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Bei Biobauer Manni Macksen ist gerade nichts funky. Seine Frau zeigt kein Interesse mehr an ihm und seine Hühner haben aufgehört, Eier zu legen. Frustriert wünscht er das Federvieh in den Kochtopf. Die Drohung verhallt nicht ungehört. Angeführt von ihrem Hahn Che beschließen die Hühner, ihrem Schicksal zuvorzukommen und Macksen umzubringen. Schon bald liegt die erste Leiche auf dem Hof. Das Dumme ist nur, der Bauer ist noch putzmunter. Damit Macksen nicht selbst in Verdacht gerät, muss er den Toten loswerden. Nur wie?
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Seitenzahl: 440
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Hans Seelenmeyer
Funky Chicken Blues
Wendland-Krimi
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © funway5400 / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3256-4
Für Sabine, die mich über 25 Jahre begleitet hat und leider viel zu früh gehen musste.
»Funky Chicken Blues« ist eine fiktive Geschichte. Alle Namen, Charaktere, Unternehmen, Ereignisse und Vorfälle in diesem Buch sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlich lebenden oder toten Personen oder tatsächlichen Ereignissen und Orten sind rein zufällig.
Mützenfitz ist kein existenter Ort – spart euch also die Suche.
Dieses Buch ist allen Tieren gewidmet, die eingepfercht und nicht artgerecht ihr Dasein fristen müssen. Wir Menschen können eine Menge dazu beitragen, dass sich dies ändert!
Ich danke allen Menschen, die mich auf meinem Weg bis hierhin unterstützt und an mich geglaubt haben. Besonderer Dank geht an »meine Jungs« Jascha, Kolja und Tilman, dass ihr mit mir seid und euren »Alten« so nehmt, wie er ist!
Danke an meine liebste Sandra, an Manne & Bine fürs Probelesen, Anregungen und Kritik. Ohne euch hätte ich das vielleicht nicht zu Ende gebracht.
Danke an Thomas Kowa für das erste Lektorat und viele nützliche Tipps.
Danke an Sascha Neven für die Hilfe und Korrektur des Exposés.
Danke an Jesko Wilke für die Unterstützung bei den ersten Schritten!
Danke an Brigitte Weninger fürs Mut-Machen!
Danke an Christian von Stern für den Support und Koop.
Danke an den GMEINER-Verlag für die Chance zum Debüt.
Danke an Sven Lang für das finale Lektorat und die gute Zusammenarbeit.
Dahlenburg/Lemgrabe im Mai 2024
Hans Seelenmeyer
»Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, sind wir, wo es schöner ist.«
Wenn ich auch nur ansatzweise geahnt hätte, wohin mich diese eine unbedarfte Äußerung bringen würde, hätte ich mir wohl den Mund zugenäht. Man sagt über unsere Gegend oft so gemeine Sachen wie zum Beispiel: »Mützenfitz ist nur ein Bruchteil so groß wie der New Yorker Zentralfriedhof – aber mindestens hundertmal so tot!«
Es stimmt schon. Hier draußen, im östlichen Wendland, ist das Land weit und mitunter etwas karg, gerade im Winter. Ebenso sind wir Menschen darin manchmal so karg wie die Landschaft. Und seit Gorleben1 berüchtigt für unseren Starrsinn, berühmt für unsere Kreativität und gefürchtet für unseren latenten Ungehorsam.
Aber eigentlich haben wir es gern geordnet. Statisch. Veränderungen sind nicht so unser Ding. Und wenn sie schon kommen, dann wenigstens mit großem Vorlauf und langer Ankündigung. Wir sind langsam, sagen manche. Wir sagen: Wir sind bedächtig!
An jenem Tag, an dem mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt wurde, begann eigentlich alles wie immer. Das Leben eines Bauern, genauer gesagt eines Biobauern ist hart, aber auch ehrlich und meist Glück bringend. Nur dürfen eben die Dinge nicht durcheinanderkommen. So wie vor einigen Monaten, als ich auf die gut gemeinte Idee kam, ein paar Hühner vor der sicheren Keulung aus dem benachbarten Großstall retten zu wollen. Und als meine Frau auf die Idee kam, ihr Leben neu zu gestalten. Und als der Mann von der Berufsgenossenschaft zur falschen Zeit am falschen Ort war. Und als mein Hahn Che die Beziehung zwischen uns sehr persönlich nahm. Und als …
Zugegeben, die Geschichte ist kompliziert. Ich würde sogar so weit gehen und sagen: aberwitzig! Aber glaubt mir oder nicht, so oder so ähnlich hat sie sich zugetragen, so wahr ich Manni Macksen heiße!
1 Der Aufstand der Bauern gegen das geplante Atommüll-Endlager begann 1977 und endete 2021 mit der Aufgabe des Standortes.
Wütend stapfte er aus dem Stall. Es war schon die dritte Woche ohne frische Eier. Das hatte es noch nie gegeben – bisher hatte seine bunte Schar treu und ergeben wie ein Uhrwerk weiße, braune, grüne und sogar gesprenkelte Eier gelegt. Keines wie das andere und alle sehr wohlschmeckend. Und nun dies – kein einziges Ei, nicht ein einziges von seiner gesamten Horde. War das etwa der Dank dafür, dass er sie aus der Legebatterie eines Großbetriebs gerettet hatte?
Er war in den letzten Wochen sowieso etwas unzufrieden mit allem und seine Tage begannen oft mürrisch und er fühlte sich morgens meist etwas zerkrümelt. Anfangs hatte er es auf die Frühjahrsmüdigkeit geschoben, aber inzwischen glaubte er, dass mehr dahintersteckte. Denn der Winter war lang her und jetzt, Anfang Mai, wurden die Tage hier draußen in Mützenfitz endlich wieder spürbar länger.
Und nun verweigerten sich ihm auch noch seine treuen Hühner. Er wollte gar nicht damit anfangen, dass sie deutlich mehr Arbeit machten, als er naiverweise angenommen hatte. Anscheinend hatte er mit der Rettung aus dem Großstall ihren Freiheitsdrang befeuert. Dauernd brachen einige von ihnen aus, und er musste sie unter den hämischen Blicken seiner Nachbarn wieder einfangen. Manchmal beschlich ihn das ungute Gefühl, im Leben nichts mehr bewirken zu können, keiner nahm mehr so richtig Notiz von ihm, und alle in der Familie machten irgendwie mehr und mehr ihr eigenes Ding.
Seine drei Söhne Finn, Sven und Ole sowieso – darüber hinaus bemerkte er zunehmend auch starke Veränderungen bei seiner Frau Alma, die sich nicht mehr länger dem oft gleichförmigen und anstrengenden Leben als Landwirtin und Mutter hingeben wollte, sondern von Selbstverwirklichung und Neuanfang sprach.
Pf, selbst verwirklichen, dachte er. Was für ein Hirngespinst, aber doch typisch für Frauen, wenn sie die vierzig überschritten haben, lachte er leise zynisch. Das hörte er auch oft von den anderen Landwirten, wenn sie sich einmal in der Woche in der letzten verbliebenen Dorfkneipe zum Skatspielen trafen. Dem folgt dann der Yogakurs, der Meditations-Workshop, die Frauengruppe und natürlich der unvermeidliche Fitnessclub …
»Und was ist mit mir?«, nörgelte er in sich hinein.
Er musste immer nur arbeiten, Haus und Hof am Laufen halten. Morgens früh raus, Kühe melken, Schweine füttern, das Federvieh versorgen und sich dann auch noch um die Landwirtschaft kümmern. Der Tag hätte auch sechsunddreißig oder achtundvierzig Stunden haben können, nie würde es reichen.
Für den kleinen Biohof sowieso, von sich selbst ganz schweigen. Freie Tage? Urlaub? Darüber brauchte er nicht einmal nachzudenken, es erschien ihm völlig absurd. Was sollte er auch mit einem ganzen Tag allein und womöglich am Strand mit sich und all der ganzen Zeit anfangen?
Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, wann dieses veränderte Lebensgefühl seiner Frau angefangen hatte, aber es war schon etliche Monate her, wenn nicht sogar schon ein ganzes Jahr. Es hatte endlose Diskussionen gegeben, ob sie sich nun auch noch eine kleine Hühnerschar halten wollten. Alma war schon damals alles zu viel gewesen, um Himmels willen, bitte keine Federviecher, die frühmorgens herumkrähten. Sie befürchtete, dass die meiste Arbeit an ihr hängen bleiben würde.
