Für eine Handvoll Mäuse - Rita Mae Brown - E-Book

Für eine Handvoll Mäuse E-Book

Rita Mae Brown

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Beschreibung

Die neue Zeit hält Einzug in Crozet, Virginia. Genveränderter Mais ist nur ein Beispiel dafür und erregt die Gemüter der traditionsbewussten, aber auch der umweltfreundlich gesinnten Farmer. Bei einer Fahrt übers Land kommen die Haristeens eines Tages an der Morrowdale Farm mit ihren weitläufigen Maisfeldern vorbei. Eine große Schar Krähen macht sich an einer Vogelscheuche zu schaffen. Als sie sich der Figur nähern, der eine Krähe unter dem Strohhut ein Auge auspickt, wird schnell klar, dass unter den abgetragenen Hosen und dem zerknitterten Hemd keine Strohpuppe steckt, sondern ein Toter. Ein schwieriger Fall – der nur mit dem Scharfsinn der ehemaligen Postbeamtin Harry Haristeen und ihrer Katze Mrs. Murphy zu lösen ist.

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Das Buch

In Crozet, Virginia, laufen die Vorbereitungen für Halloween auf Hochtouren. Harry Haristeen und ihr Mann Fair sind auf dem Weg zum Gemüsestand eines Farmers, der die besten Kürbisse haben soll. Plötzlich fällt ihnen eine Vogelscheuche auf, an der sich mehrere Krähen zu schaffen machen. Beim Näherkommen findet Harry, versteckt in den Kleidern der Scheuche, einen Toten. Schon bald ist klar, dass dieser Fall nur mit dem Scharfsinn der ehemaligen Postbeamtin Harry Haristeen und ihrer Katze Mrs. Murphy gelöst werden kann.

Die Autorin

Rita Mae Brown, geboren in Hanover, Pennsylvania, wuchs in Florida auf. Sie studierte in New York Filmwissenschaft und Anglistik und war in der Frauenbewegung aktiv. Berühmt wurde sie mit dem Titel Rubinroter Dschungel und durch ihre Romane mit der Tigerkatze Sneaky Pie Brown als Co-Autorin.

www.ritamaebrown.com

Rita Mae Brown & Sneaky Pie Brown

FÜR EINE HANDVOLL MÄUSE

Ein Fall für Mrs. Murphy

Roman

Aus dem Englischen

von Margarete Längsfeld

Ullstein

Die Originalausgabe erschien 2013

unter dem Titel The Litter of the Law

bei Bantam Books, New York.

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www.ullstein-buchverlage.de

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ISBN 978-3-8437-1068-8

© 2013 by American Artists, Inc.

Illustrationen © 2013 by Michael Gellatly

© der deutschsprachigen Ausgabe

2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: Jakob Werth, Teisendorf

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für

Kathleen King,

die weiß, dass die Vergangenheit uns nicht loslässt.

Personen der Handlung

Mary Minor »Harry« Haristeen, gerade einundvierzig geworden, Absolventin des Smith College, hat in Crozet, Virginia, sechzehn Jahre lang als Posthalterin gearbeitet. Nun versucht sie, mit Farmarbeit Geld zu verdienen. Sie hat Brustkrebs überstanden und denkt lieber nicht darüber nach. Sie lebt mehr oder weniger an der Oberfläche des Daseins, bis ihre Neugierde sie tiefer hineinzieht.

Pharamond »Fair« Haristeen, Doktor der Veterinärmedizin, hat sich auf Pferdefortpflanzung spezialisiert. Nach seinem Examen an der Auburn University hat er seine Kindheitsliebe Harry geheiratet. Er versteht sich besser als seine Frau auf die Gefühlslage anderer Menschen. Er ist ein Jahr älter als Harry.

Susan Tucker, kontaktfreudig und in geselligem Austausch aller Art bewandert, ist Harrys beste Freundin, seit sie beide in der Wiege lagen. Sie liebt Harry, macht sich jedoch Sorgen, weil Harry ständig in irgendetwas hineinstolpert.

Reverend Herbert Jones, Vietnam-Veteran der Armee, ist Pastor der lutherischen St.-Lukas-Kirche, die über zweihundert Jahre alt ist. Er ist ein Mann von tiefer Überzeugung und tiefen Empfindungen. Harry kennt er seit ihrer Kindheit.

Deputy Cynthia Cooper. Die große, schlanke Frau ist Harrys direkte Nachbarin, weil sie die angrenzende Farm gepachtet hat. Sie liebt den Polizeidienst. Harry mischt sich hin und wieder in Coopers berufliche Angelegenheiten ein, denn die Smith-Absolventin besitzt ein unheimliches Talent, auf wichtige Informationen zu stoßen.

Tazio Chappars, Anfang dreißig, ist Architektin und wird oft von ihrem gelben Labrador Brinkley unterstützt, den sie bei sich aufgenommen hat. Dank ihrer italienisch-afrikanischen Abstammung sieht sie umwerfend aus. Sie stammt aus St. Louis, Missouri.

Buddy Janss. Der kräftige Mann und erfolgreiche Farmer lässt sich bereitwillig einspannen, wenn es darum geht, Geld für einen guten Zweck aufzubringen. Er und Harry unterhalten sich gern über die Ernte, das Wetter und neue Gerätschaften.

Hester Martin, Mary-Baldwin-Absolventin mittleren Alters, betreibt einen Obst- und Gemüsestand am Straßenrand. Eigenwillig, hartnäckig, aber mit einem guten Herzen gesegnet, kann sie die Menschen für ihre Projekte begeistern.

Tante Tally Urquhart, die hunderteinjährige Tante von Marilyn Sanburne, macht, was sie will und wann sie will. Sie tritt in diesem Buch kaum in Erscheinung, was allen eine Verschnaufpause verschafft.

Marilyn »Big Mim« Sanburne ist als Queen von ­Crozet bekannt. Sie beherrscht alles und alle außer ihrer Tante. Big Mim ist politisch interessiert.

Marilyn »Little Mim« Sanburne junior hat vor kurzem ein Baby bekommen, Roland. Ihre Mutter mag den Namen nicht. Oft mag Little Mim ihre Mutter nicht.

Miranda Hogendobber ist für Harry wie eine zweite Mutter. Die fromme Christin tritt ebenfalls in diesem Buch kaum in Erscheinung. Sie ist wie Big Mim in den Siebzigern und hat keine Ahnung, wie sie da so schnell hingeraten ist.

