Ist die Katze aus dem Haus - Rita Mae Brown - E-Book

Ist die Katze aus dem Haus E-Book

Rita Mae Brown

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Beschreibung

Mary Minor Harry Harristeen ist happy. Endlich tummelt sie sich wieder als Caddie auf dem Golfplatz von Crozet, an ihrer Seite Katze Mrs. Murphy. Plötzlich hört Harry Schüsse. Ein Spieler wurde ermordet, Greg Ginger McConnell, ein emeritierter Professor der University of Virginia. Zuletzt schrieb er an einem Buch über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und die Spuren, die er in ihrer Gegend hinterlassen hat. Besonders scheint ihn das ehemalige Kriegsgefangenenlager bei Charlottesville interessiert zu haben. Schon bald fragt sich Harry, ob McConnell vielleicht auf eine unliebsame Wahrheit gestoßen ist?

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Das Buch

Der Frühling kündigt sich an in den Appalachen, und die Bewohner von Crozet atmen auf. Endlich kann wieder Golf gespielt werden. Auch Harry Haristeen ist als Caddy mit Mrs. Murphy an ihrer Seite dabei. Doch die Idylle auf dem historischen Golfplatz wird jäh erschüttert, als plötzlich mehrere Schüsse fallen. Geschichtsprofessor Greg »Ginger« McConnell liegt leblos am Boden, doch niemand kann sich vorstellen, wer ein Motiv für den Mord haben könnte. Zuletzt hatte der Professor an einem Buch über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und seine Spuren in der Umgebung geschrieben.

Harry beginnt Nachforschungen anzustellen und stößt dabei auf ein jahrhundertealtes Geheimnis aus Virginias revolutionärer Vergangenheit. Die Spuren führen zu einem ehemaligen Kriegsgefangenenlager. Um diesen Fall zu lösen, müssen Harry und ihre tierischen Begleiter tief in die Geschichte eintauchen.

Die Autoren

Rita Mae Brown, geboren in Hanover, Pennsylvania, wuchs in Florida auf. Sie studierte in New York Filmwissenschaft und Anglistik und war in der Frauenbewegung aktiv. Berühmt wurde sie mit dem Titel Rubinroter Dschungel und durch ihre Romane mit der Tigerkatze Sneaky Pie Brown als Co-Autorin. www.ritamaebrown.de

Übersetzt von Margarete Längsfeld, geboren 1936 in Oberhausen. Nach dem Studium der Anglistik in Marburg, Göttingen und München übertrug sie seit den Sechziger Jahren circa 250 Werke, u. a. Amitav Gosh, Michelle Lovric, Jacqueline Mitchard, ins Deutsche. Sie ist außerdem ausgebildete Fitnesstrainerin. Sie lebt heute mit Hund, Katze und Mann in Ismaning bei München.

Rita Mae Brown & Sneaky Pie Brown

IST DIE KATZE AUS DEM HAUS

Ein Fall für Mrs. Murphy

Roman

Aus dem Amerikanischen von Margarete Längsfeld

List

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ISBN 978-3-8437-1752-6

Die Originalausgabe erschien 2015

unter dem Titel Tail Gait

bei Bantam Books, New York

List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

© 2015 by American Artists, Inc.

Illustrationen © 2015 by Michael Gellatly

© der deutschsprachigen Ausgabe

2018 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, München

Umschlagabbildung: Jakob Werth, Teisendorf

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Carol Tanzola in Dankbarkeit gewidmet

Personen der Handlung

Mary Minor »Harry« Haristeen, gerade einundvierzig geworden, Absolventin des Smith College, war sechzehn Jahre lang Posthalterin in Crozet, Virginia. Jetzt versucht sie mit Farmarbeit Geld zu verdienen. Sie hat Brustkrebs überstanden und denkt lieber nicht darüber nach. Sie lebt mehr oder weniger an der Oberfläche des Daseins, bis ihre Neugierde sie tiefer hineinzieht … was unvermeidlich immer wieder geschieht.

Pharamond »Fair« Haristeen, Doktor der Veterinärmedizin, hat sich auf Pferdefortpflanzung spezialisert. Nach seinem Examen an der Auburn University hat er seine Kindheitsliebe Harry geheiratet. Er ist ein Jahr älter als seine Frau und versteht sich besser auf die Gefühlslage anderer Menschen als sie.

Susan Tucker, kontaktfreudig und in geselligem Austausch aller Art bewandert, ist Harrys beste Freundin, seit sie beide in der Wiege lagen. Sie liebt Harry, macht sich jedoch Sorgen, weil Harry ständig in irgendetwas hineinstolpert.

Reverend Herbert Jones, Vietnam-Veteran der Armee, ist Pastor der lutherischen St.-Lukas-Kirche, die über zweihundert Jahre alt ist. Er ist ein Mann von tiefer Überzeugung und von Herzen kommenden Empfindungen. Harry kennt er seit ihrer Kindheit.

Deputy Cynthia Cooper. Diegroße, schlanke Frau ist Harrys direkte Nachbarin, weil sie die angrenzende Farm gepachtet hat. Cooper liebt den Polizeidienst. Hin und wieder mischt Harry sich in Coopers berufliche Angelegenheiten ein, aber zu ihrer Verteidigung sei gesagt, dass die Smith-Absolventin ein unheimliches Talent besitzt, auf wichtige Informationen zu stoßen.

Sheriff Rick Shaw. Der Sheriff von Albemarle County ist überlastet, unterfinanziert und überarbeitet. Trotzdem liebt er seine Arbeit, und er hat gelernt, Cooper zu vertrauen. (Anfangs war er nicht begeistert gewesen, eine Frau auf dem Revier zu haben.)

Dr. Nelson Yarbrough, Quarterback der 1959er Footballmannschaft der Universität von Virginia. Seine Profikarriere wurde durch eine Verletzung beendet. Er und seine Frau Sandra praktizieren in Charlottesville Zahnmedizin und sind darüber hinaus für ihre Wohltätigkeit bekannt.

Marshall Reese. DerAbwehrspieler der 1959er Footballmannschaft der Universität von Virginia ist ein erfolgreicher Bauunternehmer, der sich bei der Gestaltung seiner Häuser so gewissenhaft wie möglich an den historischen Vorbildern orientiert.

Paul Huber. In der 1959er Mannschaft der UVA war Huber rechter Läufer. Heute betreibt er ein von seinem Vater gegründetes Garten-und Landschaftsbauunternehmen und arbeitet eng mit Marshall zusammen. Er hat sich auf Anpflanzungen und Gärten des achtzehnten Jahrhunderts spezialisiert.

Willis Fugate, Abwehrspieler 1959, Rudolph Putnam, Abwehrspieler 1960, Lionel Gardner, Angriffsspieler 1961, Tim Jardine, Abwehrspieler 1970. Diese reizenden alten Knaben sind ehemalige UVA-Footballspieler.

Frank Cresey. Er war UVA-Läufer und wurde 1975 All-American, was seine alten Freunde zu ihm halten lässt. Der in höchstem Maße sportlich begabte Frank war eine Zeitlang bei den Damen beliebt und ein guter Student. Das war, bevor er sich mit Alkohol zerstörte.

Professor Greg »Ginger« McConnell, Geschichtsprofessor ander Universität von Virginia. Durch seine Schriften über das Leben der männlichen und weiblichen Bürger im Amerika während des Unabhängigkeitskrieges und der Zeit danach ist er zur weltweit anerkannten Koryphäe geworden. Ginger, der sich für seinen Stoff hellauf begeistern kann, bleibt erfreulich jung und ist allgemein beliebt – oder vielleicht auch nicht.

Trudy McConnell. Ehefrau von Ginger undMuttervonOliviaund Renata »Rennie«.Die zwei Töchter sind jetzt im mittleren Alter. Wie die Ehefrauen von vielen herausragenden Männern ist Trudy Gingers Fixpunkt.