Aber er hatte Mitleid mit den armen Tieren, die bei seinem Nachbarn in den Großställen turbogemästet und nach nur wenigen Monaten geschlachtet wurden oder als Legehennen ein trostloses Leben fristeten. Er wollte es anders machen. Dem unsympathischen Hühnerbaron von nebenan beweisen, dass es auch anders ging und dass jedes Lebewesen einen speziellen Wert auf diesem Planeten hatte.
Als bei seinem Nachbarn, dem Großbauern und Massentierhalter Karl Karstens, mal wieder ein Bestandswechsel anstand, hatte sich er sich vorgenommen, ein paar dieser armen Geschöpfe zu retten und ihnen noch ein paar gute Monate, wenn nicht sogar Jahre zu schenken.
Schon länger hatte er das unbestimmte Gefühl, etwas zurückgeben zu müssen, einfach mal etwas Gutes und Sinnstiftendes zu tun. Und da er schon länger mit dem Gedanken gespielt hatte, sich ein paar Hennen und einen bunten Hahn zuzulegen, hatte er damals den ganzen Mut zusammengenommen, um dem Hühnerbaron ein paar Hennen abzuschwatzen.
Er erinnerte sich genau daran, als wäre es erst gestern gewesen.
»Die ollen Viecher willst du haben?«, hatte Hühnerbaron Karstens gefragt. »Deren Zeit ist doch rum. Was willst du denn damit?« Karstens plusterte sich vor ihm auf und grinste spöttisch über sein rot geädertes Mondgesicht.
»Na, eben ein paar Hühner auf dem Hof haben, gute und gesunde Eier bekommen – und deinen erbärmlichen Kreaturen noch einmal ein lebenswertes Dasein schenken«, konterte Macksen.
Der Großbauer verzog sein Gesicht. In den ohnehin schon gut durchbluteten Eierkopf schoss nun ob der anmaßenden Antwort von Macksen noch mehr Farbe unter die grau-braune Schiebermütze. »Denen geht es bestens hier – die wollen gar kein anderes Leben! Mit Auslauf, Blattgrün, frischer Luft und Sonne können die gar nichts anfangen. Ja, die werden sogar krank davon und legen dann erst recht nix mehr. Nee, nee – mit den Viechern ist es wie mit den Menschen, zu viel Freiheit bekommt denen gar nicht gut, die kriegen davon nur Flausen im Kopf.«
Macksen atmete tief ein. Was hätte er auch anderes erwarten können von einem Stiesel wie Karstens? Etwa ein freundliches Wort oder gar Empathie für seine gequälten Federviecher, die noch nie das Tageslicht gesehen hatten?
»Also, was is nu, gibst du mir nun ein paar Hennen ab oder nicht?«, fragte er. »Bei dir krepieren sie doch eh nur.«
»Kannste schon haben, das macht aber eine Abgangspauschale von fünfzehn Euro pro Viech, bar auf die Kralle.« Karstens deutete zu seiner nach Ammoniak stinkenden Legehalle. »Aber eines sage ich dir gleich, Garantie oder so was gibt’s hier nich. Wenn die nach ein paar Tagen bei dir die Grätsche machen, dein Problem. Umtausch ausgeschlossen.«
»Der Abdecker zahlt dir doch nie fünfzehn Euro pro Huhn.«
»Der steht bei mir auch nicht unangekündigt auf der Matte und erzählt mir was von Moral und wie ich meine Viecher zu halten habe. Ist quasi Schmerzensgeld.« Karstens lachte kehlig.
»Dann bring mir fünfzehn Hennen, aber nich die Scheintoten, okay?«
Ein paar Tage später bekam Macksen dann seine neuen Mitbewohner, es hatte an diesem frischen Tag in Strömen geregnet, dazu wehte ein eisiger Ostwind. Ein Wetter, an dem man lieber hinterm Ofen sitzen bleiben wollte, am besten bei einer guten Tasse heißen Tee mit Schuss. Karstens hatte die armen Geschöpfe einfach in einem offenen Käfig in den Regen gestellt. Als Macksen die Tiere zufällig entdeckt hatte, waren sie schon völlig durchnässt gewesen. Die wenigen Federn, die sie noch hatten, konnten das blanke Fleisch kaum bedecken. Sie waren total weiß, ja, sogar der sonst so rote Kamm war farblos. Fraglos hatten die Tiere noch nie Sonne gesehen, es fehlte ihnen jegliche Pigmentierung, sie wirkten ängstlich und schwach. Eine Stunde länger hier draußen und sie wären über den Regenbogen gegangen. Macksen war sauer, aber gleichzeitig froh, sie nun dort herausgeholt zu haben. Zum Glück hatte er schon einen kleinen Stall mit Wärmelampe vorbereitet und so konnten sich seine neuen Federfreunde erst mal gründlich aufwärmen.
Um die Hennen ein bisschen bei Laune zu halten, besorgte er noch einen jungen und stolzen Hahn. Er nannte ihn Che, weil er so groß, rot und stolz war – nach dem legendären Revolutionär und Guerillakämpfer Ernesto »Che« Guevara. Er war überzeugt davon, dass er die Schar gut anführen würde. Wie gut, dass konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen …
Und jetzt legten die gefiederten Damen einfach keine Eier mehr. Einfach so. Von heute auf morgen. Sollte der blöde Karstens recht behalten haben und die Hühner eine absolute Fehlinvestition gewesen sein? Der Gedanken an den Hühnerbaron regte ihn noch mehr auf, Macksen grantelte in sich hinein und steigerte sich in seine Übellaunigkeit hinein. Als er dann noch auf einer Ladung Hühnerkot ausrutschte, reichte es ihm endgültig. Es fielen die Worte, die ihn in Schwierigkeiten brachten. Schwierigkeiten, wie er sie niemals erwartet hatte. Nicht hier im Wendland. Nicht in Mützenfitz und schon gar nicht auf seinem Hof.
»Ich schlachte euch alle, ihr bringt’s eh nicht mehr, so gebt ihr wenigstens ein paar gute Brathühner ab«, rief er in die Runde und ahnte nicht, dass er dabei von der Henne Büxe belauscht wurde.
Büxe war außer sich. »So, hört alle mal her. Ihr glaubt nicht, was ich gerade gehört habe. Wir sollen alle einfach umgebracht werden. Nur weil wir ein bisschen Eierpause machen, dreht der Alte gleich durch.«
So kannten sie ihn gar nicht, aber er hatte sich verändert in den letzten Wochen. Im Gegensatz zu früher wirkte er mürrisch und war stets übel gelaunt, wenn er morgens die Stalltür aufmachte. Kein netter Schnack, kein liebes Wort mehr. Und jetzt das!
»Brathühner!«, zischte Büxe empört. Sofort informierte die aufgebrachte Henne den Boss, Hahn Che, über das belauschte Selbstgespräch von Bauer Macksen. »Der will uns alle umbringen! Und nur weil wir noch in der Eierpause sind. Und dann will er uns sogar noch schlachten. Dieser Barbar!« Aufgeregt diskutierten und gestikulierten die Hühner wild durcheinander. Ein Plan musste her, irgendetwas, was den Irrsinn stoppen könnte.
»Erst rettet er uns, dann will er uns auf einmal fressen. Die spinnen doch, die Menschen«, krähte Suuvi, Macksens Lieblingshenne, vorlaut.
Che war gar nicht mal überrascht, hatte er doch schon öfters Gerüchte gehört, dass der Bauer Veränderungen plante und immer wieder mal damit gedroht hatte, sie alle wieder zurück an den Hühnerbaron zu geben. Vor allem, wenn er mal wieder schlecht gelaunt war, wenig gelegt wurde oder eine von ihnen ausgebüxt war.
Macksen hatte ja keinen Schimmer davon, dass seine Hühner jedes Wort verstehen konnten. Zu groß war ihre Verblendung, ihre Arroganz und Überheblichkeit uns Tieren gegenüber. Sie hielten sich tatsächlich für die Krone der Schöpfung, waren aber nicht einmal in der Lage, kleinste Unstimmigkeiten friedlich zu lösen und im Einklang mit der Natur zu leben.
