Morgen, Katze, wird's was geben - Rita Mae Brown - E-Book

Morgen, Katze, wird's was geben E-Book

Rita Mae Brown

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Beschreibung

Crozet verschwindet unter einer Schneedecke, als der erste Sturm der Wintersaison übers Land zieht. Die Menschen in dem kleinen Ort stürzen sich mit großer Vorfreude in die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest. Die smarteste Privatdetektivin in ganz Virginia, Harry Harristeen, ist unter den Gästen der glamourösen Spendengala von Silver Linings – einer Organisation, die Jungs in Schwierigkeiten wieder auf die Beine hilft. Der Abend endet jedoch jäh, als der ehemalige Top-Footballer Pete Vavilov auf dem Heimweg tödlich verunglückt. Doch erst als ein zweiter Vertreter von Silver Linings wenig später ebenfalls tot aufgefunden wird, vermutet Deputy Cooper eine Mordserie. Viel zu spät, wie Harry findet. Fehlen doch beiden Opfern zwei Finger. Gemeinsam mit ihrer klugen Katze Mrs. Murphy macht sich Harry daran, Deputy Cooper bei der Aufklärung des Falls auf die Sprünge zu helfen.

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Das Buch

Die Vorweihnachtszeit ist die Zeit des Gebens: Spendengala folgt auf Spendengala. So auch in dem kleinen Ort Crozet. Nach den ersten Winterstürmen sind alle froh über die farbenprächtige Abwechslung. Auch Harry Haristeen, die smarteste Privatdetektivin in ganz Virginia, ist unter den Gästen. Höhepunkt der Saison ist das glamouröse Fest der Wohltätigkeitsorganisation Silver Linings. Der Abend verläuft glanzvoll, findet aber ein hässliches Ende, als einer der Förderer plötzlich stirbt. Ein Unfall, heißt es. Gemeinsam mit ihrer klugen Katze Mrs. Murphy macht Harry sich daran, hinter die wohltätige Fassade zu schauen. Geht dort wirklich alles mit rechten Dingen zu?

Die Autorin

Rita Mae Brown, geboren in Hanover, Pennsylvania, wuchs in Florida auf. Sie studierte in New York Filmwissenschaft und Anglistik und war in der Frauenbewegung aktiv. Berühmt wurde sie mit dem Titel Rubinroter Dschungel und durch ihre Romane mit der Tigerkatze Sneaky Pie Brown als Koautorin.

Rita Mae Brown& Sneaky Pie Brown

MORGEN, KATZE, WIRD’S WAS GEBEN

Ein Fall für Mrs. Murphy

Roman

Aus dem Amerikanischen von Margarete Längsfeld

List

Die Originalausgabe erschien 2014

unter dem Titel Nine Lives to Die

bei Bantam Books, New York.

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ISBN 978-3-8437-1380-1

© 2014 by American Artists, Inc.

Illustrationen © 2014 by Michael Gellatly

© der deutschsprachigen Ausgabe

2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: © Jakob Werth, Teisendorf

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Voll Bewunderung der Yorkshire-Terrierhündin Gracie gewidmet.

Sie lebt in Kapstadt, Südafrika, und hat ihren Menschen gut erzogen.

Personen der Handlung

Mary Minor »Harry« Haristeen, gerade einundvierzig geworden, hat nach ihrem Abschluss am Smith College sechzehn Jahre lang als Posthalterin in Crozet, Virginia, gearbeitet. Nun versucht sie, mit Farmarbeit Geld zu verdienen. Sie hat Brustkrebs überstanden und denkt lieber nicht darüber nach. Sie lebt mehr oder weniger an der Oberfläche des Daseins, bis ihre Neugierde sie tiefer hineinzieht.

Pharamond »Fair« Haristeen, Doktor der Veterinärmedizin, hat sich auf Pferdefortpflanzung spezialisiert. Nach seinem Examen an der Auburn University hat er seine Kindheitsliebe Harry geheiratet. Er versteht sich besser als seine Frau auf die Gefühlslage anderer Menschen. Er ist ein Jahr älter als Harry.

Susan Tucker, kontaktfreudig und in geselligem Austausch aller Art bewandert, ist Harrys beste Freundin, seit sie beide in der Wiege lagen. Sie liebt Harry, macht sich jedoch Sorgen, weil Harry ständig in irgendetwas hineinstolpert.

Reverend Herbert Jones, Vietnam-Veteran der Armee, ist Pastor der lutherischen St.-Lukas-Kirche, die über zweihundert Jahre alt ist. Er ist ein Mann von tiefer Überzeugung und tiefen Empfindungen. Harry kennt er seit ihrer Kindheit.

Deputy Cynthia Cooper. Die große, schlanke Frau, Harrys direkte Nachbarin, weil sie die angrenzende Farm gepachtet hat, liebt den Polizeidienst. Harry mischt sich hin und wieder in Coopers berufliche Angelegenheiten ein, denn die Smith-Absolventin besitzt ein unheimliches Talent, auf wichtige Informationen zu stoßen.

Tante Tally Urquhart, die hunderteinjährige Tante von Marilyn Sanburne, macht, was sie will und wann sie will. Sie tritt in diesem Buch kaum in Erscheinung, was allen eine Verschnaufpause verschafft.

Marilyn »Big Mim« Sanburne ist als Queen von Crozet bekannt. Sie beherrscht alles und alle außer ihrer Tante. Big Mim ist politisch interessiert.

Miranda Hogendobber ist für Harry wie eine zweite Mutter. Die fromme Christin tritt ebenfalls in diesem Buch kaum in Erscheinung. Sie ist wie Big Mim in den Siebzigern und hat keine Ahnung, wie sie da so schnell hingeraten ist.

Sheriff Rick Shaw. Der Sheriff von Albemarle County ist überlastet, unterfinanziert und überarbeitet. Trotzdem liebt er den Polizeidienst, und er hat gelernt, Cooper zu vertrauen. Anfangs war er nicht begeistert gewesen, eine Frau im Revier zu haben.

BoomBoom Craycroft, auch eine Kindheitsfreundin von Harry, hatte vor Jahren eine Affäre mit Harrys Mann. Das war natürlich ein Riesenschlamassel. Doch alle haben sich davon erholt, und vieles ist in mancher Hinsicht besser geworden. BoomBoom leitet die Betonfabrik ihres verstorbenen Mannes. Sie ist auf konventionelle Art schön.

Alicia Palmer ist einfach atemberaubend. Alicia war in den fünfziger Jahren ein Filmstar, hat etliche Ehemänner und Affären hinter sich, einen Haufen Geld verdient und von einer alten Liebe noch mehr geerbt. Sie ist nach Crozet zurückgekehrt, hat sich in BoomBoom verliebt und ist überglücklich.