Olivia Gaston. Nach einer unseligen Liebschaft mit Frank Cresey in ihren letzten Teenagerjahren hat sie sich mit einem wunderbaren Ehemann in New Orleans ein gutes Leben eingerichtet.

Snoop, möglicherweise im mittleren Alter – schwer zu sagen, ist ein Alkoholiker, der auf der Downtown Mall »lebt.« Der gesittete Afroamerikaner spricht nicht über seine Vergangenheit. Das tun die wenigsten von den sogenannten Mall-Ratten.

Personen der Handlung

1777–1782

Hauptmann John Schuyler ist zwanzig Jahre alt, kräftig gebaut und ein guter Mensch. Nach der Schlacht von Saratoga nimmt der amerikanische Soldat einen britischen Leutnant gefangen. Von diesem Moment an sind ihre Schicksale auf immer verknüpft.

Leutnant Charles West, mit neunzehn beim britischen Heer, ist der zweite Sohn eines verarmten Adeligen. Er ist künstlerisch begabt und von wachem Verstand und wird samt einigen seiner Männer von Hauptmann Schuyler gefangengenommen.

Ewing Garth. Der hochintelligente erfolgreiche Handelsmann mit Besitzungen in Virginia und North Carolina ist ein amerikanischer Patriot.

Catherine Garth ist tollkühn, stark an Leib und Geist und bewundert ihren Vater. Sie ist zudem überaus schön und im Alter von achtzehn Jahren in voller Blüte.

Rachel Garth ist zwei Jahre jünger als Catherine und ebenfalls eine Schönheit. Sie ist nicht so tollkühn wie Catherine, aber umsichtig und kein Dummchen.

Jeddie Rice. Ein junger Sklave mit der Begabung, Pferde auszubilden und zu reiten. Ihn und Catherine verbindet eine Wesensverwandtschaft.

Roger. Der Hausdiener und deshalb ein Sklave mit Macht.

Weymouth. Rogers Sohn, der eines Tages diesen äußerst begehrten Posten erben wird.

Korporal Karl Ix. Ein gefangener hessischer Soldat, der einen Marsch von achthundert Meilen an der Seite von Leutnant West durchsteht. Mit der Zeit werden sie Freunde. Ix ist Ende zwanzig und Bautechniker.

Thomas Parsons, Edward Thimble, Samuel MacLeish wurden gemeinsam mit ihrem befehlshabenden Offizier Leutnant West gefangengenommen. Ihre Findigkeit und Ausdauer halten sie in The Barracks, dem Kriegsgefangenenlager außerhalb von Charlottesville, Virginia, am Leben.

Hauptmann Graves von der Königlich Irischen Artillerie wird ebenfalls in Saratoga gefangengenommen. Er ist der Erste, der beizeiten begreift, was dieses neue Land zu bieten hat.

Die wirklich bedeutenden Figuren

Mrs. Murphy, die Tigerkatze, ist meistens cool, ruhig und beherrscht. Sie liebt ihre Menschen, die Hündin Tucker und sogar Pewter, die andere Katze, die ein rechtes Ekel sein kann.

Pewter ist ichbezogen, rundlich und, wenn sie Lust hat, intelligent. So selbstsüchtig sie auch ist, oft kommt sie in allerletzter Minute, um zu helfen, und will dann die ganze Anerkennung einheimsen.

Tee Tucker. Die Corgihündin könnte für Sie die Aufnahmeprüfung am College bestehen. Sie hängt sehr an Harry, Fair und Mrs. Murphy. An Pewter eher weniger.

Simon ist ein Opossum und wohnt auf dem Heuboden vom Stall der Haristeens.

Matilda. Die große Kletternatter hat einen starken Sinn für Humor. Sie wohnt auch auf dem Heuboden

Plattgesicht. Die große Ohreule wohnt in der Stallkuppel. Sie triezt Pewter unentwegt, aber der Katze ist klar, dass der Vogel sie mühelos hochheben und wegtragen könnte.

Shortro, ein junges Reitpferd in Harrys Stall, wird für die Fuchsjagd ausgebildet. Er ist sehr klug und gutmütig.

Tomahawk ist Harrys älteres Vollblutpferd. Er und Shortro sind seit langem befreundet.

Piglet. Der Welsh Corgi geht mit Leutnant Charles West durch Krieg und Gefangenschaft. Was ihn anbelangt, ist ein amerikanischer Hund so gut wie ein Hund, der Untertan von George III. ist. Aber das behält er für sich.

Die lutherischen Katzen

Eloquenz ist die älteste der St.-Lukas-Katzen und sehr besorgt um den »Rev«, wie seine Freunde den Reverend Herbert Jones manchmal nennen.

Cazenovia. Diese Katze beobachtet alles und jeden.

Lucy Fur ist die jüngste der Miezen. Obwohl stets verspielt, hört sie auf die älteren.

1

7.Oktober1777Bemis Heights bei Saratoga, New York

Leutnant Charles West schlich mit einer Handvoll seiner Männer, allesamt ausgezeichnete Scharfschützen des 34. Regiments von Hauptmann Alexander Fraser, durch den dichten Wald. Unten konnte man weitere Soldaten dieses Regiments auf die Kontinentalstreitkräfte schießen hören.

Jegliche Hoffnung des tapferen britischen Leutnants, die Front der amerikanischen Rebellen zu durchbrechen, schwand dahin. Der Kugelhagel war heftig. Wests Krieger waren in ihren grünen Röcken gut getarnt, doch der Feind war mit dem Gelände vertraut und hatte von den Mohawk-Indianern viel über das Kämpfen in einem solchen Terrain gelernt. Die Kontinentalstreitkräfte waren zudem mit Gewehren bewaffnet, die in Kentucky oder Pennsylvania hergestellt und viel präziser waren als die britischen Brown-Bess-Musketen.

Die Sinne aufs Äußerste geschärft, hoffte der neunzehnjährige Leutnant vorzustoßen, die Flanke der Rebellenarmee auszukundschaften und Hauptmann Fraser Meldung zu erstatten. Mit nur zwanzig Mann und seinem Hund Piglet suchte er den Rücken der feindlichen Flanke zu finden. Denn könnte er ihn entdecken, würden einige von ihnen gewiss überleben und mit dieser lebenswichtigen Meldung ihren Befehlshaber aufsuchen.

Der unerschrockene Leutnant Charles West und seine Männer schlichen verstohlen weiter. Dem jungen Mann folgte sein wachsamer Hütehund auf den Fersen, ein zäher kleiner Kerl, wie ihn die Waliser liebten. West, der zwar kein Waliser war, aber aus dem an Schottland grenzenden Gebiet stammte, hatte als Kind auf dem Hadrianswall gespielt. Er hatte die Fähigkeiten von Corgis schätzen gelernt.

Die Sinne von Piglet – »Ferkel« – waren denen seines Herrchens weit überlegen, und er war an Gewehrschüsse und Kanonendonner gewöhnt. Er verhielt kurz, hob den Kopf und atmete ein. Leises Knurren und aufgestellte Nackenhaare warnten sein geliebtes Herrchen. Charles blieb stehen. Nach einem Blick auf die Drohgebärde seines Hundes hob er die Hand und signalisierte seinen zwanzig Mann stehenzubleiben. Sie leisteten ihm Folge, abgesehen von Angus MacKenzie, der sechzig Fuß voraus war.

Direkt vor Angus knallte ein Schuss, dann ein zweiter links von ihm. Der robuste Schotte brach zusammen.

»Gebt auf, wenn euch euer Leben lieb ist«, rief eine tiefe Stimme aus dem Wald, während Angus um Atem rang. »Musketen hinwerfen.«

West sah sich um. Über seinem Kopf wurde ein Schuss abgefeuert, dann noch einer und wieder einer. Er legte seine Muskete nieder und eilte zu Angus. Die Männer weit hinter West zogen sich vorsichtig zurück und waren alsbald außer Sicht. Vier britische Soldaten blieben bei dem Leutnant.

