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Tritt ein in eine mystische Welt voller Geheimnisse und Magie
Der fantastische Auftakt der Reihe Geheimnis der Götter
Vier Götter. Vier Elemente. Zwei verfeindete Völker und ein endloser Krieg um ihr Land.
Mittendrin erwacht die einundzwanzigjährige Nym, die weder ihren richtigen Namen noch den Dolch in ihrer Hand kennt. Sie weiß nicht, wo sie herkommt. Sie hat keine Ahnung, auf wessen Seite sie steht. Sie erinnert sich an nichts mehr aus ihrem Leben – aber an zu viel aus dem Leben anderer.
Ein junger Offizier findet sie und obwohl sie sicher ist, ihm nie begegnet zu sein, weiß sie alles über ihn: Dass er Levi heißt, dass er das Element der Luft beherrscht, dass seine Schwester eine Wahrheitsleserin ist und sogar, dass sie die Götter stürzen wollen.
Doch sind sie Freund oder Feind? Wollen sie ihr helfen oder schaden? Wenn Nym herausfinden möchte, wer sie ist, bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihnen zu vertrauen. Sie wünschte nur, Levi würde aufhören, sie so auf die Palme zu bringen ...
Dies ist eine Neuausgabe des Romans Funke des Erwachens.
Erste Leserstimmen
„Witzige Dialoge und sympathische, lebendige Figuren – wie von Saskia Louis gewohnt!“
„Ein toller Auftakt zur Fantasy-Reihe mit einer interessanten Welt, Abenteuer, Magie und natürlich Liebe.“
„Die Geschichte ist von Anfang an spannend und man kann gar nicht anders als mit Nym mitzufiebern.“
„Romantasy mit Action, Humor und Spannung.“
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Seitenzahl: 461
Vier Götter. Vier Elemente. Zwei verfeindete Völker und ein endloser Krieg um ihr Land. Mittendrin erwacht die einundzwanzigjährige Nym, die weder ihren richtigen Namen noch den Dolch in ihrer Hand kennt. Sie weiß nicht, wo sie herkommt. Sie hat keine Ahnung, auf wessen Seite sie steht. Sie erinnert sich an nichts mehr aus ihrem Leben – aber an zu viel aus dem Leben anderer. Ein junger Offizier findet sie und obwohl sie sicher ist, ihm nie begegnet zu sein, weiß sie alles über ihn: Dass er Levi heißt, dass er das Element der Luft beherrscht, dass seine Schwester eine Wahrheitsleserin ist und sogar, dass sie die Götter stürzen wollen. Doch sind sie Freund oder Feind? Wollen sie ihr helfen oder schaden? Wenn Nym herausfinden möchte, wer sie ist, bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihnen zu vertrauen. Sie wünschte nur, Levi würde aufhören, sie so auf die Palme zu bringen ...
Dies ist eine Neuausgabe des Romans Funke des Erwachens.
Überarbeitete Neuausgabe April 2021
Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-596-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-597-3 Hörbuch-ISBN: 978-8-72690-283-9
Copyright © 2017, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2017 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Funke des Erwachens. (ISBN: 978-3-96087-281-8).
Covergestaltung: Vivien Summer unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com: © Aleshyn_Andrei © Michael Benjamin © d1sk © Phatthanit Lektorat: Janina Klinck
E-Book-Version 08.12.2023, 10:39:58.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Für Marie, meine allererste Leserin
Copyright © Antonia Sanker
Die Götter sind das Gesetz. Thaka waltet Gerechtigkeit. Valera ist die Stimme der Vernunft. Tergon steht für den Willen der Vergebung. Api dürstet nach Vergeltung. Auf dass das Gleichgewicht gehalten werden möge.
Der Tag, an dem ihr Herz stillstand, war ein warmer Tag.
Die Sonne schien. Die Strahlen spiegelten sich auf der Strömung des Appo, dem Fluss, der das Land der Bistaye und das Land der Asavez voneinander trennte. Es war windstill, und als sie auf das Gewässer hinunterblickte, konnte sie in der Ferne die Jeferabrücke sehen – die einzige Möglichkeit, den Fluss zu überqueren.
Sie hielt ihre Hände in den Taschen. Irgendetwas verhakte sich darin, als sie versuchte, sie herauszuziehen.
Sie war ungeduldig. Sie wartete auf jemanden, doch dieser Jemand verspätete sich. Das war untypisch. Jede Sekunde zählte, das wussten hier alle.
Sie sah das Ufer hinauf und wieder hinab. Die Unruhe verdrängte das Gefühl der Glückseligkeit, das sie in den letzten Tagen erfüllt hatte.
Das Gespräch von gerade stahl sich in ihre Gedanken und ihr Kiefer verhärtete sich.
Wo war er?
Die Welt der Bistaye und die Welt der Asavez, dem gottlosen Volk, müssen strikt voneinander getrennt werden. Wird ein Asavez ohne Genehmigung auf der bistayischen Seite des Appo aufgegriffen, ist dieser unverzüglich zu exekutieren. Jeder, der sich dieser Aufgabe verweigert, wird des Volksverrats schuldig gesprochen und ebenfalls exekutiert.
Sie schmeckte Staub. Sand vermischt mit Dreck, der ihre Lunge füllte. Sie wollte husten, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Die Luft fand weder einen Weg hinein noch hinaus. Etwas presste sich auf ihre Lippen. Es fühlte sich warm auf ihrer kalten Haut an. Sauerstoff wurde in ihre brennenden Lungenflügel gepresst, die sich immer wieder verkrampften und entspannten.
Einmal. Zweimal. Dreimal …
Sie riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Sie blickte direkt auf eine Faust, die drohte, auf ihre Brust niederzufahren, und noch bevor sie ihren ersten richtigen Atemzug nehmen konnte, schnellte ihre Hand in den Himmel und fischte sie gewaltsam aus der Luft. Sie hatte sie treffen wollen, oder nicht?
Sie hörte, wie jemand einen schockierten Kieks-Laut von sich gab, und im nächsten Moment saß sie in der Senkrechten und hielt auch die andere Faust des vermeintlichen Angreifers in ihrem eisernen Griff, ihre Beine um seine geschlungen. Den Gegner unschädlich machen und dann entscheiden, was zu tun war. So hatte sie es gelernt.
Nur … es waren kleine Hände. Schmale Beine.
Die Konturen, die sie durch ihre brennenden Augen sehen konnte, wurden nun schärfer, und das Erste, was sie erkannte, waren geweitete Pupillen, die von einer hellgrünen Iris umgeben waren. Sie saßen in einem herzförmigen, glatten Gesicht.
Es war ein Mädchen. Der Angreifer war ein Mädchen, das kaum zwölf sein konnte und dessen dunkelblondes Haar zu einem schiefen Zopf gebunden war.
„Tut mir leid, ich … was ist passiert?“
Abrupt ließ sie die Hände des Mädchens los und zog ihre Beine zurück. Sie fielen gegen etwas Hartes. Als sie nach unten blickte, bemerkte sie, dass sie auf einem großen, flachen Stein saß, durch den sich Risse der Verwitterung zogen.
Das Mädchen machte eine Grimasse und rieb sich seine Handgelenke.
„Du warst tot“, bemerkte es sachlich, und die Art und Weise, wie es dabei ernst ihr Kinn auf die Brust drückte, hatte etwas sehr Komisches und gleichzeitig Vertrautes an sich.
„Ich war … tot?“ Die Worte hörten sich fremd aus ihrem eigenen Mund an und jetzt hob sie den Blick. Sie saß auf einer Lichtung und musste die Augen gegen die hellen Strahlen der Sonne zusammenpressen, um etwas erkennen zu können. Sie konnte Vögel singen hören und in ihrem Rücken hob sich das Kreisgebirge vom Himmel ab. Kein Baumwipfel konnte die Steinmassen verbergen.
Sie wusste, wo sie war. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie den Appo rauschen hören, und der Stein, auf dem sie saß, war der Alte Altar der Asavez. Hier waren bis vor eintausend Jahren noch Ernteerträge für die vier Götter gesammelt worden. Doch das war bevor die Asavez den Göttern den Rücken gekehrt hatten und zum ‚gottlosen Volk‘ geworden waren.
Ja, sie kannte sogar die genauen Koordinaten des Ortes, an dem sie sich befand. Aber … sonst war da nichts. Ihr Kopf war leer.