Jessica Hexham ist gebildet, gesellig und immer bereit, einer guten Sache zu dienen. Sie schließt sich der Mädelsgruppe um Harry und ihre alten Schulfreundinnen an.

Brian Hexham, Jessicas Ehemann, leitet ein gemeinnütziges Unternehmen, das benachteiligte Jungen unterstützt. Niemand, der sich in dieser Einrichtung engagiert, die in der Kirche St. Cyril untergebracht ist, erhält eine Vergütung dafür.

Arden Higham, leicht neurotisch, mit einem erfolgreichen Geschäftsmann verheiratet, bemüht sich um Frieden zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn. Sie kümmert sich, auch ohne Vergütung, um die Buchführung für Silver Linings.

Louis Higham betreibt eine profitable Werbeagentur. Er ist wie so viele der mit Silver Linings verbundenen Männer ein ehemaliger Highschool-Football-Star. Er hat eine herrische Ader.

Tyler Higham ist mit vierzehn ein Technikfreak, versteht sich gut mit seinen Mitschülern, ist aber zum Leidwesen seines Vaters jämmerlich unsportlich.

Trainer Al Toth ist pensioniert und Anfang siebzig. Er war während der glorreichen Footballzeiten in den 1970er und 1980er Jahren Cheftrainer an der Crozet High School. Er hilft bei Silver Linings aus und wird von allen verehrt.

Esther Mercier Toth. Auch sie tut das Ihre für Silver Linings und ist Al treu ergeben. Die ehemalige Mathematiklehrerin an der Crozet Highschool ist mit der Betreuung ihrer älteren Schwester belastet.

Peter Vavilov, auch ein von Trainer Toth geförderter Football-Star, ist Fordhändler geworden, verdient einen Haufen Geld und liebt den Autohandel.

Charlene Vavilov betreibt das Autohaus zusammen mit ihrem Mann und hat wie er das harte Geschäft lieben gelernt. Sie hofft, dass ihre zwei Söhne, wenn sie das College abgeschlossen haben, in der Kfz-Branche landen werden.

Pfarrer O’Connor. Als junger Gemeindepriester von St. Cyril wurde er damit betraut, den alternden Pfarrer O’Brien zu unterstützen. Im Hinblick auf Kirchenpolitik hält er den Kopf gesenkt und konzentriert sich auf seine Pfarrkinder.

Cletus Thompson, ehemaliger Mathematiklehrer an der Crozet High School, einer für ihren Mathematikbereich hoch angesehenen Schule. Er ist pensioniert und hat einen sehr alten Hund namens Terminator. Kämpfe mit der Flasche haben sein einst attraktives Gesicht verwüstet. Er ist ein anständiger Mensch, der mit einem Dämon ringt.

Flo Rice. Wunderlich trifft es nicht ganz, aber sie ist intelligent, belesen und den meisten Menschen gegenüber misstrauisch. Sie streitet sich gern mit Esther Toth, ihrer jüngeren Schwester. Ihr Hund Buster ist ein Lichtblick in ihrem Leben.

Odin, ein junger Kojote, der hinter Harrys Farm am Osthang der Blue Ridge Mountains lebt, verhilft Mrs. Murphy, Pewter und Tucker zu einer erschreckenden Entdeckung.

Die wirklich bedeutenden Figuren

Mrs. Murphy ist eine Tigerkatze, die meistens cool, ruhig und beherrscht ist. Sie liebt ihre Menschen, die Hündin Tucker und sogar Pewter, die andere Katze, die ein rechtes Ekel sein kann.

Pewter ist ichbezogen, rundlich und, wenn sie Lust hat, intelligent. So selbstsüchtig diese Katze auch ist, oft kommt sie in allerletzter Minute, um zu helfen, und will dann die ganze Anerkennung einheimsen.

Tee Tucker. Die Corgihündin könnte für Sie die Aufnahmeprüfung am College bestehen. Sie hängt sehr an Harry, Fair und Mrs. Murphy. An Pewter eher weniger.

Simon ist ein Opossum und wohnt auf dem Heuboden von Harrys Stall.

Matilda ist eine große Kletternatter mit einem starken Sinn für Humor. Sie wohnt auch auf dem Heuboden.

Plattgesicht. Die große Ohreule wohnt in der Stallkuppel. Sie triezt Pewter, aber der Katze ist klar, dass der Vogel sie mühelos hochheben und wegtragen könnte.

Shortro, ein junges Reitpferd in Harrys Stall, wird für die Fuchsjagd ausgebildet. Er ist sehr klug und gutmütig.

Tomahawk, Harrys älterer Vollblüter. Sie sind seit langem befreundet.

Die lutherischen Katzen

Eloquenz ist die älteste der St.-Lukas-Katzen. Sie ist sehr besorgt um den »Rev«, wie seine Freunde den Reverend Herbert Jones manchmal nennen.

Cazenovia. Diese Katze beobachtet alles und jeden.

Lucy Fur, die jüngste der Miezen, ist nicht an der Kirchenlehre interessiert, dafür aber an Reverend Herbert Jones, den sie als »Poppy« ansieht.

1

Gin!«

»Unglaublich.« Susan Tucker starrte auf die Karten, die Harriet »Harry« Haristeen, ihre langjährige Freundin seit Kindertagen, abgeworfen hatte.

Die anderen sechs anwesenden Frauen traten hinzu und bestaunten mit offenstehenden Mündern das Siegerblatt.

»Tja, Susan, sie hat’s gebracht«, sagte BoomBoom Craycroft, eine weitere Kindheitsfreundin, lächelnd.

»Harry hat doch null Ahnung vom Kartenspielen«, lamentierte Susan.

»Heute Abend schon.« Harry strahlte. »Susan, notier dir im Kalender, ›Dienstag, dritter Dezember. Meine beste Freundin Harry hat mich im Gin Rommé geschlagen.‹«

Jessica Hexham, zierlich, im mittleren Alter, hatte sich schick angezogen, obwohl dies ein zwangloser Abend war. Sie murmelte: »Für den Kalender nicht ganz so enthusiastisch – vielleicht einfach bloß ein Pechtag?«

»Wisst ihr noch, wie Miss Donleavy uns über Pechtage im alten römischen Kalender aufgeklärt hat?« Susan verdrehte die Augen.