»MacKenzie, durchhalten, Mann.« Charles kniete sich hin und hob den Kopf des grauhaarigen älteren Mannes so behutsam an, dass der Verwundete lächelte.

Piglet kam hinzu und leckte Angus das Gesicht.

»Piglet, nein«, sagte Charles leise, während nahebei ein Gewehrschütze der Rebellen aus dem Gebüsch trat und auf ihn und seine Männer zukam.

»Ich trage dich, wo immer man uns hinbringt«, gelobte West dem bejammernswerten Angus.

Angus versuchte mit zusammengebissenen Zähnen zu lächeln, und es gelang ihm schließlich noch, »keine Zeit« zu murmeln.

Leutnant West legte Angus sachte nieder, und Piglet jaulte ein bisschen. Angus war tot. Dem Offizier, der die Rebellen befehligte, ein junger Mann ungefähr in Wests Alter, fiel auf, welche Fürsorge sein Gegenspieler einem einfachen Soldaten angedeihen ließ.

»Leutnant«, sagte der dunkle Mann, »Sie und Ihre Männer sind meine Gefangenen.«

»Charles West.« Er neigte leicht den Kopf.

Der ansehnliche junge Mann betete, keiner möge sich töricht aufführen. Die vier bei Leutnant West gebliebenen Männer legten ihre Waffen nieder. Die Gewehrschützen hatten alles getan, was von ihnen verlangt wurde.

Mit einem Fingerschnippen schickte Hauptmann John Schuyler einige Männer auf die Suche nach den flüchtenden Briten. Sechs blieben bei dem Hauptmann.

Hauptmann Schuyler ging zu Charles hin. Nach einem Blick auf die hübsche Steinschlosspistole, die in des Leutnants Beinkleid steckte, zog Schuyler sie heraus.

»Schönes Stück.« Schuyler, so groß wie Charles, sah ihm direkt in die Augen.

»Ein Abschiedsgeschenk von meinem Vater.«

Breit lächelnd schob Hauptmann Schuyler die beschlagnahmte Waffe in seinen Gürtel. »Kriegsglück.«

Seltsamerweise wirkten die zwei strammen Burschen wie Spiegelbilder voneinander, auch wenn sich Schuylers schwarze Haare und braune Augen von Wests blauen Augen und blonden Haaren abhoben.

Obwohl West wusste, dass er als Gefangener keine Waffe tragen konnte, schmerzte ihn der Verlust des geliebten väter­lichen Geschenks sehr. Dennoch hatte er weitaus wichtigere Sorgen.

»Ich darf wohl annehmen«, sagte Charles, »dass keine Zeit bleibt, MacKenzie zu begraben?«

»Bedaure«, antwortete Hauptmann Schuyler. Er hörte unten laute Schüsse sowie ein Trompetensignal, das abrupt abbrach. »Aber Sie können dem Leichnam beliebige Andenken abnehmen und sie seinen Angehörigen senden.«

»Vielen Dank. Sehr freundlich.« Charles kniete wieder nieder. Er entnahm der Innenseite des grünen Rocks des Toten einen Brief und zog einen Ehering von Angus’ linker Hand. Er tastete seine Taschen ab, entnahm ein paar Münzen und reichte sie Hauptmann Schuyler.

Der dunklere Offizier gab sie zurück. »Nein, nein, schicken Sie seiner Frau, was Sie können«, sagte er, als er den Ehering sah. »Sie können aus dem Gefangenenlager Briefe versenden und Geldmittel sowie Briefe empfangen.« Als West ihn fragend ansah, sagte Schuyler: »Wir sind keine Wilden, Mann.«

West stand auf, und Piglet betrachtete aufmerksam das Gesicht seines Herrchens. »Dafür sind Sie aber verdammt gute Soldaten, Herr Hauptmann.«

Grinsen erschien in den Gesichtern der Rebellen. Diese eingebildeten Briten dachten, sie würden sie glatt besiegen, oder schlimmer noch, sie dachten, die meisten Kolonisten würden zur Krone halten. Da sie unten die Schlacht toben hörten, freuten sich die Amerikaner über das Lob.

Hauptmann Schuyler und seine Männer umringten seine kleine Gefangenen-Ausbeute. »Jacob, jeder von euch nimmt eine Muskete.« Jacob und die anderen taten wie befohlen.

Der lange Marsch in eine ungewisse Zukunft begann.

Als Offizier ging Hauptmann Schuyler mit seinem britischen Gegenspieler. Er war darauf erpicht, diesen Leuten zu zeigen, dass die rebellischen Kolonisten zivilisiert waren und die Kriegsregeln kannten. Er sah zu dem Corgi hinunter und fragte: »Was ist sein Dienstgrad?«

West musste unwillkürlich lächeln. »Gefreiter Piglet, Herr Hauptmann, begierig, meinen Anordnungen Folge zu leisten.«

Leise erwiderte Hauptmann Schuyler in leicht verschwörerischem Ton: »Ah, das ist gewiss ein guter Soldat.«

Erfreut trottete Piglet voran. In der Ferne war Kanonenfeuer zu hören, vornehmlich von Rebellenseite. Die Briten mühten sich damit ab, ihre großen Kanonen über den unebenen Boden zu schleppen. Der kleine Kerl fürchtete sich nicht. Er hatte Angus gerngehabt, würde ihn auf seine Art in Erinnerung behalten, denn der ältere Mann hatte gelegentlich einen Keks mit ihm geteilt und mit seinem wohlklingenden Akzent zu ihm gesprochen.

Piglet kannte Krieg so gut wie irgendein Hund, und er wollte Charles beschützen bis in den Tod. Ob sengende Hitze, peitschender Regen, stürmischer Schneeregen, es machte Piglet nichts aus, solange er nur bei seinem jungen Herrn war, einem kampferprobten Jüngling mit einem Herzen aus Gold. Selbst dieser furchtbare Krieg konnte dem nichts anhaben, und Piglet wusste das. Aber Hunde wissen auch Sachen über Menschen, die Menschen unbedingt vor anderen Menschen zu verbergen trachten.

An jenem 7. Oktober 1777 führte das Schicksal drei Leben zusammen. Leutnant Charles West, Hauptmann John Schuyler und Piglet, drei Leben, die miteinander verschlungen sein würden bis zu ihrem Tod viele Jahre später. Der Amerikaner Hauptmann Schuyler wusste etwas, das weder Leutnant West noch Piglet sich vorstellen konnten, nämlich dass eine alte Ordnung in der Auflösung und ein neues Land im Entstehen begriffen war.

2

10.April2015

Lange, tiefe, blassgoldene Strahlen brachten die Westseite der Friedhofsmauer von St. Lukas zum Leuchten. Viele der beigesetzten Seelen ruhten hier seit kurz nach dem Unabhängigkeitskrieg. Die Kirche selbst – aus handverlegten Steinen erbaut, viele davon stammten von den Feldern – passte altersmäßig zu den Verstorbenen. Der Schöpfer dieses friedvollen Ebenmaßes hatte sich in Mittelvirginia und eine junge virginische Schöne verliebt, als er wenige Meilen entfernt in einem Revolutionskriegslager lebte. Drei Bogengänge verbanden die Kirche an dem einen Ende mit dem Pfarramt am anderen. Der Innenhof von St. Lukas grenzte im Norden an den Hauptbogengang. An jeder Ecke bildeten die zwei kürzeren Gänge ein friedvolles Rechteck; ein längerer Gang war dem vorderen nachgebaut. Die Proportionen dieses alten Rechteckplans waren anmutig, schlicht und zeitlos. Die kürzeren Bogengänge mündeten in eingeschossige Steinbauten mit mundgeblasenen welligen Fensterscheiben. Ursprünglich als Klassenzimmer genutzt – einer Unter- und einer Oberschule –, dienten die Räume jetzt diversen Kirchengruppen. Das Gebäude der Männer befand sich auf der Nordseite, das der Frauen auf der Südseite, jedes ein Ebenbild des anderen, ganz wie bei den Bogengängen. Das Gebäude der Männer war so sauber, dass man von dem Kiefernkernholzboden hätte essen können, eine Sauberkeit, die jede Ehefrau dazu veranlasste, sich zu fragen, warum das bei ihr zu Hause nicht so war.