„Du warst so richtig tot“, sagte das junge Mädchen und stemmte seine Arme in die Seiten. „Ich glaube, ich hab dir das Leben gerettet.“
Sie hörte der Kleinen nur mit halbem Ohr zu. Ihre Lungen brannten immer noch bei jedem Zug und sie fühlte sich, als hätte jemand seine Fingernägel in ihr Herz und ihr Hirn gegraben. Ihr Kopf war so schwer, dass sie fürchtete, er würde gleich nach hinten sacken und ihr vom Rumpf fallen.
„Was ist passiert?“, flüsterte sie, mehr zu sich selbst als zu irgendwem, und ihre Fingernägel krallten sich in den kalten Stein.
Das junge Mädchen war aufgestanden. Es trug ein schlichtes grünes Kleid, das ihm locker um den Brustkorb fiel und bis zu seinen Knöcheln reichte. Ein kleiner, lederner Rucksack lag zu seiner Seite. Es legte den Kopf schief und seine Haare streiften den weißen Kragen seines Kleides. „Du bist beinahe gestorben“, wiederholte es. „Habe ich doch gesagt.“
„Aber … wieso?“ Ihr Blick huschte von der einen Seite der Lichtung zur anderen. Die Grashalme gingen dem jungen Mädchen bis über die Knöchel und waren an einigen Stellen braun und abgetreten, als würden sich hier öfter Leute hin verirren. Die Blumen blühten nicht mehr. Dafür war es schon zu spät in diesem Jahr. Sie suchte nach etwas. Nur nach was? Vielleicht nach Anzeichen von anderen Menschen? Feinden? Freunden? War sie alleine gewesen? Sie wusste es nicht mehr.
Das Mädchen zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Aber ich finde, du könntest danke sagen. Mein Bruder sagt immer, dass man mit Leuten, die nicht danke sagen, am besten nichts zu tun haben sollte.“
Obwohl ihr jede Bewegung Schmerzen bereitete, musste sie lächeln. „Danke. Tut mir leid. Ich bin nur …“ Doch sie wusste nicht, was sie nur war. Sie betastete ihre Arme und Rippen, um zu sehen, ob sie sich etwas gebrochen hatte, und besah sich ihre Kleidung. Sie trug ein weißes Leinenhemd mit einer Knopfreihe, die bis zu ihrem Bauchnabel reichte, und darunter eine rote, dreckverschmierte Stoffhose, die eng an ihren Beinen anlag.
Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, sie angezogen zu haben. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie so eine Hose überhaupt besaß. Sie wusste nicht einmal, wie ihr Schrank aussah.
„Liri!“
Eine Stimme hallte durch den Wald, und sie hatte einen gezackten Dolch von ihrem Gürtel gezogen, bevor ihr bewusst wurde, was sie da eigentlich tat.
„Aliri Voros, das kann unmöglich dein Ernst sein! Wo bist du?“
Das Mädchen sah stirnrunzelnd auf den Dolch und wandte sich dann in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. „Ich bin hier“, rief sie.
„,Hier‘ ist keine anerkannte Ortsangabe!“
Das blonde Mädchen kicherte und sah sein Gegenüber lächelnd an. „Das ist mein Bruder. Ich glaube nicht, dass du ihn umbringen musst.“
Ihre Hand umklammerte den Dolch fester. Das wollte sie lieber selbst entscheiden.
***
Levis Herzschlag beruhigte sich, als er Liris Stimme hörte, dennoch beschleunigte er seinen Schritt. Bei den verdammten Göttern, er hätte schon vor Jahren eine Leine für sie besorgen sollen – ihm doch egal, ob das keine menschliche Art und Weise war, mit seiner Schwester umzugehen.
Aliri war wie ein Ball aus Gummi. Schon immer gewesen. Sie hüpfte in der Gegend herum und ehe man sich’s versah, steckte sie in irgendeinem Gebüsch fest oder war im Wasser verloren gegangen.
„Ich werde noch mal ein ernstes Gespräch mit ihr darüber führen müssen, was es bedeutet, einer Anweisung zu folgen! Wenn ich ihr sage, sie solle bleiben, wo sie ist, bedeutet das nicht, dass sie losrennen und sich verstecken soll! Wir müssen doch wohl die Möglichkeit haben, kurz pinkeln zu gehen, ohne dass wir sie danach jedes Mal suchen müssen“, knirschte er und schlug einen Ast aus dem Weg. Seine Füße sanken in die feuchte Erde unter ihm und er zog sie mit einem Schmatzgeräusch wieder heraus.
„Levi, du musst dich beruhigen.“ Ro, der keine zwei Schritte hinter ihm war, legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Sie ist zwölf. Natürlich bleibt sie nicht dort, wo wir sie gelassen haben. Ich bin überrascht, dass du überrascht bist!“
„Weißt du, Ro, wenn ich deine Meinung hören wollte, dann hätte ich dich danach gefragt.“
„Ah, du willst immer meine Meinung hören! Du bist nur zu schüchtern, um mich darum zu bitten“, grinste sein bester Freund.
Levi schnaubte. Er und Ro waren seit über elf Jahren befreundet. Es war Ro gewesen, der ihn und Aliri gefunden und mitgenommen hatte. Er war es auch gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass er und seine Schwester ein Zimmer in Oyitis, Asavezʼ Hauptstadt, bekamen. Levi war damals zwölf gewesen, Liri gerade mal ein paar Monate alt, und er wusste sehr wohl, dass Ro, der kein Jahr älter war als er, ihm damals das Leben gerettet hatte.
Doch all das änderte nichts daran, dass Levis Faust sich ab und an nur zu gerne in Ros Kiefer verirrt hätte. Er war einfach der größte Dummschwätzer in ganz Asavez.
„Wir hätten sie nicht mitnehmen sollen“, murmelte er und schlug sich weiter durch das dichte Geäst der Bäume, die sie um einige Meter überragten. Ab und zu konnte er durch das spärlicher werdende Blätterdach die Spitzen der Kreisberge in der Ferne erkennen. Es war später Sommer und die Blätter hatten angefangen, sich orange zu verfärben. Das hier war der einzige Laubwald, der in Asavez existierte. Weiter den Fluss hinab gab es noch einige Nadelwälder, und Levi hatte gehört, dass es hinter den Kreisbergen auch Tropenwälder geben sollte. Allerdings wusste er nicht, ob das stimmte. Niemand ging in die Kreisberge, geschweige denn dahinter.
„Sei nicht albern. Hier draußen ist es kaum gefährlich. Wir sind nicht auf einem Schlachtzug, Levi! Wenn du so willst, sind wir Postboten! Was soll Liri schon passieren?“
Sie waren keine einfachen Postboten. Sie sollten Briefe der Allianzen abholen, und diese Briefe hätte jeder Bistaye nur allzu gerne in seinem Besitz! Levi bückte sich unter einem tiefhängenden Ast hinweg und sein Blick glitt dabei über seine Schultern und über den schweren Rucksack auf seinem Rücken zu seinem Freund. „Sie könnte von einem Feuerluchs gefressen werden.“
Ro lachte laut auf. „Es gibt keine Feuerluchse mehr! Die sind vor Jahrhunderten ausgestorben.“
„Sie könnte von einem Adler in sein Nest verschleppt werden.“
„Levi, du hast Wahnvorstellungen. Es gibt nichts Gefährliches hier draußen.“
„Sag mal, hast du in den letzten zehn Jahren überhaupt nicht aufgepasst? Liri schafft es auch, sich während eines Picknicks in Gefahr zu bringen.“
Ro verdrehte die Augen. „Die Gabel hat sie kaum verletzt.“
„Sie hat in ihrem Fuß gesteckt!“
Ro machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist ewig her.“
Es war letztes Jahr gewesen.
„Sie ist reifer geworden.“
Mhm. Reife war genau das, was eine Zwölfjährige ausstrahlte.
„Liri“, schrie Levi erneut und er konnte sie in der Ferne kichern hören. „Wir warten immer noch auf eine Ortsangabe!“
„Beim Alten Altar!“, flötete sie fröhlich zurück. „Ich habe gerade jemandem das Leben gerettet! Jemandem, der fast tot war!“
Levi runzelte die Stirn und er und Ro tauschten einen Blick.
Sie hatte jemandem das Leben gerettet?
Bei den verdammten Göttern, bitte lass es ein Singvogel sein!
Levis Schritte wurden hastiger und Ro war ihm dicht auf den Fersen, als er die letzten paar Meter durch den Wald zurücklegte und auf die Lichtung brach, die ohnehin ihr Ziel gewesen war.
Es war kein Vogel.
Neben Liri stand ein Mädchen. Nein. Eine junge Frau. Levi hätte sie auf Anfang zwanzig geschätzt, konnte es aber schlecht sagen. Sie sahen alle irgendwie ähnlich aus in dem Alter.