BoomBoom, Susan und Harry waren auf der alten Crozet High School in dieselbe Klasse gegangen. Das Gebäude stand zwar noch, aber heute besuchten die Schüler die Western Albemarle High School, eine große Schule, in der ehemalige kleine Gemeindeschulen zusammengeschlossen waren. Jessica Hexham, Alicia Palmer, Charlene Vavilov und Arden Higham waren nicht auf diese Schule gegangen. Jessica hatte Miss Porters Institut besucht, Alicia die Orange High School, Arden die Buckingham High School und Charlene, die älter war als die anderen, St. Catherine’s in Richmond.

Mit Ausnahme von Jessica waren alle in Mittelvirginia gebürtig. Jessica, in Concord, Massachusetts, geboren und aufgewachsen, hielt die anderen oft für amüsant, zuweilen auch für widersprüchlich und allesamt für gute, verlässliche Freundinnen.

»Alea jacta est«, erklärte Susan entschieden.

Harry übersetzte: »›Der Würfel ist gefallen.‹ So hieß es, als Julius Caesar 49 v. Chr. an der Spitze der dreizehnten Legion den Rubikon überquerte. Er wusste, dass es Bürgerkrieg geben würde.«

»Apropos Pechtag«, sagte BoomBoom. »Ist es denn nicht irre, dass ein jahrtausendealter Begriff wie Pechtag heute noch funktioniert? Gott segne Miss Donleavy. Sie war eine gute Lehrerin.«

Jessica erinnerte sich ebenfalls, vielleicht weniger liebevoll, an ihre Lateinlehrerin an der teuren Privatschule. »Miss Greely würde ich keinen Segen erteilen.«

Die anderen lachten.

»Charlene, du hast auf St. Catherine’s doch bestimmt Latein gehabt«, mutmaßte Alicia.

»Ohne zwei Jahre Latein konnte man nicht aufs College gehen«, sagte Charlene. »Ich hatte vier Jahre. Das hat mir mehr genützt, als ich ahnen konnte, während ich die verhassten Konjugationen auswendig lernte.« Sie lachte.

»Komisch, nicht?«, sagte die außergewöhnlich schöne Alicia. »Was verwenden wir? Woran erinnern wir uns?«

»Abgesehen von amo, amas, amat erinnere ich mich an Miss Donleavys mysteriöses Verschwinden. Man hat sie nie gefunden.« Harry nahm die Karten auf, um zu mischen.

Susan griff über den Kartentisch und legte ihre Hand auf Harrys Unterarm. »Untersteh dich.«

Harry blinzelte. »Häh?«

»Ich mische.«

Harry hob die Stimme. »Soll das etwa heißen, ich mogele?«

»Nein, aber du hast die letzte Partie gewonnen, drum bin ich mit Mischen dran. Außerdem, was ist, wenn du was Heißes auf der Hand hast?« Susan verwendete den unter Spielern üblichen Ausdruck.

»Das würde ich eher meinem Mann verraten.«

Dies rief weiteres Gelächter hervor.

Die Lampen flackerten einmal, zweimal, dann ging das Licht aus.

»Verdammt«, schimpfte Susan in der Dunkelheit. »Bleibt, wo ihr seid. Ich hole Kerzen.«

»Nimm meine kleine Taschenlampe.« Harry zog eine etwa fünf Zentimeter lange LED-Taschenlampe Made in China aus ihrer Tasche.

Susan drückte auf den Knopf. »Wow.«

»Was hast du sonst noch in der Tasche?«, fragte Jessica.

»Ein Taschenmesser«, antwortete BoomBoom statt Harry. »Sie hat immer ein Messer und ein bisschen Geld in der Tasche.«

»Mit Betonung auf bisschen«, erwiderte Harry und leerte ihre Taschen auf den Kartentisch. Susan kam unterdessen mit

Kerzen herein.

»Komm, ich helf dir.« Alicia konnte dank des LED-Lämpchens was sehen. Sie nahm sich ein paar Kerzen.

»Eine Sturmlaterne haben wir auch. Ach komm, das machen wir zusammen. Mädels, wir sind gleich wieder da.«

Wie versprochen kamen Susan und Alicia mit kleinen Messingkerzenhaltern herein, die sie im Wohnzimmer verteilten und anzündeten. Die große Sturmlaterne glimmte auf dem Kartentisch. Alle Leuchter waren mit fünfzehn bis zwanzig Zentimeter hohen Kerzen bestückt.

Susan bemerkte das Häufchen Krimskrams.

»Harry, was machen deine Sachen auf dem Kartentisch?«

»Jessica wollte wissen, was ich in der Tasche hatte.«

»Im Dunkeln?« fragte Susan.

»Wir wussten, es würde hell werden«, versetzte Harry.

Jessica betrachtete interessiert den Inhalt: ein Taschenmesser von Case, ein zusammengefaltetes Baumwolltaschentuch, zweiundzwanzig Dollar in kleinen Scheinen, ein Hundekeks.

Harry deutete auf den Keks. »Könnte doch sein, dass ich mal Hunger kriege.«

Die Damen lachten wieder. Alicia trat an das hohe dreiteilige Schiebefenster. »Mädels, es hat uns mächtig erwischt.«

»Soll das ein Witz sein?« Harry und die anderen traten hastig hinzu.

»Der Sturm kommt aber früh.« Wie alle Landbewohner achtete BoomBoom genauestens auf das Wetter.

»Wir haben noch etwas Zeit, ehe wir uns wegen der Straßen sorgen müssen«, prophezeite Harry zuversichtlich. »Wir haben doch alle Vierradantrieb, oder?«

Charlene lächelte. »Wenn nicht, verkauf ich ihn euch gern.« Sie und ihr Ehemann Pete waren Inhaber der Ford-Niederlassung.

»Wir sind versorgt«, erwiderten die anderen.

»Lasst uns jetzt aber nicht bei Kerzenschein Karten spielen. Ihr Lieben, ich hab uns schnell ein paar Gemüse-Hors-d’oeuvres zubereitet, die sind echt lecker, wenn ich das so sagen darf. Die kann ich nicht alle allein essen. Ihr müsst mir helfen. Harry, knips noch mal deine Taschenlampe an, dann holen wir das Essen aus der Küche rein. BoomBoom, du weißt ja, wo die Bar ist. Bedien die Mädels und gib ihnen, was sie wollen.«

BoomBoom griff sich eine Kerze und rauschte zu der gut bestückten Bar. Ned, Susans Ehemann, saß als Abgeordneter in der gesetzgebenden Versammlung von Richmond, und das Paar lud oft Gäste ein. In dieser Gegend der Welt galten gute alkoholische Getränke allen Gastgebern als lebensnotwendig. Südstaatler tranken wohl Wein, vielen war aber ein hochprozentiger Bourbon oder Scotch lieber, und darüber hinaus gab es zahllose Wodkatrinker, die meinten, das Zeug würde in ihrem Atem nicht auffallen.

