Für immer Senta - Marie Louise Fischer - E-Book

Für immer Senta E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Es sind die Jahre nach 1945, die Zeit des Wiederaufbaus mit all den Schwierigkeiten, die der Krieg aufgebracht hat. Senta Rosenbaum lebt mit ihrer Familie in den USA, ihr Bruder Karl-Friedrich in München und der jüngere Bruder Nils in der DDR. Der eigentliche Zufluchtsort der Familie aber ist und bleibt das Haus in Berlin, in dem Sentas Eltern leben. Sentas Vater ist in den unruhigen Zeiten der Mittelpunkt der Familie. Zu Justus 75. Geburtstag trifft sich die ganze Familie nach vielen Jahren in Berlin, doch das mit Freude erwartete Wiedersehen nimmt eine tragische Wendung. Mit »Für immer Senta« findet die vierbändige »Senta«-Reihe von Marie Louise Fischer ihren Abschluss.

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Marie Louise Fischer

Für immer Senta

Roman

Senta Rosenbaum war erschöpft.

Als sie das Tablett mit den Gläsern neben dem Abwaschbecken abstellte und auf den Berg fettigen, mit Essensresten verkrusteten Geschirrs sah, der sich im Becken türmte, überfiel sie Mutlosigkeit. Es waren nicht ihre Kräfte, die sie nach dieser sonntäglichen Party im Stich ließen – obwohl sie, seit sie das fünfzigste Lebensjahr erreicht hatte, immer häufiger spürte, dass sie sich nicht mehr so viel auflasten konnte wie früher. Es war seelische Erschöpfung. Die Gäste hatten das Haus verlassen, die Spannung war vorüber.

Es war alles schwierig gewesen.

Dass sie ein richtiges Dinner mit fünf Gängen hatte auf den Tisch stellen müssen, ohne jede Hilfe – eine Hausangestellte war unerschwinglich, und Vivian hatte bei den Vorbereitungen nicht helfen können, weil sie für den Nachmittag eine Einladung nach Long Island erhalten hatte –, war noch das Wenigste gewesen. Senta selber hielt diese ausgiebigen Kochereien für überflüssig. Aber sie verstand, dass die anderen nicht darauf verzichten wollten. Schwer und gut zu essen bedeutete ja für die Immigranten Erinnerung an die alte Heimat; mehr noch, die Fähigkeit, sich dadurch den Alteingesessenen überlegen zu fühlen. Dr. Mandel, dem Kompagnon ihres Mannes, und seiner Frau nur kalten Aufschnitt vorzusetzen, und sei es das Beste vom Besten aus einem Delikatessenladen der 47. Straße, wäre einer Beleidigung, einem Versagen gleichgekommen. So hatte Senta wie immer Suppe und Flammeri vorgekocht, Pastetchen und Salat bereitet und um das Gelingen des Lammbratens mit grünen Bohnen – selbstverständlich nicht aus der Büchse – geradezu gezittert.

Obwohl sie sich alle Arbeiten nach einem klug durchdachten Plan eingeteilt hatte, war sie wie immer abgehetzt, als die ersten Gäste erschienen: Dieter, ihr Sohn, der inzwischen seinen allzu deutschen, allzu jüdischen Namen abgelegt hatte und sich Derek Rose nannte, und seine Frau Kate, zwei Jahre älter als Dieter und ganz und gar amerikanisch, was beides ihr Senta bei allem guten Willen nicht verzeihen konnte.

Vielleicht hatte Siegfried sogar recht, und Senta war einsichtig genug, in Erwägung zu ziehen, dass kein Mädchen der Welt ihr gut genug für Derek gewesen wäre. Er war jetzt ihr Einziger, seit Wolfgang, der Älteste, bei Dünkirchen gefallen war.

Senta musste zugeben, dass Kate eine gute Partie gewesen war. Durch diese Heirat hatte Dieter in das florierende Bauunternehmen des alten Miller als kaufmännischer Direktor einsteigen können. Er verdiente heute mehr als sein Vater. Und doch: Kate hatte Dieter geheiratet, als er zwanzig Jahre alt gewesen war, fast ein Kind noch, ein unerfahrener Junge, blendend hübsch mit seinen schwarzen Locken, den schwarzen, leuchtenden Augen, der makellosen bräunlichen Haut, der schlanken, sehnigen Figur. Das war damals ein knappes halbes Jahr nach Wolfgangs Tod. Und Senta, noch in tiefer Trauer, hatte ihren Jüngsten nicht hergeben wollen. Aber Kate hatte keine Rücksicht genommen, sie hatte ihn gegen den Willen seiner Eltern an sich gebunden. Sie hatte ihn gekauft – diese Überzeugung ließ Senta sich nicht nehmen. Mit Geld, Autos, Erfahrungen und Zukunftsaussichten, die ihm die Firma ihres Vaters bot. Dieter hatte von jeher dazu geneigt, sich das Leben leicht zu machen. Und so war diese Entwicklung der Dinge unausweichlich gewesen.

Oder lag es an ihr? Hatte sie versagt? Hatte sie irgendetwas falsch gemacht? Bis heute hatte sie auf diese quälenden Fragen keine Antwort gefunden.

Fest stand nur, sie hatte auch ihren zweiten Sohn verloren. War er fern von ihr, konnte sie sich noch einbilden, es sei alles ganz anders. Aber wenn er dann kam, hübsch, selbstsicher und unbeschwert, wenn er zärtlich zu ihr war, seine kleine Schwester neckte und seinen Vater animierte, Anekdoten aus der Zeit des schweren Anfangs in der neuen Heimat zu erzählen, wurde überdeutlich, dass nicht Liebe, sondern nur Sohnespflicht ihn noch zu ihnen führte. Innerlich war er meilenweit entfernt, betrachtete sie mit mitleidigem Staunen wie Fossilien aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt.

Siegfried schien von alledem jetzt nichts zu merken. Er gab sich seinem Sohn gegenüber väterlich überlegen, als ob er nicht spürte, dass Dieter ihn diese Rolle nur aus Gnade und Barmherzigkeit spielen ließ. Er unterhielt sich prächtig mit Dr. Mandel und mit Dr. Krakau, dem ärztlichen Freund der Familie, beide Männer in seinem Alter, mit denen ihn gleiche Erfahrungen, das gleiche Schicksal und eine ganz ähnliche Einstellung den Tücken und Freuden des Lebens gegenüber verband.

Senta musste währenddessen versuchen, die Frauen bei Laune zu halten. Da war also Kate, die mehr als zwanzig Jahre Jüngere, Überschlanke, die ihrer Figur wegen in den sorgfältig zubereiteten Speisen nur stocherte und mit dem Gesicht eines geduldigen Opferlamms an dem festlich gedeckten Tisch saß. Esther Krakau und Hannah Mandel hingegen hatten beide schon die Sechzig fast erreicht. Für sie hatten solche Sorgen keine Bedeutung mehr, falls es sie je für sie gegeben haben sollte. Sie hatten ihren Männern Kinder geboren und großgezogen, sie hatten die Auswanderung in eine andere Welt gewagt, in der sie doch nie heimisch geworden waren, für sie gab es Wichtigeres als Schönheit. Ein gutes, altmodisch gekochtes Essen war für sie ein wirklicher Höhepunkt; es im Beisein von Freunden aus der alten Heimat zu verzehren, ließ sie Kümmernisse und Fremdheit vergessen. Zwar betrachteten sie Senta immer noch nicht als ganz zugehörig, aber sie schätzten ihre Anstrengungen, koscher zu kochen, und ihr Interesse für das einzig gute Rezept für ›gefillten Fisch‹. Beide hatten es nicht geschafft – sie hatten es auch wohl nie ernsthaft versucht –, die amerikanische Sprache zu beherrschen. Und so pflegten sie, wenn sie beisammen waren, in die Sprache ihrer Kindheit zurückzufallen. Esther sprach Deutsch und Hannah Jiddisch. Kate verstand davon kein Wort. Senta musste übersetzen, nur damit ihre Schwiegertochter nicht das Gefühl hatte, dass etwa über sie gesprochen würde. Sie hätte froh sein müssen, dass die fünfzehnjährige Vivian – in diesem Land geboren und mit edlem Brooklyn-Akzent begabt – ihre Schwägerin zu unterhalten versuchte. Stattdessen schmerzte sie Vivians Freundlichkeit gegenüber der jungen Frau. Die war doch eigentlich wie ein Räuber in die Familie eingedrungen. Und hatte nie verhehlt, dass sie alle im Grunde als hergelaufenes Gesindel herzlich verachtete.

