Alter von 20 Jahren mit nur geringen Russischkenntnissen in ihre Geburtsstadt zurückkehrte, fühlte sie sich dort nicht fremd. Stockholm und St. Petersburg liegen etwa auf dem gleichen Breitengrad, nur getrennt durch die Ostsee, und die russische Hauptstadt und internationale Metropole des Zarenreichs war über das ehemals schwedische Finnland, jetzt ein russisches Großfürstentum, leicht erreichbar. Zu den fast zwei Millionen Einwohnern vor dem Ersten Weltkrieg zählten auch viele Ausländer. Mit etwa 45.000 Personen nahm die deutsche Kolonie unter den Zugezogenen die erste Stelle ein, und der 'deutsche Lebensstil' gehörte im Bürgertum zum guten Ton. Einerseits war die Stadt Peters I. ein prachtvolles, lebendiges Kulturzentrum, andererseits herrschte hier gerade nach der Revolution von 1905 der Überwachungsstaat mit seiner Zensur. Auch die Dienerschaft der Schwedischen Botschaft arbeitete für die Geheimpolizei.
Bei den zahlreichen Empfängen vertrat Tochter Elsa nun oft die kränkelnde Mutter, die 1913 starb. Die Botschaft stand nicht nur den Schweden offen, für die sich Edvard Brändström im Konfliktfall energisch einsetzte, sondern auch manchen Russen. Als eine elegant gekleidete und mit Juwelen geschmückte Gesellschaftsdame lernte die junge Frau rasch, sich in Diplomaten- sowie exklusiven aristokratischen Kreisen angemessen zu verhalten. Bald verstand sie die Mentalität der Russen besser als ihr Vater. Als das Zarenpaar 1911 das dreihundertjährige Jubiläum der Romanows im Winterpalast feierte, nahm Elsa Brändström als Gesandtentochter daran teil. Bei dem anschließenden Ball soll die blonde Schwedin eine der am meisten beachteten Damen gewesen sein. Geübt war sie auch durch das von ihr geliebte Tanzen auf Schlittschuhen und Rollschuhen.
Sie begegnete in St. Petersburg auch Ungleichbehandlung und krasser Armut. Warum mussten die Kutscher selbst bei extremen Minustemperaturen die halbe Nacht draußen verbringen, bis der Ball beendet war? Warum lebten die Industriearbeiter im Wyborger Bezirk in engen Elendswohnungen? Ob sie die Äußerung durchdachte, als sie einmal gesagt haben soll: „Hade jag varit ryska hade jag sällat mig till de revolutionära.“19 (Wäre ich Russin gewesen, hätte ich mich den Revolutionären angeschlossen.)
Aufschlussreich ist eine Erinnerung Selma Lagerlöfs an ein Zusammentreffen mit Elsa Brändström. Die Nobelpreisträgerin erzählte bei ihrer Aufnahme in die Schwedische Akademie von einer Begegnung mit der ungewöhnlichen Diplomatentochter: „Eines Tages war ich ausgegangen, um die Stadt (St. Petersburg) zu besichtigen, ihre Bazare und Kirchen. Eine schwedische Dame, jung, blond, schön, vom edelsten nordischen Typ, führte mich. Ich wusste von ihr, dass sie ein glückliches Zuhause besaß und, da sie zu den höchsten Gesellschaftskreisen gehörte, konnte ich mir denken, dass ihr Leben, wenn man so sagen kann, ein Tanz auf Rosen war. Während der Führung begann diese junge Landsmännin mir über ihr Verlangen zu sprechen, das sie nicht befriedigende Vergnügungsleben zu verlassen, von ihrer Begabung Gebrauch zu machen und etwas aus eigener Kraft zu werden. Es sah aber so aus, als sollte ihr Weg gerade durch das Übermaß an glücklichen Umständen, in denen sie lebte, verschlossen bleiben.“20
In diesem Auto wurden Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau am 28. Juni 1914 in Sarajevo ermordet