An diesen Innenhof grenzte ein geräumiger Außenhof, groß genug für Footballspiele und Veranstaltungen bei gutem Wetter. Als hintere Begrenzung diente der Friedhof, eingefasst von einer grauen Mauer aus denselben Steinen wie der Kirchenbau.

Von dem großen Hof aus lag das Pfarrhaus linker Hand des Friedhofs. Der Wohnsitz war im Lauf der Jahrhunderte größer geworden, sowohl durch Anbauten als auch durch eine Doppelgarage. Das Pfarrhaus, ursprünglich ein Stall mit dar­überliegenden Wohnquartieren, war aus weiß gestrichenen Schindeln erbaut worden. Die Fensterläden waren mitternachtsblau, in jeden war oben ein Kreuz eingeritzt.

Als lutherische Kirche war St. Lukas hochkirchlich, doch obwohl der Innenraum von einer kurzen Liebelei mit Vergoldungen zeugte, war sie dezenter gehalten als die katholische Kirche am Ende der Straße, allerdings nicht annähernd so karg wie die Kirche zum Heiligen Licht.

In diesem angenehmen, behaglichen Heim führte eine Abendeinladung Freunde zusammen. Reverend Herbert Jones, letztendlich den Schatten entkommen, die der Tod seiner Frau geworfen hatte, bewirtete an diesem Abend Gäste. Obwohl seine Ehefrau, zu ihrer Zeit eine große Schönheit, schon vor sieben Jahren gestorben war, hatte der gute Mann lange gebraucht, um sich wieder zu fangen.

Drinnen saßen Harry und Fair Haristeen, Doktor der Veterinärmedizin, Susan und Ned Tucker, Nelson und Sandra Yarbrough, beide Zahnmediziner, Professor Greg »Ginger« McConnell und seine Frau Trudy, Marshall und Joyce Reese sowie Paul und Anita Huber bei Reverend Jones und seiner guten Freundin Miranda Hogendobber in dem schlichten, blassgelb gehaltenen Wohnraum. Nach dem Tod von Harrys Mutter war Miranda ihr eine Ersatzmutter und allen eine gute Freundin geworden. Miranda hatte auch eine engelhafte Singstimme, eine Stimme im Dienst der Kirche zum Heiligen Licht, einem evangelischen Gotteshaus.

Man konnte den Caterer in der alten Landhausküche bei der Arbeit hören.

»Ich weiß nicht, warum du mich das Abendessen für heute nicht hast kochen lassen«, sagte Miranda, die in einem pfirsichfarbenen Kleid sehr hübsch aussah.

»Weil du dich dann übernehmen würdest.« Herb lächelte, als Lucy Fur, eine lutherische Katze, auf die Rückenlehne seines Polstersessels sprang.

»Ich hatte ganz vergessen, wie hübsch dieses Haus ist«, bemerkte Trudy. »Wie ein Schritt zurück in der Zeit.«

»Na ja, jedenfalls ist kein Fernseher im Wohnzimmer«, erklärte Susan, Anfang vierzig. »Macht mich wahnsinnig.«

Harry, Susans Freundin seit Kindertagen, knuffte sie. »Ach Susan, dich macht alles wahnsinnig.«

»So, das hat sie gesagt, nicht ich.« Ned lachte. Ned war der Bezirksabgeordnete in der gesetzgebenden Versammlung, die er gewöhnlich als Haus der Bürger bezeichnete, so wie sie vor der Revolution geheißen hatte. Er nannte sie auch, was allerdings nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, ein »Irrenhaus«.

»Sie ist in allem eine Perfektionistin, aber ganz besonders in Fragen des Benimms«, lobte Fair Susan. Er benutzte das Wort, das seine Mutter immer verwendet hatte, wenn sie ihn ermahnte. Im Kopf konnte er die Stimme noch hören: »Pharamond, ein Gentleman geht immer außen neben einer Dame. Auf diese Weise wird er bespritzt, nicht sie, falls ein Karren durch eine Schlammpfütze fährt.«

Daher war Fair seit seinem fünften Lebensjahr immer an der äußeren Seite gegangen und hatte zudem sämtliche Pflichten erfüllt, deren Erfüllung von einem virginischen Gentleman erwartet wurde. Die Pflichten waren unanfechtbar, unabhängig von Geschlecht, Alter oder Gesellschaftsschicht. Sein Vater pflegte ihm dieselbe Regel auf seine Art murmelnd zu vermitteln: »Sei kein Tölpel, mein Sohn.«

Alle, die sich an diesem Abend bei Reverend Jones eingefunden hatten, waren mit strengen Benimmregeln aufgewachsen. Mögen solche Regeln in anderen Landesteilen als Beeinträchtigung der Selbstentfaltung verstanden werden, so weiß doch jeder Südstaatler, dass man mit einwandfreien Manieren jemanden bitter kränken kann. Eine leichte Veränderung im Tonfall, eine Handbewegung, klimpernde Münzen in einer Tasche können wie ein abgeschossener Pfeil wirken. Obwohl niemand von den Anwesenden bei dem Thema verweilte, so wusste doch jeder, dass Manieren wichtige Aufschlüsse über Sozial- und Gefühlsebenen lieferten. Sie nicht zu kennen war wie Lesen mit einem geschlossenen Auge.

Für die lutherischen Katzen galten derlei Gebote allerdings nicht. In diesem Augenblick krallte Cazenovia sich in der Küche ans Bein des Caterers, in der Hoffnung, er würde einen Brocken fallen lassen. »Gottverdammte Katze«, hörte man ihn schimpfen.

Reverend Jones stand auf und ging in die Küche, um die nichtswürdige Glückskatze zur Rede zu stellen. »Wo hast du deine Manieren gelassen?«

Eloquenz, die dritte lutherische Katze, schlenderte in die Küche, war aber klug genug, nicht zu maunzen.

»Tut mir leid, dass ich geflucht habe«, entschuldigte sich Warren Chiles, ein Gemeindemitglied und der Caterer.

Der Reverend lachte. »Tu ich andauernd. Ich hoffe nur, der Herrgott hat sich um Wichtigeres zu kümmern als um einen fluchenden Pastor.«

»Hat er sicher«, erwiderte Warren und nickte. »Essen ist fertig.«

»Gut. Ich bin ausgehungert. Sind alle anderen bestimmt auch.«

Reverend Jones ging wieder ins Wohnzimmer und bat seine Gäste zu Tisch. Sie begaben sich ins Esszimmer, das in einem angenehmen dunklen Elfenbeinton gestrichen war. Ein kleiner Kronleuchter von 1804 warf sanftes Licht auf die Tafel. Ein besticktes Tischtuch verdeckte manchen Kratzer – der selbstverständlich nicht von den Katzen stammte.

Als Schweinebraten aufgetragen und Wein eingeschenkt war, ging draußen allmählich die Sonne unter. Die letzten goldenen Strahlen färbten sich erst lachsrot, um dann in ein flammendes Rot überzugehen.

Harry machte die Leute darauf aufmerksam. »Guckt euch diesen herrlichen Sonnenuntergang an.«

Die anderen hielten inne und drehten sich um.