Und uns Tiere hielten sie für genetische Zwischenstufen auf dem Weg zum großartigen Homo sapiens. So nannten sie sich hochtrabend.
Wir Hühner waren für sie nur Nahrung, nutzlose Lebewesen mit angeblich extrem kleinen Gehirnen, die natürlich nicht in der Lage waren, komplexe Zusammenhänge zu verstehen oder gar Werkzeuge zu benutzen. Schwachsinn. Die hatten ja keine Ahnung von uns. Zugegeben, wir waren nicht in der, Lage Autos zu bauen, mit Raketen ins Weltall zu fliegen oder Atombomben zu bauen – von unseren Computer- und Internetkenntnissen ganz zu schweigen. Aber wofür sollten wir das auch brauchen? Wir waren perfekt und schön auf die Welt gekommen, wir brauchten nicht mehr und haben bereits alles, um in Einklang mit Mutter Erde zu leben. Es könnte so schön sein, wenn diese federlosen Riesen sich nicht über alles erhoben hätten und die Welt in völlig abstruse Kategorien unterteilten.
Und Bauer Macksen war einer von ihnen. Oder hörte zumindest auf den Scheiß, den die anderen von sich gaben.
Che war schon immer etwas skeptisch ihm gegenüber eingestellt. Seine überbordende Freundlichkeit und die extreme Aufdringlichkeit seinen Hennen gegenüber waren ihm schon immer suspekt. Andauernd wollte er sie streicheln, nannte sie »seine Mädels«, und selbst ihm gegenüber ließ er den nötigen Respekt vermissen.
Che beschloss, den Hühnerrat einzuberufen und die jüngsten Ereignisse in der Vollversammlung zu besprechen, denn so konnte es nicht weitergehen.
Keineswegs würden sie dem Tod ohne Widerstand ins Auge sehen. Dafür hatten sie schon genug von der Freiheit gekostet, und sie wussten nun, wofür es sich lohnte zu leben und zu kämpfen.
Die Hühnerschar kam zusammen und sie beratschlagten die Lage.
»Was ist, wenn er uns allen wirklich den Hals umdrehen will?«, gluckste Frida. »Er scheint ja im Moment zu allem in der Lage zu sein, womöglich gibt er uns auch an den Hühnerbaron zurück.«
Suuvi schüttelte ihren Kopf. »Ich kann mir das nicht vorstellen, er ist doch sonst immer so gut zu uns.«
»Aber ich habe es deutlich gehört. Er hat etwas von weggeben und Hals umdrehen genuschelt und dabei sehr ungehalten gewirkt. Er hat keine Lust mehr auf uns, sag ich euch«, entgegnete Büxe.
Die anderen Hühner nickten und krähten wild durcheinander. Protest kam auf, einige flatterten aufgeregt mit ihren gestutzten Flügeln.
»Ruhig, ruhig, meine Lieben«, sagte Che mit sonorer Stimme. »Ich glaube, es ist an der Zeit, ihm eine Lektion zu erteilen.«
»Genau!«, krähte von ganz hinten Agnetha, die älteste und erfahrenste Henne. »Auge um Auge, Zahn um Zahn, so steht es doch in diesem Menschenbuch, nach dem angeblich alle handeln. Wenn er uns in die ewigen Jagdgründe schicken will, bleibt uns keine große Wahl. Entweder wir oder er!«
Erneut brach Unruhe unter dem Federvieh aus. Wilde Diskussionen folgten, kreuz und quer schnatterten alle Hennen durcheinander, als Frida aufgeregt das Wort ergriff: »Du meinst also, wir sollten ihn umbringen, bevor er uns umbringt?«
»Natürlich, sollten wir das! Die Zeiten sind einfach vorbei, in denen wir alles mit uns machen ließen. Und wenn der Macksen das so will, dann bekommt er es eben auf unsere Weise zurück«, erwiderte ausgerechnet die sonst so friedliche Suuvi, die offensichtlich ihre radikale Ader entdeckt hatte.
Che kräuselte den Hahnenkamm. So hatte er seine gutmütige Schar noch nie erlebt. Sicher, sie stritten sich am Tage permanent untereinander. Über den besten Platz, das meiste Futter und natürlich auch um ihn, den schönsten Hahn im Wendland. Aber das hier, das hatte eine neue Qualität. Es lag Aufruhr, Widerstand – ja, Revolution in der Luft.
Che erhob räuspernd seine Stimme. »Okay. Ihr habt entschieden. Wir nehmen unser Schicksal selbst in die Hand. Wenn es nicht anders geht, dann wird Manni Macksen den Sommer nicht mehr erleben. Aber ein Alleingang wäre nicht sicher, wir sind nur am Boden stark, und wenn wir unseren Plan in die Wirklichkeit umsetzen wollen, dann werden wir Hilfe brauchen und neue Allianzen schmieden müssen. Auch wenn das einigen von euch nicht passt. Aber die Menschen, und so auch unser Bauer, sind sehr gefährliche und egoistische Lebewesen, die mit ganz anderen Tieren fertiggeworden sind als mit ein paar wild gewordenen Hühnern. Und genau das ist unsere Chance.«
Die Hennen klatschten begeistert Beifall. Einige pfiffen sogar durch den Schnabel.
»Viva la revolución«, krähte das mexikanische Araucana-Huhn Rosella, die sonst nie etwas zu sagen hatte.
»Ich habe so was von die Schnauze voll«, raunzte Macksen und legte einer seiner Kühe das Melkgeschirr an. »Immer dasselbe Spiel, alle treiben, was sie wollen, und jeder denkt nur an sich. Nur ich muss zusehen, wie ich am Ende des Monats wieder alles hinkriege. Alle Kunden zufriedengestellt habe, alle Reparaturen erledigt sind. Du, Wilma, musst hier immer nur rumstehen, fressen und schietern und kannst dabei die ganze Welt einen guten Mann sein lassen. Hast ja auch keine Verantwortung für den ganzen Laden hier. Hauptsache, dein Futter kommt pünktlich in den Trog und du wirst pünktlich gemolken. Genauso wie die anderen, die Schweine, die Hühner, der Hund, die Katzen … und meine drei verzogenen Gören sowieso! Alle warten sie nur auf den alten Macksen, damit er es richtet. Dabei habe ich selbst noch nicht einmal etwas zwischen die Kiemen bekommen.«
Macksen zog das Geschirr fester.
»Und jetzt will meine Alte auch noch wegfahren. Eine ganze Woche sogar. Zusammen mit ihrem Weiberclub vom Landfrauentreffen. Eine Woche nach Griechenland, auf so ’ne Insel, Lesbos, das allein sagt doch schon alles.« Macksen schnaubte und äffte seine Frau nach: »Um mich selbst zu finden, mich seelisch zu reinigen und Achtsamkeit zu erlernen.«
Es schien Alma auch nicht darum zu gehen, ob er damit einverstanden war. Nein, er wurde darüber ganz nebenbei, aber bestimmt in Kenntnis gesetzt. Friss oder stirb. Er ärgerte sich maßlos. Arsch lecken, dachte er.
Den Floh hatte seiner Frau bestimmt diese dusselige Großstadtziege aus Hamburg ins Ohr gesetzt. Von dieser neuen Öko-Kommune in der Nachbarschaft. Diese neunmalklugen, links-liberalen Bio-Scheißer aus der Großstadt. Kommen einfach hierher, haben davor noch nie ’ne Kuh kacken sehen, wollen alles auf einmal umgestalten, mitreden und machen dabei aus Materie Antimaterie. »Den ganzen Tag klookschieten, das können sie gut.«
Macksen steigerte sich dermaßen hinein, sein Kopf wurde puterrot und er keuchte die Sätze nur so heraus. »Lesbos … tss … Die Insel ist ja doppelt so groß wie das Wendland. Was wollen die denn da die ganze Woche allein machen? Achtsam sein? Wer’s glaubt, wird selig! Der Prosecco wird schon zum Frühstück in rauen Mengen fließen, danach geht’s an den Pool und ab 14 Uhr kommt dann fürs gute Gewissen ein wenig Gruppendynamik à la carte dran. Und dann kommt auch noch dieser Kerl mit, dieser dunkelhaarige Schönling aus dem Yogakurs. Hat sich erfolgreich in die Frauengruppe geschlängelt und den Dorfweibern ordentlich Honig ums Maul geschmiert. Wenn der mal nicht aus Hamburg kommt. Und jetzt, wo er sein Terrain in der Metropole abgegrast hat, sucht er hier bei uns auf dem Land sein Glück.«
Macksen hatte sich mittlerweile derart in Rage geredet, dass sich sogar unter den sonst eher unbeeindruckten Kühen eine gewisse Unruhe breitmachte.