Die ersehnte Herausforderung kam schneller als erwartet durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der 'Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts'. In Folge der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers und seiner Frau am 28. Juni 1914 erklärte die Donaumonarchie Serbien nach dem Ablauf eines Ultimatums am 28. Juli den Krieg. Weil Russland die allgemeine Mobilmachung zur Unterstützung Serbiens vom 29./30. (16./17.)21 Juli nicht zurücknahm, erfolgten die Kriegserklärungen Deutschlands am 1. August an Russland und am 3. August an dessen Verbündeten Frankreich. Ab dem 4. August nahmen auch Großbritannien auf der Seite der Entente, ab dem 2. November das Osmanische Reich auf der Seite der Mittelmächte, an dem mörderischen Blutvergießen teil. In Schweden sprach sich eine starke Gruppe aus der oberen Gesellschaft für eine militärische Unterstützung der Mittelmächte aus. Eine treibende Kraft war Königin Victoria, eine badische Prinzessin. In der Öffentlichkeit wurde die Meinung laut, Schweden solle nicht in einer bloßen Zuschauerrolle verharren. Als die Presse aber ausführlich über die regelmäßig zwischen Haparanda an der finnischen Grenze und Trelleborg verkehrenden Austauschzüge mit schrecklich verstümmelten Kriegsinvaliden berichtete, wurden sich viele Schweden der mit einem Kriegseintritt verbundenen Opfer bewusst und schreckten zurück. Das offiziell neutrale Schweden zeigte seine besonders bei den traditionellen Eliten stark verankerte germanophile Gesinnung stattdessen durch den Aufbau von dringend benötigter humanitärer Hilfe für die Kriegsgefangenen der Mittelmächte.22
Unmittelbar nach Kriegsbeginn kehrte Elsa Brändström von ihrem Sommerurlaub in England nach St. Petersburg, das bald in Petrograd umbenannt wurde, zurück. Zusammen mit ihrer britischen Freundin Ethel von Heidenstam, der Ehefrau des schwedischen Legationsrates, besuchte sie einen Krankenpflegekurs und trug nun die Tracht der russischen St.-Georgs-Schwestern. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen aus ihren Kreisen nahmen die beiden ihre Aufgabe aber ernst.
Elsa Brändström schrieb ernüchtert: „Diese Damen waren oft die Parodie einer barmherzigen Schwester. Hauptsächlich beschäftigten sie sich damit, Kissen auszuschütteln, den Verwundeten die Stirn zu trocknen und ihr Haar zu kämmen. Hätten sie statt dessen ihre selbstgewählte Arbeit ernst genommen, so wären sie für ihre geduldigen russischen Soldaten unendlich segensreich gewesen. (…) Als die überfüllten Lazarette die furchtbare Wirklichkeit unverhüllt zeigten, da flohen diese Damen zu ihren Diners, ihren Bridgepartien und Tanzvergnügungen zurück. Nun blieben nur die früheren Krankenschwestern, - einfache, aber gutherzige Frauen.“23
Nach den unerwartet verlustreichen Kämpfen in Ostpreußen trafen bald die mit russischen und deutschen Schwerverwundeten voll belegten Sanitätszüge in Petrograd ein. Auch die schwedische Kolonie richtete ein kleines Lazarett ein. Hierhin begleiteten die beiden Freundinnen täglich Soldaten zur ambulanten Behandlung. So lernten sie auch das riesige Nikolaihospital mit 4.000 Verwundeten kennen, das unter dem Protektorat der Großfürstin Maria Pawlowna stand. Elsa Brändström beschrieb, wie sie und Ethel Heidenstam im Herbst 1914 zum ersten Mal deutsche Kriegsgefangene trafen. Der Chefarzt „fragte uns lachend, ob wir auch die 'Menagerie' sehen wollten - das war die Gefangenenabteilung! Wir gingen dorthin, und dieser erste Eindruck, den ich von Kriegsgefangenen erhielt, hat sich in den folgenden fünfeinhalb Jahren meiner Arbeit unter ihnen nur mehr und mehr befestigt. (…) Die Gefangenen lagen hier unter schlechteren Verhältnissen als die Russen, es schlug uns aber eine Welle von zielbewußtem Willen, von Kraft und Zusammenhalt entgegen, die scharf gegen das bedrückende Gefühl der Hilflosigkeit bei den russischen Verwundeten abstach.