Trudy, die ursprünglich aus Michigan kam, starrte auf die Feuerpracht. »Ich kann von der Schönheit dieser Gegend nie genug kriegen.«

»Ich erinnere mich aus meiner Kindheit an herrliche Sonnenuntergänge über der Tampa Bay, aber die Berge bei Sonnenuntergang und im Zwielicht die Farbe wechseln zu sehen, das hat schon was«, bemerkte Nelson.

»Da stellt sich mir die Frage, wer sonst sieht sich das an und wo?«, wollte Susan wissen. »Ist es in Asheville, North Carolina, oder im Hudson River Valley jetzt gerade auch so schön?«

»Oder wer hat 1820 die prachtvollen Sonnenuntergänge dieses Tals betrachtet?«, grübelte Marshall. Wie Nelson und Paul hatte Marshall bei Professor McConnell Geschichte studiert, als sie 1959 Football für die UVA spielten, die Universität von Virginia.

Beim Tischgespräch ging es um Sonnenuntergänge und Sonnenaufgänge, Mondaufgänge und darum, ob es sich besser am Wasser oder in den Bergen lebte. Es waren gefällige Unterhaltungen unter Menschen, die einander seit Jahrzehnten kannten. Nach dem Essen begaben sie sich ins Wohnzimmer zurück, wo Reverend Jones im Kamin Feuer entfachte. Die drei – jetzt satten – Katzen ließen sich flugs davor hinplumpsen.

Den letzten Frost gab es normalerweise um Mitte April, aber voriges Jahr hatten sie bis Anfang Mai Frost gehabt. Man wusste ja nie. Mit oder ohne Frost, die Narzissen standen schon hoch, die Blütenknospen der Judasbäume würden sich bald öffnen. Der Frühlingsanfang in den Appalachen war eine magische Zeit.

»Wann ist euer nächstes Klassentreffen?«, erkundigte Ginger sich bei Nelson.

»Weiß ich nicht, aber die Mannschaft kommt Ende des Monats in Richmond zusammen. Früher haben wir uns in Wintergreen getroffen«, der Zahnarzt meinte einen Wintersport­ort westlich von Charlottesville, »nur kommen einige von uns inzwischen die steile Treppe nicht mehr hinauf.«

»Das geht so schnell«, murmelte Harry, die, obwohl sie viel jünger war als die Männer von der Uni, nicht fassen konnte, wie die Zeit verflog.

Miranda, gute siebzig, lächelte. »Das sagen alle. Ist euch das schon mal aufgefallen?«

»Seit Perikles’ Ära in Athen klagen die Menschen über die Zeit.« Ginger lachte. »Schon früher. Ich führe das auf das menschliche Befinden zurück.«

»Apropos menschliches Befinden. Wie kommst du mit den Recherchen für dein Buch voran?«, fragte Nelson.

Trudy warf gutgelaunt ein: »Wenn ihn das Buch nicht umbringt, dann vielleicht ich.«

Ginger legte seiner Frau einen Arm um die Schultern. »Schatz, ich war nun schon über Jahrzehnte ein Ärgernis. Kommt es da auf eins mehr noch an?«

»Jahrzehnt oder Ärgernis?«, schoss sie zurück.

Sie lachten, dann antwortete er: »Mit dem Schreiben geht es langsam voran, weil ich nicht vom Recherchieren lassen kann. War schon immer so. Ich denke, ich habe alle Kirchen besichtigt, die vor, während des Unabhängigkeitskrieges und unmittelbar danach gebaut wurden, einschließlich dieser. Ich habe die Verzeichnisse der Pfarrkinder gelesen, die Gräber besucht, diejenigen notiert, die während des Krieges Soldaten oder Seeleute waren, diejenigen, die in The Barracks, gleich hier die Straße runter, Kriegsgefangene waren. Sie kommen mir wie Bekannte vor. Ich weiß über ihren Grunderwerb Bescheid, über ihre Gerichtsverfahren, sofern es welche gab. Kurzum, den Schrott des Alltagslebens. Trudy hat das so oft zu hören gekriegt, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass sie nach uns greifen.«

»Deshalb warst und bist du so ein guter Lehrer. Du hast ihnen Leben eingehaucht.« Nelson war es, der Ginger dieses überschwängliche Kompliment machte.

»Wahrhaftig«, sagte Reverend Jones. »Ich hatte nie das Glück, Gingers Vorlesungen zu besuchen, aber seine Bücher habe ich gelesen. Wie ihr wisst, bin auch ich von Geschichte fasziniert, betreibe es aber eher dilettantisch. Es hat mich immer interessiert, wie die diversen Religionen in diesem neuen Land Fuß gefasst haben, und im Hinblick auf die Entfernungen, die Menschen für seelischen Trost zurücklegen mussten, frage ich mich oft, wie etwa ein katholischer Priester einem sterbenden Quäker Trost spendete, nur weil er am nächsten bei dem Leidenden war.« Reverend Jones war ein kreativer Denker.

»Der Gedanke ist mir nie gekommen«, meinte Harry.

»Mir auch nicht.« Susan beugte sich vor. »So viele Menschen, so viele Arten des Anbetens, des Denkens.«

»Das Klügste, das wir je getan haben, war die Trennung von Kirche und Staat, und wir können Madison dankbar sein, weil er die Klauseln für Virginia verfasst hat, als wir eine Kolonie waren.« Gingers Ton duldete keine Unterbrechung, aber bei diesem Thema waren ohnehin alle mit ihm einig.

»Wer war Ihr bester Student?«, fragte Miranda ihn.

Nelson lachte kurz auf. »Ich nicht.«

»Du hattest gute Noten. Geschichte war nicht dein Favorit, nicht wie bei Marshall und Paul.«

»Deinetwegen habe ich auf eigene Faust studiert. Die Gärten des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts«, sagte Paul, der 1959 rechter Läufer der Mannschaft gewesen war. »Freiheitsgärten, wie manche genannt wurden. Aber ich habe ja immer gewusst, dass ich Dads Landschaftsbaubetrieb übernehmen würde. Das lag auf der Hand.«

Marshall lächelte. »Kommt mir gelegen.«

Joyce strahlte, stets gewillt, ihren ehrgeizigen Ehemann zu rühmen, der damals Abwehrspieler gewesen war. »Ihr müsst euch unbedingt ansehen, was Marshall und Paul in Continental Estates zuwege bringen.«

»Ach, Schatz, davon wollen sie nichts hören«, gab Marshall zu bedenken.

Reverend Jones ermunterte Marshall und Paul. »Aber sicher wollen wir es hören.«

»Wie ihr wisst, habe ich in den vergangenen fünfzig Jahren landerhaltende Projekte entwickelt, zuweilen sogar die originalen Unterkünfte rekonstruiert. Auf die Idee bin ich in Gingers Vorlesungen gekommen. Er hat mir gezeigt, wie sich Besitz aufspüren lässt, so dass ich präzise verfahren und Häuser gemäß der damaligen Zeit, aber mit unseren sämtlichen Annehmlichkeiten bauen konnte und kann.«

»Und wenn möglich, gestalte ich sie landschaftlich, wie man es, sagen wir mal, um 1790 gemacht hat«, warf Paul ein.

»Bekommt ihr keine Staats- und Bundessteuergutschriften?«, fragte Fair.

»Ich ja, Paul nicht. Aber ich als der Bauunternehmer schon. Die Formalitäten sind erdrückend, und natürlich müssen Paul und ich vor dem Planungskomitee des Albemarle County erscheinen.«

Paul warf ein: »Nicht bloß mit historischen Plänen, sondern auch mit Studien zur Umwelt und jetzt sogar zu den Lebensräumen wildlebender Tiere. Manchmal dauern die Formalitäten sowie die Vorauswahl über ein Jahr.«

Marshall nickte. »Öffentliche Anhörungen auch.«

»Ja nun, die Steuervergünstigungen sind es jedenfalls wert«, sagte Ned, und er musste es wissen.