Sie war hochgewachsen und jeder Zentimeter ihres Körpers zeugte davon, dass sie eine Kämpferin war. Die rote Hose, die sie trug, war mit Erde beschmiert, als wäre sie über den Waldboden geschleift worden, doch das weiße Hemd war fast völlig unbefleckt. Sie hatte langes, schwarzes Haar, das ihr in Wellen über die Schultern fiel und in dem mehrere Blätter und Äste steckten. Ihre dunkelblauen Augen waren wachsam und ihre Haltung mehr als nur angespannt.
Sie blickte von ihm zu Ro und wieder zurück, und Levi war überrascht, dass sie in keinster Weise ängstlich wirkte. Verwirrt, konfus, aber nicht ängstlich. Vielleicht wegen des Dolches in ihrer Hand, den sie mit der Selbstverständlichkeit einer Frau hielt, die eine solche Waffe nicht das erste Mal zog. Er war auf ihn und Ro gerichtet. Nicht auf seine Schwester.
Das war beruhigend, wenn auch nicht optimal. Aber sie sah nicht aus, als würde sie gleich auf sie losgehen. Eher, als wäre der Dolch eine Vorsichtsmaßnahme. Das konnte Levi durchaus nachvollziehen. Vorsicht war etwas, das man in diesen Zeiten nicht genug haben konnte.
„Liri …“, murmelte er und schüttelte leicht den Kopf, zu keinem Zeitpunkt das Mädchen aus den Augen verlierend. Er hatte früh gelernt, dass man sich nie auf das zahme Aussehen seiner Gegner verlassen konnte. „Wen hast du denn da von den Toten erweckt?“
Seine Schwester hatte ihre Arme hinter dem Rücken verschränkt und wippte auf ihren Fußballen vor und zurück. So als wüsste sie, dass sie womöglich unüberlegt gehandelt hatte. „Ich weiß es nicht. Ich bin vorgelaufen und dann lag sie auf dem steinernen Altar und hat nicht geatmet – da habe ich sie wiederbelebt.“
Das hatte er also davon, dass er ihr beigebracht hatte, wie man einem Menschen das Herz massierte!
„Da hast du sie wiederbelebt …“, wiederholte er langsam ihre Worte, seine Arme vor dem Körper verschränkt. Die Schwarzhaarige sah vollkommen gesund aus. Nichts deutete darauf hin, dass sie vor ein paar Minuten einen Herzstillstand gehabt haben mochte.
„Hätte ich sie etwa sterben lassen sollen?“ Liri sah trotzig zu ihm auf. Als wären seine Worte ein Vorwurf gewesen.
„Natürlich nicht. Du hast alles richtig gemacht, Liri“, bemerkte Ro, der ebenfalls neugierig die Schwarzhaarige betrachtete und seinen Rucksack vom Rücken hatte gleiten lassen. Der Dolch in ihrer Hand schien ihn überhaupt nicht zu beunruhigen. Aber wieso auch? „Sie hat Hilfe gebraucht, du hast ihr geholfen. Levi hat dich gut erzogen.“
Mhm. Er hatte sie super erzogen. Liri war die gutgläubigste Person, die es gab. Aber warum sollte sie auch Schlechtes erwarten, wo sie doch wusste, wann jemand log.
Levis Blick wanderte von dem Hals des Mädchens, an dem deutlich eine Ader pochte, über ihre Brust, die sich kontrolliert hob und senkte, hinab zu ihrer Hand. Ihre Fingerknöchel hoben sich weiß vom Dolch ab.
„Hast du vor, uns damit anzugreifen?“, fragte er beiläufig und ließ die Fingerkuppen auf seinen Unterarm prasseln.
Der Blick des Mädchens traf seinen. Sie war vollkommen ruhig. „Ich hab mich noch nicht entschieden.“
Das war ihm nicht gut genug. „Lass mich dir die Entscheidung abnehmen.“ Er nahm eine Hand von seinem Arm und hob zwei Finger.
Er spürte das vertraute Gefühl der Leichtigkeit, das ihn durchfloss. Sein Blut, das plötzlich in die Gegenrichtung zu zirkulieren schien, und sein Kopf, der angenehm leer wurde. Er fühlte die kühle Luft um sich herum. Seine Freiheit.
Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er sehen, wie das Mädchen verwirrt die Stirn runzelte, als dachte es, dass er sie heranwinken wolle. Dann erfassten ihre Haare eine Windböe und im nächsten Moment strauchelte sie nach vorne. Er ließ den Wind nach ihrer Faust greifen und winkte ihn erneut zu sich heran.
Der Dolch wurde aus ihrer Hand gerissen, genau in dem Moment, als Levi seine ausstreckte. Das Messer drehte sich mehrmals um die eigene Achse und landete schließlich mit dem Schaft voran zwischen seinen Fingern. Es hatte einen schlichten Holzgriff und die Klinge war schon etwas angelaufen. Die Waffe hatte bessere Tage gesehen.
Liri, die für seinen Geschmack immer noch viel zu nah an der Schwarzhaarigen stand, seufzte laut. „Du machst ihr Angst, Levi! Sie ist gerade fast gestorben! Ist das nicht traumatisch genug?“
„Sie sieht nicht aus, als hätte sie Angst“, stellte Levi fest, nachdem er den Dolch an seinem Gürtel neben seinen eigenen Messern befestigt hatte.
Sie sah weder verängstigt noch wütend noch vorsichtig aus. Und das war es, was ihn beunruhigte. Mit Furcht und Angst konnte er umgehen. Mit Geduld und Kontrolle verhielt sich das anders. Denn sie zeugten von einem kämpferischen Selbstbewusstsein, das er bei seinen Feinden lieber nicht sah.
Er bildete sich meistens nichts auf seine Kraft ein.
Okay, nein, das stimmte nicht.
Er bildete sich sehr häufig etwas darauf ein. Er war einer der letzten existierenden Ikano – in Asavez und Bistaye zusammen konnte es nur noch etwa fünfzig, vielleicht sechzig von ihnen geben – und das beeindruckte und verängstigte diejenigen, die er traf, zu gleichen Teilen. Jeder kam ihm mit Ehrfurcht und Respekt entgegen – und das genoss er. Wenn auch vor allem deswegen, weil es seine Aufgaben so viel leichter machte.
Dieses Mädchen jedoch schien vollkommen unbeeindruckt. Sie war groß gewachsen und – keine Frage – durchtrainiert, aber dennoch überragte er sie um mindestens einen halben Kopf. Auch Ro hätte sie sicherlich alleine überwältigen können. Ganz abgesehen davon, dass auch er ein Ikano war.
Warum war sie so ruhig und gelassen, als wisse sie, dass von ihnen beiden keine Gefahr ausginge? Wenn er gerade beinahe gestorben wäre und ihm im nächsten Moment jemand mit der Hilfe des Windes den Dolch aus der Hand gezerrt hätte, dann hätte ihn das durchaus beunruhigt.
„Willst du uns vielleicht sagen, wer du bist?“, fragte Ro, der immer noch neben ihm stand und nicht minder fasziniert von dem Mädchen schien.
Die Schwarzhaarige ließ sich langsam gegen den steinernen Altar sinken, die Hand, in der der Dolch gelegen hatte, zu ihrem Mund führend, als müsse sie angestrengt über diese Frage nachdenken. Ihr Blick war auf den Waldboden gerichtet und sie sagte nichts.
Levi seufzte und machte ein paar Schritte weiter auf die Lichtung hinaus. Er hatte das Gefühl, dass dieses Mädchen die Situation nicht einfacher machen würde. Er berührte seine Schwester kurz an der Schulter – vielleicht um sicherzugehen, dass wirklich alles in Ordnung mit ihr war – und blieb dann keine zwei Meter von dem Mädchen entfernt stehen. Sie blinzelte mehrmals und wenn Levi sich nicht irrte, dann war es jetzt doch Angst, die er in ihren Zügen erkannte. „Okay, vielleicht sollte ich einfach damit anfangen, wer ich bin. Ich bin Levi …“
„Ich kenne dich“, unterbrach sie ihn, blickte auf und ließ ihre Hand sinken. „Du bist Levi Voros. Du bist ein Ikano der Luft. Du bist zweiter Offizier der Asavezischen Garde, obwohl du selbst Flüchtiger aus den bistayischen Mauern warst. Du hast über einhundert Bistaye getötet und über einhundert andere gerettet. Du bist arrogant, hältst dich für überlegen, schläfst mit mehr Frauen, als deine Gehirnzellen verkraften können, und denkst, dass deine Worte Gesetz sind … und ich glaube, ich mag dich nicht.“
Amüsiert hob Levi einen Mundwinkel. Was sagte man dazu? „Wirklich? Du magst mich nicht? Wäre bei deiner Beschreibung jetzt fast gar nicht rübergekommen.“
Ro grinste breit und klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Ich finde sie sympathisch. Treffsichere Charakterbeschreibungen hat sie auf jeden Fall drauf.“
Liri kicherte und grinste ebenfalls zu Levi hoch, der angestrengt versuchte, sich daran zu erinnern, ob und wenn ja woher er dieses Mädchen kannte. Andererseits kannten sie sich vielleicht gar nicht. Sein Ruf eilte ihm voraus. Und bis auf die Sache mit den Frauen – er schlief wirklich nicht mit so unglaublich vielen; es kam schlichtweg darauf an, wie man die Maßstäbe setzte – wusste sie ziemlich gut Bescheid.