“24 Sie erklärte sich die Stärke „aus der inneren Kraftquelle hochstehender Kulturvölker.“25 Sie fühlte sich von der Willensstärke der Gefangenen angesprochen und empfand eine gemeinsame „germanische Verbindung“, ein (west-)europäisches kulturelles Erbe. Damit befand sie sich in der Denktradition einer konservativen schwedischen Oberschicht, die wie ihr Vater, deutschfreundlich eingestellt war. Die 26-Jährige fühlte sich betroffen, schlagartig sah sie nun ihre zukünftige Aufgabe vor sich: den hilflosen Gefangenen in Feindeshand mit vollem persönlichen Einsatz zu helfen. Prinzessin Croy, eine österreichische Rotkreuzdelegierte wird später feststellen: „Diese Frau kennt weder Vergangenheit noch Zukunft. Alles ist für sie Gegenwart, und die Gegenwart bedeutet Kriegsgefangene. Ihr ganzes Leben gehört den Kriegsgefangenen.“26
Wegen der gelegentlichen Besichtigungen durch die Großfürstin, der Mitarbeit einiger deutsch-russischer Schwestern und zweier deutscher Ärzte (ab 1915) waren die Bedingungen in dem Hospital überdurchschnittlich gut. Elsa Brändström berichtete aber auch von einem bedauerlichen Zwischenfall, der die Ausgesetztheit in diesem Gefangenenlazarett zeigte. Ein invalider Offizier wollte die wenigen Schritte zur Toilette gehen, was ihm der russische Wachposten verweigerte. Bei seinem zweiten Versuch, an dem Posten vorbeizukommen, stach dieser ihm mit dem Bajonett durch den Rücken in die Lunge. Der schwerverletzte Offizier wurde obendrein zu sechs Jahren Strafarbeit wegen seines „Angriffs gegen eine Wachposten verurteilt.“27
Deutsch-russische Kreise sammelten Kleiderspenden, um die halb genesenen Verwundeten vor ihrer wochenlangen Zugfahrt in die Lager im Osten auszurüsten. Aber diese sogenannten 'Liebesgaben' waren bald ausgeschöpft. Aus Deutschland trafen private und staatliche Zuschüsse ein, um die Gefangenen vor dem beginnenden Winter besser zu versorgen. Zusammen mit Ethel von Heidenstam übernahm die praktisch veranlagte Elsa Brändström resolut die Organisation der Hilfe. „Wir verteilten Rucksäcke mit folgendem Inhalt: zwei Hemden, zwei paar Unterhosen, zwei paar Strümpfe, Sweater, Handschuhe, Pulswärmer, Nansenkappe, Schal, Taschentücher, Hosenträger, Filzschuhe, Seife, Löffel und Eßschale, Zahnbürste, Kamm, ein Paket Nähzeug mit Nadeln und Knöpfen, Insektenpulver usw.“28, berichtete sie später.
Noch dringender als in dem relativ gut ausgestatteten Nikolaihospital waren Hilfeleistungen für die in etwa 20 Lazaretten untergebrachten Gefangenen in Moskau. Einige dieser Behelfseinrichtungen bestanden aus kaum beleuchteten Holzbaracken, in denen die Verwundeten auf alten Strohsäcken oder auf dem nackten Boden lagen. Grundsätzlich war ihnen das Verlassen der Gebäude untersagt. Die wenigen Krankenpfleger reichten nicht aus. Deutschfreundliches Personal wurde entfernt, Medikamente und Verbandstoffe waren Mangelware. Besonders empörte sich die Schwedin über die förmliche 'Amputationssucht' der russischen Ärzte. Sie meinte, „daß in jedem anderen Lande Europas zwei Drittel der Amputationen hätten vermieden werden können.“29 Narkosemittel wurden kaum verwendet, Blutvergiftungen waren wegen der seltenen Verbandswechsel an der Tagesordnung. Auch die russischen Soldaten litten unter diesen Mängeln. Wenigstens erhielten alle in den Hospitälern liegenden Verwundeten ausreichend zu essen: Kascha (Buchweizengrütze), Kohlsuppe mit Fleischstücken und reichlich Schwarzbrot.