Sheriff Rick Shaw. Der Sheriff von Albemarle County ist überlastet, unterfinanziert und überarbeitet. Trotzdem liebt er den Polizeidienst, und er hat gelernt, Cooper zu vertrauen. Anfangs war er nicht begeistert gewesen, eine Frau im Revier zu haben.

Neil Jordan, der Schatzmeister von St. Lukas, kann pingelig, pingelig und noch mal pingelig sein. Er treibt Harry zum Wahnsinn und umgekehrt, aber sie müssen zusammenarbeiten, weil beide im Kirchenvorstand sind. Er besitzt ein einträgliches Düngemittelunternehmen.

Wesley Speer ist ebenfalls im Kirchenvorstand und bringt eine geschäftliche Note hinein. Er arbeitet manchmal mit Neil zusammen, weil Wesley eine exklusive Immobilienfirma besitzt und oft Kunden an Neil empfiehlt. Wesley ist gerissen wie alle Makler für Luxusimmobilien.

BoomBoom Craycroft, auch eine Kindheitsfreundin von Harry, hatte vor Jahren eine Affäre mit Harrys Mann. Was natürlich ein Riesenschlamassel war. Doch alle haben sich davon erholt, und vieles ist in mancher Hinsicht besser geworden. BoomBoom ist auf konventionelle Art schön.

Alicia Palmer ist einfach atemberaubend. Alicia, die in den fünfziger Jahren ein Filmstar war, hat etliche Ehemänner und Affären hinter sich, einen Haufen Geld verdient und von einer alten Liebe noch mehr geerbt. Sie ist nach Crozet zurückgekehrt, hat sich in BoomBoom verliebt und ist überglücklich.

Sarah Price, die Nichte von Hester Martin, kommt aus Houston nach Crozet.

Paul Diaz, Tazios Freund, trainiert Big Mims Pferde.

Die wirklich bedeutenden Figuren

Mrs. Murphy, die Tigerkatze, ist meistens cool, ruhig und beherrscht. Sie liebt ihre Menschen, die Hündin Tucker und sogar Pewter, die andere Katze, die ein rechtes Ekel sein kann.

Pewter ist ichbezogen, rundlich und, wenn sie Lust hat, intelligent. So selbstsüchtig diese Katze auch ist, oft kommt sie in allerletzter Minute, um zu helfen, und will dann die ganze Anerkennung einheimsen.

Tee Tucker. Die Corgihündin könnte für Sie die Aufnahmeprüfung am College bestehen. Sie hängt sehr an Harry, Fair und Mrs. Murphy. An Pewter eher weniger.

Simon ist ein Opossum und wohnt auf dem Heuboden von Harrys Stall.

Matilda ist eine große Kletternatter mit einem starken Sinn für Humor. Sie wohnt auch auf dem Heuboden.

Plattgesicht. Die große Ohreule wohnt in der Stallkuppel. Sie triezt Pewter, aber der Katze ist klar, dass der Vogel sie mühelos hochheben und wegtragen könnte.

Shortro ist ein junges Reitpferd in Harrys Stall und wird für die Fuchsjagd trainiert. Er ist sehr klug und gutmütig.

Tomahawk ist Harrys älteres Vollblutpferd. Sie sind seit langem befreundet.

Die lutherischen Katzen

Eloquenz ist die älteste der St.-Lukas-Katzen. Sie ist sehr besorgt um den »Rev«, wie seine Freunde den Reverend Herbert Jones manchmal nennen.

Cazenovia. Diese Katze beobachtet alles und jeden.

Lucy Fur ist die jüngste der Miezen. Obwohl stets verspielt, hört sie auf die älteren.

1

Fair Haristeen, Doktor der Veterinärmedizin, und seine Frau Mary Minor »Harry« Haristeen nahmen sich gern mal einen Sonntag frei, um über die Nebenstraßen von Mittel­vir­ginia zu kurven. Das erinnerte sie an ihre Highschoolzeit, als sie frisch verliebt waren und Fair, angeschlagen vom Football-Spiel, Harry, schmutzig von der Stallarbeit, abgeholt hatte und mit ihr in seinem 1958er Pick-up durch die Gegend gegondeltwar. Als sie heute, mehr als zwei Jahrzehnte später, über Land fuhren, saß Fair am Steuer ihres Volvo-Kombis, Harry neben ihm, die Tiere lümmelten sich auf dem Rücksitz.

Mrs. Murphy, die Tigerkatze, Pewter, ihre graue über­gewichtige Freundin, und Tucker, die Corgihündin, begleiteten ihre Menschen gewöhnlich überallhin, außer bei starker Hitze. An einem milden Tag wie heute, die Fenster einen Spalt offen, konnten die drei Tiere schlafen oder plaudern, während die Menschen sich unterhielten.

»Ideales Wetter«, meinte Fair.

Der 12. Oktober war wahrhaftig ein herrlicher Frühherbsttag – die Sommerwärme hielt lange an in diesem Jahr. Die Wälder sahen aus wie mit Gelb, Orange, Feuerrot, Dunkelrot und Gold besprüht.

»Hey, Miranda hat die Grippe.« Harry sprach von ihrer ehemaligen Mitarbeiterin und guten Freundin. »Sie schwört, das Trinken von Elektrolyten wird sie gesund machen. Hat sie aus dem Fernsehen.«

Fair schüttelte den Kopf. »Elektrolyte können zwar nützen, aber unsere liebe Miranda scheint mir für Quacksalber empfänglich zu sein.«

Beim Betrachten der vorbeigleitenden Landschaft bemerkte Pewter ein hübsches, mit gelben Schindeln verschaltes Bauern­haus. »Quacksalber – klingt irgendwie nach Entenschnattern, quak-quak. Was hat ein Kurpfuscher mit ’ner Ente gemeinsam?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Tucker. Die Corgidame war an Pewters Wissbegier gewöhnt. »Sie reden ja auch von ›Schlangen­öl‹. Ein Quacksalber verkauft Schlangenöl. Zum Verrücktwerden.«

»Ha!«, frohlockte Pewter. »Wenn die sich Schlangenöl besorgen, kriegen wir sie vielleicht soweit, dass sie nach Katzenminze süchtig werden.«

»Menschen schnupfen keine Katzenminze«, entgegnete Tucker in vollem Ernst.

»Sie sind lernfähig«, erklärte die graue Katze im Brustton der Überzeugung.