Erste Erschöpfungsanzeichen seiner Verbal-Flatulenzen machten sich bemerkbar und er konzentrierte sich wieder darauf, seine Kühe zu melken.
Schlaff und geduldig, wie betäubt, arbeitete er sich von Reihe zu Reihe, von Kuh zu Kuh. Er musste genau darauf achten, wann eine Kuh fertig war und das Geschirr gewechselt werden musste. Eigentlich war die Zeit im Stall gut für ihn. Hier konnte er alles rauslassen, schimpfen, granteln, herumschreien oder, wenn er mal gut drauf war, Hits aus den glorreichen Siebzigern in den halligen Raum schmettern.
Und das alles unbemerkt von seinen Mitmenschen, von seiner Familie. Der Stall war seine geschützte Zone, da durfte keiner so einfach rein. Und so bekam sein Umfeld oft gar nicht mit, in welchen ausweglosen Krisen und Gedankenkarussellen er sich befand. Diejenigen, die ihn am besten kannten, waren seine Kühe. Mit ihnen verbrachte er mehr Zeit als mit seiner Frau. Und er redete auch mehr mit ihnen als mit einem anderen Menschen. Sie schienen ihn zu verstehen, erkannten seine Nöte und konnten gut zuhören. Jetzt, wo sein Zorn wieder abgeraucht war, war auch der Druck in der Brust weg, der sich die ganze Nacht schwer auf seinen Körper gelegt hatte.
Er gab dem letzten Tier einen Klaps auf den Hintern und trottete mit dem Milchwagen und den Kannen aus dem Stall. Mittlerweile stand die Sonne hoch am Himmel. Unter der schattigen Kastanie hatte sich sein Hofhund Smörre abgelegt und döste vor sich hin. Eine trügerische Idylle, wie man sie nur aus den Hochglanzmagazinen über das urban-alternative Landleben kannte.
Alma saß gedankenverloren am Tisch der Bauernküche. All die vielen Jahre, die sie hier verlebt hatte, zogen an ihr vorüber.
Macksen und sie hatten sich 1984 in der Zeltdisco kennengelernt. Der Abend war so cool gewesen. Heiß und innig hatten sie geflirtet. Sie süße achtzehn und er dreiundzwanzig. Sie trug die Haare wie Kim Wilde und war der Traum aller Jungs im Dorf, in ihrem roten engen Minirock, dem Micky-Mouse-Shirt und der kurzen Jeansjacke. Macken lud sie auf eine Cola-Jägermeister-Mischung ein und dann tanzten sie. Er war ein guter Tänzer, nicht so wie die anderen Dorftrampel. Aufgeknöpftes Hemd, enge weiße Jeans und den roten Opel Manta auf dem Parkplatz. Alle Mädchen standen auf ihn. Macksen, der Hoferbe mit dem Knackarsch.
Eigentlich hatte sie im darauffolgenden Frühjahr in die USA reisen wollen, um dort Kunst und Kunstgeschichte zu studieren. War alles schon geplant, die Unterkunft bei einer freundlichen Familie in Washington D. C. organisiert, alle erforderlichen Unterlagen, Genehmigungen, Bewerbungen, Behördengänge lagen hinter ihr. Sie freute sich so sehr darauf, und ihre Mutter Liselotte war mächtig stolz, dass ihr einziges Kind es geschafft hatte, bald in Übersee zu studieren. Doch der besagte Zeltdisco-Abend änderte alles. Ein tiefer Blick in seine schönen braunen Augen, dann ergriff er bei: »Love is in the Air« mit beiden Händen ihre Hüfte und zog sie fest in seine Arme und − Bang! Das Traumpaar von Mützenfitz war geboren.
Der Rest war Geschichte: Ein handfester Krach mit ihrer Mutter Liselotte, die außer sich war, als sie erfuhr, dass Alma ungeplant schwanger geworden war und nun nicht mehr studieren wollte.
Alma suchte Nähe, Vertrauen, Verständnis und vor allem Liebe bei dem Hoferben. Ihr Leben verlief wie gewünscht. Nach der Heirat erfolgte der Umbau zum Biobauernhof, dann zwei weitere Söhne. Ihre volle Aufmerksamkeit hatte sie diesem Leben gewidmet. Liselotte hatte das immer gestört, sie hatte nie verstanden, was ihre Tochter an dem etwas dröge scheinenden Bauern fand. Sie ließ keine Gelegenheit aus, sich darüber auszulassen.
Mittlerweile waren Alma und Macksen über den Zenit ihrer Ehe hinaus, und ihre Mutter Liselotte eine alte, renitente Dame. Die Söhne, alle drei dem Kindesalter entwachsen, besuchten die höhere Schule und hatten nichts mit dem Hof am Hut. Es lief nicht gut, um nicht zu sagen: Es lief beschissen! Die biologische Landwirtschaft war mühsam, der kleine Hofladen warf wenig Ertrag ab, und gab es ein schlechtes Erntejahr, floss kaum Geld in die Kasse.
Alma fragte sich, wo sie bei all dem geblieben war. Sie fühlte sich immer verantwortlich, entweder für ihre ehrgeizige Mutter oder ihr mittlerweile aufreibendes Leben mit der harten Arbeit und dem starrsinnigen Ehemann. Irgendwann kamen Zweifel auf. Hätte sie doch auf ihre Mutter hören sollen? Dann wäre sie jetzt Künstlerin und würde vielleicht in New York leben, in einem trendigen Loft mit coolen Leuten in einer hippen Künstler-Community. Jetzt, mit Mitte fünfzig, kriselte es in ihrer Ehe, daran hatte auch die Silberhochzeit im letzten Jahr nichts geändert.
Macksen war über die Jahre wortkarg und übellaunig geworden. Dazu kam immer noch die Einmischung ihrer egozentrischen Mutter. Alma fühlte sich ausgebrannt und leer.
Macksen verbrachte mehr Zeit mit den Kühen im Stall als mit ihr. Den Hühnern wollte er neuerdings am liebsten den Hals umdrehen, weil sie kaum Eier legten und dauernd ausbrachen. Und das war neu an ihm. Das beunruhigte sie sehr. Instinktiv hatte sie gespürt, dass etwas nicht stimmte. Er schien unberechenbarer und noch stiller geworden zu sein.
Zum Glück hatte Alma eine beste Freundin. Lilly war geschieden und hatte keine Kinder, aber eine kleine Künstleragentur, die gut lief und ordentlich was abwarf.
»Alma«, sagte sie immer wieder, »mit deinem Talent kannst du sofort bei mir einsteigen. Ich mach was aus dir, du wirst berühmt. Bye-bye, Mützenfitz, hello Manhattan. Welcome to the world and wech ausm Wendland. Hier kannst du höchstens handgemalte, esoterische Wandikonen an barfüßige Waldorflehrerinnen verkaufen, die ihre Babys rund um die Uhr im Tragetuch herumschleppen und in der großen Pause ihren Siebenjährigen stillen. Du bist eine aufregende Frau in den besten Jahren.«
Alma malte für ihr Leben gern und hatte auf dem Hof schon ein paar Ausstellungen in Eigenregie organisiert. Ihre Bilder wurden bewundert und ließen sich gut verkaufen. Manchmal kamen sogar welche aus der Großstadt, um sie zu sehen. Aber ihr eigener Mann hielt davon wenig, was es für sie nicht einfacher machte.
Lilly und die anderen Frauen aus der Yogagruppe waren immer mehr zu einer verständnisvollen Ersatzfamilie geworden. Lebensfroh, freigeistig und ein ganz klein wenig spirituell, nicht zu viel, denn man mochte ja auch die schönen Dinge genießen.