Besonders qualvoll waren die häufigen Verlegungen und Verschickungen innerhalb Russlands selbst von Schwerverwundeten von einem Krankenhaus in das nächste. Elsa Brändström erklärte sich diese Anordnungen durch Geldgier der Beamten. Verpflegungs- und Transportgelder konnten so doppelt abgerechnet werden. „Bei jeder Evakuierung bot sich dasselbe furchtbare Bild: die Schwerverwundeten schrien und stöhnten, wenn die Sanitätsmannschaften sie für die Überführung ankleideten. Es gab unter ihnen Lahme und Hilflose, die die Wärter vor Schmutz und Gestank nicht berühren wollten. Aber sie mußten alle hinaus, wo sie im Winter stundenlang im Schnee auf die elektrische Bahn warteten. Es kam sogar vor, das Scharen von Krüppeln mehrere Kilometer im Schnee krochen, um die Eisenbahn zu erreichen.“30 Die Schwedin berichtete in ihrem Buch von einem zwanzigjährigen österreichischen Kadetten, dessen Becken zerbrochen und dessen Wirbel durch eine Granate zersplittert waren. „Ein deutscher Arzt, der ihn zufällig sah, hielt es für unzulässig, ihn aus einem Bett in ein anderes zu legen, und doch hatte man ihn neun Monate durch zwanzig Lazarette geschleppt, bis er endlich starb.“31 Die Verlegungen begannen in der Regel nachts, damit die Bevölkerung dieses peinliche Elend nicht sehen konnte. Als der Zar im Dezember 1914 die Moskauer Hospitäler besuchen wollte, wurden alle verwundeten Gefangenen in einer Schnellaktion um Mitternacht in eine Kaserne vor der Stadt transportiert!
Die Verlegung in ein Hospital war oft mit dem Risiko verbunden, Teile der Bekleidung zu verlieren. Bei Ankunft wurden die getragenen Kleider und Schuhe, die in einem Sack im Magazin aufbewahrt werden sollten, nämlich stets durch Lazarettwäsche ersetzt. Oft wurden dabei die besten eigenen Sachen gestohlen, so dass man die Abreisenden manchmal fast unbekleidet oder ohne Schuhe in die nächtliche Kälte entließ. Deutsch-russische Kreise versuchten, wie in Petrograd, mit Kleiderspenden zu helfen. Eine große Menge an Liebesgaben traf aus den baltischen Ostseeprovinzen ein.
Das Moskauer Hilfskomitee bemühte sich auch um die gesunden Gefangenen, die von der Front direkt an den Sammelpunkt Ugrieschskaja am Stadtrand gebracht wurden.32 Hier warteten sie in einem weitläufigen Schuppen oft wochenlang bis ein Transport nach dem Osten zusammengestellt war. Nach Elsa Brändströms Darstellung war die tschechische Ehefrau eines 'indolenten' russischen Offiziers hier die eigentliche Chefin. Sie hatte tschechische Mitarbeiter eingestellt, interessierte sich nur für das Schicksal der Slawen und profitierte persönlich von den Unterstützungen. Generell wurden Kriegsgefangene slawischer Nationalitäten aus dem Vielvölkerreich bevorzugt und immer stärker von den 'germanischen und ungarischen' Soldaten getrennt, die man überwiegend in Lager in ferne Regionen Sibiriens und nach Turkestan verschickte.