Senta seufzte tief.

Je älter sie wurde, desto mehr hatte ihre Eigenschaft, alle Dinge zu schwer zu nehmen, sich in ihr verstärkt. Sie wusste es ja selber. Dr. Krakau hatte gesagt, dass sie sich besser fühlen würde, wenn sie ihre Wechseljahre erst ganz überwunden haben würde. Aber sie steckte jetzt schon seit drei Jahren darin. Wie lange sollte sie noch warten?

Sie hatte die Küchenschürze aus dem Schrank genommen, wollte sie umbinden, ließ es dann aber doch. Es war unsinnig, heute Abend noch zu spülen. Morgen würde sie den ganzen Tag allein sein und Zeit genug haben, das Haus wieder in Ordnung zu bringen.

Senta trat in den Livingroom, das Wohnzimmer, das gleichzeitig als Ess- und Fernsehzimmer dienen musste. Das Haus, das sie auf Ratenbasis erstanden hatten, war klein. Es war nur halb unterkellert. Im Erdgeschoss befand sich das große Wohnzimmer und daneben ein kleinerer Raum, der tagsüber Senta als Nähzimmer diente – seit Langem hatte sie es gelernt, ihre und Vivians Kleider selber zu schneidern. Abends stand es Dr. Rosenbaum als Arbeitszimmer zur Verfügung, falls er einmal Akten mit heimnehmen musste. Daneben lagen Küche, Speisezimmer und Toilette. Oben gab es zwei Schlafzimmer, eine Kammer, die Vivians Reich war, und ein Bad; darüber befand sich ein winziger Speicher. Das Häuschen in der Vorstadtsiedlung war so leicht gebaut, dass Senta jedes Mal, wenn ein Flugzeug darüber hinwegbrauste, fürchtete, es könne aus seinen Grundmauern gerissen werden – so bebte es vom Dachfirst bis zum Keller. Trotzdem vergaß sie nie, wie lange es gedauert und wie viele Opfer es verlangt hatte, bis sie sich endlich dieses eigene Heim leisten konnten, und wie glücklich sie gewesen waren, als sie hier einzogen.

Ihr Mann saß in dem mächtigen Backensessel, umgeben von den Teilen seiner sonntäglich dicken Zeitung, in der er einen politischen Artikel studierte. Er hatte ein Glas Whisky vor sich auf dem Tisch, eine brennende Zigarette in der Hand.

Siegfried Rosenbaum war schwer geworden in den vergangenen Jahren, das dunkle Haar war bis zum Hinterkopf zurückgewichen, und die dicke dunkle Hornbrille verbarg die Säcke unter seinen Augen. Er glich immer mehr seinem 1939 verstorbenen Vater.

Senta bückte sich und hob die Blätter mit den Comic Strips auf und legte sie auf einen Stuhl.

»Lass nur«, sagte er, ohne aufzusehen, »ich bringe das nachher selber in Ordnung.«

»Hältst du das mal einen Augenblick?« Sie reichte ihm das Glas und den Aschenbecher. »Ich will nur die Decke abnehmen.«

Er nahm beides mit dem Gesicht eines Mannes, der sich in einer ernsthaften Beschäftigung gestört fühlt.

Senta faltete die weiße Damastdecke ohne besondere Sorgfalt – sie gehörte ohnehin in die Wäsche –, klappte das herausgezogene Mittelteil des Tisches herunter und schob ihn zusammen, um ihn so wieder auf sein normales Maß zu verkleinern. »Willst du nicht auch bald schlafen gehen?«

Er setzte das Glas und den Aschenbecher ab, noch bevor sie die Tagesdecke auflegen konnte. »Lass mich noch in Ruhe mein Glas trinken. Ich bin den ganzen Tag noch nicht dazu gekommen, den ›New Yorker‹ zu lesen.«

Es lag ihr auf der Zunge zu bemerken, dass er heute schon zu viel getrunken und geraucht hatte, aber sie beherrschte sich. Sie wusste, dass es sinnlos war, einen Mann von sechzig Jahren noch erziehen zu wollen. »Bleib nicht mehr zu lange«, sagte sie deshalb nur. Sie ging, die weiße Tischdecke unter dem Arm, zur Tür.

»Senta!«

Sie blieb sofort stehen. »Ja?«

»Du hast das wieder mal großartig gemacht heute.«

Sie wandte sich zu ihm hin und legte einen Arm um seine Schulter und drückte einen Kuss auf seine Stirn. »Lieb, dass du das sagst.«

Er tätschelte sie, ohne von seiner Zeitung aufzublicken. »Aber jetzt lass mich allein, ja?«

»Gute Nacht, Siegfried!«

»Schlaf gut, mein Herz!«

Sie verließ ihn mit zwiespältigen Gefühlen. Es hatte ihr ja wohlgetan, dass er ihre Bemühungen bemerkt und anerkannt hatte, es kränkte sie aber auch, dass er so eilig darauf bedacht gewesen war, sie abzuschieben.

Nachdem sie die beschmutzte Decke in die Waschmaschine gesteckt hatte, band sie sich nun doch die Schürze vor ihr grauseidenes Cocktailkleid, ließ heißes Wasser in das leere Becken laufen und machte sich daran, die gröbsten Essensreste in den Mülleimer zu schaben, bevor sie das Geschirr Stück für Stück, zuerst die Gläser, in das Spülwasser gleiten ließ.

Sie wusste, dass sie doch nicht würde schlafen können, bevor sie den ungleichen Schritt ihres Mannes die hölzerne Treppe würde hinauftapsen hören. In jungen Jahren hatte Siegfried es fast kaschieren können, dass sein rechtes Kniegelenk im Ersten Weltkrieg zerschossen worden und für immer steif geblieben war. Inzwischen aber, da sein Körpergewicht erheblich zugenommen hatte, war diese alte Verletzung nicht mehr zu übersehen oder zu überhören. Sie behinderte ihn beträchtlich.

»Aber, Mammy«, kam eine junge, vorwurfsvolle Stimme von der Tür her, »muss das denn jetzt sein?«

Senta lächelte über die Schulter weg ihrer Tochter zu. »Mir ist gerade danach«, behauptete sie.

Vivian kam näher. »Kann ich dir helfen?« Aber es klang nicht allzu überzeugend.

Mutter und Tochter sprachen in Gegenwart von anderen immer Englisch, wenn sie allein waren, sprachen sie Deutsch. »Lass nur. Ich schaffe das schon allein.«

Vivian gähnte herzhaft und schwang sich auf den mit Kunststoff verkleideten Küchentisch. »Sag mal, Mammy, du kannst Kate immer noch nicht leiden … oder?«

Senta ließ verblüfft einen gläsernen Teller wieder in die heiße Brühe zurückgleiten. »Merkt man mir das an?«

Vivian lachte. »Keine Bange. Die anderen kennen dich nicht so gut wie ich.« Sie baumelte mit den nackten Beinen, deren Füße in winzigen Marabu-Pantöffelchen steckten.

»War ich unfreundlich zu ihr?«, fragte Senta und fischte den Teller wieder heraus.