Hier fand Alma Gehör, führte tiefgründige Gespräche, wurde verstanden und wertgeschätzt. Sie machten gemeinsame Ausflüge und trafen sich oft nach dem Yogakurs im einzigen Biergarten der Umgebung. Manchmal badeten sie nackt im Waldtümpel und tanzten um ein Lagerfeuer, nur zum Spaß. Das war wundervoll, belebend und bejahend. Und dann war da noch Raoul Alvarez, der Yogalehrer.
Kuno Klabundes Ruf als penibler, unerbittlicher und unbestechlicher Erbsenzähler eilte ihm weit voraus. Er ließ seinen weißen VW Passat sanft auf der Hofeinfahrt ausrollen. Er stellte den Motor immer vorher ab, damit sein Kommen nicht angekündigt wurde. Der helle Kies knirschte unter den breiten Autoreifen und der schwere Wagen kam langsam zum Stehen. Kuno konnte man nichts vormachen. Seit fast fünfundzwanzig Jahren war er Kontrolleur der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft und hatte dabei alles gesehen, was man sich nur ausmalen konnte.
Der menschliche Erfindergeist schien schier unerschöpflich, wenn es darum ging, Maschinen zu manipulieren oder provisorisch zu reparieren, nur um Geld an der falschen Stelle zu sparen oder gar die Versicherung zu übervorteilen.
Aber Kuno Klabunde wusste immer genau, wo er hinschauen, messen oder prüfen musste, um selbst die kleinste Manipulation oder Scheinreparatur ausfindig zu machen.
Und heute war ein guter, ja fast ein fröhlicher Tag. Jetzt, im Frühjahr, fingen die Vögel wieder frühmorgens mit ihrem Singsang an und die Sonne bekam schon frühsommerliche Kraft. Er hatte gute Laune, fest davon überzeugt, heute wieder ein paar betrügerische Fälle oder stümperhaft vollzogene Provisorien an landwirtschaftlichen Geräten oder Maschinen aufzudecken.
Deshalb war ihm gleich morgens, nach der ersten Tasse Kaffee, spontan der Gedanke gekommen, raus nach Mützenfitz zu fahren, um diesem Öko-Freak Macksen einen kleinen Überraschungsbesuch abzustatten. Dieser stets etwas unaufgeräumte Hof mit seinem dickköpfigen Besitzer war ihm schon lange ein Dorn im Auge. Katzen, ein Hund, Hühner und manchmal sogar Schweine liefen einfach frei auf dem großen Gelände herum. An allen Ecken und Enden schien es an Ordnung und festen Regeln zu fehlen. Und das alles wurde erklärt mit dem immer populärer werdenden Deckmantel der Biolandwirtschaft. Aber zu Kunos Missmut hatte er den aufsässigen Landwirt bisher nie zur Strecke bringen können. Ein paar einfache Verwarnungen wegen verstellter Fluchtwege oder abgelaufener Feuerlöscher – das war’s aber auch schon. Leider nie der große Wurf wie die Stilllegung einer wichtigen Maschine oder der Entzug einer Betriebszulassung für einen Pflug oder Anhänger.
Heute hatte er sich vorgenommen, das zu ändern. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn ausgerechnet auf diesem Misthaufen von Betrieb nichts zu finden sei.
Deswegen war der Macksen-Hof der erste Prüfling an diesem Tag, das heißt keine heimlichen Vorwarnungen von zuvor besuchten Bauern oder gar eine schriftliche Ankündigung seines Kommens. Denn sosehr sich die Bauern untereinander nicht das Schwarze unter dem Fingernagel gönnten, so sehr einte sie der Hass auf die Behörden des Landkreises und die Kontrolleure der Berufsgenossenschaft.
Als Klabunde die Tür seines Autos leise öffnete, hörte er schon in der Ferne die Kreissäge laufen. Aha, dachte er. Macksen machte Holz, ungewöhnlich für diese Jahreszeit! Die Säge würde er sich gleich einmal als Erstes vorknöpfen. Sägen waren ein besonders dankbares Prüfungsobjekt für Kontrolleure. Tausende von Verletzungen, Verstümmelungen und den oft daraus folgenden Berufsunfähigkeitsrenten gingen auf das Konto von manipulierten oder schlecht gewarteten Sägen und verursachten für die Genossenschaft Kosten in Millionenhöhe.
Das Entfernen des Sicherungsbügels an einer Kreissäge gehörte zum Standard, war doch der Überwurf stets im Wege, um auch große und sperrige Werkstücke oder Äste leicht zu zerteilen. Gleich an zweiter Stelle kamen defekte oder verpfuschte Zugentlastungen bei den Netzkabeln. Nicht selten stand manchmal schon der ganze Sägetisch unter Kriechstrom, und es war ein Wunder, dass in seinem Bezirk dabei noch niemand zu Tode gekommen war. Die leichteren Fälle waren herausgebrochene Sägezähne, defekte Staubabsaugungen oder fehlende Gummifüße am Werktisch – eigentlich ließ sich immer etwas finden.
Zu seiner Überraschung war der Sägeplatz unbesetzt. Weder der Bauer noch sein osteuropäischer Niedriglohndiener Pjotr waren weit und breit. Die Maschine lief hochtourig und mit einem flirrenden Surren stoisch vor sich hin. Allein das wäre schon eine Abmahnung wert. Aber damit wollte Klabunde sich heute nicht zufriedengeben.
Einige Äste und Bohlen sowie ein großer Haufen Sägemehl deuteten darauf hin, dass hier bis vor Kurzem noch gearbeitet wurde.
»Jetzt hab ich dich, du lausiger Hippie«, schoss es ihm durch den Kopf, als er den entfernten Sicherungsbügel entdeckte. Das zudem auf die höchste Stufe herausgedrehte Sägeblatt setzte dem Ganzen die Krone auf und stellte für Klabunde eine unfassbare Provokation dar. »Wo zwei Fehler sind, da sind auch drei«, dachte er laut und beäugte die Stromzuführung auf der Rückseite der Säge.
Bingo! Der Nullleiter ragte blank aus dem Kabelstrang und war nur notdürftig mit Gewebeband und einem Kabelbinder geflickt worden. Keine Frage, das war heute nicht nur ein guter, sondern sogar ein sehr guter Tag, jubilierte der Kontrolleur.
Klabunde beugte sich gerade über das frei laufende Sägeblatt, als ihn der große rote Hahn mit voller Wucht von hinten ansprang. Er versuchte sich noch umzudrehen und den Derwisch abzuschütteln, da rammte der wild gewordene Hahn ihm seinen scharfen Schnabel direkt seitlich in den Hals. »Was zum Teufel!«, gurgelte er noch, doch da spritzte ihm schon das Blut aus der klaffenden Wunde.
Sofort presste er eine Hand darauf und sah zu seiner Verwunderung, dass er inmitten einer Hühnerschar zu stehen stand, die ihn auf einmal attackierte. Er rang nach Luft, taumelte und suchte Halt, stolperte erneut und fiel unkontrolliert in die laufende Kreissäge, die seine rechte Hand mühelos abtrennte. Das Blut schoss in einem dicken Strahl aus dem Stumpen heraus. In hohem Bogen wurde die Hand weggeschleudert und landete weitab auf dem Rasen, umrankt vom knallgelb blühenden Löwenzahn.
Eigenartigerweise verspürte Klabunde keinen Schmerz, als er sich seiner misslichen Lage bewusst wurde und kopfüber zu Boden ging. Er fiel sanft in die weichen und gut riechenden Sägespäne, eine Mischung aus frischem Holz mit einer Note Gras. Der Duft des Sommers. Das Letzte, was er bemerkte, bevor er in Ohnmacht fiel, war das verdutzte, ja überraschte Gesicht des Hahns, der offensichtlich jemand anderen erwartet hatte.
Ebenso wie die umstehende Schar der weißen und braunen Hennen. Klabunde hätte schwören können, gesehen zu haben, wie eine Henne erschrocken, eine Kralle vor den Schnabel hielt, als ob sie sagen wollte: Oh mein Gott!
Das Sägemehl färbte sich rasch tiefrot, ein kleiner Rinnsal bahnte sich den Weg über den rissigen Betonfußboden, während das Herz vom inzwischen reglos daliegenden Kontrolleur zuverlässig den Rest des roten Lebenssaftes aus dem dürren Körper pumpte.