Keine der kriegsführenden Mächte war - besonders an der beweglichen Ostfront - auf die Unterbringung und Versorgung einer solchen Masse von Gefangenen vorbereitet. Die überforderten russischen Behörden brachten die erschöpften Soldaten in Kasernen, Fabriken, Messehallen usw. unter.
Die russische Presse veröffentliche propagandistische Darstellungen darüber, welchen Grausamkeiten russische Kriegsgefangene in deutschen Lagern ausgesetzt seien. Um dieses Gräuelbild nicht zu gefährden, wurden Briefe, in denen russische Soldaten schrieben, dass es ihnen gut gehe, von der russischen Militärzensur beschlagnahmt.33
Russische und französische Soldaten im deutschen Lager Hohensalza
In Deutschland war man über die Notlage der Kriegsgefangenen in Russland kaum informiert. Durch die zensierte Post erfuhr man wenig Konkretes. Im Frühjahr 1915 schrieb Elsa Brändström an Freunde in Berlin über die herrschenden Missstände. Im zuständigen Königlich Preußischen Kriegsministerium war man schockiert. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) hatte bereits über den schwedischen Gesandten Graf Taube bei Edvard Brändström nachfragen lassen, ob seine Tochter und Ethel von Heidenstam Vorschläge zur Verbesserung der Lage der Kriegsgefangenen machen könnten. Die russische und die deutsche Regierung hatten das neutrale Schwedische Rote Kreuz (Svenska Röda Korset/SRK) gebeten, einen Austausch von Schwerverwundeten durchzuführen. Die beiden Frauen begleiteten dann als Krankenschwestern im Dienst des SRK auch selbst den ersten Invalidentransport. Auf der Hinfahrt besuchten sie Lager von russischen Gefangenen in Frankfurt an der Oder und in Cottbus. Trotz Protesten verließen sie unterwegs den Zug, um in Berlin ihre Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten. Sie trafen dabei auch Prinz Max von Baden, den deutschen Leiter der Kriegsgefangenen-Fürsorge. Anhand des Inhalts eines mitgebrachten Rucksacks konnten sie ihm zeigen, welche Dinge dringend zum Überleben benötigt wurden.
Durch eine Aktion des DRK wurde binnen eines Monats Geld für mehr als 100.000 solcher Grundausstattungen gesammelt. Nach Abschluss der Gespräche in Berlin folgten die beiden tüchtigen freiwilligen Helferinnen dem Zug nach Wien und begleiteten die aufgenommenen russischen Invaliden zurück nach Petrograd.
Trotz der Dringlichkeit konnte erst nach langwierigen Verhandlungen mit Hilfe des Vorsitzenden des SRK, Prinz Carl von Schweden, eine Übereinkunft mit den russischen Behörden erzielt werden. Zuerst brachte das neutrale Rote Kreuz Liebesgaben für russische Kriegsgefangene nach Deutschland und Österreich-Ungarn. Dann endlich durfte am 8. Oktober 1915 der erste Zug mit Hilfspaketen von Saßnitz über Trelleborg nach Petrograd starten.
Ein Vorbild für eine erfolgreiche Unterstützungsarbeit war die schon ein Jahr früher von der unermüdlichen Freifrau Elsa von Hanneken in der chinesischen Stadt Tientsin (Tianjin) gegründeten 'Hilfsaktion für deutsche und österreichisch-ungarische Gefangene in Sibirien'. Bis zum Februar 1917 hatte sie auch das Amerikanische Rote Kreuz (ARK) auf ihrer Seite. Die großzügigen Spenden von Auslandsdeutschen aus den USA, China und Japan ermöglichten es der Organisation, die Lager im Fernen Osten und Ostsibirien mit warmer Kleidung, Lebensmitteln, Medikamenten und Büchern zu versorgen. 180.000 an sie verschenkte lange, gesteppte chinesische Mäntel bewahrten viele Plennys vor Erfrierungen. Besonders nützlich waren die Geldüberweisungen. Elsa von Hanneken gab an, täglich 200 bis 400 Briefe von Gefangenen mit den unterschiedlichsten 'Bestellungen' erhalten zu haben, die sie zu erfüllen versuchte.34 Nach dem Eintritt Chinas in den Ersten Weltkrieg 1917 musste die 'Tientsiner Hilfsaktion' eingestellt werden. Erfolglos bemühten sich Vertreter des SRK, die Lagerbestände noch nutzen zu dürfen.