»Im Gegenteil. Unnatürlich überfreundlich. Du kannst dich wahnsinnig schlecht verstellen, Mammy.«

»Hoffentlich hat Kate es nicht bemerkt.«

»Ach die! Die denkt doch bloß an ihren Derek.« Als Einzige in der Familie benutzte Vivian immer den neuen Namen des Bruders. »Sie ist verrückt nach ihm und hat furchtbare Angst, dass er sie eines Tages sitzen lässt.«

Senta wunderte sich, dass sie Kate so noch nie betrachtet hatte. Dabei hatte Vivian recht. Kate liebte Dieter unzweifelhaft. Gerade deshalb hatte sie es so eilig gehabt, ihn durch einen Trauschein an sich zu binden. Sie liebte ihn und tat alles, um ihn glücklich zu machen. Schade, dass sie die Schwiegertochter trotzdem innerlich ablehnte.

»Eines Tages wird es ja sicher auch so weit kommen«, fügte Vivian altklug hinzu, »betrügen tut er sie jetzt schon.«

Senta richtete sich auf. »Woher weißt du das?«

Vivian zuckte die runden Schultern. »Ich denke es mir eben. Er sieht so gut aus und hat so viel Charme, ich wette, die Mädchen sind verrückt nach ihm.«

Senta lachte erleichtert auf. »Du phantasierst also nur mal wieder! Herrgott, du hast mir einen schönen Schrecken eingejagt!«

»Warum eigentlich?«, fragte Vivian mit kindlicher Rücksichtslosigkeit. »Wenn du Kate sowieso nicht leiden magst, müsstest du doch glücklich sein, wenn er sie loswird.«

»Das Scheitern einer Ehe kann nie ein Grund zur Freude sein«, behauptete Senta, »und außerdem … denk an die Kinder!«

Vivian gab nicht auf. »Sonst kümmerst du dich aber nicht besonders um sie … nicht so wie andere Großmütter, besonders nicht wie deutsche Großmütter, meine ich.«

»Ich weiß nicht, wie deutsche Großmütter sind, ich habe nie eine gehabt. Wenn du dich nicht entschließen kannst, ins Bett zu gehen, Vivian, solltest du doch ein Tuch nehmen und …«

Ihre Tochter fiel ihr ins Wort. »Stört es dich, dass sie keine Rosenbaums sind? Dass Derek seinen Namen geändert hat? Ist es das, was du Kate vorwirfst?«

»Ich werfe ihr gar nichts vor.« Senta nahm ein Küchentuch vom Haken und warf es Vivian hin. »Ich bin einfach eine schlechte Schwiegermutter, das ist alles. Ich bin eifersüchtig auf Kate, so wird es sein. Pass nur auf, dass dir nicht, wenn du dich verliebst, etwas Ähnliches passiert.«

Vivian schlang einen Knoten in das Tuch und formte eine Puppe daraus. »Aber damals, als Derek es euch sagte, da hast du ein ganz komisches Gesicht gemacht, Mammy, ich erinnere mich noch genau. Ganz weiß bist du um die Nase geworden und hast ihn angeguckt, als wolltest du ihn fressen. Ich habe das nie verstanden. Rosenbaum ist zwar ein hübscher Name, romantisch und all das. Aber er passt doch nicht hierher. Dieter Rosenbaum … das war ein unamerikanischer Name.«

Senta richtete sich auf und wischte sich mit dem nassen Handrücken eine weißgraue Locke aus der Stirn. »Das musst du mir nicht sagen, Vivian, sonst glaube ich noch, du hältst mich für eine bornierte Person …«

»Aber, Mammy …«

»Ich habe Dieter nicht übel genommen, dass er seinen Namen geändert, sondern wie er es getan hat … leichtfertig, selbstverständlich, ja, richtig heiter. Und genauso hat er es uns auch mitgeteilt. Aber der Name, unter dem man geboren ist, bedeutet doch etwas. Ganz gleich, ob er gut oder schlecht klingt, unpassend oder hässlich ist. Er ist ein Teil unserer Persönlichkeit. Es kann Gründe geben, ihn abzulegen, aber man sollte dabei doch zumindest Bedauern empfinden … nein, mehr noch … Trauer.«

Vivian ließ die improvisierte Puppe auf ihrem Knie tanzen. »Warst du denn traurig, Mammy, als du damals deinen Mädchennamen abgelegt hast … als du Daddy geheiratet hast?«

»Ich war glücklich, Vaters Frau zu werden … darauf willst du mich wohl festnageln.« Senta nahm die Stielbürste in die Hand und begann, eine Fleischplatte zu scheuern. »Aber etwas wie Trauer habe ich doch dabei empfunden. Ich habe mich nicht leicht von dem Namen getrennt, unter dem ich aufgewachsen war. Er war ein Teil meiner Persönlichkeit, er hatte mich geprägt. Es war nicht leicht, mich damit abzufinden, nicht mehr Senta Weigand zu sein.« Senta stellte die Platte in den Trockenkorb. »Ich glaube, die meisten Mädchen empfinden ähnlich. Der Namenswechsel macht den Abschied von der Familie noch einschneidender und schmerzlicher.«

»Die Mädchen opfern ihren Namen dem Mann, den sie lieben, und Derek hat es für Amerika getan!«, erklärte Vivian ernsthaft und nicht ohne Stolz.

»Ja, so kann man es sehen«, gab Senta zu. »Warum es mich wirklich getroffen hat, das war Daddys wegen. Ein Mann wünscht sich Söhne, die seinen Namen weitertragen. Indem Dieter seinen Namen ablegte, hat er die Kette unterbrochen.«

»Aber der Name allein tut es doch nicht …«

»Sicher nicht. Er ist nur ein Teil des Ganzen. Dieter will nicht mehr Rosenbaum heißen. Pass nur auf, eines Tages wird er sich schämen, Vaters Sohn zu sein, und wird sich andere Eltern erfinden …« Senta lachte auf. »Vielleicht will er von Leuten abstammen, die mit der berühmten ›Mayflower‹ herübergekommen sind. Dann erst wird er sich als echter Amerikaner fühlen. Und ist doch nichts weiter als ein Schwindler.«

Die Standuhr im Wohnzimmer schlug Mitternacht. Senta wollte Vivian jetzt endgültig ins Bett schicken. Aber das junge Mädchen kam ihr zuvor. Sie ließ sich vom Küchentisch gleiten, nahm eines der Gläser zur Hand und trocknete die letzten Wassertropfen ab.

»Vivian, du solltest jetzt wirklich …«, sagte Senta schwach.

Vivian legte den Kopf zur Seite und erklärte treuherzig: »Aber, Mammy, ich kann dich doch nicht mit all diesem Zeug hier alleinlassen!«

Senta wusste sehr gut, dass dies nur ein Vorwand war. Vivian ging es nicht darum, ihr zu helfen, sonst hätte sie wohl schon früher zugegriffen, sondern ihr kam es nur darauf an, das nächtliche Gespräch fortzusetzen.

Manchmal machte Senta sich Vorwürfe darüber, dass sie ihrer Jüngsten gegenüber zu nachsichtig war. Von ihren Söhnen hatte sie mehr Disziplin verlangt, und doch hatte sie beide verloren. Was hatte es für einen Sinn, streng zu sein in einer Welt wie dieser, die auch Vivian keine ihrer Prüfungen ersparen würde.

Senta hatte nicht vergessen, wie sehr sie selber sich als junges Mädchen nach einem vertrauten Gespräch, wie Vivian und sie es jetzt führten, gesehnt hatte. Aber ihre Stiefmutter war für dergleichen nicht zu haben gewesen. Ja, wenn Stefanie, Justus Weigands erste Frau, nicht so früh gestorben wäre, würde ihre Jugend, vielleicht ihr ganzes Leben anders verlaufen sein.