Unter wildem Geschrei stoben die Hennen in alle Himmelsrichtungen davon, einzig der Hahn Che stand wie angewurzelt vor den sterblichen Überresten des Amtmannes. Ebenso wie er hatte er den Lauf der Dinge ganz anders erwartet; in der Ferne hörte er stolz einen anderen Hahn krähen.
Macksen stand mitten zwischen den dampfenden Kühen, als der Strom ausfiel und das Licht ausging.
»Verdammt! Ausgerechnet jetzt«, schnaufte er. Eine der trächtigen Kühe kam dem Kalben immer näher, weswegen er ihr beim Sägen zu Hilfe geeilt war. Das Surren der Milchpumpen erstarb ebenso wie ein laufendes Aggregat im Stall. In der Ferne hörte er, wie die Säge ihren schrillen, hohen Oberfrequenzton verlor und langsam auslief.
Er tastete nach seiner Mini-Taschenlampe an seinem Multi-Tool, das er von seiner Frau zu Weihnachten geschenkt bekommen, aber nur sehr selten benutzt hatte.
Schnurstracks lief er zur großen Scheune, wo sich der Sicherungskasten befand. Schnell ersetzte er die alte, durchgebrannte Keramiksicherung und sofort ging überall das Licht wieder an, Maschinen und Aggregate liefen. Als er auf dem Weg zurück zum Kuhstall wieder am Sägetisch vorbeikam, stolperte er. Blöder Ast, dachte er, als er strauchelte und zu Boden ging. Als er sich aufraffte und dabei seine blutrot gefärbte Hand aus dem Sägemehl zog, wurde ihm schlagartig klar, dass er gerade nicht über einen Ast, sondern über ein Bein in einer blauen Arbeitshose gefallen war. An den Füßen steckten nagelneue und sehr teure Sicherheitsschuhe. Was bedeutete, dass es sich hier keinesfalls um seinen Knecht Pjotr aus Polen oder gar einen seiner nutzlosen Söhne handeln konnte, sondern um eine betriebsfremde Person.
Wie in Trance stand Macksen auf, klopfte sich das Sägemehl aus der Kleidung, stellte den roten Schalter der Säge auf null, nahm seine Schiebermütze ab und kratzte sich am Kopf. Behutsam drehte er den leblosen Körper auf die Vorderseite. Er erschrak und erkannte sofort: Vor ihm lag Kuno Klabunde, der Inspektor der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft. Kein Zweifel, dachte er. Das war er. Auf seiner blauen Arbeitsjacke stand mit roter Stickerei: »K. Klabunde/BGN«.
War er etwa tot? Oder steckte noch Leben in ihm? Er beugte sich dicht über den bleichen Körper und überprüfte ihn auf Lebenszeichen. Nichts. Nicht ein Hauch. Auch kein Herzschlag mehr. Kein Zweifel, der Mann war in die ewigen Jagdgründe übergegangen. Der Anblick des Stumpens, aus dem noch ein dünnes Rinnsal heraustropfte, bestätigte seine Vermutung, so was konnte keiner ohne sofortige Hilfe überleben.
Das hatte ihm noch gefehlt. Bei aller Unbill und den Schwierigkeiten in den letzten Monaten lag nun auch noch ein toter Beamter mit unvollständigen Gliedmaßen und einer klaffenden Wunde am Hals in seiner Scheune. Offenkundig an seiner ungesicherten Säge tragisch zu Tode gekommen. Benommen schaute Macksen sich um. Hatte irgendjemand etwas mitbekommen?
Von Weitem wurde »Good Day Sunshine« von den Beatles durch die Luft getragen, irgendwo knatterte laut ein Trecker, die Hühner krakelten immer noch aufgeregt in der Ferne. Einzig der bellende Hofhund erinnerte ihn daran, jetzt irgendetwas zu unternehmen. Keinesfalls durfte man den toten Amtmann hier auf seinem Hof finden. Das würde endlose Untersuchungen bedeuten, ja womöglich eine Anklage und die Stilllegung seines Betriebes. Wovon sollte seine Familie dann leben? Nein, so weit durfte es nicht kommen. Und selbst wenn er das unbeschadet überleben würde, es würde doch immer etwas an ihm kleben bleiben. »Todeshof Macksen« hämmerte es laut in seinem Schädel.
Die alte Sickergrube, schoss es ihm spontan durch den Kopf. Seit der Hof vor knapp zehn Jahren an die öffentliche Kanalisation angeschlossen worden war, gab es für den alten Abwasserschacht keine Verwendung mehr. Macksen überlegte, was noch zu tun war. In unzähligen Krimis hatte er gelesen oder gesehen, wie man so etwas machte. Zunächst musste er den Leichnam verschwinden lassen, vorher das Handy an sich nehmen und dann das Auto ausfindig machen. Er musste alle Spuren verwischen, die auf Klabunde hindeuteten. Und er musste sich für alle Fälle ein gutes Alibi zurechtlegen, falls später Nachforschungen angestellt werden würden, wo der penible Kontrolleur zuletzt abgeblieben war.
Schnell und kraftvoll zog Macksen den immer noch warmen Körper unter dem Sägetisch hervor. Jetzt erst bemerkte er, dass Klabunde fast gleich groß wie er war, und auch der Körperbau schien ähnlich. Sein Blick fiel auf die makellosen und teuren Sicherheitsschuhe des Toten. So etwas Gutes hatte er sich selbst nie geleistet. Rasch zog er sie dem leblosen Amtmann von den Füßen. »Hm, vierundvierzig – passt«, sprach er zu sich selbst. Er hatte kein schlechtes Gewissen, der tote Klabunde brauchte sie ja nun nicht mehr.
Er rollte den schlaffen Körper zusammen und fesselte Arme und Beine mit einem Kabelbinder. Schließlich stopfte er Klabunde samt dem blutbefleckten Sägemehl, Holzresten und Ästen in einen großen Big Bag, wie sie überall auf dem Hof benutzt wurden.
Sein kleiner, alter roter Hoftrecker, ein echter Porsche aus den Fünfzigerjahren, nahm den Sack mühelos auf die Gabel. Mit einem Stemmeisen schob Macksen den schweren Betondeckel des Abwasserschachtes zur Seite und leuchtete hinein. Ganz unten spiegelte sich schwarz etwas Wasser, etwas Geröll und einige Kröten konnte er auch erblicken. Der drei Meter tiefe und schwer zugängliche Schacht war der ideale Ort für die endgültige Entsorgung von Klabundes körperlichen Überresten.
Er schob den Sack über die Betonkante, und mit einem dumpfen Aufprall und einer kleinen Fontäne schlug er unten auf. Schnell schob Macksen wieder den Betondeckel über den Schacht und schaute sich noch einmal um. Hier hinten, hinter dem alten Schweinestall, kam selten jemand hin. Warum auch? Riesige Brennnesselbüsche, alte Autoreifen, Reste von Unrat und Bauschutt machten diese Stelle des Hofes nicht gerade zu einem ansehnlichen Ort. »Und jetzt sogar noch gekrönt mit einem Toten«, sinnierte der Bauer.
Wie ausgerechnet Klabunde, der Sicherheitsingenieur, es geschafft hatte, durch einen Unfall vorzeitig aus dem Leben zu scheiden, war ihm ein Rätsel.
Macksen beseitigte gerade mit dem Hochdruckreiniger die letzten Spuren des Gemetzels, als ihm unter der Säge eine Schwanzfeder seines stolzen Hahns Che auffiel. Doch er hatte anderes zu tun, als sich darüber Gedanken zu machen, denn er musste sich um das Auto und das Handy kümmern.
Die Autoschlüssel hatte er, ebenso wie das Handy, in der Hosentasche des Opfers gefunden. Klabunde hatte seinen weißen Passat seitlich auf der Hofeinfahrt geparkt, direkt neben der alten Eichenallee, die das große Hofgrundstück säumte. Als Macksen sich in das Auto setzte, fiel sein Blick sofort auf den schwarzen Moleskin-Terminkalender. Er blätterte kurz zum heutigen Datum. Dabei stellte er fest, dass für den heutigen Tag kein Termin vermerkt war, das sah nach Überraschungskontrollen aus. Dafür war der spießige Kontrolleur berüchtigt gewesen, oft unangekündigt irgendwo aufzutauchen, überall herumzuschnüffeln und irgendetwas von Fristen, Paragrafen und neuen Bestimmungen zu faseln. Kein normaler Mensch, schon gar nicht ein arbeitender Bauer, war in der Lage, hier noch einen Überblick zu bewahren.