Marshall stimmte ihm zu. »Seit 2000 hat die Baufirma Reese sechzehn Millionen Dollar an Staats- und Bundessteuergutschriften erhalten.« Er hob die Hände. »Und ich verspreche euch, die Hälfte davon fließt in die Studien, die künstlerische Darstellung, die Bodenuntersuchungen.«

Joyce ergänzte: »Und gäbe es nur einen einzigen Missgriff, würde Marshall mit Sicherheit in der Zeitung heruntergemacht, mit Klagen überhäuft. Es ist absurd.«

»Es ist bestimmt überspitzt, aber die meisten Bauunternehmer sind vermutlich nicht so gewissenhaft wie Marshall«, meinte Harry.

»Die meisten schon. In jedem Korb findet sich ein fauler Apfel, aber ihr würdet staunen, welch großen Wert die meisten Leute in dieser Branche auf einen guten Namen legen«, entgegnete Marshall und lächelte Ginger an. »Doch wir sind abgeschweift. Du wolltest uns von deinem Buch erzählen.«

Ginger, der einen kleinen Cognacschwenker in der Hand hielt, kicherte. »Die Menschen, die während der Revolutionszeit nach Nova Scotia oder zurück nach England geflohen sind, wurden unter den Teppich gekehrt. Aber auch sie haben dazu beigetragen, dieses Land zu erschaffen. Viele haben an der Twenty South gelebt, dem Hauptweg nach Scottsville. Und einige lebten natürlich hier, im heutigen Crozet.« Er trank einen Schluck, fuhr dann fort: »Diese Männer und ihre Ehefrauen habe ich über Jahrzehnte hinweg durch Oxford und Cambridge aufgespürt. Eine junge Hilfskraft ruft mich morgen mit den neuesten Ergebnissen an. Wegen des fünfstündigen Zeitunterschieds ist es danach nicht mehr lange bis zur Abschlagzeit!«

»Apropos Golf, ich kann’s nicht erwarten, wieder loszulegen.« Susan setzte sich aufrecht, ihre Miene drückte Begeisterung aus.

»Wenn ich so gut spielen würde wie du, wäre ich auch aufgeregt.« Paul lachte. »Bei mir ist eine große Portion Wunschdenken dabei, aber ich will mich bewähren.«

»Das sagen wir doch alle«, zog Nelson ihn auf, und alle lachten.

Der angenehme Duft von brennendem Holz verstärkte die vertraute Atmosphäre.

»Ich bin jetzt zweiundachtzig und wünsche mir, ich hätte noch mal zweiundachtzig Jahre«, meinte Ginger und lächelte. »Ich bin gerade an dem Punkt, wo ich sehe, wie sich im Puzzle der Jahrhunderte alles zusammenfügt. Ich werde die nächste Generation historischer Durchbrüche nicht mehr erleben. Ich hoffe aber, unsere UVA steht hierbei an vorderster Front.« Die anderen sahen ihn erschrocken an, ausgenommen Trudy, die wusste, was ihr Mann wirklich empfand.

Nelson meinte leichthin: »Ginger, du bleibst immer Geschichtsprofessor an der UVA, und die Fakultät wird deine ­Arbeit eines Tages ohne Rücksicht auf politische Einstellungen fortsetzen. Und du wirst immer ein passabler Golfspieler sein.«

Sie lachten wieder.

Reverend Jones fühlte mit Ginger. Jones war über siebzig, und ein langes Leben und Lernen hatten just begonnen, Früchte zu tragen. Erst jetzt begriff er, was Vietnam für ihn bedeutet hatte, als er ein junger Kämpfer in der Armee gewesen war. Trotz der Behandlung zu Hause, die er und das Land schließlich verkraftet hatten, war er dankbar, weil er führen gelernt hatte. Die Erfahrungen, für andere verantwortlich zu sein, blieben ihm erhalten, und er glaubte, dass Pflichtgefühl einen anständigen Pastor aus ihm gemacht hatte.

Die Anhänger von St. Lukas würden ergänzt haben, »einen wunderbaren Pastor, einen Menschen mit Gefühl, Überzeugung und Liebe«.

Als der Abend schließlich an sein Ende kam, erinnerte Susan Nelson an die morgigen Abschlagzeiten.

Ginger lächelte. »Ich bin um eins dran. Mein Ziel ist, an meinem Geburtstag mein Alter zu scoren.«

»Wenn jemand sein Alter einspielen kann, dann du«, meinte Susan bewundernd zu Ginger. »Genau das hat Nelson mit ›passabel‹ gemeint.«

* * *

Auf der Heimfahrt drehte Harry sich zu ihrem Mann hin, der ganze eins achtundneunzig maß. »Schatz, was ist so toll daran, wenn man sein Alter scort?«

Er zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht genau, aber was ­Besonderes ist es schon. Bist du nicht Susans Caddy? Ich denke, dann dürftest du dich mit diesem Zeugs auskennen.«

»Ha! Gewöhnlich bin ich Susans Caddy nur, weil mich die, die mit ihr spielen, darum bitten. Sie überlegt krampfhaft, welchen Schläger sie nehmen soll, vergeudet Zeit noch und noch. Ich zieh einfach einen Schläger raus und reiche ihn ihr.«

»Aber du spielst nicht. Woher kennst du dich aus?«

»Als wir vor Jahren auf der Highschool waren, hab ich den Schultrainer gebeten, es mir zu erklären. Dann hab ich einiges drüber gelesen und manchmal zugeschaut.«

»Gott, Terry Baumgartner! An den hab ich seit Jahren nicht gedacht.« Fair nahm wegen eines Bodennebelfelds den Fuß vom Gas.

»Golf ist ein schönes Spiel. Ich hatte bloß nie die Geduld dafür. Ich brauche Tempo, mein eigenes oder das von meinem Pferd. Es würde mich verrückt machen, vor einem kleinen weißen Ball zu stehen und danach zu schlagen.«

»Schatz, es macht Millionen von Amerikanern verrückt. Es ist ein herzergreifendes Spiel.«

»Wie wahr! Susan kann sich an Grüns, Wetter, alles Mögliche erinnern, seit sie zwölf war, und das ist immerhin dreißig Jahre her! Ich kann mich kaum an die letzte Woche erinnern.«

»Du erinnerst dich an vieles.« Er lächelte. »Aber von wegen das eigene Alter scoren. Das schafft kaum mal jemand.«

3

11.April2015

Boom Boom Craycroft und Susan Tucker fuhren in einem grünen Golfwagen, Nelson Yarbrough und David Wheeler in einem anderen. Harry folgte ihnen wie abgesprochen in einem dritten Wagen, mitsamt ihren zwei Katzen Mrs. Murphy und Pewter, Susans Golftasche und einer kleinen Thermosflasche mit heißem Tee, die im Becherhalter steckte.

Strahlender Sonnenschein überflutete die Fairways, die Blattknospen der Weiden standen kurz davor, sich zu dem einzigartigen Hellgrün des Frühlings zu öffnen. Der lange, kühle Frühling verhieß mehr baldige Blütenpracht. Ein leichter Wind verhieß, dass der Tag kühl sein würde, auch wenn das Thermometer bis siebzehn Grad anstieg. An diesem Nachmittag um halb drei hielt sich die Temperatur bei etwa vierzehn Grad. Pulloverwetter.

Die Wagen stoppten am dritten Abschlag. Trotz des anhaltenden leichten Frostes waren die Menschen begierig, rauszukommen und in eine neue Golfsaison zu starten. Natürlich würden sie ihr Spiel dieses Jahr verbessern. Sie wussten es einfach.