»Pewter, manchmal denke ich, du bist so überdreht wie fett«, sagte der Hund törichterweise.

»Fett!«, empörte sich Pewter.

»Du brauchst einen ganzen Sitz für dich allein. Immer wenn wir eine Kurve nehmen, schwabbelt der Speck an deinem Bauch«, hänselte Tucker.

Pewter holte aus und landete eine schnelle Rechte auf Tuckers Schulter.

Tucker entblößte knurrend die Reißzähne.

Harry drehte sich um. »Schluss jetzt!«

»Ich hab nichts gemacht«, distanzierte Mrs. Murphy sich von den Streitenden, die sofort auf sie losgingen.

»Arschkriecherin!« Pewter versetzte der Tigerkatze einen Hieb, die ihn prompt erwiderte.

Das Fauchen und Bellen störte Fair dermaßen, dass er am Straßenrand unweit von Hester Martins Obst- und Gemüsestand anhielt.

Harry stieg aus und öffnete die hintere Wagentür. »Wollt ihr wohl Ruhe geben?«

Die drei Tiere sprangen im Kombi ganz nach hinten. Als Harry die Hecktür öffnete, sprangen die Tiere wieder auf ihre Sitze.

Fair konnte sich das Lachen nicht verkneifen, als Harry fluchend beide Türen zuknallte. Sie trat an die Fahrerseite, sein Fenster war heruntergelassen.

»Die wissen, wie sie dir den letzten Nerv rauben«, meinte Fair lachend.

»Dir offensichtlich auch. Ich hab schließlich nicht angehalten.« Harry sah die Straße hinunter zu dem Stand, einer weißen Schindelbude mit großem Vordach. Die Ware war in adretten bunten Reihen präsentiert. »Hey, lass uns ein paar Bischofsmützen mitnehmen. Hester hat bestimmt noch Kürbisse.« Sie ging um den Wagen herum zur Beifahrerseite und stieg ein, bevor sie sich an ihre tierischen Quälgeister wandte: »Wenn ich nur noch einen Pieps, ein Schniefen oder Fauchen höre, gibt’s heute Abend nichts zu fressen, verstanden?«

»Gemein.« Pewter kehrte Harry den Rücken zu.

Tucker ließ den Kopf hängen; Mrs. Murphy hingegen ver­teidigte sich lauthals. »Ich hab nichts gemacht.«

»Natürlich nicht, du makellose Mieze.« Pewter kräuselte die Oberlippe.

Fair ließ den Wagen im Leerlauf bis vor den Stand rollen, wo Hester – in orangefarbener Schürze, schwarzer Jeans und orangefarbener Bluse – sich mit Kunden unterhielt. Die meisten wohnten in Crozet oder in der näheren Umgebung.

»Ich bleib hier.« Fair wusste, wie Hester loslegen konnte, außerdem war da noch Buddy Janss in seiner zentnerschweren Pracht, und der konnte sogar Hester in Grund und Boden quasseln.

Eine orange-schwarze Girlande zierte den Dachvorsprung. Draußen standen Vogelscheuchen entlang der Holzkisten, die überquollen von diversen Kürbis- und allen nur erdenk­lichen Apfelsorten. Drinnen konnte man ein gutes Sandwich erstehen. Kleine Gespenster schwebten von der Decke, große grüne Augen glühten in den oberen Ecken des Raumes. Leuchtend goldene Spätmaiskolben, üppige Chrysanthemen und Zinnien vervollständigten die Farbenpracht.

Schräg vor dem Eingang stand ein Schild, fast so groß wie Buddy selbst, und wies auf die Halloween-Heuwagenfahrt hin, die Geld für die Bibliothek von Crozet einbringen sollte. Zweifellos hatte die Architektin Tazio Chappars die imposante Hinweistafel entworfen, denn sie setzte sich eifrig für die Bibliothek ein. Das Schild nahm einen regelrecht gefangen: Ein großes gemaltes Gerippe streckte Aufmerksamkeit heischend seinen knochigen Arm aus.

Hester sah auf. »Harry Haristeen. Hab dich seit Wochen nicht gesehen.«

Buddy drehte sich um. »Wie machen sich deine Sonnenblumen?«

Buddy, ein Farmer, der zu den eigenen bestellten Feldern noch tausende Morgen Land gepachtet hatte, fand Gefallen an Harrys Vorstoß in den Nischenanbau. Wer wusste über die Preise von Maschinen samt Zubehör für Weizen, Mais und Sojabohnen besser Bescheid als Buddy? Harry hatte eine kluge Wahl getroffen mit der Konzentration auf das Sonnenblumenfeld, einen Viertelmorgen Petit-Manseng-Trauben und den Ginseng, den sie an dem stark strömenden tiefen Bach anpflanzte, der ihren Besitz von der alten Jones-Farm abgrenzte.

»Ganz gut«, sagte sie, denn sie wollte nicht damit prahlen, dass ihr diesjähriges Sonnenblumenfeld ihr bislang größtes war. »Wie läuft dein Jahr bisher?«

Er hakte die Daumen in seine Latzhose. »Ich sag dir, Mädel, die kurze Dürreperiode hat meinem Mais geschadet. Aber ich bin besser dran als die meisten Farmer, weil meine tieferliegenden Felder genug Regen abgekriegt haben. Die anderen nicht. So was hab ich noch nie gesehen: Auf der einen Straßenseite ist der Mais total verkümmert, auf der anderen so prall, dass es eine wahre Freude ist. Der Mais hinter dem alten Schulhaus sieht kläglich aus.«

Hester warf ein: »Die Regierung ist schuld. Das ganze Zeugs, das die da oben im Weltraum rumfliegen haben. Muss sich ja auf uns auswirken.«

Harry und Buddy nickten höflich, denn Hester war selbst ein bisschen aus der Welt. Zuweilen ganz weit weg. Sie war mittleren Alters, sah gut aus, hatte glänzendes hellbraunes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, und benutzte gerade genug Make-up, um die Aufmerksamkeit auf ihr Ebenmaß und ihr gesundes Aussehen zu lenken. Jede Kleinstadt und jede Großstadt hat solche Hesters, nur bleiben sie in den Kleinstädten nicht unbemerkt. Gutaussehende Menschen, oftmals intelligent, aber sie passen sich nicht recht an und bleiben häufig unverheiratet. Hester hatte das Mary Baldwin College besucht und hervorragend abgeschlossen, war aber dann über die Blue Ridge Mountains zurückgekommen, um diesen Verkaufsstand am Straßenrand zu übernehmen. Ihr Bruder, strebsamer als sie, war direkt nach seinem Abgang vom William and Mary College nach Houston gezogen. Er hatte den idealen Zeitpunkt erwischt, denn Texas befand sich auf der Höhe eines Baubooms, und den hatte er sich weitestmöglich zunutze gemacht. Ihre Eltern hatten den Stand mehr als Hobby denn als Verdienstquelle verstanden, aber das ­Geschäft florierte. Ihr Vater war Banker gewesen, die Mutter hatte den Stand betrieben. Hester, die es mit einem steten Strom von Stammkunden und Touristen zu tun hatte, machte derzeit einen recht zufriedenen Eindruck.