Macksen steuerte den weißen Passat in die große Scheune, wo er den Wagen unter etlichen Strohballen verstaute, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. Den Terminplaner nahm er an sich. Er erhoffte sich, darin Hinweise auf den Pin des Handys zu finden, das war eine große Hürde, die er noch nehmen musste, um Klabundes zuletzt bekannten Standort zu manipulieren.
Er war selbst von sich überrascht, wie erstaunlich gefasst, ja fast eiskalt und berechnend er vorgegangen war. Er schien nur noch zu funktionieren, alle Gefühle, jegliche Empathie waren wie ausgelöscht. Vor einer Stunde hatte er noch gelangweilt Holz gesägt und nun hatte er mit nahezu krimineller Energie einen toten Amtmann beseitigt. Ein unerwartetes Gefühl der Zufriedenheit kam in ihm auf. Es war lange her gewesen, dass er sich ähnlich kraft- und tatenvoll gefühlt hatte. Keiner der Bauern hier in der Gegend würde Klabunde vermissen, und soviel er wusste, war er auch nicht verheiratet. Wer wollte schon mit so einem Ekel verheiratet sein? Also blieb nur noch seine Behörde, die um ihn trauern würde.
Macksen nahm sich das Handy vor. So schwierig konnte es nicht sein. Im Fernsehen sah das immer ganz leicht aus. Ein paar Eingaben, Proben und Kniffe – und Schwups, das Tor zu allen Geheimnissen der untreuen Ehefrau, der Freundin oder des Toten war offen. Er drückte eine Taste. Zu seiner Überraschung wurde nicht wie bei seinem Handy ein Sicherungscode verlangt, sondern ein persönlicher Fingerabdruck. »Schiet«, sagte er leise, »was soll denn dieser moderne Kram?«
Macksen dachte nach. Die sterblichen Überreste des Kontrolleurs lagen in drei Metern Tiefe in seiner alten Sickergrube. Kein Mensch würde dort jemals nach ihm suchen. Er nahm das Handy in die linke Hand und probte, wie man es machen müsste, wenn man denn den Fingerabdruck hätte. Das Klabunde nicht unversehrt aus dem Leben geschieden war, war ja klar, aber wo war eigentlich die abgetrennte Hand geblieben? So abgeklärt er den Leichnam auch entsorgt hatte, diesen Umstand hatte er völlig ausgeblendet. Schnell eilte er zurück an die Säge und suchte den Betonboden ab. Nichts. Nada. Verdammt! Wo war die blöde Hand abgeblieben? Er kroch noch einmal unter den Sägetisch und leuchtete alles ab, als auf einmal hinter ihm Almas Stimme erklang.
»Was machst du denn da? Suchst du was Bestimmtes?«
Macksen erschrak, schoss hoch und stieß sich schmerzvoll seinen Kopf an der Eisenplatte des Sägetisches. »Aaah, Sch… so ein Mist!«, entfuhr es ihm.
Er stand auf und rieb sich seinen dünn behaarten Schädel. »Äh, ich suche nur so ein kleines Teil … äh, so einen Bolzen für den Sicherungsbügel der Säge. Der ist irgendwie weg.«
»Apropos weg. Weißt du, warum der Strom weg war?«, fragte sie. »Ich war gerade in der Küche, als auf einmal alles tot war. Und warum bist du nicht zurück zu den Kühen? Die Dicke ist schon am Kalben.«
»Ich … äh, ich war ja bei ihr, aber dann bin ich durch den Stromausfall abgelenkt worden. War nur eine durchgebrannte Sicherung. Du weißt ja, der Anlaufstrom der Säge, das passiert schon mal«, gab er zurück.
Misstrauisch beäugte Alma ihren Mann. Sie schien ihm nicht zu glauben. Dann fiel ihr Blick auf seine linke Hand. »Was ist denn das für ein neumodisches Teil? Hast du etwa ein neues Handy?«
In diesem Moment erschrak Macksen. Hinter seiner Frau sah er einen seiner schwarzen Kater mit der Hand von Amtmann Klabunde davontrotten. Er erbleichte. »Ja, äh, ich, nein. Nur ein Zweitgerät zur Probe. Du weißt schon, das gab’s mit meinem neuen Vertrag. Aber ich muss dann mal schnell wieder zur Kuh … Was gibt’s heute Abend zum Essen?«, versuchte er abzulenken.
»Mal sehen«, antwortete Alma. »Ich bin jetzt erst mal weg, muss zum Einkaufen in die Stadt.«
»Okay. Bis später«, antwortete Macksen und hoffte in Wirklichkeit auf viel, viel später.
Er sah ihr noch kurz hinterher, bevor er losspurtete, um dem Kater die Hand von Klabunde abzujagen. Er fand ihn in der großen Landhausküche, wo er sich bereits mit seinem Bruder, dem anderen schwarzen und kräftigen Kater, um die Hand vom Kontrolleur stritt. Beide knurrten und fauchten sich an. Der ältere und etwas kräftigere Kater wollte die Hand partout nicht an seinen Bruder abtreten, und es entbrannte ein wildes Gezerre um Klabundes Hand.
Da half jetzt nur noch der Dosentrick. Schnell öffnete Macksen den Ring-Pull-Verschluss einer Dose Katzenfutter. Die verwöhnten Tiere waren so auf dieses Geräusch konditioniert, dass sie in diesem Moment alles vergaßen, die Hand freigaben und sich auf ihr Dosenfutter stürzten.
Macksen nutzte die Chance, ergriff schnell Klabundes Überreste und steckte sie in seine Hosentasche. Er eilte in den Kuhstall, wo er unbemerkt von allen das Handy in die linke Hand nahm und mit dem Zeigefinger der leblosen Hand über den Fingerprint-Sensor strich. Nichts passierte. Also noch einmal mit einem anderen Finger. Wieder passierte nichts. Macksen wurde nervös. Jetzt nahm er den Ringfinger und zog ihn erneut rasch über den Sensor. Der Startbildschirm erschien. Macksen schnaufte erleichtert und blickte auf ein Foto von Klabunde mit einem Dobermann. Aha, dachte Macksen, wie passend. Zügig änderte er die Zugangsberechtigungen, sodass er mit der Manipulation der Daten beginnen konnte.
Der Rest war beinahe Routine. Das hatte er schon oft gesehen. Er fuhr ziellos im östlichen Landkreis des Wendlandes umher, schrieb einige sinnfreie Nachrichten, benutzte den Messenger und hörte einmal die Mailbox ab. Damit dürfte das Notwendige erledigt sein. Die Funkmasten hatten jetzt alle neue Signaldaten bekommen. Würde die Polizei das später nachprüfen, konnte nichts mehr auf Macksens Hof hinweisen.
Er kam nun an die alte Elbbrücke, eine riesige Ruine aus dem Zweiten Weltkrieg, kletterte auf die alten Schienen und warf das Handy in hohem Bogen in den darunterliegenden Fluss, wo es im Nu versank. Macksen blickte gedankenverloren hinterher. Irgendwas stimmte nicht. Er konnte nicht glauben, dass Klabunde zufällig in die Säge geraten war. Irgendetwas musste während seiner kurzen Abwesenheit passiert sein, was den armen Mann völlig überrascht hatte. Ein unklarer Gedanke mischte sich ein, aber er konnte ihn nicht fassen.
Betroffen stand Che im Kreis seiner Hennen. Er blickte zu Boden und scharrte etwas teilnahmslos im losen Stroh.