Sobald sie sich in dem gemütlichen, absichtlich nicht modern gehaltenen Wohnzimmer niedergelassen hatten, fragte Jessica neugierig: »Was war denn jetzt mit eurer Lateinlehrerin?«

»Das weiß man nicht«, erklärte BoomBoom achselzuckend. »Sie ist eines Freitagabends nach dem Footballspiel verschwunden. Ihr Auto stand auf dem Parkplatz. Am Montag war sie nicht in der Schule.«

»Wir haben an dem Abend gegen die Louisa Dragons gespielt«, erinnerte Harry sich. »War ein gutes Spiel. Miss Donleavy hat kein einziges Footballspiel ausgelassen.«

»Sie war mit dem Trainer zusammen, Mr. Toth«, ergänzte Susan. »Sah verdammt gut aus.«

»Trainer Toth? Der Toth?«, fragte Jessica. »Silver Linings?« Sie sprach von einem Jugendverband, der von dem Trainer und auch von sämtlichen Ehemännern der anwesenden Frauen unterstützt wurde. Abgesehen davon, dass Silver Linings jungen Männern half, standen dem Verband Wirtschaftsbosse und ehemalige Sportler vor. Die Mitgliedschaft war der Karriere förderlich.

»Jessica, es ist doch sicher irritierend, mitten in eine Gruppe von alten Freundinnen zu geraten.« Harry reichte ihr eine Serviette.

»Nein, es fasziniert mich. Eine verschwundene Lateinlehrerin.«

»Du kennst das Klischee von der altjüngferlichen Lateinlehrerin? So eine war Miss Donleavy aber nicht. Sie war üppig gebaut, hatte rabenschwarze Haare und war bildhübsch«, bemerkte BoomBoom, die selbst üppig gebaut war.

»Irgendwelche Verdächtige?« Jessica hob die Augenbrauen.

Miranda antwortete: »Zuerst dachten die Leute, es könnte ein Nebenbuhler des Trainers gewesen sein. Die Männer waren verrückt nach ihr.«

Susan ergänzte: »Man hat jede Menge Männer verhört. Alle hatten ein Alibi.«

»Sonst noch wer?« Jessica ließ nicht locker.

»Esther Mercier. Sie hat Miss Donleavy gehasst, regelrecht gehasst.« Harry biss in eine Möhre mit einer eingeschnittenen Vertiefung, die mit gehaltvollem Frischkäse gefüllt war.

»War in Trainer Toth verknallt.« BoomBoom steuerte Fakten bei.

»Nicht unattraktiv, die Frau, aber nicht das Format von Miss Donleavy.«

»Wie hieß sie mit Vornamen?«, fragte Jessica. »Diese Miss Donleavy?«

»Äh, Margaret. Komisch, aber es fällt mir immer noch schwer, meine Lehrkräfte mit Vornamen zu nennen. Ich meine, Trainer Toth bleibt immer Trainer Toth.« Susan lächelte. »Und am Ende hat er Miss Mercier geheiratet, eine Mathelehrerin.«

»Man sollte meinen, jemand müsste was gewusst haben. Crozet ist schließlich klein«, meinte Charlene verwundert.

»Falls ja, ist es keinem aufgefallen. Wie jeder beliebige Ort auf der Welt steckt Crozet voller Geheimnisse, die die Menschen mit ins Grab nehmen«, bemerkte Harry. »Die Verwandten von Miss Donleavy, alle älter als sie, sind tot. Es ist einer von diesen hartnäckigen Kleinstadt-Mythen.«

»Also wirklich, Menschen verschwinden nicht einfach vom Erdboden.« Alicia drehte ein frisches Stückchen Broccoli zwischen den Fingern.

»Die Schwarze Dahlie«, widersprach BoomBoom.

»Stimmt, gewissermaßen«, sagte Alicia. »Freilich, ich war damals nicht in Hollywood. Und sie ist nicht verschwunden, Süße. Man hat den Mörder nie gefunden.«

»Stimmt.« BoomBoom stand auf, trat ans Fenster und drückte die Nase fast an die Scheibe. »Jetzt kommt’s aber richtig runter. Wir sollten machen, dass wir nach Hause kommen.«

»Ich möchte aufräumen helfen«, erbot sich Harry.

»Ein Tablett mit Gemüse und die paar Gläser? Und überhaupt, kein Strom, kein Wasser. Fahrt nur. Wenn eure Handys nicht funktionieren, könnt ihr immer noch simsen, falls ihr ein Droid habt.«

Arden sagte: »Hoffentlich ist die Silver Linings Spendengala nicht abgesagt.«

»Wir drücken die Daumen.« Und Charlene tat es prompt.

Nach langer vorsichtiger Fahrt lenkte Harry den Wagen endlich in ihre langgestreckte Farmzufahrt. Die Scheibenwischer schnippten, so schnell sie konnten. Harry hielt vor dem alten weißen Holzhaus, schaltete den Motor ab und die Scheinwerfer aus.

Goldener Kerzenschein flutete über den Schnee. Die überfrorenen Fenster schimmerten mattgolden, die welligen Unebenheiten des mundgeblasenen Glases wurden durch die Kerzen dahinter umso sichtbarer.

»Mom ist da«, bellte die Corgihündin Tucker drinnen erfreut.

Pewter, die sich auf dem Küchentisch rekelte, hob den Kopf. »Höchste Zeit.«

Mrs. Murphy, die Tigerkatze, begleitete Fair, Harrys Mann, der die Küchentür zur Veranda öffnete. Er richtete eine große Taschenlampe auf den Weg zur rückwärtigen Veranda, die im Sommer eingezäunt und im Winter verglast war.

»Schatz, bin ich froh, dass du zu Hause bist.« Er trat in den Schnee.

»Fair, geh wieder rein. Ich kann gut sehen.«

Er ging natürlich nicht rein, gab ihr einen Kuss, sobald sie, Tucker und Mrs. Murphy zu ihren Füßen, auf die Veranda hastete.

Pewter zog ein Willkommens-Miau in Erwägung, als Harry in die Küche trat, überlegte es sich dann aber anders. Es ist nie klug, Menschen zu verwöhnen.