Mit einer heftigen Kopfbewegung versuchte Senta, die Erinnerungen abzuschütteln. Wie merkwürdig, dachte sie, dass all dies nach so vielen Jahren immer noch galt und da war, nachdem sich so vieles ereignet hatte. Sie war glücklich, dass Vivian ihre Nähe suchte; das Vertrauen des jungen Mädchens schien ihr wesentlicher als alle Beweise ihres Pflichtbewusstseins. »Wie war es heute Nachmittag?«, fragte sie.

»Wir hatten fun«, sagte Vivian gleichmütig.

»Schade, dass du schon so früh nach Hause musstest.«

»Ich hatte schon genug«, bekannte Vivian und räumte die sauberen Gläser auf ein Tablett, »du kennst doch Daisy. Sie behandelt mich und die anderen, als wären wir arme Verwandte. Auch die Boys lässt sie springen. Dabei braucht sie sich auf ihr Geld wirklich nichts einzubilden. Ihr Daddy hat es ja auch erst im Krieg gemacht und bestimmt nicht auf die feine Art.«

»Meine kleine Europäerin!« Senta lächelte ihre Tochter an.

»Warum sagst du das?«, fragte Vivian misstrauisch.

»Weil für die Amerikaner nur das Vermögen zählt, das man hat, und nicht, wie man es zusammengebracht hat.«

»Oh, ich glaube nicht, dass das typisch amerikanisch ist«, widersprach Vivian, »schon bei den alten Römern hieß es ja: Geld stinkt nicht.« Sie griff nach einem Teller. »Hast du eigentlich immer noch Heimweh, Mammy?«

»Nein, ich glaube nicht. Vielleicht manchmal … ein bisschen.«

»Europa muss ein faszinierendes Land sein.«

»Ein Kontinent«, verbesserte Senta.

»Ist es denn ein echter Kontinent? Eigentlich ist es doch nur ein Anhängsel, ein Stückchen Land, an Asien angepappt.«

»Und doch ist es die Wiege der abendländischen Kultur … auch der amerikanischen.«

»Wirklich, Mammy? Und was ist mit Israel? Von dort haben doch die sehr geschätzten Europäer ihren Glauben bezogen … und Israel liegt in Afrika! Na, oder so ähnlich …«

»Sei mir nicht böse, Liebling.« Senta ließ das verschmutzte Spülwasser aus. »Ich bin zu müde und vielleicht auch zu ungebildet für solche Diskussionen. Ich ergebe mich und bitte um Gnade.«

Vivian lachte. »Nein, so leicht kommst du mir nicht davon. Ich will dich gar nicht kleinkriegen. Ich will nur herausbekommen, wie es möglich ist, dass ihr immer noch Sehnsucht nach einem so entsetzlichen Land wie Deutschland haben könnt … und nach einem so grausamen Menschenschlag.«

»Du bist als Amerikanerin zur Welt gekommen, aber wir sind als Deutsche geboren. Wenn Amerika sich in Schuld verstricken würde, würdest du es ja auch immer noch lieben.«

»Die Staaten sich in Schuld verstricken? So etwas kann doch überhaupt nicht passieren. Nein, Mammy, dein Vergleich hinkt.«

Senta teilte diese Meinung nicht, aber sie war zu müde, Vivian zu widersprechen, und auch zu besorgt, ihr Vertrauen zu verlieren. »Es steht mir nicht zu, auch nur die leiseste Kritik an einem Land zu üben, das mich und meine Familie großmütig aufgenommen und uns eine neue Staatsbürgerschaft verliehen hat«, sagte sie stattdessen, »du verstehst mich falsch. Aber du irrst dich, wenn du glaubst, dass alle Deutschen grausam seien …«

»Grausam oder feige«, beharrte Vivian.

»Nein, es gibt gute, aufrechte und anständige Deutsche, es hat sie immer gegeben. Denk nur an meinen Vater, er hat getan, was er konnte …«

»Aber er ist ja nicht einmal wirklich dein Vater«, sagte Vivian, ohne zu fühlen, dass ihre Bemerkung als grausam hätte ausgelegt werden können, »das hast du mir selber erzählt. Bei Licht besehen haben wir gar keine Verwandten mehr in Deutschland. Die von Daddy sind tot, und du hast nie welche gehabt.«

Senta empfand einen flüchtigen Schmerz, aber sie wusste, dass Vivian noch zu jung war, um ganz zu begreifen, was sie da sagte. »Justus Weigand ist für mich ein wahrer Vater gewesen«, erklärte sie. »Es gibt eine Verwandtschaft zwischen Menschen, die stärker ist als die des Blutes.« Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: »Siehst du, ich habe Dieter … oder Derek, wenn du das lieber hörst … geboren, und ich habe ihn sehr geliebt. Dennoch ist er für mich ein Fremder geworden. Mit Justus Weigand aber ist das anders. Er versteht mich immer noch, und ich verstehe ihn. Wir bemühen uns jedenfalls, uns zu verstehen, und schenken uns Liebe. Bis zum heutigen Tag vergeht keine Woche ohne einen Brief von ihm.«

»Ja, schreiben tun sie alle«, sagte Vivian wegwerfend, »schon wegen der Care-Pakete.«

»Ich wusste nicht, dass du so boshaft sein kannst«, sagte Senta kalt, »du weißt genau, dass wir seit Langem keine Pakete mehr nach drüben schicken. Es ist niederträchtig von dir, zu unterstellen, dass …« Sie scheuerte das leere Becken so heftig, als wenn ihr Schicksal davon abhinge, es wieder zum Glänzen zu bringen.

»Aber Mammy, nun werde doch nicht gleich wild!« Vivians Lachen klang gezwungen. »Ich versuche doch nur, dir klarzumachen, dass deine Nachsicht diesen Leuten gegenüber verrückt ist … dass du keine Verpflichtungen ihnen gegenüber mehr hast. Du hast genügend Opfer gebracht …«

Senta richtete sich auf. »Das einzige wirkliche Opfer meines Lebens habe ich diesem Land gebracht … deinem geliebten Amerika. Ich habe ihm meine Söhne geopfert. Und wenn du mir schon erzählen willst, dass ich es mir bloß einbilde, Dieter verloren zu haben, so wirst du zugeben müssen, dass Wolfgang tot ist. Er ist für dieses Land gefallen.«

»Für die Freiheit«, sagte Vivian, aber es klang nicht mehr so selbstsicher, »für die Freiheit der Welt … um die Juden aus den KZ zu retten.«

»Dafür«, widersprach Senta, »hätte es vielleicht humanere und wirkungsvollere Möglichkeiten gegeben als einen Weltkrieg. Ach …« Sie holte tief Luft. »Aber ich mag mich nicht mit dir streiten. Wir sind beide überreizt. Geh schlafen, Vivian.« Sie nahm dem Mädchen das Tuch aus der Hand und schob sie zur Tür.

Als sie allein war, überkam sie ein lähmendes Gefühl von Einsamkeit. Zum ersten Mal hatte sie bewusst erlebt, dass sich zwischen ihr und ihrer Tochter ein Spalt aufgetan hatte, der sich, trotz aller Bemühungen von beiden Seiten, unweigerlich zu einer Kluft erweitern würde. Vivian wuchs in einer anderen Welt auf. Vielleicht würde sie trotzdem eines Tages lernen, die Mutter zu verstehen und ähnlich zu empfinden, aber dann würde es zu spät sein.

Senta ließ sich auf den Küchenstuhl sinken, saß einfach da mit hängendem Kopf und hängenden Armen, während eine Woge von Traurigkeit ihr Herz überschwemmte.

Senta wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte, als plötzlich ein Geräusch sie aufschrecken ließ. Es war ihr, als wenn sie eingeschlafen wäre. Sie lauschte in die Nacht, aber es war nichts zu hören als das an- und abschwellende Brausen der Millionenstadt. Vielleicht hatte die Uhr geschlagen oder eine Viermotorige war vorbeigezogen.