Dennoch fragte er: „Sind wir uns schon einmal begegnet?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht.“
„Sicher?“, fragte Ro beiläufig. „Vielleicht hast du ja auch schon mit ihm geschlafen.“
Das Mädchen schnaubte verächtlich. „Das bezweifle ich stark.“
„Ich auch“, bemerkte Levi. Ein diebisches Lächeln stahl sich auf seine Züge. „Wenn du mit mir geschlafen hättest, würdest du dich daran erinnern.“
„Hallo! Ekelig!“
Sie ignorierten Liri und Ro streckte dem Mädchen seine Hand entgegen. „Hey, ich bin Rojan und ich verzichte auf eine Charakterbeschreibung von mir, falls du eine parat hast.“
Etwas unschlüssig besah sich die Schwarzhaarige die Hand, doch schließlich schüttelte sie sie. „Hallo.“
Mehr sagte sie nicht.
Okay, so langsam verlor Levi die Geduld. „So, da du jetzt weißt, wer wir sind – wie wäre es mit einem Namen von dir? Das wäre doch ein guter Anfang.“
„Ich …“ Das Mädchen runzelte die Stirn und fuhr mit ihrem Finger darüber, bevor Levi sie schlucken sah.
„Es ist nur ein Name!“
„Ja, nur … ich weiß ihn nicht.“
Ein Ikano – ein Mensch, der die Kraft der Luft, des Wassers, der Erde oder des Feuers besitzt – hat sich bei dem Herrn seiner Mauer zu registrieren und der göttlichen Garde beizutreten. Ihm wird eine besondere Stellung innerhalb der Familie und der Gesellschaft eingeräumt. Nachdem er der Garde für fünf Jahre gedient hat, steht es ihm frei, eine andere Beschäftigung zu wählen. Ikano auf Seiten der Asavez stellen eine Bedrohung dar. Auf jeden Kopf ist eine Belohnung in Höhe von 2000 Nomis ausgesetzt.
Sie hatte keine Angst verspürt, als sie die beiden jungen Männer aus dem Wald spazieren sah. Warum, wusste sie nicht. Ihr war nur eines klar gewesen: Sie waren keine Gefahr für sie.
Sie wusste, wer Levi war. Sie wusste, wer Rojan war. Sie wusste sogar, dass Aliri, das Mädchen, das offenbar ihr Leben gerettet hatte, nicht irgendein normales Mädchen war.
Sie wusste, wo sie war, und hundert Möglichkeiten taten sich in ihrem Kopf auf, wie sie aus dem Wald heraus zum Appo finden würde. Sie wusste, dass der Dolch, den Levi ihr abgenommen hatte, wertlos war, und dass es nicht der Dolch war, mit dem sie es sonst vorzog, zu kämpfen. Sie konnte bis auf den Quadratzentimeter genau sagen, wie groß der asavezische Laubwald war.
Ihr Kopf war mit lauter Informationen gefüllt.
Aber die wichtigsten suchte sie vergebens.
Sie wusste nicht, wie sie hieß. Sie wusste nicht, wer sie war und was sie normalerweise tat. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie hierhergekommen war und warum sie beinahe gestorben war. Sie wusste, was sie in einem Spiegel sehen würde, doch sie wusste nicht, wer ihre Eltern waren. Der einzige Erinnerungsfetzen war, dass sie am Appo gestanden und auf den Fluss hinausgeblickt hatte. Und danach oder davor? Nichts. Nur ein blankes, leeres Nichts.
Und das jagte ihr mehr Angst ein, als es jeder Soldat der Asavezischen Garde gekonnt hätte.
„Du weißt deinen Namen nicht?“ Liri machte große, dramatische Augen. „Aber … warum?“
„Das weiß ich nicht!“, antwortete sie gereizt. Sie hatte das vage Gefühl, dass sie diese Worte nicht oft in den Mund nahm, und das machte sie umso wütender. „Ich habe keine Ahnung, wer ich bin und was ich hier tue!“
Ro und Levi hatten die Arme verschränkt. „Also, ich weiß ja, dass ihr Frauen gerne mysteriös seid“, bemerkte Levi. „Aber vorzugeben, dass du nicht einmal deinen eigenen Namen kennst, geht etwas zu weit, findest du nicht?“
„Wenn ihr mir nicht glaubt, dann testet es doch selbst“, knirschte sie und streckte Liri auffordernd eine Hand entgegen.
Alle starrten sie mit offenen Mündern an.
Ungeduldig wedelte sie mit ihrer Hand vor Liris Gesicht herum. „Du bist doch eine Wahrheitsleserin, oder nicht?“
Das blonde Mädchen machte große Augen, und ihr Bruder sah nun mehr als gereizt aus. Er hatte die gleichen grünen Augen wie seine Schwester, dafür aber hellbraune anstatt dunkelblonde Haare, die ihm in die Stirn hingen. Er war Zweiter Offizier der Asavezischen Garde und das sah man ihm auch an. So, wie man auch auf den ersten Blick erkannte, dass Rojan ein Kämpfer war – auch ohne das Schwert, das an seinem ledernen Gürtel hing, hätte sie ihn als solchen erkannt. Seine Augen waren braun und seine kurzgeschorenen Haare glänzten rötlich. Er war ihr um einiges sympathischer als sein Freund, der sie nun feindlich betrachtete.
„Woher weißt du, dass Liri eine Wahrheitsleserin ist?“
Sie seufzte laut auf. „Ich weiß es einfach! Keine Ahnung, warum. Ich sehe euch an und weiß Dinge über euch, aber bei mir selbst … keine Ahnung!“
Plötzlich umfasste eine kalte Hand die ihre, die ungewöhnlich warm zu sein schien. „Okay. Sag das nochmal“, sagte Liri bestimmt.
Dankbar lächelte sie das junge Mädchen an. „Ich habe keine Ahnung, wer ich bin“, flüsterte sie. „Ich weiß nicht, wie ich heiße, wo ich herkomme und was passiert ist.“
Kurz kletterte Kälte ihren Arm hoch. Als würden die Finger einer Hand, die in Eiswasser gelegen hatte, ihren Arm hinauffahren. Dann war das Gefühl vorbei und Aliri nickte. Sie ließ die Hand los und wandte ihr Gesicht zu ihrem Bruder. „Es stimmt.“
Levi blinzelte. Einmal. Zweimal. Dann stöhnte er auf und legte sich eine Hand über die Augen. „Na klasse! Es war so klar. Natürlich kann es nicht ein einziges Mal einfach sein. Ich soll Post abholen und stattdessen gabeln wir ein identitätsloses Mädchen auf.“
„Ja, stimmt. Du bist derjenige, der leiden muss“, sagte sie trocken.
Sie konnte sehen, wie Ro sich nur mühsam ein Lächeln verkniff. „Es tut ihm leid. Er kann nicht anders. Er ist einfach manchmal ein Arsch.“
„Danke, Ro!“
„Gerne, Levi. Ich bin immer für dich da.“
„Schön“, sagte Levi und zog seine Hand von den Augen. „Aber es muss doch irgendetwas geben, das du weißt. Ich meine … du kannst doch nicht nur wissen, dass du mich nicht magst.“
„Ich …“ Ihr Herz flatterte, und verzweifelt versuchte sie, Erinnerungen einzufangen, die ziellos in ihrem Kopf hin und her flogen. Was wusste sie über sich selbst? „Ich … bin einundzwanzig. Einundzwanzig Jahre, drei Monate und elf Tage – und ich liebe Erdbeeren? Spargel mag ich überhaupt nicht. Der Appo ist an der breitesten Stelle 18,7523 Kilometer breit. Meine Lieblingsfarbe ist Violett.“
Ro lachte laut auf. „Hauptsache, das Wichtige weißt du noch. Beeindruckend, dass du auf den Tag genau weißt, wie alt du bist, aber nicht, wie du heißt.“
Total beeindruckend. Sie hätte sich einen Ast abfreuen können, wäre der Rest nicht so beschissen gewesen.