Die Vierergruppe, die über Jahre zusammen gespielt hatte, hielt sich an eine bewährte Routine. Die Damen schlugen zuerst von den Damenabschlägen, dann folgten die Herren von den Herrenabschlägen.

BoomBoom, Handicap 11, die nie herumtrödelte, nahm das Dreierholz aus ihrer Tasche, teete auf und schlug einen prachtvollen Drive schnurgerade über das sehr lange Fairway. Dieser Platz war 1927 angelegt worden, Grundstücke waren damals erschwinglich gewesen, und Par-5-Löcher konnten platziert werden, ohne das Budget zu strapazieren. Par-4- und einige Par-5-Löcher waren üblich auf diesen herrlichen alten Plätzen. Farmington kam ohne viele Doglegs aus. Wer schön gerade schlagen konnte und das Gelände richtig las, konnte durchaus Spaß daran haben, den alten Platz auf die alte Weise zu spielen. Aber Sandbunker, knifflige Fairways und irreführende Seitenbegrenzungen verlangten hier und da vom Spieler etwas Nachdenken.

Nachdenken ist allerdings die leichtere Seite beim Golfen, die Ausführung ein Kapitel für sich. Susan, Handicap 4, beobachtete BoomBoom, auch eine Freundin seit Kindertagen. BoomBoom konnte abschlagen. Das kurze Spiel ließ sie oft im Stich, aber am Tee musste man sich mächtig ins Zeug legen, um es der großen Blonden gleichzutun.

Susan zögerte. »Holz vier? Nein, nein, da oben ist der versteckte kleine Bunker.«

»Hier. Schlag einfach drauflos, verdammt.« Harry reichte ihr ein Dreierholz.

Genervt von Harrys direkter Art, starrte Susan den Schläger an. »Na gut.«

Sie packte das Dreierholz. Das Geplänkel mit Harry gab ihr Energie, die sie am Ball auslassen konnte.

Mrs. Murphy und Pewter wurden auf dem Platz geduldet, weil sie sich unauffällig verhielten. Außerdem waren sie im Auffinden von Golfbällen besser als die Menschen. Die zwei Katzen sahen zu, wie Susan den Ball auf das Tee legte.

Sie war ein Naturtalent. Mit ihrer fließenden Schwungbewegung ließ Susan Golf leicht aussehen. Als Kind hatte sie der unvergleichlichen Mary Pat Janss zugeschaut und davon geträumt, die Könnerschaft ihres Idols zu erreichen. Da Mary Pat international gespielt hatte, war das ein weiter Schlag sozusagen. Die ältere Frau wusste Talent zu erkennen und arbeitete gern mit Susan, die sich Mary Pats Prinzip, »keine Gnade kennen«, zu eigen machte.

Golfen hatte sich verändert, genau wie alles andere, schien es Susan. Heutzutage brauchten erfolgversprechende junge Golfspieler Sponsoren und Spezialtrainer. Mit denen wurden Kinder schon mit zwölf oder dreizehn Jahren zusammengebracht. Hätte sie bei den Profis bestehen können? Wer weiß? Sie befasste sich nicht weiter damit. Dagegen befasste sie sich damit, Club-Champion zu werden, auf dass ihr Name in die Liste eingetragen würde, in der Mary Pat häufig genannt war.

Susan schlug einen Ball ein kleines bisschen weiter als BoomBoom den ihren. Beide Bälle lagen genau mitten auf dem Fairway.

David, der auch recht gut spielte, lächelte Nelson zu, als er zum Tee schritt. »Mein Drive ist länger als ihrer. Dann können wir zugucken, wie’s sie zerreißt.«

»Dein Drive mag länger sein, aber mit dem zweiten Schlag hat sie dich.« Nelson lächelte. »Die Frau hat sich so unter Kontrolle, und ihre Wut auch.«

Pewter fand den ganzen Vorgang mysteriös. »Warum schlagen die Menschen das Dings, steigen dann in einen Wagen und fahren hin?«

»Wir haben das gemacht, seit wir klein waren. Warum fragst du jetzt?«, entgegnete Mrs. Murphy, die allzeit vernünftige Tigerkatze.

Die graue Katze runzelte die Stirn. »Ich hab dauernd gefragt, seit wir klein waren. Du antwortest ja nie.«

»Weil ich nicht kann. Pewter, warum sich deswegen grämen? Wir kommen von der Farm weg, wir fahren in diesem dämlichen Wagen rum, und sie sind überglücklich.«

Pewter blickte ihre Freundin an. »Warum fluchen sie dann so viel?«

Mrs. Murphy gab keine Antwort. Stattdessen beobachtete sie David.

Der Ball kam flach vom Schlägerkopf, stieg hoch und flog, beschleunigte wie ein ferngelenktes Geschoss. Davids Abschlag war knapp dreißig Meter länger als der der Damen. Es war ein fantastischer Schlag, aber der Ball stieß an die Kante des Fairways. In etwas höherem Gras hätte sein zweiter Schlag zum Grün gerade genug Kraft und eines kleinen Bogens bedurft, um sicher zu landen, da die Sandbunker, die dieses Grün verteidigten, berüchtigt waren.

Nelson schlug auch drauflos. Der großgewachsene Mann hatte nicht nur als Quarterback an der Universität von Virginia, sondern hatte auch Profi-Ball in der kanadischen Liga gespielt. Wenn Nelson eines besaß, dann Kraft. Ihm gelang ebenfalls ein schöner, sauberer Schlag, der anders als Davids weiter links landete. Sein Handicap 15 war irreführend, weil Nelson im Gegensatz zu anderen Tagen erheblich unter seinem Handicap blieb. Fünfzehn war guter Durchschnitt. Die Sprunghaftigkeit des Spiels katapultierte einen auf Wolke sieben oder in den Abgrund.

Jedermanns zweiter Schlag war ganz anständig bis auf Nelsons. Vor dem Ballkontakt verkantete er in letzter Sekunde den Schläger leicht, landete einen Fehlschlag im hohen Rough oder im angrenzenden Wald. Er konnte es nicht sagen, würde aber wohl suchen müssen.

Ein Marsch durchs höhere Gras, kein Ball. Nelson fügte sich in sein Schicksal, trottete in den Wald. Es war ihm unangenehm, das Spiel zu verzögern. Unter einem heruntergefallenen Ast lag sein strahlend weißer Ball.

Nelson war so klug, den Strafschlag hinzunehmen, doch ehe er aus dem Wald ins hohe Rough trat, hörte er in der Nähe Schüsse.

Er blickte sich um, sah nichts, hörte aber einen Aufschrei. Er eilte zurück zum Wagen und erkundigte sich bei David: »Hast du das gehört?«

»Ja. Klang wie eine Pistole.« David blickte in die Richtung der Schüsse. »Ich hätte mich nach einem miesen Schlag öfter gern mal erschießen mögen. Hoffentlich war das jetzt nicht so was.«

Auf dem Grün berieten die fünf Freunde über das befremdliche Geräusch, dann machten sie sich ans Putten. Alle schafften Par bis auf Nelson, dank seines Fehlschlags.

Gerade als die Spieler in ihre Wagen stiegen, kam eine Platzpatrouille angefahren. Der Teenager Bobby Thomas machte ein ungewöhnlich grimmiges Gesicht. »Leute, bleiben Sie bitte hier, bis ich wiederkomme und Ihnen sage, was als Nächstes zu tun ist.«

Während er sprach, heulte eine Sirene. Die vier sahen die Lichter blinken, als ein Rettungsfahrzeug auf einen Fahrweg zwischen ihrem und einem anderen Grün einbog. Mehr als das konnten sie nicht sehen, aber sie hörten den Rettungswagen weiterfahren. Danach kam ein Streifenwagen mit Sirenen­geheul, der Sheriff steuerte denselben Fahrweg an. Wie aus dem Nichts schienen alle Wagen auf demselben Weg zusammenzuströmen.