Buddy gab ihr wohlgesinnt ein bisschen recht. »Was mir Angst macht, ist das, was wir nicht wissen. Ich meine, ganz allgemein, guckt euch diese Dürre an, und hey, dabei sind wir besser weggekommen als die Leute im Mittelwesten, wo alles verdorrt ist. Unser Grundwasserspiegel ist im Augenblick wirklich okay. Ich hab mehr weißen Zuckermais angepflanzt, weil ich glaube, dass es länger warm bleiben wird. Ich werde ihn ernten, und wenn nicht, mache ich eine Menge Viecher froh.« Er stieß ein dröhnendes Lachen aus.

Hester fragte: »Du bist doch gegen Ernteausfall versichert, Buddy? Nach der Dürre 1988 hast du bestimmt eine Versicherungspolice zur Minderung des Ertragsrisikos abgeschlossen.«

»Klar. Ich hab mich für eine achtzigprozentige Ertrags­sicherungspolice entschieden. Ja, ich hab aus 1988 gelernt, aber, Mädel, im Handumdrehen stell ich schon wieder einen Scheck aus und sehe meine Rückerstattung schwinden. Die Landarbeit wird immer mühsamer«, sagte der gut organisierte Mann, ein echter Sachwalter der Scholle. »Um mich über Wasser zu halten, muss ich immer mehr Morgen bestellen. Eine Früh­ernte anpflanzen, danach Sojabohnen aussäen. Ich hab das Gefühl, ich renne, um zu bleiben, wo ich stehe.«

»Ich glaub, so geht’s uns allen«, pflichtete Hester ihm bei.

»Die einzige Möglichkeit zu kaufen oder zu pachten – und pachten ist auf kurze Sicht sinnvoll – sehe ich darin, einen Teil meines Landes zu verkaufen, das näher an Crozet oder Charlottesville liegt.«

Hesters Schultern zuckten zurück. »Tu das nicht, Buddy. Tu das bloß nicht, niemals.«

»Eh ich’s vergesse, Hester, hast du Bischofsmützen?« Harry wollte Fair und die streitenden Tiere nicht zu lange warten lassen.

»Ja, hab ich. Komm, ich zeig sie dir.« Hester nickte Buddy zu, der Harry zuzwinkerte.

Die Frauen gingen hinein, wo es Butternusskürbisse, Eichelkürbisse und Harrys Lieblingssorte gab, sahnig weiße Bischofsmützenkürbisse, die wie gewellte Diskusse aussahen.

»Die sehen schön aus. Und haben genau die richtige Größe.«

»Gewöhnlich ist es mit den Bischofsmützen um diese Zeit schon vorbei, aber bei dem endlos langen Sommer dieses Jahr krieg ich noch welche«, sagte Hester. »Melonen gibt’s allerdings keine mehr. Ich mag Melonen so gern. Eh ich’s vergesse, ihr kauft sicher Karten für die Heuwagenfahrt, du und Fair. Müsst ihr unbedingt. Der Bibliotheksbau steht, aber es gibt noch viel zu tun. Wir brauchen allein 59.696 Dollar für Computer, und, herrje, im Erwachsenenbereich fehlen noch Tische, und wir brauchen Möbel für einen meditativen Leseraum. Die Liste ist endlos.«

»Natürlich kaufen wir Karten. Ich kauf sogar auch welche für Mrs. Murphy, Pewter und Tucker.«

»Wenn deine graue Katze noch dicker wird, muss ich einen extra Ponywagen für sie allein besorgen.« Hester lachte.

»Du siehst selber schon richtig nach Halloween aus, ganz in Orange und Schwarz.«

»Ach, das ist sozusagen nur das Vorspiel. Nächste Woche stehe ich im Hexenkostüm hier.«

»Solange du die Kundschaft nicht vergraulst.«

»Ich könnte auch als Halloween-Fee gehen, bloß hab ich noch nie eine Halloween-Fee gesehen.«

Sie plauderten weiter, während Harry sich zwei fleischige Kürbisse aussuchte und sie an der Kasse bei Lolly Currie bezahlte, einer jungen Frau, die auf der Suche nach einem besseren Job war und sich bis dahin in Hesters Lädchen ihre Brötchen verdiente.

Als sie wieder losfuhren, grinste Fair. »Das war die kürzeste Zeit, die du je an der Martin-Bude warst.«

»Buddy Janss hat mich erlöst, denn kaum hatte ich die Kürbisse bezahlt, da kam er zurück, um Hester wegen verspäteter Warenlieferungen vollzuquatschen. Ich könnte schwören, Buddy hat schon wieder zugenommen. Sein Kinn hat Junge gekriegt.«

»Buddy mag ja dick sein, aber er ist leichtfüßig. Auf der Highschool und auf dem College war er ein super Football-Spieler. Wie schade, dass ehemalige Stürmer so oft auseinandergehen.«

»Boxer auch.« Harry betrachtete die vorbeiziehende sanft hügelige Landschaft.

»Du solltest vielleicht zu Buddy ziehen. Ihr zwei könntet euch zum Mops-Team zusammentun.« Tucker wusste genau, dass das eine Kampfansage war.

»Nicht«, riet Mrs. Murphy ihr vergebens.

»Wackelpopo. Kackstinker!«, fauchte Pewter laut.

Harry drehte sich auf dem Vordersitz gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie Pewter dem Hund eine Kralle in die Schulter rammte.

»Autsch!«, jaulte Tucker.

»Deine Augen sind als Nächstes dran.«

»Halt an, Schatz. Wenn ich nicht sofort dazwischengehe, fliegt gleich Fell im ganzen Auto rum.«

Er fuhr an den Straßenrand. Das Feld auf der Nordseite der zweispurigen Straße stand prallvoll mit Mais. Gewöhnlich wuchs auf diesen Feldern der Morrowdale-Farm sattes Futtergras, doch dieses Jahr standen sie voller Reihen mit kräftigem Mais. Sie waren der kurzen Dürre irgendwie entkommen.