Levi schien überhaupt nicht zufrieden mit ihren Angaben. Da waren sie schon zu zweit. „Bist du eine Asavez?“
Sie starrte ihn an und kramte in ihrem Kopf nach weiteren Informationen, doch immer wieder schien sie gegen eine Wand zu stoßen. „Doch, ich glaube schon. Ich müsste eine Asavez sein …“
„Du müsstest eine sein?“
„Ich bin hier, oder nicht?“
„Du könntest auch eine Flüchtige aus den Mauern sein.“
Oh. Natürlich. Sie könnte aus den bistayischen Mauern geflüchtet sein. Viele Bistaye waren in den letzten Jahren von dort nach Asavez geflüchtet – aber ebenso viele waren bei ihrer Flucht der Göttlichen Garde zum Opfer gefallen.
Mhm. Aber nein. Nein. Sie hatte nicht das Gefühl, dass sie weggelaufen war. „Ich glaube nicht, dass ich eine Flüchtige bin.“
„Siehst du Levi, sie ist auf unserer Seite“, sagte Liri zufrieden, und bevor ihr Bruder auch nur blinzeln konnte, hatte sie den Dolch wieder aus seinem Gürtel gezogen und ihn in die Hand der Schwarzhaarigen gelegt.
„Liri!“
„Es ist ihrer! Sie sollte ihn haben. Damit sie sich sicherer fühlt.“
Genau das war der Punkt. Sie fühlte sich sicher. Auch ohne den Dolch hatte sie sich sicher gefühlt.
„Außerdem sollten wir ihr einen Namen geben“, fuhr sie fröhlich fort.
Liri sah die wildfremde junge Frau an, als wäre sie ein Hundebaby, das sie unbedingt adoptieren wollte. Ihr Bruder schien Ähnliches zu denken.
„Liri, sie ist kein Tier. Du kannst ihr nicht einfach irgendeinen Namen geben.“
Das Mädchen schob ihre Unterlippe vor und reckte ihr Kinn. „Ich gebe ihr nicht irgendeinen Namen. Ich gebe ihr einen total durchdachten: Nym.“ Sie blickte lächelnd zu ihr auf. „Weißt du, als Kurzform für Anonym.“
Nym?
Sie hieß nicht Nym. Aber Nym war besser, als nichts.
„… mir gefällt Nym“, setzte auch Ro hinzu. „Es ist zumindest einfacher, als sie für den Rest der Reise liebevoll ‚die Identitätslose‘ zu nennen – nichts für ungut, Levi!“
Sie zuckte die Schultern. Sie brauchte einen Namen, bis sie wieder wusste, welcher ihr eigener war. „Ist okay, wenn ihr mich Nym nennt.“
„Moment!“ Levi hob eine Hand. „Wir nehmen sie mit?“
Liri verdrehte die Augen, als würde ihr Bruder mal wieder überhaupt nichts verstehen. Nym – doch, sie mochte den Namen, er gab ihr zumindest etwas Halt – hätte es Liri gerne gleichgetan. Sie würde ganz sicher nicht einfach hierbleiben. Was dachte sich Levi nur?
„Wir können sie doch nicht einfach hier zurücklassen, Levi!“, bestätigte nun auch Ro ihre Gedanken. „Sie braucht ganz offensichtlich Hilfe.“
Hilfe. Das Wort gefiel ihr nicht. Das Wort kitzelte in ihrem Ohr und ihr Gehörgang schien es sofort wieder ausspucken zu wollen.
„Ich brauche nicht viel Hilfe“, sagte sie deswegen langsam. „Ich weiß ja nicht, wo ihr hinwollt, aber gibt es in Oyitis nicht das Vermisstenregister?“ Irgendwer musste bemerkt haben, dass sie fehlte. Irgendwer, der ihr sagen konnte, wer sie war.
Der Braunhaarige hatte die Lippen aufeinandergepresst und starrte sie regungslos an.
Er traute ihr nicht. Das konnte Nym sehen. Aber das störte sie nicht weiter. Sie traute auch niemandem.
Liri war zu ihrem Bruder gegangen und hatte seine Hand genommen. Sie wirkte merkwürdig klein neben Levi. „Bitte! Wir wollen doch sowieso nach Oyitis zurück. Dahin können wir sie mitnehmen, und vielleicht kann ein Arzt ihr ja wieder ihre Erinnerung zurückgeben.“
Levi wirkte unschlüssig, und Nym war es schleierhaft, wie er sich immer noch wie das Opfer fühlen konnte. Sie war es, die kein Leben hatte!
„Du kommst mit, Nym“, sagte Ro bestimmt und lief um den Altar herum. „Levi hat sowieso kein Entscheidungsrecht. Ich bin der Ältere, ich entscheide. Und wir lassen hier keine Frauen in Not zurück, die irgendjemand offensichtlich tot sehen will.“ Er bückte sich hinter den Steintisch und Nym konnte dumpf hören, wie Geröll aneinander schleifte. Im nächsten Moment tauchte er wieder auf, in seiner Hand mehrere Rollen Pergament. Allesamt versiegelt und mit einer dünnen Schicht Erde überzogen. Hatten sie nicht gesagt, dass sie Post abholen wollten? Das musste diese Post sein.
Nym wagte nicht, zu fragen, um was für eine Post es sich handelte. Dann würde Levi sie womöglich doch noch nachts in den Appo werfen.
Ro ging die einzelnen Pergamente durch und runzelte die Stirn. „Die Nachricht aus Lyrisa fehlt.“ Erneut besah er sich Siegel für Siegel jedes einzelnen Pergaments, bevor er wieder den Kopf schüttelte. „Nein. Sie ist nicht dabei.“
„Vielleicht haben sie sie direkt nach Oyitis geschickt. Die Hauptstadt liegt näher dran als der Altar. Wir haben zumindest keine Zeit, noch zu warten.“ Levi sah in den Himmel, der sich stetig verdunkelte. „Wir sollten noch etwas Fußweg hinter uns bringen, bevor wir für die Nacht anhalten. Ich meine, offensichtlich laufen hier irgendwelche Leute herum, die junge Frauen töten … und jetzt, wo wir plötzlich zu viert sind, brauchen wir vielleicht länger als gedacht.“ Bei diesen Worten warf er Nym einen vielsagenden Blick zu.
Sie ignorierte ihn – einfach, weil der Vorwurf weder Hand noch Fuß hatte. Sie war wohl kaum langsamer als Liri, deren Beine ungefähr so lang waren wie Levis Ellenbogen. Nyms Kopf pochte immer noch und ihre Knie brannten ein wenig, aber sonst fühlte sie sich gut. Dennoch … Fußmarsch?
„Wieso seid ihr nicht auf Pferden hergekommen?“, fragte sie und befestigte den Dolch an ihrer Seite.
Levi verengte seine Augen. „Hast du schon einmal versucht, auf Pferden durch den asavezischen Wald zu reiten?“
„Ich …“
„Nein, lass mich raten: Du weißt es nicht.“
Nym verschränkte ihre Arme und presste die Lippen aufeinander. „Nach Oyitis sind es mindestens anderthalb Tagesmärsche.“
„Na, dann laufen wir doch besser direkt los.“
Er nahm die Pergamente von Rojan entgegen und verstaute sie in seinem Rucksack.
Nym sah sich währenddessen auf der Lichtung um. Hatte sie etwas bei sich gehabt? Sie betastete ihre Hosentaschen, doch sie waren leer. Sie hatte nichts außer dem Dolch und ihrer Kleidung. Aber warum hatte ihr niemand den Dolch abgenommen? Es war doch dumm von einem Angreifer, ihr alles abzunehmen, außer ihrer Waffe.
Aber es war nicht ihre Waffe, oder? Der Dolch … der gehörte nicht ihr. Sie hätte so eine schlampige Handwerkskunst nie akzeptiert. Die Klinge war nicht einmal vernünftig ins Holz eingelassen worden.
Ihr wurde schwindelig. Es war merkwürdig, manche Dinge so genau zu wissen und von anderen keine Ahnung zu haben.
Sie wusste, dass sie eigentlich immer einen anderen Dolch bei sich trug – aber sie hätte beim besten Willen nicht sagen können, was das für einer gewesen war.
Eine Hand umschloss plötzlich ihre und verwirrt blinzelnd sah Nym an ihrem Arm hinab.