Leise öffnete sie die Küchentür, knipste das Licht in der kleinen Diele an, schlich auf Zehenspitzen bis zum Treppenabsatz. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Da war es wieder, der sonderbare Laut – ein unterdrücktes, qualvolles Stöhnen. Jetzt wusste sie wieder, dass dies das Geräusch gewesen war, das sie hatte auffahren lassen.

Es kam aus dem Wohnzimmer. Senta machte kehrt und riss die Tür auf. Ihr Mann saß im Backensessel, fast wie sie ihn verlassen hatte. Aber die Zeitung war ihm aus den Händen geglitten und hatte sich über den Boden verteilt. Sein Glas war leer, der Aschenbecher voll. Er sah ihr blicklos entgegen.

Sie jagte zu ihm hin. »Siegfried, was ist dir?« Seine Stirn war mit kaltem Schweiß bedeckt, und sie zog das Tuch aus der Außentasche seines Jacketts und tupfte ihn behutsam ab.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er antwortete. »Ich habe Angst«, gestand er mühsam.

Sie setzte sich auf die Sessellehne und legte ihren Arm um seine Schulter. »Angst? Vor was könntest du Angst haben, nach allem?« Sie nahm ihm die Brille ab und schmiegte ihr Gesicht an seine Wange.

»Meine Beine …«

»Was ist damit?«

»Sie tun so weh …«

»Vielleicht hast du Rheuma.«

»Wenn ich wüsste, dass es nur das wäre, würde ich mich nicht einen Augenblick beunruhigen. Ich weiß, dass Rheuma sehr schmerzhaft sein kann, aber was sind schon Schmerzen?«

»Du sagtest doch eben …«

»Es ist ein unbeschreiblich grauenhaftes Gefühl, Senta!« Er klammerte sich an sie. »Ich habe Angst, meine Beine zu verlieren!«

»Aber, Liebling …«, sie streichelte ihm über die Stirn, »… so etwas gibt es doch gar nicht.«

»Gibt es nicht? Wenn ich damals, im Ersten Weltkrieg, nicht gekämpft hätte wie ein Löwe, hätten sie mir mein rechtes Bein amputiert. Damals sagte mir der Stabsarzt, dass später Schwierigkeiten auftreten könnten … und jetzt sind sie da.«

»Ist es denn nur in einem Bein, Siegfried?«

Er schüttelte wortlos den Kopf.

»Aber dann …«

»Das besagt doch gar nichts!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Ich weiß ja nicht, was mit ihnen los ist … aber Nacht für Nacht kommen diese Schmerzen, wenn ich im Bett liege … und jetzt auch noch früher!«

Senta warf einen Blick auf die Standuhr. »Es ist eins vorbei!«

»Soll das ein Trost sein?«

»Nein, Siegfried, ich will dich gar nicht trösten. Du gehörst in ärztliche Behandlung. Warst du bei Doktor Krakau?«

»Seit mehr als einem Jahr gehe ich regelmäßig zu ihm.«

Senta erhob sich. »Davon hast du mir ja gar nichts erzählt!«

»Ich wollte dich nicht beunruhigen.«

»Und … teilt Doktor Krakau deine Befürchtungen?«

»Nein, nein, er nimmt es nicht so ernst. Du kennst ihn ja. Er meint, es käme von Plattfüßen. Hat mir Einlagen verschrieben, aber sie nützen nichts. Er hat sie schon dreimal verändern lassen, aber immer wieder ohne Erfolg.«

»Plattfüße!« Senta schnaubte. »Das ist ja lächerlich!« Sie kniete sich nieder und schnürte die Lackschuhe ihres Mannes auf.

»Dann hat er mir eingeredet, dass ein Hühnerauge schuld wäre! Ich hatte da so ein ewiges Hühnerauge am kleinen Zeh. Ich habe es mir also entfernen lassen. Aber … sieh es dir selber an!«

Sie zog den Socken von seinem Fuß. Der linke kleine Zeh war rot und entzündet; dort, wo früher ein kleines Hühnerauge gewesen war, hatte sich eine nässende Wunde gebildet. »Scheußlich!«, rief sie. »Das muss ja wehtun. Warum tust du nicht wenigstens ein Pflaster drauf? Sonst ziehst du dir am Ende noch eine Blutvergiftung zu.« Sie sprang auf. »Warte, ich werde dich verarzten.« Sie ging zur Tür, blieb kurz davor stehen und drehte sich wieder um. »Siegfried, wir sollten nach Deutschland fahren!«

Er verzog die Lippen. »Du willst mir doch hoffentlich nicht einreden, dass es hier keine ordentlichen Ärzte gibt?«

»Das nicht. Aber, um dir die Wahrheit zu sagen, ich habe überhaupt kein Vertrauen zu den Ärzten, die du aufsuchst … oder an die Doktor Krakau dich überweisen würde. Die sind alle das gleiche Kaliber … gütige, verständnisvolle, weise alte Herren. Sie sagen dir, dass du auch nicht mehr der Jüngste bist und dich eben darauf einstellen musst, dass es von einem gewissen Alter an in den Gliedern zu zwicken und zwacken beginnt. Sie verschreiben dir Einlagen oder Wickel und, wenn es hochkommt, noch ein Beruhigungsmittel. Kaum haben sie das hinter sich, fangen sie an, mit dir über die alten Zeiten und die alte Heimat zu sprechen und was sie früher für tolle Kerle gewesen sind! Und du haust natürlich sofort in die gleiche Kerbe und wagst ihnen nicht zu sagen, dass dir dieses ganze Geschwätz gar nichts nutzt, sondern dass du eine wirkliche Hilfe suchst!«

Er lachte mit vor Qual verzogenem Gesicht. »Wie gut du Bescheid weißt! Man könnte meinen, du hättest Mäuschen gespielt!«

»Kunststück, ihr macht es wirklich nicht schwer, euch zu durchschauen.«

Sie verließ das Wohnzimmer, schlich die Treppe hinauf, holte Verbandszeug und Tabletten aus dem Apothekerschrank im Bad und Siegfrieds Pantoffeln aus seinem Nachttisch. Sie eilte die Treppe hinunter, füllte in der Küche ein Glas mit Sodawasser aus dem Eisschrank, brachte es Siegfried und reichte ihm das Röhrchen mit den Tabletten. »Nimm zwei«, sagte sie, »die helfen bestimmt. Ich nehme sie, wenn ich meine Kopfschmerzen habe.«

»Danke.« Er schluckte die großen Tabletten ein wenig mühsam herunter.

Sie kniete sich neben ihn, nahm seinen Fuß in den Schoß und betrachtete kritisch den verletzten Zeh. »Am liebsten würde ich ihn desinfizieren«, sagte sie, »aber ich fürchte, Jod ist zu scharf.« Sie tat ein wenig Salbe auf das Kissen eines Pflasters, legte es auf die Wunde, riss die Klebestreifen auf und drückte sie fest.

»Wie geschickt du das machst.«

»Schließlich habe ich mal im Lazarett gearbeitet. So etwas verlernt man nie.« Sie legte Mittel- und Ringfinger auf seinen Fußpuls, konzentrierte sich angespannt, aber sie spürte nichts.

»Was ist?«, fragte er.

»Vielleicht sind es Durchblutungsstörungen«, sagte sie; sie mochte ihm nicht gestehen, dass sie keinen Puls fühlte, um ihn nicht noch mehr zu beunruhigen, aber ihr Gesicht war sehr ernst. »Du darfst das auf keinen Fall leichtnehmen!«

»Ich nehme es wohl eher zu schwer.« Er lächelte schwach.