»Wie konnte das nur passieren?«, wetterte die Henne Frida. »Du hast den falschen erwischt! Unser Herr und Futterknecht hingegen läuft immer noch gesund und munter durch die Gegend und ist offensichtlich bester Gesundheit.«
»Ich weiß auch nicht«, stammelte Che. »Ich hätte schwören können, er war’s. Wer soll denn sonst um diese Zeit an der Säge stehen? Sie waren gleich groß, außerdem hatte er die gleiche blaue Arbeitshose an.«
»Aber die Schuhe«, entgegnete Frida. »Daran hättest du es doch sofort erkennen müssen. Niemals habe ich unseren Bauern in solch schicken Schuhen gesehen. Die waren nagelneu und ohne den geringsten Schmutz.«
»Wer schaut schon auf die Füße?«, krähte Agnetha dazwischen. »Außerdem sein Pech! Was treibt der Kerl sich hier auch unangemeldet auf unserem Hof herum.«
»Weiß überhaupt jemand, wer das war?«, fragte die Henne Büxe. »Ich habe den hier noch nie gesehen.«
»Ich hab mich sofort an ihn erinnert, als ich seine aufgerissenen Augen gesehen hab«, wandte Che ein. »Das ist irgendein wichtiger Mann. Der kommt einmal im Jahr vorbei und schnüffelt überall herum. Unser Bauer kann ihn nicht leiden, sie haben sich immer gestritten, wenn er da war. Und manchmal haben sie sich sogar angebrüllt.«
»Ich habe gesehen, wie unser Bauer den Mann weggeschafft und in die alte Grube hinter dem Schweinestall geworfen hat«, sagte Frieda. »Und er schien nicht besonders traurig zu sein, jedenfalls hat er dabei leise ein Lied gesungen. Er wirkte irgendwie gelöst, gar nicht mehr so missmutig wie in der letzten Zeit!«
»Das ist merkwürdig … sehr merkwürdig«, wisperte die sonst sehr stille Araucana-Henne Rosella. »Offensichtlich möchte unser Herr diesen Unglücksfall genauso schnell vergessen machen wie wir.«
»Und was machen wir nun?«, fragte Büxe. »Geben wir unseren Plan jetzt auf?«
»Auf gar keinen Fall«, polterte Che. »Entweder er oder wir! Wir haben nur diese eine Chance! Ich werde einen neuen, besseren Plan aushecken, um den alten Mann zu beseitigen.«
Die Hühner nickten, doch sie wirkten nicht wirklich überzeugt. Ratlos stand die Hühnerschar noch eine Weile in der Runde, bevor sie sich in alle Richtungen zerstreute und ihre Hofrunde beging. Che schaute den Hennen hinterher und unter seinem roten Hahnenkamm rumorte es mächtig. Das nächste Mal musste es klappen, dachte er. Sonst zweifelten seine Damen noch an seiner Führungskompetenz.
Gedankenverloren trottete er den Hennen hinterher. Es musste eine neue Lösung her. Bald.
Gerädert wachte Macksen in der Frühe auf. Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten hatte er unruhig geschlafen. Seine Frau Alma war schon aufgestanden, aus der Küche hörte er das Geklapper von Geschirr und das Röcheln der Kaffeemaschine. Schlaftrunken machte er sich auf den Weg ins Badezimmer. Der Blick in den Spiegel erschrak ihn: tief geränderte Augen, ein leicht verquollenes Gesicht, und die wenigen Haare, die er noch hatte, standen in alle Himmelsrichtungen ab.
Er bemühte sich, einen klaren Kopf zu bekommen, und schöpfte eiskaltes Wasser in sein Gesicht. Allmählich kehrte er in die Realität zurück und das Geschehen des gestrigen Tages spielte sich noch einmal vor seinem geistigen Auge ab. Hatte er gestern wirklich einen Leichnam entsorgt? Und dann auch noch alle Spuren beseitigt? »Das bin … nicht ich …«, sprach er mit sich selbst.
Wie immer auch der BGN-Kontrolleur Klabunde in seine Kreissäge geraten konnte und wer auch immer dafür verantwortlich war, so war er selbst es, der das Werk vollendet hatte. Möglicherweise hatte erst er kriminell gehandelt, indem er den Toten heimlich beseitigt hatte, wie auch Handy und Auto.
Warum hatte er nicht einfach Polizei und Krankenwagen gerufen? Auch wenn es nicht nach einem typischen Arbeitsunfall aussah. Jeder wusste doch, wie gefährlich Sägen waren und welch üble Verstümmelungen und gar Todesfälle damit passieren konnten. Aber ausgerechnet Klabunde? Der penibelste Sicherheitsfanatiker der westlichen Hemisphäre, da hätte bestimmt auch die Polizei genauer nachgeforscht.
Und dann war da ja auch noch diese große Wunde am Hals. Es blieb unerklärlich, und je mehr er darüber nachdachte, je mehr Fragen taten sich auf. Macksen ahnte, dass es mit dem verschwundenen Leichnam nicht zu Ende sein würde, wie er es sich vorgestellt hatte. Einen Menschen einfach so vom Erdboden verschwinden zu lassen, gelang selbst hartgesottenen Killern in den einschlägigen Kriminalserien kaum, ohne eine Spur zu hinterlassen. Meist wurden sie dann am Schluss doch noch gestellt oder erlitten selbst ein unerfreuliches Ende. Von seiner gestrigen Souveränität beim Beseitigen der Leiche war heute keine Spur mehr. Macksen beschloss, erst mal einfach so zu tun, als wäre nichts Besonderes geschehen. Vielleicht würde nach einer Weile Gras über die Sache wachsen und niemand würde ihn mit dem plötzlichen Verschwinden von Klabunde konfrontieren. Im Wendland war alles möglich.
Er schlurfte in die Großküche des alten Landhauses. »Moin, Süße, bist du aus dem Bett gefallen?«, säuselte er seiner Frau Alma entgegen.
»Süße?«, wunderte sich Alma. »Das hast du schon seit Ewigkeiten nicht mehr zu mir gesagt.«
»Ich lasse mal die Hühner raus«, sagte er.
»Hab ich schon gemacht«, antwortete sie.
In diesem Moment fiel ihm wieder die rote Schwanzfeder von Hahn Che ein, die er direkt neben der Säge gefunden hatte. »Und?«, fragte er. »War alles in Ordnung mit dem Federvieh?«
»Joa, war alles wie immer … obwohl … heute standen sie alle so dicht beieinander und liefen gar nicht wie sonst zur offenen Klappe. Und der Hahn sah etwas mitgenommen aus, genau wie du heute Morgen.« Alma lächelte.
»Habe schlecht geschlafen …«, murmelte er. »Brauche jetzt erst mal eine starke Tasse Kaffee.«
Alma goss ihm eine Tasse ein, trat einen Schritt zurück und begutachtete ihren Mann. »Du warst unruhig heute Nacht, hast ein paar merkwürdige Laute von dir gegeben, fast so, als wolltest du etwas sagen, konntest es aber nicht.«
Macksen erschrak. »Habe ich denn etwas gesagt?«
»Ich habe nicht wirklich etwas verstehen können.«
Macksen war beruhigt. Wenn Alma auch nur ansatzweise mitbekommen hätte, was gestern vorgefallen war und was er getan hatte, wäre es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus zwischen ihnen. Nicht, dass Alma um den toten Kontrolleur getrauert hätte, aber dass Macksen Geheimnisse vor ihr hatte oder irgendetwas hinter ihrem Rücken tun würde, das käme einem Vertrauensbruch gleich.
»Na denn, wie auch immer. Nachts sind alle Katzen grau«, versuchte er halbwegs souverän abzuwiegeln. »Ich muss heute auf jeden Fall mit dem Traktor noch mal zum Mechaniker, da stimmt irgendetwas mit der Kurbelwelle nicht. Und bei dir heute so?«
»Ich muss nachher noch mit einem der Kater zum Tierarzt«, sagte sie. »Der große hatte gestern Blut im Fell, aber ich konnte, obwohl ich ihn ganz gründlich untersucht habe, keine Wunde feststellen. Hoffentlich hat er nicht irgendein Geschwür.«
Macksen wurde schlagartig hellwach. Es konnte sich ja nur um das Blut von Klabunde handeln. »Ach ne, lass mal lieber, der ist doch quietschfidel. Bestimmt nur Blutreste einer massakrierten Maus oder von einem Vogel«, sagte er schnell. »Du weißt doch, was die Tierärzte mittlerweile kosten. Die nehmen ja alle schon ein kleines Vermögen, nur fürs Angucken.«
Alma stutzte. Wahrscheinlich war sie überrascht, denn bislang waren die beiden sein Ein und Alles. Seine Sorglosigkeit schien sie zu irritieren.
»Meinst du nicht, wir sollten auf Nummer sicher gehen und das doch mal vom Arzt anschauen lassen?«, wiederholte Alma.