„Ich wette, wenn ich ihn darum bitte, passt Levi auch auf dich auf. Du musst jetzt also keine Angst mehr haben. Er ist gut darin. Er passt schon mein ganzes Leben lang auf mich auf. Und das wird immer schwieriger, weil ich, glaube ich, bald in die Pubertät komme.“
Nym musste lächeln und drückte die Hand des Mädchens kurz. „Ich habe keine Angst. Und ich glaube, dein Bruder kann sich witzigere Sachen vorstellen, als auf mich aufzupassen.“
„Wahre Worte“, bemerkte dieser prompt, bevor er seinen Rucksack schulterte. „Und Liri, hör auf, Süßholz mit Leuten zu raspeln, die du nicht kennst.“
Liri verdrehte die Augen und nahm ihren eigenen, weitaus kleineren Rucksack in die Hände. „Ich kenne sie besser als du. Mein Mund war auf ihren gepresst, Levi! Ich glaube, wir könnten jetzt schon sagen, dass wir Freunde sind.“
Levi stöhnte laut auf, sagte aber nichts mehr. Nym musste grinsen. Ja, es war wahrscheinlich wirklich nicht einfach, auf Liri aufzupassen.
Sie liefen nacheinander zurück in den Wald, in die Richtung, aus der Nym Levi und Rojan hatte kommen sehen. Richtung Südwesten, Richtung Jeferabrücke und Oyitis.
Vielleicht hätte sie die Hauptstadt auch alleine gefunden, schoss es Nym durch den Kopf. Irgendetwas sagte ihr, dass sie den Weg kannte.
Levi lief voran, während Liri und Nym zwischen ihm und Rojan, der das Schlusslicht bildete, eingekesselt waren. Liri redete ununterbrochen, doch so sehr Nym sich auch Mühe gab, ihr zuzuhören – jeder Schritt, den sie tat, lenkte sie ab.
Bei jedem Baum, den sie sah, und jeder Biegung, die sie nahmen, suchte sie nach neuen Erinnerungen. Nach Gesichtern und Namen. Nach irgendetwas, das ihr half, sich nicht so verloren zu fühlen.
Was war passiert? Wer wollte sie tot sehen und warum hatte der- oder diejenige es nicht zu Ende gebracht?
Sie faltete ihre Hände zusammen und sah an ihren nackten Armen hinab. Eine dünne Narbe zog sich auf der Oberseite ihres linken Unterarms bis zur Mitte ihres Mittelfingers.
Sie wusste nicht, woher sie kam. Angst vermischte sich mit Frustration und dem Gefühl von Kontrollverlust. Was brachte es ihr, zu wissen, wie breit der Appo war, wenn sie nicht wusste, woher diese Narbe kam?
„Liri, ich möchte deine Gefühle nicht verletzten, aber niemanden interessiert es, wie viele Schmetterlingsarten du auseinanderhalten kannst“, riss Rojan Nym aus ihren Gedanken.
„Aber wusstet ihr, dass die Flügel der Schmetterlinge aus kleinen Farbschuppen bestehen? Eigentlich sind sie also Echsen!“ Ihre Augen waren vor Begeisterung weit aufgerissen und als sie sich zu Nym umwandte, als erwarte sie Bestätigung dafür, dass das tatsächlich ein unglaublicher Fakt war, musste Nym ehrlich lächeln. Liri erinnerte sie an jemanden.
„Das ist tatsächlich unglaublich“, bestätigte sie ihr. „Und wusstest du, dass es in Asavez die einzige noch lebende Schmetterlingsart gibt, die höher fliegen kann, als das Kreisgebirge hoch ist?“
„Wirklich?“ Liri war stehen geblieben, ihr Rucksack hing an einem Riemen von ihrem Rücken. „Was für ein Schmetterling ist das?“
„Der Sifunas. Das ist Altasavezisch für ‚Wirbelwind‘. Er kann nicht nur unglaublich hoch fliegen, sein Flügelschlag und der Nektar, den er sammelt, sollen auch heilende Kräfte haben.“
„Wow. Ich wünschte, ich könnte ihn mal sehen …“
„Nun, ihn gibt es nur noch am Fuße des Kreisgebirges und auf dem Gebirge selbst und …“
Levi räusperte sich lautstark. Auch er war stehengeblieben, die Arme vor der Brust verschränkt und Nym mit einer gehobenen Augenbraue taxierend. „Nicht, dass ich nicht dankbar für die kurze Biologieeinlage wäre, aber die Sonne geht in einer Stunde unter und ich würde mich freuen, wenn Nym vielleicht etwas mehr darüber nachdenken könnte, wer sie ist, anstatt Unsinn aus ihrem Gehirn zu filtern, der von ihrem Gedächtnisschwund ganz offensichtlich nicht betroffen ist.“
„Das ist kein Unsinn!“, verteidigte Liri Nym sofort. „Du bist nur beleidigt, weil Nym mehr weiß als du – obwohl sie keine Ahnung hat, wer sie ist.“
Nym konnte Ro hinter sich leise prusten hören und Levi hatte jetzt auch die andere Augenbraue gehoben. „Ja. Du hast recht. Ich bin furchtbar neidisch auf dieses unglaublich wertvolle Schmetterlingswissen. Wenn wir zu Hause sind, werde ich mich in die Stille Ecke stellen und ernsthaft darüber nachdenken, was ich alles in meiner Bildung verpasst habe – bis dahin gehen wir weiter!“
Damit war die Diskussion für Levi beendet und er wandte sich wieder um, um den Weg fortzusetzen. Liri streckte ihm die Zunge raus, und Nym war sich ziemlich sicher, dass ihr Bruder das sehr genau wusste.
Sie betrachtete den Hinterkopf des Anführers der Karawane und dachte sich, dass es doch merkwürdig war, dass sie über ihn so viel mehr wusste, als über die anderen. Mehr als über Rojan oder Aliri und, nicht zu vergessen, über sich selbst.
Sie wusste, wann er Geburtstag hatte und dass er es zwar vorzog, mit seiner Ikanokraft zu kämpfen, aber dennoch ein begabter Schwertkämpfer war. Sie wusste, mit wie vielen Jahren er aus den bistayischen Mauern geflüchtet war und wie er seitdem auf Seiten der Asavez Flüchtigen half, dasselbe zu tun.
Aber sie wusste nicht, warum er geflohen war. Und warum er seine Schwester, nicht aber seine Eltern mitgenommen hatte. Wieso war er zum Gottlosen geworden?
Und wie hatte er es geschafft, der Göttlichen Garde zu entkommen?
So ganz ohne Hilfe. Niemand entkam der Göttlichen Garde ohne Hilfe von außen.
„Du wirkst nachdenklich, Nym.“
„Mhm?“ Sie warf einen Blick über ihre Schulter. Sie kam sich nackt vor im Vergleich zu den schwerbepackten Jungs. „Wärst du nicht nachdenklich, wenn du in meiner Position wärst?“
„Oh, ich bin auch von meiner Position aus sehr nachdenklich“, grinste Ro. „Man findet nicht alle Tage eine scheinbar tote Frau auf dem Alten Altar, die nicht weiß, wer sie ist oder was sie hier tut. Du bist das Aufregendste, was uns in einer langen Zeit passiert bist.“
„Schön, dass ich euch eine Freude bereiten konnte.“ Sie sagte es sarkastisch, doch sie lächelte dabei. Sie war auf einmal unheimlich froh, dass sie nicht alleine war.
Sie liefen noch eine halbe Stunde weiter, bis sie auf einem relativ freigelegenen Stück Wald anhielten. Es würde bald dunkel werden und es machte keinen Sinn, weiterzulaufen, wenn sie die Hand vor Augen nicht sehen konnten.
Rojan und Levi waren gut vorbereitet, bemerkte Nym. Sie hatten zusammenrollbare Bambusmatten und Decken aus Leinen mitgebracht und genug Essen und zu trinken für zwei weitere Tage. Allerdings natürlich nur für drei Leute.
„Du kannst auf meiner Matte schlafen“, bot Liri sofort an. „Ich bin klein und zäh und ich hab keine Angst vor Insekten. Mir macht der Boden nichts.“
„Das könnte ich unmöglich annehmen“, erwiderte Nym sofort. „Ihr gebt mir schon von eurem Essen ab. Die Erde reicht mir. Sie ist weicher, als der steinerne Altar.“
Liri wollte schon widersprechen, als Levi ihre schmalen Schultern von hinten umfasste und Nym ansah.
Seine Augen waren so grün wie das Moos zu Nyms Füßen und so undurchdringlich wie die Kreisberge. „Du schläfst auf meiner Matte … und außerdem möchte ich, dass du an meiner Seite schläfst.“
„Weil du mir nicht traust.“ Es war eine Feststellung.