Während Harry die Tür öffnete, um die Tiere auf dem Rücksitz wieder einmal zu maßregeln, meinte sie: »Dies muss eine der bestgeführten und schönsten Farmen in Albemarle County sein.«

»Ganz sicher.«

Sie sahen zu der Vogelscheuche mitten auf dem Feld hinaus, die gerade von Krähen belagert wurde.

»Ich dachte, Vogelscheuchen sind dazu da, dass sie Vögel abschrecken«, meinte Fair.

»Diese Krähen haben ihren Spaß. Guck dir das an. Sie zerren an der Perücke unter dem Hut.« Harry lachte. »Was machen die vielen Vögel da bloß?«

Fair stieg aus und sah konzentriert hin, als eine Krähe einen Augapfel herauspickte.

»Schatz, das ist keine Vogelscheuche.«

2

Tucker, hierher!«, befahl Harry der Corgihündin, die durch das Maisfeld stürmte.

Fair hatte vor Schreck die Kombitür offen gelassen, und alle drei Tiere waren hinausgestürzt, um zu sehen, was los war.

Der Mais raschelte, als der kräftige kleine Hund durch das Feld rannte.

Die zwei Katzen flitzten ebenfalls ausgesprochen neugierig eine Reihe entlang.

»Selektives Hören.« Kopfschüttelnd lief Harry in eine Mais­reihe, um den Tieren zu folgen.

»Schatz, sie kommen bestimmt zurück. Du solltest bleiben, wo du bist, sonst könntest du Fußabdrücke oder irgendwelche anderen Beweise vernichten.«

Sie blieb stehen und drehte sich zu ihrem Mann um. »Du hast recht.«

»Ich glaube sowieso, dass du die Leiche nicht sehen willst.«

Harry lehnte sich an den Volvo. »Der Tod ist echt grausig, und dieser hier vermutlich erst recht. Aber Fair, warum kostümiert einer jemanden als Vogelscheuche?«

Er verschränkte die Arme. »Wirklich clever. Wie viele Leute sind wohl an diesem Feld an der Garth Road vorbeigekommen? Eine Menge, nehm ich an, und trotzdem hat keiner gestoppt oder das Sheriffrevier angerufen. Wir haben nur angehalten, weil unsere Mitfahrerinnen so einen Rabatz veranstaltet haben, und dann sind uns die Krähen aufgefallen, und … nun ja.«

Während die Eheleute auf die Ankunft des Sheriffs warteten, erreichten die drei neugierigen Tiere die Vogelscheuche.

Eine schwarzblaue Krähe, die auf dem Strohhut hockte, schaute hinunter. »Mach dich vom Acker!«, krächzte der Vogel.

Mrs. Murphy wusste, sie könnte am Bein des Toten hochklettern, wenn es sein musste, weshalb sie sich auf die Hinterbeine stellte, weit nach oben langte und das kalte Fleisch unter der Hose der falschen Vogelscheuche fühlte. »Ich kann raufklettern und euch alle vertreiben«, drohte sie den Vögeln.

Eine zweite Krähe, die auf einem ausgestreckten Arm saß, spottete: »Nur zu. Wir fliegen weg, machen einen Bogen und sind gleich wieder da.«

Die erste Krähe breitete die Flügel zur vollen Spannweite aus, so dass das Licht auf die blauglänzenden Stellen des Ge­fieders fiel. »Was willst du mit diesem Leckerbissen? Katzen fressen kein Aas.«

Pewter ignorierte die Frage und stellte ihrerseits eine: »Habt ihr gesehen, wie die Vogelscheuche aufgestellt wurde?«

Die zweite Krähe antwortete: »Nein, aber die ist noch nicht lange hier. Wir haben Wind davon gekriegt, als wir auf dem Weg zur Shelford Farm über das Maisfeld geflogen sind. Wenn wir ein saftiges Stück Fleisch rausreißen, tropft noch ein bisschen Blut.«

Vogelscheuchen sind selten gut angezogen. Diese machte keine Ausnahme. Sie trug ein graubraunes verknittertes Hemd über einem roten Unterhemd. Eine abgeschabte alte Hose mit einem Strick als Gürtel bekleidete die untere Hälfte. Die Füße steckten in alten Arbeitsstiefeln, von derem linken sich die Sohle löste. Der Strohhut mit ausgefranstem Rand und ohne Hutband vervollständigte das ländliche Aussehen der Gestalt.

Weil Blut sich in den Extremitäten sammelt, lieferten die Krähen nützliche Informationen. Die Vogelscheuche wies keinerlei Anzeichen von Leichenstarre auf, weil der Leichnam angebunden war, die Arme ausgestreckt, die Beine ebenfalls festgemacht. Es floss kein Blut mehr, die Körpertemperatur war gesunken, dennoch musste es sich hierbei um einen Mord handeln, der noch nicht lange zurücklag.

Mrs. Murphy stellte fest, dass die Augen fehlten und von Gesicht und Händen schon große Mengen Fleisch wegge­fressen waren. Am Ende würden die Krähen noch die Kleidung zerreißen.

»Habt ihr einen anderen Menschen gerochen?«, fragte die Tiger­katze.

»Nein. Die Sonne war seit etwa einer Stunde oben. Wir haben nur den da gerochen«, berichtete der erste Vogel, dessen Geruchssinn scharf war, besonders für Blut und Fleisch.

»Ohne die Augen können wir nicht sagen, ob er erwürgt wurde«, erklärte Pewter sachlich. »Die wären hervorgequollen und blutunterlaufen.«

»Augen sind so lecker.« Eine kleinere Krähe riss den Schnabel weit auf. »Eine echte Delikatesse.«

»Irgendeine Idee, wie er getötet wurde?«, fragte Mrs. Murphy.

»Ihr habt ihn nicht schreien gehört, oder?« Pewter, die sich normalerweise für kaum etwas anderes interessierte als für ihr Futter, war seltsam begeistert darüber, einen so ungewöhnlichen Mord entdeckt zu haben.

»Wie hätten wir ihn denn schreien hören sollen?«, entgegnete eine junge Krähe. »Er war mausetot, als wir ihn fanden.«

»Fresst, was ihr könnt; der Sheriff ist schon unterwegs. Er wird ihn runterschneiden«, riet Mrs. Murphy ihnen.