Harry stampfte den Schnee von ihren Füßen. »Mannomann, es schneit wie verrückt.«

»Ich bring das Aggregat zum Laufen. Bin selbst erst vor etwa zehn Minuten nach Hause gekommen. War heute unter Papierkram vergraben.«

Sie hängte ihren Mantel an einen Holzhaken neben der Küchentür und schüttelte sich den Schnee vom Kopf. »Schatz, hast du dein Droid da?«

»Na klar.«

»Kann ich’s mal kurz haben?«

Fair nahm das Gerät von der Küchenanrichte, wo er es beim Hereinkommen abgelegt hatte, und reichte es seiner Frau. Harry simste an Susan: »Ich hab gewonnen.«

Dann berichtete sie ihrem Mann von ihrem kleinen Triumph, den sie zusammen feierten.

Tucker freute sich auch, wusste sie doch, wie oft Harry beim Kartenspielen verlor.

»Ich hab mal einen Satz Spielkarten zerfetzt«, prahlte Pewter. »Teure Karten mit Susans Monogramm drauf.«

»Wissen wir«, erwiderten Mrs. Murphy und Tucker. »Deinetwegen spielen die Mädels nicht hier bei uns Karten«, fügte Tucker an.

»Wen juckt’s?«, rief Pewter frech vom Tisch herunter.

»Mich«, sagte die kluge Corgidame. »Die Mädels lassen immer was zu futtern fallen.«

»Tja …« Pewter wusste hierauf keine schlagfertige Antwort.

Als das Kaminfeuer loderte, kuschelten Harry und Fair sich aufs Sofa.

»Der erste dicke Schnee der Saison. Er schafft zwar jede Menge Probleme, trotzdem mag ich ihn«, erklärte Fair lächelnd.

»Sind denn noch Pferde in der Klinik?«, fragte Harry. Fair war Pferdedoktor.

»Nein, deswegen kann ich ja den Schnee genießen. Ich muss da nicht mehr hinfahren, bis die Straßen geräumt sind.« Er sah aus dem Fenster. »Die kriegen mächtig was zu tun.«

»Wenigstens läuft der Kühlschrank mit dem Aggregat, und der Herd tut’s mit Propangas.«

Fair zog Harry dichter an sich. »Ich mag das Kerzenlicht.«

»Ich auch, und ich mag die Stille, vor allem, wenn der Kühlschrank sich abschaltet. Hör mal, wir sind auf Miss Donleavy zu sprechen gekommen.«

»An die hab ich jahrelang nicht gedacht. War ’n gutes Spiel an dem Abend, als sie verschwand. Wir haben Louisa haushoch besiegt. Und ein Mörder ist ungeschoren davongekommen.«

»Womöglich.« Harrys helle Stimme stieg etwas an. »Ach Schatz, sie ist für immer entschwunden.«

War sie aber nicht.

2

Schneekristalle piksten Harry, die den mit einem Schneepflug bestückten 80-PS-Traktor durch die lange Zufahrt lenkte. Der schwere alte Traktor strahlte Kraft aus. Harry wünschte, er hätte eine geschlossene Kabine, doch diese Annehmlichkeit war zu teuer gewesen, als sie das Gefährt vor Jahren kaufte. Heute war sie sogar noch teurer.

Ein Notruf hatte Fair um vier Uhr morgens aus dem Bett geholt. Obwohl unterdessen dreißig Zentimeter Schnee gefallen waren, schaffte es sein Eintonner-Geländewagen, langsam durchzukommen. Jetzt um halb acht schaufelte Harry den sich auftürmenden Schnee weg.

Als sie zu der Staatsstraße zweiter Ordnung gelangte, erkannte sie, dass die Schneepflüge mindestens einmal entlanggefahren waren. Sie mussten unbedingt wiederkommen. In einem weiten Bogen fuhr sie die Zufahrt zurück. Mit dem vom Wind getriebenen Schnee im Rücken fühlte sie sich etwas besser.

Harry ertrug fast jedes Wetter. Auf einer Farm aufgewachsen, hatte sie fast ihr ganzes Leben mit Farmarbeit verbracht und war entsprechend robust. Die vier Jahre am Smith College waren die leichtesten, die sie erlebt hatte. Sogar als sie am Postamt in Crozet arbeitete, hatte sie sich, sobald sie nach Hause kam, ihren Pflichten gewidmet, sogar schon morgens früh, ehe sie nach Osten in die Kleinstadt fuhr.

Entlang der Bahngleise war ein neues Postamt gebaut worden. Sie hatte den Job gekündigt, weil sie Katzen und Hund nicht mehr mit zur Arbeit bringen durfte. Das kleine gemütliche ländliche Postamt hatte heimelig gewirkt. Die große neue Post wirkte dagegen nur wie ein weiterer Regierungsbau.

Wann immer Leute wegen der Geldverluste über den Postdienst spotteten, nahm sie ihn in Schutz. Er war ein Regierungsressort, für das unterschiedliche Normen galten, hinzu kamen diverse finanzielle Einschränkungen, die sich teilweise auf die Renten bezogen. Sie glaubte nicht, dass mit dem Postamt jemals Geld zu verdienen war. Wenn der Benzinpreis um einen Cent stieg, kostete das den Postdienst über eine Milliarde Dollar. Nur ein einziger Cent.

Sie vermisste es, die Stadtbewohner an fünf Tagen die Woche zu sehen, und sie vermisste die Zusammenarbeit mit Miranda Hogendobber, einer älteren Freundin. Und noch etwas: Harry vermisste den regelmäßigen Verdienst.

Davon abgesehen liebte sie die Vollzeit-Farmarbeit, und wie alle Farmer nahm sie es hin, dass Mutter Natur eine anspruchsvolle, schwierige Geschäftspartnerin war. Kein Tag glich dem anderen.

Ein Hupen schreckte sie auf. Sie wendete, so dass Schnee ihr wieder ins Gesicht biss, und erblickte ihre Nachbarin, Deputy Cynthia Cooper, in einem Geländefahrzeug der Polizei.

Harry stellte den Motor des Traktors ab und stieg hinunter.

»Hey«, begrüßte sie Cooper.

Cooper, deren Fenster heruntergelassen waren, entgegnete: »Du wirst dir noch den Arsch abfrieren.«

»Ist nicht viel zum Frieren dran«, witzelte Harry.