„Ja, weil ich dir nicht traue. Und weil jemand dich umbringen will.“
„Du bist ein Ikano der Asavez. Ich wette, dich wollen auch eine Menge Leute umbringen.“
Er grinste. „Ja, aber ich habe gelernt, mit der Last zu leben. Für dich ist das Ganze noch neu. Oder vielleicht ist es das nicht. Aber du kannst dich zumindest nicht mehr daran erinnern.“
„Wie ritterlich von dir“, schnaubte sie, nahm jedoch die Matte aus seinem Rucksack, bevor er noch etwas erwidern konnte.
Von Liri konnte sie die Matte nicht nehmen – von Levi sehr wohl. Irgendetwas sagte ihr, dass er es verdient hatte, ab und zu auf einem dreckigen, harten Boden zu schlafen. Obwohl die Bambusmatten auch nicht gerade weich wie Federn waren. Aber Federbetten konnte sich fast niemand leisten. Es war zu kostspielig, sie zu produzieren … und dennoch hatte Nym das Gefühl, dass sie wusste, wie es sich anfühlte, in einem zu schlafen.
„Nym, reichst du mir mal die Feuersteine aus Levis Rucksack? Es wird heute Nacht ziemlich kalt werden.“
Nym nickte Ro zu und bückte sich, um ungeniert in Levis Sachen zu stöbern. Er hatte leider überhaupt nichts Interessantes dabei. Einige Äpfel und Brot, einen metallenen Wasserbehälter, ein kleines Messer, das nicht einmal eine Ratte hätte erstechen können, die Pergamentrollen, eine alte, hölzerne Mundharmonika …
„Die Steine sind in der Außentasche …“, flüsterte eine leise Stimme neben ihrem Ohr.
Nym schrak zusammen und wäre beinahe rückwärts auf die Erde gefallen. „Oh, das wusste ich nicht.“
„Mhm.“ Levi klang nicht überzeugt und nahm die Steine selber aus der rechten Seitentasche.
Nym spürte, wie ihre Wangen rosa anliefen. Egal. Es gab wichtigere Dinge. Sie rollte die Matte aus und ließ sich im Schneidersitz vor den trockenen Ästen nieder, die Ro aufgeschichtet hatte und über die Levi sich jetzt beugte. Innerhalb von wenigen Minuten hatte er ein Feuer entfacht, und augenblicklich überkam Nym eine merkwürdige Ruhe. Sie sah in die Flammen, und das Knistern der brennenden Äste war wie eine Hand, die ihr behutsam über den Rücken streichelte.
Sie musste keine Angst haben. Wenn es etwas gab, dessen sie sich sicher war, dann dass sie auf sich selbst aufpassen konnte.
Also, abgesehen davon, dass jemand sie heute beinahe umgebracht hätte und ihr irgendwie die Erinnerung genommen hatte.
Sie legte ihre Finger auf die Knie und atmete konzentriert die verbrannte Luft ein. Vielleicht würde sie sich morgen ja schon wieder an ihr Leben erinnern können.
Liri hatte sich ihr gegenüber gesetzt und die Hände zum Feuer gestreckt. Levi beugte sich zu ihr hinunter und flüsterte etwas in ihr Ohr, das sie zum Kichern brachte. Schließlich küsste er sie auf den Schopf und ließ sich zwischen Nym und seiner Schwester nieder. Ro stocherte von der anderen Seite mit einem langen Ast in der Glut herum. Er hatte das Schwert vor seinen Füßen abgelegt und seine freie Hand zog abwesend Kreise in die Erde.
„Wir sollten das Feuer nicht zu lange brennen lassen, Levi. Vielleicht sind diejenigen, die Nym töten wollten, noch irgendwo in der Nähe. Eigentlich fordern wir es hiermit schon heraus.“
Levi nickte. „Das habe ich mir auch schon gedacht.“
Liri zog ihre Arme enger um sich. „Aber es ist so kalt. Die denken bestimmt, dass Nym tot ist, und sind schon längst weg. Das fühle ich.“
Ro lächelte. „Auf dein Gefühl können wir uns nur leider nicht immer verlassen, Liri.“
„Leg dich schon mal schlafen. Wir machen das Feuer erst aus, wenn du schon schläfst“, versprach Levi. „Und wenn dir zu kalt wird, kommst du einfach zu mir unter die Decke.“
Liri nickte und Nym warf Levi aus den Augenwinkeln einen Blick zu.
Ja, sie mochte ihn nicht. Aber hassen konnte sie ihn auch nicht.
Sie zog die Knie an und legte ihr Kinn darauf. Sie war müde. Ihre Glieder schmerzten, ihre Schläfe pochte und ihr Herz und ihre Lungen schienen sich unregelmäßig zusammenzuziehen. Doch ihr Kopf … ihr Kopf war hellwach. Sie zog den Dolch vom Gürtel und hielt ihn locker in der rechten Hand.
Der Dolch, der mit Sicherheit nicht ihr gehörte.
„Du solltest auch schlafen, Nym“, murmelte Ro neben ihr. „Vielleicht braucht dein Kopf nur etwas Ruhe, damit er sich erinnern kann.“
Sie nickte, doch glauben konnte sie das nicht. Ihr Kopf … er fühlte sich an, als hätte jemand mehrere Leitungen gekappt. Die Leitungen, die zu ihrem Ich führten, während alle anderen, die zu ihrem Wissen über die Natur oder die anderen führten, noch vollkommen intakt waren.
Das konnte kein Zufall sein, oder doch?
Trotzdem ließ sie sich zur Seite sinken, ihre dolchlose Hand unter ihren Kopf schiebend. Heute konnte sie nichts mehr tun, um ihre Erinnerungen wiederzubekommen. Morgen würden sie nach Oyitis reisen und vielleicht konnte ihr dort jemand helfen.
Sie schloss die Augen und konnte vor ihren dunklen Lidern noch immer die Flammen tanzen sehen.
Das Herz Bistayes ist in sieben Mauern unterteilt – die bistayischen Mauern. Innerhalb der ersten Mauer leben die Götter, in der letzten die Bettler. Jeder Bürger Bistayes ist einer Mauer zugeordnet und ihren Gesetzen unterstellt. Ein Wechsel in eine höhere Mauer ist mit dem zugeteilten Oberhaupt zu verhandeln. Besondere Verdienste für das Land werden hierbei berücksichtigt.
Auf der anderen Seite des Appo, nahe der Hafenstadt Amrie, eine der wenigen Städte, die sich nicht innerhalb der Mauern befand, sah ein junger Soldat der Göttlichen Garde der Sonne dabei zu, wie sie sich auf der Strömung spiegelte, orange färbte und dann vom Wasser mitgerissen zu werden schien. Schweiß tropfte unter dem goldenen Helm hervor, der sein Gesicht zur Hälfte verbarg, und schließlich zog er ihn sich vom Kopf.
„Fühlst dich heute wagemutig, was?“, lachte eine Stimme hinter ihm und er drehte sich um. Eine rothaarige Frau kam auf ihn zu. Ihre obere Gesichtshälfte war unter dem Gold verborgen, das er sich gerade vom Kopf genommen hatte, während ihre Haare ihr ums Kinn gedrückt wurden. „Wir dürfen den Helm erst abnehmen, wenn wir wieder in der Dritten Mauer sind, das weißt du doch. Wenn Api das sehen könnte …“ Sie schnalzte gespielt missbilligend mit der Zunge.
„Api hat andere Schwierigkeiten, als mich an unsere Regeln zu erinnern.“
„Na ja, er ist immerhin der Gott der Vergeltung … das sollte dir doch zumindest etwas Angst einjagen.“
„Es ist ein Titel. Api hat seit Jahrhunderten keine Vergeltung mehr ausgeübt.“
„Vielleicht fängt er ja jetzt wieder damit an …“
Der Soldat seufzte schwer und wischte sich mit der rechten Hand den Schweiß vom Nacken. „Was willst du, Esya? Ich hatte einen anstrengenden Tag und wollte die letzten Sonnenstrahlen in Ruhe genießen, bevor ich noch drei Ikanojäger dazu autorisieren muss, die Jefera zu überqueren, also …?“
Esya hatte ihre Augen hinter dem Helm zusammengekniffen und ihre braune Iris war nun fast nicht mehr zu erkennen. „Anstrengender Tag, soso. Ich hab genau gesehen, aus was dein anstrengender Tag bestand. Keine ritterliche Aufgabe, die du da übernommen hast, Jeki. Aber du solltest dich glücklich schätzen. Es ist eine Ehre, dass Api dich ausgewählt hat.“
Es war alles andere als eine Ehre und das wusste sie auch. Ihm war klar, warum er die Aufgabe hatte übernehmen müssen, trotzdem … nun ja. Die Götter zweifelte man nicht an. Dennoch wunderte er sich, dass Esya Bescheid wusste.