»Nein.« Auch am rechten Fuß gelang es ihr nicht, den Puls zu ertasten. »Entweder gehst du hier endlich zu einem jungen und tüchtigen Arzt …«

»Das würden uns unsere Freunde aber schon sehr übel nehmen!«

»… oder, noch besser, du fährst nach Deutschland. Du weißt doch, dass mein Bruder Karl-Friedrich sich auf Beinleiden spezialisiert hat.«

»Ausgerechnet Karl-Friedrich?« Siegfried lachte auf. »Zu dem Windhund soll ich Vertrauen haben?«

»Seit du ihn zuletzt gesehen hast, sind fünfzehn Jahre vergangen.« Senta massierte seinen Fuß mit leichten Strichen. »Komm mir jetzt bloß nicht auch noch damit, dass er ein Nazi war.«

»Wer war das in Deutschland nicht?«

»Eine Menge Leute, und wir haben sie gekannt. Karl-Friedrich hat sich lange vor dem Krieg von den Nazis losgesagt. Ilschens manipulierter Tod hat ihm einen heilsamen Schock verpasst. Du selber hast es mir erzählt … erinnerst du dich nicht? Du warst doch noch bei ihrer Beerdigung.«

»Ja, er hat dies schwachsinnige Kind geliebt«, sagte Siegfried nachdenklich, »das spricht immerhin für ihn. Aber was heißt hier losgesagt? Er ist doch in der Partei geblieben.«

»Es blieb ihm wohl keine Wahl.« Senta nahm seinen anderen Fuß. »Vielleicht konnte man sich um die Mitgliedschaft drücken, wie Vater es getan hat. Aber wenn man einmal drin war, gab es kein Zurück. Ein Austritt wäre ja einem Selbstmord gleichgekommen. Jedenfalls hat er um seiner Überzeugung willen auf eine Karriere verzichtet, wie er sie als Nazi mit einer niedrigen Parteinummer bestimmt in Berlin gemacht hätte. Stattdessen hat er jahrelang unter den bescheidensten Umständen als Landarzt praktiziert. Und trotzdem hat er nach dem Krieg erst mal Berufsverbot erhalten. Nein, Siegfried, es wäre unfair, ihm seinen früheren Irrtum nachzutragen.«

»Tu’ ich ja gar nicht. Du hast das Thema angeschnitten, nicht ich. Übrigens, die Schmerzen lassen nach … meinst du, dass ich noch einen Whisky trinken sollte?«

»Nein, ganz bestimmt nicht«, erklärte sie entschieden, zog ihm die Pantoffeln über die Füße und erhob sich. »Im Gegenteil, du solltest in Zukunft so wenig wie möglich trinken und vor allem das Rauchen einschränken.«

Er tätschelte ihren Po. »Sehr wohl, Frau Doktor.«

Sie stieß seine Hand zurück. »Typisch Mann. Sobald es euch auch nur ein bisschen besser geht, werdet ihr übermütig.« Sie setzte sich ihm gegenüber in einen der dunklen, grob geschnitzten Sessel, stützte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hände. »Wir könnten im Sommer nach Europa fahren. Dann hat Vivian Ferien, und auch auf dem Gericht ist nicht so viel zu tun. Doktor Mandel könnte es allein bewältigen.«

»Geliebte Senta …«, Siegfried zündete sich eine Zigarette an, »ick durchschaue dir … dir zieht es nach Berlin! Meine Beene sind nur ein Vorwand.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ganz falsch. Ich fliege ja auf jeden Fall diesen Herbst hinüber, zu Justus Weigands Fünfundsiebzigstem. Das war ausgemacht. Natürlich wäre es schön, wenn du mich begleiten würdest. Ob Vivian mitwill, muss sie selber entscheiden. Mir geht es nur um dich.« Ihre dunklen Augen brannten in dem weißen, erschöpften Gesicht. »Und natürlich auch um mich. Ich will dich nicht verlieren … und ich habe auch, ehrlich gestanden, keine große Lust, einen Krüppel zum Mann zu haben, wenn es sich vermeiden lässt.«

»Du hältst die Sache wirklich für ernst?«

»Ja.«

»Du glaubst also, dass Karl-Friedrich der richtige Arzt für mich wäre?«

»Justus Weigand schreibt, dass er großartig ist. Und du weißt, dass mein Vater seine Söhne immer sehr objektiv beurteilt hat.«

»Aber da war doch was … wollte er nicht früher Chirurg werden? Und hat es aufgeben müssen, weil er es nicht durchhalten konnte? Wenn also ein Eingriff notwendig werden sollte …«

Sie lächelte traurig auf ihn herab. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr der Ausdruck kreatürlicher Angst in seinen Augen sie beunruhigte. »Du hast ein Gedächtnis wie ein alter Elefant, nicht wahr? Aber du vergisst, dass zwischen gestern und heute ein blutiger Krieg liegt, an dem Karl-Friedrich vom ersten bis zum letzten Tag als Arzt teilgenommen hat. Dabei hat er zwangsläufig die Angst vor der Handhabung des Skalpells verlernt.« Sie küsste ihn. »Lies noch ein bisschen, das bringt dich auf andere Gedanken. Sicher wird eine Operation gar nicht nötig sein. Was du brauchst, sind die richtigen Medikamente.«

»Dein Wort in Gottes Ohr.«

»Ich habe heute einen Brief von meinem Vater bekommen«, verkündete Karl-Friedrich, als er sich zum Mittagessen am Küchentisch niederließ.

»Und was schreibt er?«, fragte Margit, seine Frau, und reichte ihm einen Teller mit dem Linseneintopf, den sie am Abend vorher gekocht hatte.

»Er fragt an, ob wir im August hier sind.«

Margit teilte das Essen in der Reihenfolge ihres Alters an die Kinder aus: erst an Ruth, die Vierzehnjährige, dann an die dreizehnjährige Eva und schließlich an David, den fünfjährigen Nachkömmling.

»Will er uns besuchen?«, rief Ruth.

»Großvater kommt … Schau!«, rief Eva fast gleichzeitig.

»Nein, nein, davon kann keine Rede sein«, erklärte ihr Vater, »er fragt wegen Siegfried Rosenbaum an. Anscheinend machen ihm die Beine zu schaffen. Senta möchte, dass ich ihn untersuche.«

»Wie schön«, sagte Margit impulsiv.

Er sah sie über den Tisch weg an. »Was freut dich so daran?«

»Nun, erst einmal, dass ich endlich deine Schwester kennenlerne … und dann, dass du Gelegenheit hast, für deinen Schwager etwas zu tun. Wir haben den beiden viel zu verdanken.«

»Wieso?«, fragte Ruth.

»Sie haben uns gleich nach dem Krieg, als es bei uns nichts zu essen und zu kaufen gab, viele Care-Pakete geschickt«, erzählte Margit, »ihr müsst euch eigentlich noch daran erinnern. Das war uns damals eine große Hilfe.«

»Wir kriagen Bsuch aus Amerika!«, jubelte Eva.

»Dös is schick!«, stimmte Ruth ein.

Die beiden Mädchen, als Kinder Berliner Eltern in Süddeutschland aufgewachsen, sprachen gelegentlich ein etwas affektiertes Bayerisch, das sie sich im Umgang mit ihren Spielgefährten zugelegt hatten. Nach 45 war die Familie vom Land nach München gezogen, wo erst Dr. Margit Weigand eine Praxis eröffnet hatte, dann, als sein Berufsverbot aufgehoben war, auch ihr Mann, der sich aber sofort spezialisiert hatte, und zwar auf Beinleiden, ein Gebiet, in dem er während des Krieges große Erfahrungen gewonnen hatte. Den letzten Schliff hatte er sich bei Dr. Robert May in Innsbruck geholt.