Die schlanke Gesetzeshüterin lächelte. »Ein wahres Wort, und wie viele Frauen können das von sich sagen? Brauchst du irgendwas?«

»Nein danke, Coop. Fair hat einen Notruf gekriegt. Er geht auf dem Rückweg einkaufen.«

»Wo ist er denn?«

»Bei den Jarnettes.«

»Dann muss er ganz langsam nach Hause fahren. Es soll gegen Morgen aufhören zu schneien. Morgen Abend schneit’s dann weiter. Na, das hält mich jedenfalls auf Trab.«

Harry zog wegen eines Windstoßes kurz den Kopf ein. »Der Wind macht einem schwer zu schaffen.«

Cooper nickte. »Stimmt.«

»Apropos Sachen besorgen«, sagte Harry, »Jessica und ich wollen morgen zu Nordstrom. Ich brauch dringend ein Kleid für die Silver-Linings-Spendengala. Brauchst du was?«

»Eine komplette Garderobe.« Cooper lächelte. »Falls wir uns vor der Fete nicht mehr sehen, viel Spaß. Und sammel schön.« Sie wischte den Schnee weg, der ihr ins Gesicht geweht war. »Ich hab Dienst an dem Abend. Wird bestimmt ’ne Mordsparty.«

3

Hundertfünfzig Dollar!«, flüsterte Harry Jessica ins Ohr. Die stets gut gekleidete Frau gurrte nickend: »Lohnt jeden Penny.«

»Aber …« Harry stockte.

Die beiden Frauen standen in der zweiten Etage von Nordstrom in der Stadt Short Pump außerhalb von Richmond. In Charlottesville gab es die übliche Ansammlung von Geschäften, die auf Mittelschichtfrauen der Vorstadt zugeschnitten waren; doch weder Harry noch Jessica gefielen sich in derlei Klamotten.

Nordstrom war allerdings sehr teuer, und die stets knauserige Harry schreckte vor hundertfünfzig Dollar für einen Seidenschal zurück.

»Du musst genauso viele Weihnachtsfeiern besuchen wie ich. Willst du echt aussehen wie der Klüngel mit den silbergrauen Haaren?« Jessica war unnachgiebig. »Ich muss gut aussehen – mein Mann ist Präsident von Silver Linings. Ich kann nicht zweimal dasselbe anziehen. Es ist Spendengala-Saison. Da musst du auch gut aussehen.«

»Jessica, ein paar von meinen besten Freundinnen haben silbergraue Haare und sehen gut aus.«

»Das ist out. Absolut out. Viel zu sehr Siebzigerjahre. Mach’s bloß nicht.«

»Ich krieg keine grauen Haare.« Harry hielt inne. »Noch nicht.«

»Wenn’s so weit ist, sieh zu, dass es ein schönes Grau wird. Kauf jetzt den Schal und schling ihn dir um den Hals, wenn du das sagenhafte smaragdgrüne Cocktailkleid anziehst. Das war nicht billig, warum dann bei dem Schal knausern?«

»Hast ja recht.« Harry kramte in ihrer Ledertasche nach ihrer Kreditkarte. Widerstand war zwecklos.

Jessica stellte sich zu ihr an den Tresen, und beide nahmen die große zweite Etage in Augenschein. »In Virginia gute Klamotten finden ist so, als würde man den Heiligen Gral finden«, sagte Jessica.

»Das ist mal sicher.« Harry dankte der Verkäuferin, nachdem diese sich bei ihr bedankt hatte.

Die zwei Frauen gingen zum Fahrstuhl und traten zur Seite, als zwei an ihren Müttern klebende Teenager-Mädchen sich vor ihnen reindrückten.

»Adriana, du drehst dich auf der Stelle um und entschuldigst dich«, befahl die Mutter, die unverkennbar aus West End Richmond war.

Adriana, rot angelaufen, spindeldürr, Ohren durchstochen, drehte sich folgsam um, sah Harry an und entschuldigte sich.

»Schon gut«, erwiderte Harry freundlich.

Die Mutter wandte sich um. »Wenn Sie keine Kinder haben, fangen Sie bloß nicht damit an.«

Harry und Jessica mussten lachen. Die Weihnachtszeit brachte immer das Beste und das Schlechteste in den Menschen zum Vorschein. Wenn diese Mutter auf korrektem Benehmen bestand, dann sah es vielleicht noch gar nicht so übel aus. Jessica trug ihre Einkaufstüten selbstbewusst. Gute Manieren ebneten einem den Weg im Leben ebenso wie eine gute Mutter. »Bist du sicher, dass du nur das eine Kleid willst? Es macht mir nichts aus, in noch ein Geschäft zu gehen oder sogar zu Saks zu fahren.«

»Ich halt’s nicht mehr aus. Vom Shoppen krieg ich immer Kopfschmerzen.«

»Lass uns nach Hause fahren. Ich hab Motrin und eine Flasche Wasser im Wagen. Kipp die orangen Pillen einfach runter, Mädel.«

Sie gingen über den freigeschaufelten Parkplatz; der Himmel hing tief.

»Danke, dass du mitgekommen bist.« Harry sah zu den Wolken hoch.

»Du hättest jede andere fix und fertig gemacht.« Jessica entsperrte das Auto mit der Fernbedienung.

Sobald Harry drinnen saß, bekannte sie wehmütig: »Susan geht nur mit mir, wenn Alicia und BoomBoom als Verstärkung mitkommen. Sie behauptet, ich bin die schlimmste Person, wenn es ums Einkaufen geht. Ich glaub, so schlimm bin ich gar nicht.«

»Wozu sind beste Freundinnen gut, wenn nicht für Übertreibungen?«

»Komisch, erst gestern hat Susan mich erinnert, dass sie meine beste Freundin ist und mir deswegen die Leviten lesen darf.«

»Da hat sie recht. Lass uns eine Weile auf der 250 fahren. Auf der 64 ist eh nur Chaos, und …«, sie reckte den Hals, um durch die Windschutzscheibe zu gucken, »… es fängt wieder richtig an zu schneien. Der Wetterbericht hatte recht.«

»Es ist wirklich Winter geworden.« Harry sah auch zum Himmel.

»Ob’s schneit oder nicht, egal, die Spendengala findet morgen Abend statt. Du musst dich jedenfalls in dem tollen Kleid sehen lassen.«

Mit einem spitzbübischen Lächeln schnallte Harry sich an. »Wär es nicht lustig, sich in was sehen zu lassen, worin man so viel sehen lässt wie möglich?«

Jessica bog in die Schnellstraße ein. »Kommt drauf an. Immer wenn ich einen Augenblick am Allmächtigen zweifle, denk ich dran, dass er uns die Mode geschenkt hat, und bin getröstet.«

»Ja, Mädel, du wirst morgen Abend getröstet sein, weil’s da jede Menge Mode gibt.«

»Harry, Kleider verbergen eine Vielzahl Sünden.«

Die zwei Frauen kicherten.

Aber manche Sünden lassen sich schwerer verbergen als andere.