»Bobby, was ist hier los?«, fragte Susan.

»Kann ich nicht sagen, aber ich komm wieder.«

Susan, als Erste aus dem Wagen, ging die paar Schritte bis zum Wagen der Männer, die auch ausgestiegen waren. Harry und BoomBoom traten zu den anderen. Die Katzen blieben auf dem Sitz.

BoomBoom runzelte die Stirn. »Ich erinnere mich nicht, dass ein Rettungswagen mal so weit auf den Platz gekommen wäre.«

Nelson meinte: »Eigentlich erinnere ich mich an überhaupt keinen Rettungswagen.«

»Wie war das denn damals mit Kirsten Menefees Herzinfarkt?«, fragte Harry.

David antwortete: »Auf dem Übungsplatz.«

Sie lauschten angespannt, als die Sirenen verstummten. So schön der Frühlingstag auch war, nach einer Dreiviertelstunde wurden die vier unruhig. Ihnen wurde nahegelegt – tatsächlich befohlen –, zu bleiben, wo sie waren. Nach etwa einer Stunde kam Bobby Thomas zurück.

»Was ist los?«, fragte David höflich.

»McConnell ist« – er hielt inne – »gestorben.«

»Woran?«, rief Susan.

»Weiß ich nicht.« Das Gesicht des Teenagers nahm einen bekümmerten Ausdruck an. »Sie sollen alle in den Club gehen und dort warten. Dort will jemand von der Polizei mit Ihnen sprechen.«

Harry stieß hervor: »Polizisten tauchen nicht wegen Herzanfällen auf.«

»Mrs. Haristeen, ich soll dafür sorgen, dass Sie alle in den Club gehen und bei Ihren Wagen bleiben.«

»Entschuldige, Bobby. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.« Harry fühlte sich schuldig, weil sie dem jungen Mann so zugesetzt hatte.

Auf der Fahrt zur Wagenrückgabe sah Harry Wagen aus allen Richtungen herbeiströmen, die Insassen erschüttert und mit finsteren Gesichtern.

Als ihre Gruppe zum Parkplatz kam, hatte sich schon eine Schlange gebildet. Ein Beamter vom Sheriffbüro stand auf der Straße und regelte den Wagenverkehr. Autos waren keine unterwegs, nur lauter Golfwagen.

Weit vorne sah Harry Polizisten Spieler befragen. Sheriff Rick Shaw trat mit dem Berufsgolfer Rob McNamara aus dem Golfladen.

Zwanzig Minuten später kam Harrys Nachbarin, die Polizistin Cynthia Cooper, bei der Vierergruppe an. Alle vier waren so vernünftig, sie nicht gleich mit Fragen zu überfallen.

Cynthia grüßte ihre Nachbarn sowie Nelson und David. Sie schrieb etwas in ihr Notizbuch.

Nelson bemerkte Marshall Reese und Paul Huber in einem Wagen direkt hinter ihnen. Sie saßen bei Willis Fugate und Rudolph Putnam, zwei weiteren ehemaligen UVA-Footballspielern. So viele College-Sportler waren in Charlottesville geblieben, die meisten von ihnen waren finanziell erfolgreich.

»Hat jemand eine Person über den Golfplatz rennen gesehen?«, fragte Cooper.

Die Frage wurde von allen verneint.

»Hat jemand einen Motor gehört? Kein PKW, sondern so was wie einen Geländewagen?«

»Nein.«

»Irgendein merkwürdiges Geräusch?«

Wieder »nein«.

Daraufhin sagte sie: »Wenn ich noch jemanden von Ihnen brauche, werde ich anrufen.«

Kaum hatte sie »werde ich anrufen« geäußert, kam auch schon der Ü-Wagen des Fernsehsenders den Hauptfahrweg entlanggekrochen. Cooper starrte dorthin und sagte: »Danny wird versuchen, die aufzuhalten, aber sie werden am Straßenrand parken und sich die Leute beim Weggehen schnappen. Verdammter Mist!«

Danny war der junge Beamte, der den Golfwagenverkehr regelte, und er war schon auf dem Weg zu dem weißen Auto mit dem großen Senderlogo auf der Seite.

»Deren Job ist es, über Neuigkeiten zu berichten. Unser Job ist, Verbrechen zu verhindern oder aufzuklären. Falschinformationen oder zu viel Öffentlichkeit sind selten hilfreich.« Cooper verzog das Gesicht.

»Kann ich helfen?«, erbot sich Harry. »Würden wir natürlich alle gern.«

Cooper hob die Hände. »Harry, das ist ein beängstigendes Angebot.«

»Da hat sie recht.« Genau wie die Menschen erkannte Pewter, wie gefährlich Harrys Wissbegierde war.

Cooper blickte die sehr, sehr lange Schlange entlang. Jetzt tauchten noch weitere Beamte auf. »Ich fang lieber hier an.« Sie schaute alle Mitglieder der Vierergruppe an. »Ginger McConnell ist erschossen worden. Wenn sich irgendwer von Ihnen einen Grund denken kann, weshalb er zur Zielscheibe wurde, geben Sie mir Bescheid. Sie haben ihn alle gekannt, und vielleicht fällt Ihnen was ein. Sie können Ihre Wagen jetzt abgeben, und danke.« Sie ging zu den Wagen hinter ihnen.

Mit aschfahlem Gesicht bat Nelson David: »Kannst du den hier zurückgeben?«

»Klar.«

Daraufhin trat der großgewachsene Mann zu seinen alten Teamkameraden.

Susan stand neben BoomBoom und bemerkte: »Wir haben erst kürzlich mit Ginger und Trudy zu Abend gegessen. Es ist kaum zu fassen.«

Harry war direkt hinter den zwei Wagen und gab ihren ab. Sie wünschte David und auch BoomBoom einen guten Tag und stieg mit den Katzen im Schlepptau in Susans Audi Kombi.

Die Katzen saßen still auf dem Rücksitz, während Susan auf ein Zeichen von Danny wartete, um den Parkplatz verlassen zu können.

»Ich halt nicht an«, grummelte Susan, als der Reporter sie heranwinken wollte.

»Gut gemacht«, sagte Harry. »Wir wissen eh nichts.«

»Harry, ein Mann mit einer Statur wie Ginger McConnell, ein anerkannter Wissenschaftler, wird nicht einfach auf dem Golfplatz umgebracht. Es ist entsetzlich«, erklärte Susan mit feuchten Augen.

Harry zog ein Kleenex aus dem Handschuhfach. »Hier. Soll ich fahren?«

Susan schlug das Angebot aus, nahm das Kleenex aber an. »Wie kannst du so ruhig bleiben?«

»Alles rein äußerlich«, lautete die angespannte Antwort.

»Vielleicht ist es ja ein Irrtum.«

»Susan, wie kann es ein Irrtum sein, wenn Coop uns sagt, dass er ermordet wurde?«

Susan winkte ab, dann fuhr sie an den Straßenrand. »Ist vielleicht doch besser, du fährst.«

Harry rutschte ans Steuer und sah in den Rückspiegel. Die zwei Katzen beobachteten mit großen Augen alles, was Harry und Susan taten.

Harry lag daran, das Thema zu wechseln. »Das war ein verdammt guter Drive vorhin.«

Susan weinte jetzt heftiger, weshalb Harry sie schweigend den restlichen Weg nach Hause fuhr. Sie versuchte sich an alles während der letzten drei Löcher zu erinnern. Man hatte ihnen gesagt, Ginger sei unweit von ihnen am elften Loch gewesen, als sie die Schüsse hörten. Das elfte Loch ist diagonal von wo? Eine Menge Ideen schossen ihr durch den Kopf, von denen sie jedoch Susan vorsichtshalber nichts verriet, als sie sie zur Haustür begleitete.

»Soll ich bei dir bleiben?«, fragte Harry.

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