Nach dem Essen erhob sich Margit und begann, den Tisch abzuräumen. »Seid lieb, Mädchen«, bat sie, »spült ab und räumt auf. Ich muss einen dringenden Krankenbesuch machen.«

Ruth und Eva protestierten. »Nicht schon wieder, Mutti!« – »Das kannst du uns doch nicht antun!« – »Wir haben so viel für die Schule zu tun!« – »Und verabredet sind wir auch!«

»Aber das ist doch eine Ausnahme«, versuchte Margit sie zu beschwichtigen. »Es kann doch wirklich nicht so schlimm sein, mal ein bisschen im Haushalt zu arbeiten. Trinkst du einen Kaffee, Karl?«

»Nein, danke. Ich lege mich lieber ein Stündchen hin.«

»Ein bisschen ist gut«, maulte Ruth, »du spannst uns dauernd ein.«

Margit lachte unbeeindruckt. »Stellt euch bloß nicht an! Die paar Teller abzuwaschen ist doch keine Arbeit. In spätestens zwanzig Minuten seid ihr damit fertig.«

»Ich trockne ab«, erklärte David bereitwillig.

»Du?«, schrie Eva. »Das hätte uns gerade noch gefehlt.«

»Schwing dich!«, sagte Ruth. »Du zerdepperst doch bloß alles!«

»Ist ja nicht wahr!«, protestierte David.

Margit strich ihm über den kleinen Stierschädel. »Natürlich nicht, Liebling, wir alle wissen, dass du sehr fein abtrocknen kannst! Ich weiß wirklich nicht, warum ihr so hässlich zu dem Jungen sein müsst.«

»Und wenn er doch etwas zerschlägt, sind wir wieder schuld!«, behauptete Ruth.

»Ach, Unsinn«, wies Margit die Mädchen zurecht, »außerdem: Die Welt stürzt bestimmt nicht ein, wenn ein Teller davon entzweibricht.« Als sie die verstockten Gesichter ihrer Töchter sah, verzichtete sie darauf, Davids Mitarbeit zu erzwingen. »Geh spielen, Liebling. Die Großen sind selber schuld, wenn sie dich nicht mitarbeiten lassen wollen.« Sie schob ihn zur Hintertür in den Garten hinaus. »Aber ihr beiden«, sagte sie, als er verschwunden war, »solltet euch wirklich schämen.«

»Wenn du dich endlich entschließen würdest, dich um deine Familie zu kümmern, wäre dieses ganze Theater unnötig«, sagte Karl-Friedrich hart.

»Ich bitte dich …« Margit ging auf die Tür zur Diele zu. »… nicht vor den Kindern.«

Er packte sie bei der Schulter und riss sie zurück. »Und warum nicht? Die wissen doch längst, was hier gespielt wird.«

Ruth und Eva machten sich in der Küche zu schaffen. Sie bemühten sich, unbeteiligte Gesichter aufzusetzen, dennoch war ihnen anzumerken, dass sie die Auseinandersetzung zwischen den Eltern nicht nur mit Aufmerksamkeit verfolgten, sondern sogar genossen.

Margit verzichtete darauf, Widerstand zu leisten. »Na schön«, sagte sie ergeben, »kauen wir es also einmal mehr durch. Ich seh’ nicht ein, warum ich einen Beruf aufgeben soll, den zu lernen ich nahezu zehn Jahre gebraucht habe.«

»Weil du verheiratet bist … weil du eine Familie hast!«

»Tu nur nicht so, als wenn ihr zerlumpt rumlaufen und Not leiden müsstet. Ich erfülle meine Pflichten als Hausfrau durchaus, und wenn wir erst wieder ein Mädchen haben …«

»Aber es ist unnötig, dass du als Ärztin arbeitest!«

»Das findest du jetzt!« Sie sah ihm gerade in die Augen. »Jahrelang ist es dir recht angenehm gewesen.«

»Die Zeiten haben sich normalisiert. Jetzt verdiene ich genug, und ich habe das Recht, dass meine Frau sich um mich und meine Kinder kümmert.«

»Ich finde es ziemlich merkwürdig, dass du immer nur an dich denkst«, sagte sie ruhig, »an dich und die Kinder, wenn dir das lieber ist. Versuch doch wenigstens auch einmal, dich in meine Lage zu versetzen. Ich liebe meinen Beruf. Er ist mir wichtig. Zugegeben, du verdienst heute mehr als ich. Aber wenn es umgekehrt wäre … und es war lange Zeit umgekehrt … hättest du je daran gedacht, nicht länger Arzt zu sein und stattdessen den Haushalt zu übernehmen?«

Sein immer noch hübsches Gesicht mit der kurzen, geraden Nase und dem vollen festen Mund lief rot an. »Um Himmels willen, Margit … ich bin ein Mann!«

»Na, wenn schon«, entgegnete sie ihm ungerührt, »und ich bin eine Ärztin. Wir werden uns wohl beide so nehmen müssen, wie wir sind.«

Es war ein klarer Maitag, und die Sonne prallte mit solcher Kraft in den windgeschützten Winkel, den das Wohnhaus mit dem Seitenflügel bildete, in dem die beiden Praxen des Ehepaares untergebracht waren, dass Karl-Friedrich Weigand sich mit Shorts und Sandalen an den nackten Beinen im Liegestuhl ausstrecken konnte. Nach wenigen Minuten streifte er auch sein Hemd ab, ölte Oberkörper und Gesicht ein und gab sich mit geschlossenen Augen der Frühlingssonne hin.

Das Klappern des Geschirrs und die hellen, scharfen Stimmen seiner Töchter drangen von der Küche her zu ihm herüber. Er hörte, wie Margit die Garage öffnete, den Motor ihres VWs anließ, und er sah sie förmlich vor sich, wie sie mit konzentriertem Gesicht den Rückwärtsgang einlegte, über die Schulter blickte und das Auto langsam auf die Straße hinausgleiten ließ.

Karl-Friedrich versuchte sich zu entspannen, aber es gelang ihm nicht; er war immer noch zornig erregt, weit über den eigentlichen Anlass hinaus. Er sagte sich, dass er es satt hatte, mit einer Frau zusammenzuleben, die ständig in Eile war, und zwei halbwüchsigen Töchtern, die es hassten, im Haushalt eingespannt zu werden. Aber während er seine Gedanken noch zu formulieren suchte, spürte er selber, dass sie auf jeden Außenstehenden lächerlich wirken würden.

Margit war Ärztin. Er hatte es gewusst, als er sie heiratete, und es war früher nie die Rede davon gewesen, dass sie ihren Beruf aufgeben sollte oder wollte. Außerdem war es ihr immer noch gelungen, eine brauchbare Hausangestellte zu finden, und um die Wahrheit zu sagen, er war selber schuld, dass das frühere Mädchen sie Knall auf Fall verlassen hatte; er hatte sie wegen einer Belanglosigkeit angeschrien. Margit hatte kein Wort über diesen Zwischenfall verloren, sondern sich sofort um eine neue Kraft bemüht, und Ende des Monats würde eine tüchtige Bauerntochter aus Niederbayern die Arbeit bei ihnen aufnehmen.

Wozu also diese ganze Aufregung? War es denn wirklich sein Wunsch, dass Margit sich nur ihm und den Kindern widmete? Würde irgendetwas dadurch besser werden, wenn sie unausgefüllt zu Hause sitzen, auf ihn warten und Ansprüche an seine Zeit und seine Aufmerksamkeit stellen würde, die er, beruflich angespannt, wie er es selber war, gar nicht erfüllen konnte? Er kannte genug solche Ehen, in denen die Kollegen über die gesellschaftlichen Ambitionen ihrer Frauen stöhnten.

Margit war nie belastend gewesen, auch nicht in den ersten Jahren ihrer Ehe, als sie Berlin verlassen und die Praxis des alten Doktor Kraghofer in Mecklenburg übernommen und ausgebaut hatten. Nie hatte sie über die primitiven Verhältnisse oder den Mangel an kulturellen Anregungen geklagt, an die sie als Großstädterin doch so gewöhnt gewesen war.

Damals, das wurde Karl-Friedrich ganz stark bewusst, als sie nichts besessen und alles erhofft hatten, waren sie noch glücklich miteinander gewesen.