4

Ohne dass Harry und Jessica etwas davon mitbekamen, hielten Lou und Tyler Higham sich ebenfalls in dem großen Einkaufszentrum in Short Pump auf. Lou kaufte gerne kostspielige Überraschungsgeschenke für Arden, ohne nach Washington, D. C. zu fahren oder nach New York beziehungsweise Atlanta zu fliegen. Ihm lag sehr daran, seine Frau mit Schmuck und aufreizender Kleidung zu verwöhnen. Zuweilen überraschte er sie mit einem schicken Koffer, reisefertig gepackt, und sei es nur für eine Übernachtung in einer netten Frühstückspension in Orange County, Virginia. Eine vierzigminütige Fahrt von Charlottesville war allemal besser als ein vollgestopfter Flieger nach Manhattan.

Tyler trottete etwas widerwillig mit seinem Vater mit, der entschlossen war, den jungen Mann zeitig in die Kunst einzuweihen, wie man Frauen beglückte. Er köderte Tyler mit dem Versprechen, ihm im Apple-Laden ein neues iPhone zu kaufen.

»Dad, du willst Mom doch hier drin nichts kaufen, oder?« Tyler hatte ein mulmiges Gefühl, weil sein Vater ihn durch das Dessous-Geschäft Victoria’s Secret bugsierte.

»Nein, ich guck bloß. Wenn du klug bist, wirst du eines Tages einer besonderen Frau ein besonderes Dessous kaufen. Dadurch fühlt sie sich, hm, schön, und es freut sie, dass du sie so siehst. Schreib dir das hinter die Ohren.«

Nach dem Verlassen des Ladens marschierte Lou entschlossen zu einem Geschäft mit hochwertiger Herrenbekleidung. Tyler konnte sich nicht vorstellen, auf solche Art mit einer Frau intim zu werden. In der Schule gefielen ihm Mädchen, die genau wie er Computerfreaks waren oder das Chemielabor liebten. Ein Mädchen namens Yasmine Dulaney saß im Labor neben ihm. Sie war ein Jahr älter, überklug, und sie konnten sich endlos über die Eigenschaften von Schwefelsäure unterhalten oder erörtern, warum oder in welchem Tempo Eisen rostet. Für Tyler begannen Beziehungen im Kopf. Für Lou begannen sie – mit Frauen – unterhalb der Gürtellinie. Da Beziehungen irgendwo beginnen müssen, konnten sie nach Lous Auffassung schlicht und einfach weiterführen. Tyler, der langsam, zurückhaltend und unsicher war, könnte mit der Zeit einen besseren Weg finden, sich Mädchen zu nähern. Aber an diesem Punkt in Tylers Leben waren Mädchen eine besondere Spezies.

Die Wände und Warenregale aus Eichenholz, eigens unterstrichen durch einen künstlichen Holzduft, der aus im ganzen Geschäft versteckten kleinen Düsen versprüht wurde, animierten Lou, einen dreifädigen Kaschmirpullover in einem kräftigen Erikaton zu kaufen.

»Tyler, ich lass einen Rollkragenpulli springen, wenn du einen findest, der dir gefällt.«

Der magere junge Mann entgegnete lächelnd: »Dad, ich nehm dich bei Apple genug aus.«

Lou lächelte zurück. »Darauf geh ich jede Wette ein, mein Sohn. Jede Wette.«

Die zwei waren zwei Stunden lang durch die vielen Geschäfte getrödelt. Lou fand ein Armband für Arden. Aus großen, in Gold gefassten Lapislazuli-Rechtecken. Es war nicht billig, aber dafür ein großartiges Weihnachtsgeschenk. Sogar Tyler bewunderte es: »Mom wird es lieben.«

Mit einem Blick auf die Uhr meinte Lou: »Ich bin fertig. Meine Liste ist abgearbeitet. Okay, du bist dran.«

Mit forschem Schritt stürmte Tyler zum Apple-Laden. In Charlottesville gab es keinen, man konnte zwar in der Buchhandlung der UVA, der Universität von Virginia, Apple-Computer erwerben, aber nur, wenn man studierte oder bei der Verwaltung angestellt war. Alle anderen mussten daher die Fahrt auf sich nehmen, und Richmond war näher als das Washingtoner Gebiet, außerdem war die Fahrt bedeutend angenehmer. War man erst im Umkreis von Washington, staute sich der Verkehr, zeigte man sich gegenseitig den Vogel, schrillten zu viele Hupen. Lou behauptete immer, das seien keine echten Virginier, aber wer weiß? Selbst Virginier unter Fahr- und Einkaufsstress waren nicht gefeit gegen einen Verfall der Sitten. Wer bei der Regierung arbeitete, hatte unter noch mehr Stress zu leiden, so schien es zumindest.

In der Gewissheit, wenigstens auf der Fahrt Glück gehabt zu haben, betrat Lou den Laden mit seinem Sohn, der direkt zu den iPhones rannte.

Er griff nach einem goldfarbenen. »Das ist goldrichtig, Dad.«

Lou sah sofort nach dem Preis. »Nicht mal so schlimm.«

»Ja, aber ich brauch«, und Tyler ratterte eine so lange Liste mit Apps herunter, dass Lou die Augen übergingen. »Und Dad, ich brauch unbedingt eine Hülle für das Glas. Man muss seine Anlagen schützen.« Tyler versuchte sich in der Sprache seines Vaters auszudrücken.

»Ah.« Lou stellte im Kopf Berechnungen an, während ihm der überarbeitete Verkäufer mit einem Nicken zu verstehen gab, er werde bei ihnen sein, sobald er mit dem vorigen Kunden fertig sei.

Lou betrachtete die vielen Hüllen, manche teurer als andere, aber nach seinem Dafürhalten alle überteuert. »Die Apparate sind billig. Der ganze übrige Kram zieht einem das Geld aus der Tasche. Was für ein verdammter Goldesel.« Er wusste, dass Ladegeräte fürs Auto und Haus noch auf die Rechnung draufkommen würden.

»Sobald es aufgeladen ist, war es das aber. Und das geht heute fix, Dad.«

»Genau.« Lou konnte mit fast jeder Technik umgehen.

Die Kosten waren es, die ihn erstickten.

Tyler betrachtete die diversen Hüllen eingehend und griff sich schließlich eine in grellem Türkis.

»Nimm die nicht.«

»Wieso?«

»Die ist was für Mädchen. Nimm was Dunkles. Schwarzes Leder.«

»Wenn ich eine Leuchtfarbe kaufe, kann ich mein Telefon immer finden.« Tyler griff nach einer Hülle in knalligem Pink.

Lou schlug sie ihm förmlich aus der Hand. »Kommt auf keinen Fall in Frage! Entweder du nimmst die verdammte schwarzlederne, oder ich kaufe gar nichts.«

Tyler tat wie geheißen.