Ausschnitte aus der Karte mit Kriegsgefangenenlagern des Hamburgischen Landesvereins vom Roten Kreuz (November 1915)
19 Elsa Björkman-Goldschmidt, Seite 62
20 Ebenda, Seite 63
21 In Klammern die Daten nach dem bis zum 1. Februar 1918 in Russland gültigen Julianischen Kalender. Die Differenz beträgt im 20. Jahrhundert 13 Tage.
22 Der größte einzelne schwedische Einsatz fand im Reservekrankenhaus Nr. 15 in Wien statt, wo zwischen 1915 und 1917 109 Ärzte, Krankenschwestern und Heilgymnastiker 9.000 Verwundete pflegten.
23 Elsa Brändström: Unter Kriegsgefangenen in Russland und Sibirien 1914 - 1920, Leipzig 1927, Seite 20
24 Ebenda, Seite 21 f
25 Ebenda, Seite 22
26 Elsa Björkman-Goldschmidt, Seite 80
27 Elsa Brändström, Seite 23
28 Ebenda, Seite 24
29 Ebenda, Seite 27
30 Ebenda, Seite 29
31 Ebenda, Seite 30
32 Ab Sommer 1916 wurde das Lager Koschuchowo zum Sammelpunkt.
33 Elsa Brändström, Seite 9
Die antideutsche Propaganda führte am 4. August 1914 zu der Zerstörung der deutschen Botschaft in St. Petersburg und vom 26. bis 29. Mai 1915 zum systematischen Deutschen-Pogrom in Moskau. Es war verboten, in der Öffentlichkeit Deutsch zu sprechen.
34 Alon (Iris) Rachamimov: POWs and the Great War. Oxford 2002, Seite 170
Hoch motiviert wollten die beiden Frauen nun auch als Rotkreuzdelegierte die Begleitung des ersten Zuges nach Sibirien übernehmen. General Brändström wurde bestürmt, seiner Tochter die lebensgefährliche Fahrt nicht zu erlauben. „Ich hätte ja auch nicht meine Söhne an einem solchen Schritt hindern können, wenn sie sich dazu berufen gefühlt hätten. (...) Wie sollte ich da meine Tochter daran hindern können. (…) Niemand sollte einen Menschen daran hindern, das zu tun, was er als seine Aufgabe empfindet,“35 soll seine Antwort gewesen sein. Seine 27-jährige Tochter war sich der Gefahren durchaus bewusst und hinterlegte vor der Abreise einen Brief mit Trauerrand an ihren 'Papa': „Aufzumachen nach meinem Tode.“36
Sinngemäß übersetzt schrieb sie: „Du Lieber, wenn ich nicht mehr zu Dir zurückkehren sollte, so ist das Gottes Wille. Ich lege mein Schicksal in Gottes Hand. Danke für alles, für Deine unendliche Zuneigung und mein glückliches Leben. Du (und die Brüder) seid mein alles. Ich glaube fest, dass es mir gelingt, und wenn nicht, dann gehe ich zu der gestorbenen Mutter und warte auf Euch drei. Und wir gehen dann unsichtbar an Eurer Seite und Ihr müsst unsere Nähe spüren.
Danke für das Leben, das Du und Poll mir gaben. Gott schütze Dich. Ganz Deine Blume.“ („Din egen egen Blom“)
Dieser vor- und fürsorgliche Abschiedsbrief zeigt ihre enge Verbundenheit mit den Eltern und die besonders tiefe Zuneigung zum Vater. Er kann auch als Beleg für den tiefen christlichen Glauben der Familie angesehen werden.