Tucker schnüffelte am unteren Ende des Pfostens, schnüffelte an den Schuhen der Leiche und erfasste dann einen schwächer werdenden Geruch nach Gummistiefeln. Sie hob die Nase, witterte, dass der Geruch sich von der Leiche entfernte, und folgte dann, die Nase am Boden, die Katzen im Schlepptau, der Spur. Während die drei Freundinnen sich an die Fährte der Gummistiefel hefteten, stimmten die Krähen ein Lied mit dem Refrain an: »Oh, diese schönen Augen, diese schönen großen Augen.« Danach brachen sie in schallendes Gelächter aus.

»Widerlich«, sagte Tucker.

»Ja.« Pewter schaute zurück. »Abartig. Die sind regelrecht abartig.«

»Nee, der Mörder ist abartig«, erwiderte die kluge Mrs. Murphy, die ebenfalls die Nase am Boden hielt.

Die drei folgten der Spur bis zum Straßenrand, wo ein kleiner Fleck zu sehen war, der nach Motoröl roch.

»Jeder Dritte in dieser Gegend trägt bei nassem Wetter Gummistiefel.« Tucker setzte sich. »Aber ich denke, dies ist die Stelle, wo der Begleiter der Vogelscheuche geparkt hat, und von hier aus hat er die Leiche dann getragen.«

»Ein kräftiger Mensch. Man sagt nicht umsonst totes Gewicht«, bemerkte Mrs. Murphy.

»Sie ist rot im Gesicht.« Pewter meinte Harry, die in der Ferne mit wachsender Verzweiflung nach ihnen rief. »Gehen wir lieber wieder zum Wagen.«

Als sie zum Volvo kamen, hob Harry sie hoch, packte sie nach hinten und schloss die Tür. »Neugier war der Katze Tod«, schnaubte sie, ohne sich der Ironie bewusst zu sein, dass ausgerechnet Harry Haristeen diese Redensart von sich gab.

»Jaja.« Pewter legte die Pfoten an die Scheibe und hinterließ einen Schmierfleck.

»Sie ist verstört.« Tucker legte den Kopf auf die Pfoten.

»Pop auch. Menschen können dem Tod nicht ins Auge sehen.« Damit hatte Pewter recht.

»Schlimmer noch, hier handelt es sich um Mord.« Mrs. Murphy hörte Autos nahen. »Ich hab mal ’nen Kopf in ’nem Kürbis ge­funden, wisst ihr noch?«, rief Pewter ihnen in Erinnerung.

»Die Geschichte haben wir schon hundertmal gehört«, meinte Tucker grummelnd. »Das hier ist genauso abartig. Und wir waren die Ersten am Schauplatz. Ich meine, nach den Krähen und dem Mörder.«

Das Auto des Sheriffs fuhr vor. Sheriff Rick Shaw stieg auf der Fahrerseite aus, Deputy Cynthia Cooper auf der anderen Seite. Cooper – Harry nannte sie nie Cynthia – hatte das ehemalige Heim der Jones’ gepachtet, die Farm neben Harrys. Die zwei Frauen waren Freundinnen geworden.

Die Gesetzeshüter schoben sich vorsichtig durch den spät reifenden Mais, die Blätter raschelten, die Kolben saßen prall an den Stielen. Der Sheriff und Cooper blickten beim Gehen zwar nach unten, waren aber noch etliche Reihen von den Fußabdrücken entfernt, die Tucker entdeckt hatte.

Harry und Fair blieben wie angewiesen bei ihrem Kombi. Sie konnten beobachten, wie sorgfältig Rick und Cooper sich umsahen, sich berieten, nach unten blickten. Danach liefen die beiden um die Vogelscheuche. Die Krähen flogen in Schleifen um sie herum.

Eine Krähe stieß im Sturzflug hinab. »Lasst uns in Ruhe!«

Cooper duckte sich und fuchtelte dann mit den Händen, um die lärmenden Vögel zu verscheuchen. »Verdammt.«

Rick war versucht, seine Pistole zu ziehen und zu schießen, ließ es aber bleiben. Es war im Moment nicht ratsam, die Bewohner von Morrowdale oder sonst jemanden zu alarmieren.

Zwanzig Minuten später waren sie zurück.

»Wisst ihr, wer es ist?«, fragte Harry.

Cooper schüttelte den Kopf. »Vom Gesicht ist nicht mehr viel übrig. Aber er ist ziemlich jung und war ganz gut in Form. Sagt mal, ihr zwei, wollt ihr nicht nach Hause fahren? Ich nehme eure Aussage später auf. Falls es was von unmittelbarer Bedeutung gibt, sagt es mir jetzt. Ansonsten geratet ihr nur zwischen das Leichenwagen-Team, die Gerichtsmediziner und natürlich die Leute von den Nachrichten; die wissen immer, wo wir sind, weil sie alle unsere Telefonate mithören können.«

Tucker bellte aus dem Wagen: »Direkt da an der Straße ist ein Öltropfen. Und in einer Maisreihe sind Fußabdrücke.«

Pewter, die Pfoten auf dem Fensterrahmen, riet ihr: »Spar dir deine Worte.«

»Sie finden die Fußabdrücke bestimmt«, meinte Mrs. Murphy. »Die Menschen werden durch das Maisfeld kriechen, und die zwei werden alle Bewohner der Morrowdale-Farm ausquetschen und Scheunen und Schuppen durchsuchen.«

Harry und Fair fuhren auf der Garth Road nach Westen, bogen dann nach Crozet ab und fuhren in südlicher Richtung weiter. Die Blue Ridge Mountains lagen jetzt rechts von ihnen. Sie passierten Dunrovin, eine große Rinderfarm mit Hereford-Rindern auf den Weiden, und sie kamen an wogenden Weinfeldern vorüber; die Landschaft war hier und da mit alten Farmhäusern gesprenkelt, gelegentlich war auch ein Neubau zu sehen, der immer der besten Aussicht nach ausgerichtet war.

»Alles gut bei dir?«, fragte Fair.

»Ja. Bei dir auch?«

»Ja.« Sie fuhren an dem ehemaligen Lagerschuppen für ­Äpfel vorbei, der jetzt Chuck Pinells Lederwerkstatt beherbergte. »Ja, aber …« Er brach ab.

»Unheimlich.« Harry schauderte.