Draußen betrachtete Lou die paar spärlich rieselnden Schneeflocken. »Lass uns losfahren. Vielleicht können wir zu Hause sein, bevor es richtig dick runterkommt.«

Wortlos öffnete Tyler die Wagentür, nachdem sein Vater den Acura entsperrt hatte. Sie fuhren zehn Minuten schweigend vor sich hin; Pkws und Lkws hatten die Scheinwerfer eingeschaltet. Die meisten Menschen passten sich dem Wetter an. Ein paar Idioten brausten dennoch mit mehr als hundert Sachen über die I-64.

Schließlich meinte Lou: »Die Telefone sind neuerdings so flach. Damals, in den Achtzigern, haben sie ausgesehen wie Panzerfäuste.«

Weil sein Sohn stumm blieb, gab Lou sich aufgesetzt fröhlich. »Warte nur, bis du dein Telefon rausholst. Die Jungs in der Schule wollen dann auch eins. Du bist bloß der Erste.«

»Ich bin nicht der Erste, aber nicht weit davon weg.«

»Cooles Gerät.«

»Klar.«

»Tyler, es ist plausibel, was du gesagt hast von wegen dein Telefon finden, aber glaub mir, du wirst mir noch mal dankbar sein, weil ich dich zu der schwarzen Lederhülle überredet habe. Du willst doch nicht, dass die Jungs dich schief angucken.«

»Die gucken mich überhaupt nicht an. Mich gibt es gar nicht.«

»Klar gibt es dich. Du bist nicht wirklich überragend, aber du bist echt klug, Tyler. Und Erfolg ist die schönste Rache. Wart’s nur ab, eines Tages lässt du alle diese Luschen weit hinter dir.« Lou lachte.

Tyler hätte gern gesagt: »Muss denn alles ein Wettstreit sein? Es ist mir schnuppe, was andere Jungs denken. Es ist mir schnuppe, was du denkst. Du kennst mich nicht.« Aber es war ihm natürlich nicht schnuppe.

5

Derweil es draußen schneite, tanzte Jung und Alt im Ballsaal des Keswick Clubs. Die Festgäste traten durch den Haupteingang, vor dem ein nagelneuer Ford F-150 protzte, dessen leuchtendes Rot langsam zugeschneit wurde. Bei diesem Wetter stellte Pete Vavilov das Tombola-Schild auf einer Staffelei drinnen auf.

Wer als Förderer von Silver Linings tausend Dollar Eintritt bezahlt hatte, bekam einen Schlüssel ausgehändigt. Derjenige, dessen Schlüssel den Transporter startete, hatte ihn gewonnen.

Im Erdgeschoss verkündete eine kräftige, mit bunten Kugeln und blinkenden Lichtern geschmückte Blautanne, dass Weihnachten war, als ob alle übrigen Dekorationen dies nicht vermochten. Arden Higham, die für das Farbenspiel zuständig war, hatte sich selbst übertroffen. Mit ihrer Truppe hatte sie viktorianische Abbildungen von Schlitten im Schnee, schönen Frauen mit den Händen in Muffs, von Rentieren und Scottish Terriern entdeckt und kopiert. Das komplette Spektrum dessen, was in jener Zeit beliebt war, gestaltete die Tafelaufsätze. An Ständern hängende kleine Kugeln und ein Schlitten, der mit Geschenken für die Jungen überquoll, nahmen eine Ecke ein. Silver Linings arbeitete mit jungen Burschen von zwölf bis achtzehn, die meisten aus armen Familien mit alleinerziehenden Müttern.

St. Cyril, die katholische Kirche in Crozet, überließ dem Verband ihren Freizeitraum zur Nutzung. Heute Abend strahlte Pfarrer O’Connor – jung, aber etwas behäbig – über das Ergebnis. Obschon Silver Linings unabhängig von St. Cyril operierte, bestand eine enge Verbindung.

Brian Hexham, Pete Vavilov, Lou Higham, Trainer Toth, Nelson Yarbrough, ein ehemaliger Quarterback in der Unimannschaft, und viele andere berieten die jungen Männer, unterwiesen sie in verschiedenen Sportarten und brachten ihre eigenen Söhne zu den Veranstaltungen mit. Der ursprüngliche Gedanke war es, einen privilegierten Jungen mit einem benachteiligten zu verkumpeln, aber die Jungen suchten sich ihre Kameraden selbst. Mit der Zeit versagte allerdings das natürliche Kumpelsystem und machte einem exakteren Platz.

Die Sponsoren hatten den jungen Männern Geld für Abendanzüge gegeben. Die meisten von ihnen trugen jetzt zum allerersten Mal einen Smoking, und fast alle gefielen sich darin. Wie die meisten Menschen hatten sie nichts dagegen, im Mittelpunkt zu stehen.

Sowohl junge Damen von der Kirche als auch Töchter von Teilnehmenden und Sponsoren waren anwesend.

»Ich hatte keine Ahnung, dass Arden so künstlerisch begabt ist«, sagte Darlene de Jarnette zu Harry. Sie warteten gemeinsam im Untergeschoss an der Seite des Ballsaales, der wie die meisten Ballsäle rechteckig und in neutralen Farben gehalten war und ein Podium für die Kapelle hatte. Ardens Deko brachte Farbe und Charme in die bescheidene Ausstattung. Die Ehemänner der beiden standen an der Bar an, um ihnen Getränke zu holen. »Für mich ist sie der detailverliebte buchhalterische Typ. Solche Fähigkeiten bringe ich eher nicht mit Dekorieren in Verbindung.« Darlene lachte. »Ich werde meine Meinung wohl ändern müssen.«

»Mädels, ein Dorn schiebt sich zwischen zwei Rosen, wie findet ihr das?« Reverend Herbert Jones, ein lutherischer Pfarrer, legte seinen Arm um die Damen, während ein Fotograf ein Foto schoss.

Darlene lächelte. »Ihr roter Kummerbund passt haargenau zur Jahreszeit.«

»Bei solchen Veranstaltungen dürft ihr Damen bunte Farben, schöne Kleider und Schmuck tragen. Wir dagegen müssen aussehen wie Pinguine.« Lächelnd winkte er Pfarrer O’Connor zu. »Harry, wie’s scheint, hat Susan die Verpflegung voll im Griff.«

»Oh ja. St. Lukas kann stolz sein. Jessica Hexham hat alles für St. Cyril organisiert.«

Harry, Susan und die anderen waren Pfarrkinder von St. Lukas. Reverend Jones war dort seit Jahrzehnten der Pastor.

»Gut. Gut.« Er löste sich von ihnen, bewegte sich durch die Menge, schüttelte Hände, küsste Damen.

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