Er wandte der Frau wieder den Rücken zu und sah auf den Fluss. Die Überreste der Sonne wurden nun violett von der Wasseroberfläche reflektiert, bevor sie an der Horizontlinie zur Gänze im Wasser verschwanden. Es wurde Zeit.
Er hob den Helm über den Kopf und schob ihn an seine angedachte Stelle zurück. „Nett, mit dir zu reden, Esya, aber ich muss jetzt los. Die Ikanojäger warten auf mich.“
Esya stand breitbeinig da. Die hauchdünne goldene Uniform, die aus so unendlich vielen und so feinen metallischen Schuppen bestand, dass sie fürs menschliche Auge nicht sichtbar waren, schmiegte sich perfekt an ihre schmale Figur. Sie war hübsch. Das musste er ihr lassen. Auch, wenn sie so ein unzufriedenes Gesicht zog wie jetzt.
„Warum wirst du für Kleinigkeiten wie die Autorisierung von Ikanojägern rekrutiert?“, wollte sie wissen. „Du hast doch deine Lakaien dafür.“
Jeki schob die Hände in die Taschen seiner Uniform. Sie klebten von dem Schweiß, den er vor mehreren Stunden dort abgewischt hatte. „Meine Aufgabe ist noch nicht ganz beendet, Esya. Ich möchte nicht, dass ein Fehler gemacht wird – und irgendwer muss den Jägern doch sagen, wo die Ikano zu finden sind, oder etwa nicht?“
Die Rothaarige öffnete den Mund, doch Jeki wartete nicht auf eine Antwort. Er ließ sie stehen und lief das hölzerne Dock hinunter, schritt einen sandigen Weg hinab, an dessen Ende er sich nach links wandte und die hohe, sandfarbene Mauer entlangging. Die einzelnen Steine lagen schon so lange aufeinander, dass man sie fast nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Die Mauer reichte hoch in den Himmel, doch hier war sie höchstens fünf Meter hoch, niedrig im Vergleich zum Rest. Je näher man in den inneren Kreis vordrang, desto höher wurden die Mauern. Die Erste Mauer, die den Palast der Götter von den Adelshäusern abgrenzte, schien kein Ende mehr zu nehmen.
Jeki ließ die Segelboote der Händler, die Stoffe, Nahrung und Metalle für die inneren Mauern brachten, in seinem Rücken und seine Lederstiefel versanken in dem Gemisch aus Sand und Lehm, das den Boden ausmachte. Es dauerte eine Weile, bis er in Stein überging und Jeki auf einem Pflasterweg weiterlaufen konnte.
Die sieben Mauern von Bistaye besaßen fünf Eingänge. Einen in jeder Himmelsrichtung und einen in Amrie. Aber nur der östliche übersprang die äußeren drei Stadtteile, in denen die Bettler, Bauern und Handwerker lebten, und führte direkt zur Vierten und Dritten Mauer, der Heimat der Kaufleute und der Göttlichen Garde. Der östliche Eingang war auch derjenige, der der Jeferabrücke am nächsten lag. Dort warteten die Männer, die sich als Ikanojäger autorisieren lassen wollten. Sie brauchten die Erlaubnis, nach Asavez vordringen und ihr Glück dabei versuchen zu dürfen, den Göttern den Kopf eines Ikanos zu bringen.
Die meisten Jäger, die zurückkamen, brachten jedoch keine Ikanoköpfe. Sie brachten die Häupter namenloser Asavez und prahlten damit, dass sie nicht registrierte Ikano seien. Thaka selbst, der Gott der Gerechtigkeit und inoffizieller Schutzbefohlener der Ikano der Bistaye, testete die nach Bistaye gebrachten Leichen.
Jeki wusste nicht wie, doch die vier Götter konnten einen Ikano anhand einer Berührung erkennen. Vielleicht, weil sie selbst alle vier Elemente in sich vereint hatten.
Er entfernte sich nun noch etwas weiter vom Fluss und konnte aus der Ferne bereits die drei jungen Männer erkennen, von denen Api ihm erzählt hatte. Sie standen etwas abseits vom Tor, das zu so einer späten Zeit nur noch mit Sondergenehmigung geöffnet werden durfte, und lachten über irgendetwas. Jeki interessierte nicht, was so lustig war. Ihn interessierte lediglich, ob sie für die Aufgabe, die Api ihm gegeben hatte, angemessen waren.
Er beschleunigte seinen Schritt und musterte sie der Reihe nach.
Als Soldat der Göttlichen Garde war Jeki bereits in jeder der sieben Mauern gewesen – abgesehen natürlich von der ersten. Er kannte die Verwahrlosung der letzten und den architektonischen Übermut der zweiten. Er wusste, wie die Leute aus den äußeren Ringen tickten, und genauso wusste er, wie sich die Adelssöhne und Töchter zu Tode langweilten. Wenn man nicht um sein Leben und seine nächste Mahlzeit bangen musste, hatte man jede Menge Zeit.
Diese jungen Männer gehörten definitiv zur letzteren Sorte. Sie trugen teure, maßgeschneiderte Lederhosen, die an den Vorderseiten der Oberschenkel gehärtet worden waren, sodass sie vor Messern und anderen leichten Waffen schützten, und dunkelgrüne Wamse aus einem Stoff, den Jeki nicht einmal aussprechen konnte. Die Verarbeitung der Kleidung und ihre selbstsicheren Gesichter sprachen für sich.
Diese Männer brauchten kein Ansehen. Sie wollten nicht in eine höhere Mauer versetzt werden. Sie brauchten eine Freizeitbeschäftigung, die ihnen den nötigen Adrenalinkick gab. Sie wollten in das verbotene Land der Asavez und vielleicht noch ein wenig Ruhm für ihre Familie dazugewinnen. Gute Kämpfer waren die Söhne der Zweiten Mauer allesamt, sie waren also keineswegs unvorbereitet.
Jeki lächelte leicht. Jetzt machte er sich keine Sorgen mehr darum, dass diese drei die Aufgabe erledigen würden. Nein. Api hatte gut gewählt. Sie würden ihn sicherlich nicht enttäuschen.
„Seid ihr die Ikanojäger?“, fragte Jeki, obwohl er die Antwort bereits kannte.
Ehrfürchtig, trotz des nicht vorhandenen Altersunterschieds, sahen sie ihn an. Dann nickten sie reihum.
„Gut. Ich hoffe, allen ist bewusst, was für eine einmalige Chance das für euch ist? Dass ihr einen sicheren Tipp bekommt und die Ikano nicht noch erst suchen müsst? Api hat euch persönlich ausgesucht und ihr wisst, wie die Götter Enttäuschungen gegenüberstehen.“
Wieder nickten alle. Das Augenlid des kleinsten Mannes fing an zu zucken, doch Jeki ignorierte es. Er zog stattdessen das Pergament aus seinem Wams, den er über der metallenen Uniform trug. Es würde ihnen Zugang auf die Jeferabrücke gewähren. „Gut. Es sind zwei Ikano. Einer der Luft und einer des Wassers. Sie haben ein kleines Mädchen bei sich, aber das dürfte euch nicht weiter kümmern. Sie befinden sich südwestlich des Alten Altars der Asavez. Sie müssten sich noch immer im Wald befinden. Sie sind gute Kämpfer, aber nicht unbesiegbar. Verstanden?“
Alle nickten, wieder ohne ein Wort zu sagen. Jeki hatte sich schon vor langer Zeit daran gewöhnt, dass viele Angst hatten, auch nur ein falsches Wort zu einem Mitglied der Göttlichen Garde zu sagen. Blödsinn, seiner Meinung nach. Sie handelten auf Befehl und waren keineswegs blutrünstig. Zumindest die meisten nicht. Aber er gehörte ja selbst dazu – also, was wusste er schon?
„Schön. Dann beeilt euch lieber, bevor ihr gar kein Licht mehr habt. Viel Glück.“
Er reichte dem Mittleren das Pergament und hastig machten sie sich auf den Weg zur Brücke.
Jeki sah ihnen nach, bis die Dunkelheit sie verschluckt hatte.
Ja, Api hatte wirklich gut gewählt.
Dennoch war sein Herz heute schwerer als sonst. In den letzten Tagen war viel passiert und manchmal … manchmal fragte er sich, ob die Götter noch zwischen richtig und falsch oder nur noch zwischen Gewinnen und Verlieren unterschieden.
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