»Menschen töten aus Gier, aus Liebe, in einem Wutanfall oder für Geld, und manche, weil sie vollkommen übergeschnappt sind«, sagte Fair.

»Man muss nicht unbedingt schwachsinnig sein, um jemanden, den man gerade umgebracht hat, als Vogelscheuche an­zubinden, vor allem, wenn Halloween vor der Tür steht«, meinte Harry. »Es könnte aber auch ein Ablenkungsmanöver sein, um ein anderes Verbrechen zu vertuschen. Denk mal drüber nach.«

Fair konnte die Straße, die zweispurig und tückisch war, nicht aus den Augen lassen. »Lieber nicht.« Er fuhr in energischem Ton fort, denn seine Frau war noch neugieriger als die Katzen. »Denk nicht so viel darüber nach. Es war ein Schock. Eine unglückliche Entdeckung. Wir können ein Gebet für das Opfer sprechen und uns dann wieder um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern.«

»Gebete sind was Wunderbares. Resultate aber genauso. Wer spricht für ein unschuldiges Opfer? Bevor ich nicht mehr weiß, nehme ich an, dass der Mann unschuldig ist.«

Fair wusste, dass er den Kampf gegen die Neugierde seiner Frau verlieren würde, trotzdem erwiderte er ruhig: »Überlass das einfach Rick und Cooper.«

»Natürlich.«

»Mann, jetzt hat sie aber geschwindelt«, kicherte Pewter.

Die anderen lachten mit ihr.

Dann meinte Harry: »Wer das getan hat, hat eine lebhafte Phantasie.«

»Ein phantasievoller Mörder ist das Letzte, was dieser Bezirk oder Staat gebrauchen kann«, sagte Fair, »vor allem, wenn man zu den Opfern gehört.«

»Fair, überleg doch mal: Versuchen die meisten Mörder nicht, die Leichen ihrer Opfer loszuwerden, so dass niemand sie findet? Oder wenn es ein Verbrechen aus Wut oder Leidenschaft ist, laufen sie davon und lassen das Opfer zurück, aber sie machen aus der Leiche keine Vogelscheuche oder stellen sie öffentlich zur Schau. Wer das hier getan hat, hatte Zeit, alles genau zu planen.«

»Kann sein.«

»Darum glaube ich nicht an ein Verbrechen aus Leidenschaft.«

»Es sei denn, der Mörder wollte die Leiche zum Gespött machen.« Fair bremste an dem Stoppschild bei der Amaco-Tankstelle in Crozet. »Verdammter Mist. Jetzt hast du’s geschafft, dass ich drüber nachdenke. Lassen wir’s einfach dabei bewenden.«

»Hmm.« Harry lief innerlich bereits heiß.

3

Pewter ließ sich auf dem Küchentisch auf die Seite plumpsen, ihr Schwanz schlug träge hin und her. Sie war davon überzeugt, so am besten zur Geltung zu kommen. Mrs. Murphy und Tucker waren anderer Meinung.

Als Harry die Ofentür öffnete, um eine Kasserolle hineinzuschieben, hob Pewter den Kopf.

»Ich weiß, du machst das für mich«, gurrte sie regelrecht.

Mrs. Murphy und Tucker, die in ihre mit Schafsfellimitat ausgekleideten Tierbetten an der Tür zur rückwärtigen Veranda gekuschelt lagen, beobachteten sie amüsiert.

Mrs. Murphy ahmte die Stimme der grauen Katze nach: »Ich bin das liebenswerteste Kätzchen der Welt.«

Pewter überhörte dies geflissentlich und miaute wieder süßlich: »Ich könnte ein bisschen Thunfisch vertragen, bis das Schmorgericht so weit ist.«

Harry schloss die Ofentür, stellte die Zeitschaltuhr ein, dann drehte sie sich zu der Katze um, die den Kopf jetzt ge­hoben hatte; der Schwanz bewegte sich ein bisschen schneller. »Riecht lecker, was, Pewts?«, fragte Harry und streichelte das seidige Fell der Katze.

»Ich habe einen schrecklichen Schock erlitten«, keuchte Pewter und drückte den Kopf in Harrys Hand. »Der Anblick von einem zerfetzten Gesicht. Krähen, die Menschenfleisch verschlingen und mir dann frech kommen. Wenn einer von den unverschämten ­Vögeln nur einen halben Meter runtergekommen wäre, hätte ich hochspringen und ihn in Fetzen reißen können.«

»Jetzt trägst du aber ein bisschen dick auf.« Der Hund hob den Kopf.

»Sei bloß still, Schwabbelsteiß. Wenn sie die Leckerlis rausholt, hast du das mir zu verdanken.« Pewter wälzte sich auf den ­Rücken, legte den Kopf schief auf eine Seite.

»Na schön.« Harry öffnete den Schrank mit den Leckereien und gab Tucker zwei grüne Hundeknochen. Danach machte sie eine Tüte auf, die Katzenkekse in Fischform enthielt. Die Hälfte davon gab sie Pewter, dann ging sie zu Mrs. Murphy und gab ihr die übrigen.

»Habt ihr mir zu verdanken!«, rief Pewter triumphierend und vertilgte die gelben Fischchen.

Harry – sie verstand das Geplapper nicht, für sie klang es nach Maunzen und Katzengezeter – ging in das Büro ihres Mannes in dem alten Farmhaus.

»Dreiviertelstunde«, teilte sie ihm mit.

»Ah.« Er sah vom Bildschirm hoch. »Prima.«

»Arbeit?«

Fair war der beste Pferdearzt in Mittelvirginia.

Er lächelte verlegen. »Nein. Das ist die Crux mit dem Internet. Man lässt sich leicht ablenken.«

»Und?« Sie trat hinter ihn und legte ihm die Hände auf die breiten Schultern.

Kein Gramm Fett an dem Mann.