Am 22. Oktober startete der erste Hilfstransport des SRK zu der dreiwöchigen Fahrt in die ostsibirische General-Gouverneursstadt Irkutsk. Neben den beiden Krankenschwestern Elsa und Ethel, die zugleich dem Diplomatischen Korps in Petrograd angehörten, begleiteten mit dem Delegationsleiter Graf Gerhard Stenbock, dem Pastor Wilhelm Sarwe, dem Ingenieur Karl Rasch und Erik Zetterlöf vier weitere Schweden den ersten SRK-Zug.
Immer wieder sollten unterwegs Waggons abgehängt werden, weil sie angeblich 'warmliefen' oder aus sonstigen Gründen nicht mehr fahrfähig wären. Die Delegierten lernten, energisch darauf zu bestehen, dass die 'kranken' Wagen wieder als 'gesund' erklärt wurden.
Unterwegs hielt der Hilfszug auch bei dem zeitweise zweitgrößten Gefangenenlager in Krasnojarsk am Jenissei. In der halbfertigen Kaserne waren auch etwa 700 der 11.000 im Herbst 1914 von der fliehenden russischen Armee aus Ostpreußen verschleppte Zivilgefangene untergebracht. Zu dieser Gruppe von 'Kriegsgefangenen ohne militärischen Rang', so die offizielle russische Bezeichnung, gehörte auch Elisabeth, die 1904 geborene Tochter des Dorfschullehrers Sczuka aus Popowen im Kreis Lyck. Sie berichtete in ihrem erhaltenen kindlichen Tagebuch über den Besuch der beiden Schwedinnen. Am Sonntag, dem 28. November 1915, fand in der deutschen Mannschaftskaserne ein Gottesdienst von Pfarrer Beyer statt, an dem auch die beiden Gäste und ihr Vater teilnahmen. „Die hohe schwedische Dame (man sagt, es ist die Gemahlin des schwedischen Gesandten in St. Petersburg) führte wiederholt das Taschentuch zu den Augen. Herr Beyer (…) bedankte sich bei der schwedischen Kommission, besonders den beiden Damen, die er mit gütigen Engeln verglich, daß sie sich der Mühe unterzogen, so weit zu reisen, um unsere Not zu lindern.“37
Ein Brief von Elsa Brändström, den sie am nächsten Tag aus Krasnojarsk an ihren Vater schrieb, blieb erhalten. Darin gab sie ihre ersten Eindrücke vom Besuch der Kriegsgefangenenlager wieder: „Vielgeliebter Vater! Laß mich erst einmal sagen, wie sehr ich Dich vermisse. Für mich ist es wichtig, daß Du mich verstehst. Denn ich kann nicht daran denken, zu Dir zu fahren, solange ich den Menschen hier eine Freude machen kann. Du weißt, daß wir hierherkamen und Elend und Not uns erwarteten. Aber die Wirklichkeit ist noch viel schlimmer. Ohne zu übertreiben glaube ich, daß Ethel und ich die einzigen Freiwilligen sind, die den Gefangenen mehr geben als Kleidung. Ich glaube, daß wir beide die Menschen in dieser Situation besser verstehen - vielleicht, weil wir Frauen sind.“38
Elsa Brändström folgte dem Leitspruch ihres Vaters: 'Il faut payer de sa personne.' Man muss mit seiner Person bezahlen, um für das einzutreten, was man als richtig und notwendig erkannt hat.
Die sieben Jahre ältere Ethel von Heidenstam wurde ihr zum Vorbild. Sie sprach fließend Russisch, war mit der russischen Mentalität vertraut und zeigte großes Geschick bei Verhandlungen. Alleine hätte Elsa Brändström einen schweren Stand gehabt, auch wenn sie sich als Tochter des schwedischen Gesandten in einer privilegierten Position befand. So übernahm sie anfangs die 'leichtere' Aufgabe, das Besuchen der Gefangenen. Ihr erste echte Bewährungsprobe stand ihr noch bevor: das Lager Sretensk.39