»Hm, also, ich hab was über bizarre Morde gelesen. Diese Website bringt Beispiele bis zurück ins achtzehnte Jahrhundert. Echt abartige Sachen, etwa in Kostümen ausgetragene Duelle oder auf der London Bridge aufgespießte Köpfe mit falschen Kronen. Ich vermute, das war politisch. Aber mir ist ein Mord in Wisconsin in den 1850er Jahren aufgefallen. Jemand hat Männer ohne besonderen Grund ermordet, zumindest hat man keinen finden können. Er hat sie auf ein Boot geladen, es auf den Lake Michigan geschoben und in Brand gesteckt. Ein Wikingerbegräbnis. Seine Opfer waren alles Männer, die er bewundert hatte.«

»Wenn ich solche Sachen höre oder lese, frag ich mich manchmal, ob überhaupt noch jemand normal ist.«

Fair lehnte sich zurück. »Darüber lässt sich vermutlich streiten.« Er drehte seinen Stuhl zu ihr herum, die Rollen klackten auf dem Hartholzboden. »Ich kann dir wohl kaum Vorwürfe machen. Gelegentlich bin ich selbst ein bisschen zu neugierig.«

Sie küsste ihn auf die Wange. »Da fühl ich mich gleich besser«, sagte sie und ging in die Küche zurück.

Er folgte dem köstlichen Duft ihrer Hühnerkasserolle nach einem Rezept ihrer Mutter.

»Der Geruch weckt so viele Erinnerungen«, sagte Harry. »Und hey, bis Halloween sind es, was, zweieinhalb Wochen? Noch mehr Erinnerungen.«

»Köpfe in Kürbissen«, plapperte Pewter.

Tucker hatte zugehört, jetzt legte sie den Kopf wieder auf die Pfoten. »Ich hatte gedacht, sie würden übers Essen reden. Es stünde ihnen viel besser an, sich auf die Dinge zu konzentrieren, auf die es ankommt, statt auf beliebige Leichen.«

Die Tigerkatze pflichtete ihr wortlos bei, indem sie ihr Bett verließ und sich zu der Corgidame kuschelte.

Beide Tiere beschlich eine dunkle Vorahnung.

4

Am Tag nach der grausigen Entdeckung sank die Temperatur um sieben Grad, und Regen setzte ein. Wie alle Farmer hatte Harry einen Regenplan. Es gab Verrichtungen, die unabhängig vom Wetter erledigt wurden, und es gab solche, für die man auf Regentage wartete.

Die Sattelkammer im alten Stall diente Harry zugleich als Büro. Hätte sie sich im Haus ein Büro eingerichtet, würde sie Fair gestört haben oder umgekehrt. Die Sattelkammer war ideal, außerdem konnte Harry dort das Leder, die Pferde und das Süßfutter riechen. Sie saß gern in dem alten Raum aus ­astigem Kiefernholz, so groß wie zwei geräumige Boxen, etwa sechseinhalb mal acht Meter. An einer Wand waren Sattel­gestelle und Zaumzeugständer verstaut, darunter standen Harrys persönliche Satteltruhe und die ihres Mannes. Vor ­jeder Pferdebox befand sich ebenfalls eine Satteltruhe, wor­in Dinge aufbewahrt wurden, die nach Harrys Meinung in der eigentlichen Sattelkammer nichts zu suchen hatten. Jede Truhe barg Leckerbissen: getrocknete Äpfel und Pferdekekse. Sobald ein Deckel gehoben wurde, setzte das Wiehern ein.

Mit elf Grad war die Temperatur ideal für Pferde. Die meisten wurden im Regen nach draußen gebracht, der jetzt stetig, aber sanft fiel. Mit der Tagundnachtgleiche hatte Harry den Ablauf umgestellt: Sie brachte die Pferde abends herein und ließ sie tagsüber draußen. Pferde brauchten Bewegung.

Pewter war eine solche Neigung fremd. Sie hatte es sich auf Harrys Satteltruhe, über die eine edle Satteldecke gebreitet war, bequem gemacht und schnarchte leise. Mrs. Murphy saß nur wenige Zentimeter von ihrem Menschen entfernt auf dem Schreibtisch. Harry war wegen des Kaufs von Saatgut im Frühjahr im Internet unterwegs. Wenn sie jetzt bestellte, würde sie bei Southern States, dem großen Lieferanten, zehn Prozent Rabatt bekommen. Sie verglich immer mit Augusta Co-op, um zu sehen, ob die Preise dort günstiger waren.

Mit gefurchter Stirn, das Kinn in die Hand gestützt, scrollte sie sich durch diverse Saatarten. Die Tigerkatze linste ebenfalls auf den Bildschirm.

Tucker, auf ihrer Decke unter dem Schreibtisch im Tiefschlaf, war der Welt so entrückt wie Pewter.

Ein altes wuchtiges, jägergrün gestrichenes Lehrerpult, ein großer hölzerner Aktenschrank und zwei Regiestühle sowie der hölzerne Lehrerstuhl an dem Schreibtisch nahmen den Platz gegenüber der Sattelwand ein.

»Das glaub ich nicht«, sagte Harry zu Mrs. Murphy. »Hier heißt es, sie haben ein winterfestes Bermudagras gezüchtet, und das kostet nur 123,50 Dollar pro Zentner. Erstens, ich glaub das nicht. Zweitens, das ist ein unverschämter Preis. Bermudagras ist nicht so gut wie Luzerne oder Knaulgras.«

»Warum willst du’s dann nehmen?« Die Katze war praktisch veranlagt.

Als Harry das deutliche Miauen vernahm, sah sie der Katze in die leuchtend grünen Augen. »Ich hab dich lieb, Miezekatze.«

»Ich hab dich auch lieb«,gab die Katze zurück, und die attraktive Frau von einundvierzig Jahren wandte sich wieder ihrer Beschäftigung zu.

»Das liegt an den schrecklichen Sommern, die wir zurzeit haben, Murphy. Das macht Bermudagras sinnvoll. Wir brauchen jetzt eine Futterpflanze, die Hitze und Dürre standhält. Aber das stirbt leider im Winter ab. Schwingelgras, Knaulgras und Timotheusgras erwecken den Eindruck, als stürben sie in sommerlicher Gluthitze ab, doch dem ist nicht so. Sie werden versengt oder welk. Die Weideflächen sind braun, aber nach ein bisschen Feuchtigkeit oder einem Schneewinter schießen diese Gräser wieder aus dem Boden. Gut, Klee speichert tatsächlich Wasser in den Wurzelknöllchen.« Sie plapperte weiter, fasziniert vom Gräseranbau, wie schon als kleines Mädchen, als sie dem Vater auf der Farm überallhin gefolgt war.

Die Tigerkatze war zwar nicht hingerissen von Gräsern, Gemüse oder Mais, erwies sich aber als gute Zuhörerin. Mais zog sie an, weil er Mäuse, Füchse und andere Tiere anlockte, die nach kalorienreicher Nahrung suchten. Dann fielen ihr die Vogelscheuche und die Krähen wieder ein.

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