Selbst im Krieg, während der langen Trennungen und der allzu kurzen Begegnungen, war noch alles zwischen ihnen in Ordnung gewesen. Er hatte nicht wie andere Soldaten um die Treue seiner Frau zittern müssen, denn er hatte gewusst, dass sie unverbrüchlich zu ihm hielt. Er hatte sich auch nie Sorgen zu machen brauchen, dass sie dem Kriegsalltag vielleicht nicht gewachsen sein könnte. Bei Margit hatte er sicher sein können, dass sie nicht nur sich und die Mädchen über die Runden brachte, sondern auch noch in der Praxis ihren Mann stand. Damals hatten sie noch gehofft, nach dem Kriege wieder dort anfangen zu können, wo sie aufgehört hatten.

Aber dann war alles anders gekommen. Sie hatten in Mecklenburg alles verloren und mussten froh sein, dass es Margit überhaupt noch gelungen war, mit den Kindern nach Berlin zu gelangen. Er selber war in Garmisch-Partenkirchen aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Er erinnerte sich, als sei es erst gestern gewesen, an ihr Wiedersehen und an das überwältigende Glücksgefühl, das er empfunden hatte: Er sah sie noch vor sich stehen in der grüngrauen Soldatenjacke, ein verschossenes Kopftuch um das ungleichmäßig geschnittene Haar gebunden, einen Rucksack aufgeschnallt, an der einen Hand Ruth, an der andern Eva, zwei kleine Mädchen mit weit aufgerissenen hellen Augen, die sich hinter der Mutter zu verstecken suchten. Sie waren aus Berlin gekommen, wo sie zuerst bei Justus Weigand Unterschlupf gefunden hatten, bis sie wussten, wo Karl-Friedrich war, und dann hatten sie gleich die Gefahr auf sich genommen und waren über die Zonengrenze gekommen. Herrgott, war er glücklich gewesen, dass sie alle vier den großen Schrecken gesund überstanden hatten!

Aber dieses berauschende Glücksgefühl hatte nur kurz gedauert, nur wenige Minuten, um genau zu sein, vielleicht nur Sekunden, bis zu dem Moment, da er gesehen hatte, dass sie ungewöhnlich dick geworden war.

»Was ist los mit dir?«, hatte er gefragt und sie auf Armeslänge von sich gehalten.

Sie hatte ihm in die Augen geblickt, mit diesem ihrem eigentümlich klaren Blick, der durch die dichten hellen Wimpern etwas Kindliches bekam. »Ja, siehst du das denn nicht?«, hatte sie zurückgefragt. »Du bist mir ja ein schöner Arzt geworden.«

Er hatte seinen Schrecken nicht verbergen können. »Du bekommst doch nicht etwa …«

Der Glanz in ihrem durch die vielen Strapazen derb gewordenen Gesicht war erloschen.

»Doch«, hatte sie gesagt.

»Wann?«

»Das solltest du selber ausrechnen können. Wann waren wir zuletzt zusammen?«

»Im April.«

»Na also. Ich bin im achten Monat.«

Später bereute Karl-Friedrich, nicht jetzt wenigstens den Mund gehalten zu haben. Gewiss hätte Margit keine himmelschreiende Freude darüber erwartet, dass er ausgerechnet in dieser schwierigen Situation, wo sie kein Dach über dem Kopf hatten und ihm verboten war, als Arzt zu arbeiten, Vater werden sollte. Damals hatte sie ja noch nicht einmal das erste der Care-Pakete aus Amerika erreicht, die ihnen später halfen, wenigstens die äußerste Not zu bekämpfen und dann sogar eine Existenz aufzubauen.

Nein, einen Freudenausbruch hatte sie sich nicht von ihm erwartet. Dennoch war es ein Fehler, dass er herausplatzte: »Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte! Ich habe doch aufgepasst!«

»Anscheinend doch nicht genug«, hatte sie geantwortet, mit jenem kühlen Ton, den sie ihm gegenüber von da an so oft anwenden sollte.

Er hatte seine Ungeschicklichkeit zu überspielen versucht und sie in die Arme nehmen wollen. »Versteh mich doch nicht falsch, Margit, ich ärgere mich ja nur deinetwegen.«

»Ärger ist wohl nicht ganz der richtige Ausdruck«, hatte sie ihn zurechtgewiesen.

Er war aufgebraust – nicht aus echtem Zorn, sondern nur, um seine Hilflosigkeit und sein schlechtes Gewissen zu übertönen: »Herrgott, was erwartest du denn von mir!?«

»Ein ganz klein bisschen Verständnis für meine Situation«, hatte sie ruhig erwidert. »Hast du dir vielleicht einmal klargemacht, was es für mich bedeutet hat, ausgerechnet jetzt durch eine Schwangerschaft so behindert zu sein?«

»Bisher hast du mir noch keine Gelegenheit gegeben, über irgendetwas nachzudenken«, hatte er unglücklich gesagt.

»Dazu wirst du noch Zeit genug haben«, hatte sie erklärt und damit das Gespräch beendet. Nicht die schwelende Entfremdung zwischen ihnen!

Er hatte sich nach einer langen Zeit der erzwungenen Enthaltsamkeit nach ihrer Liebe gesehnt. Aber sie hatte ihn abgewehrt und sich auf ihren Zustand berufen, mit dem Erfolg, dass er in diesem unerwünschten Kind, das sie trug, mehr und mehr einen Störenfried sah. Er hatte gegen dieses unvernünftige Gefühl angekämpft, war überzeugt gewesen, dass es ganz von selber verschwinden würde, wenn das Kind erst einmal auf der Welt war.

Aber dann, als er es sah, einen unerwartet kräftigen kleinen Burschen, mit dichtem schwarzen Haar auf dem Schädel, gelblicher Haut und einem Penis, der zu groß im Vergleich zu seinen anderen Proportionen schien, hatte er keinen Funken Liebe empfunden – und dabei hatte er bisher bedauert, nur Töchter zu besitzen. Er hatte versucht, Margit und sich selber zu täuschen, und hatte den Kleinen hochgenommen, worauf der in ein geradezu mörderisches Geschrei ausgebrochen war, ein Gebrüll, bei dem er tief erschrak.

»Es ist nur gut, dass du dich auf Beinleiden spezialisieren willst«, hatte Margit lächelnd gesagt, die Arme ausgestreckt und ihren Sohn wieder an sich genommen, »als Kinderarzt hättest du kein Geschick.«

Sie hatte ihre rechte Brust entblößt und dem Jungen ihre rosig geschwollene Warze zwischen die Lippen gesteckt, worauf der Kleine, nach einigen vergeblichen Versuchen, sich festsaugte und gierig zu trinken begann.

»Na, macht er das nicht fabelhaft?«, hatte Margit stolz gefragt. Es schien ihr nicht aufzufallen, dass er darauf nicht antwortete. Sie war ganz mit sich und ihrem Jungen beschäftigt, während er mit hängenden Armen danebenstand und sich ausgeschlossen fühlte.

Während Karl-Friedrich hinter dem Haus lag und die Sonne rote Kreise hinter seinen geschlossenen Lidern malte, wurde er sich darüber klar, dass er von Anfang an eifersüchtig auf den kleinen David gewesen war. Er hatte sich immer einen Sohn gewünscht und nur gefürchtet, dass er wie er selber werden würde, denn wenn es ihm auch schließlich gelungen war, sein Leben zu einem Erfolg zu machen, so schien ihm das heute noch mehr die Folge einiger glücklicher Zufälle als das Ergebnis eines starken Charakters und eines gradlinigen Willens zu sein.

Der Sohn, den er wollte, sollte nichts von seinem braunäugigen Charme haben, der ihn früher so oft geradezu zum Opfer von Frauen gemacht hatte und der ihm immer wieder die Ablehnung, das Misstrauen, ja die Feindschaft der Männer zuzog. Er sollte auch nicht wie sein älterer Bruder Nils sein, der heute mit seiner Familie in Ost-Berlin lebte, an der Charité arbeitete und dort als Professor ein angesehener Mann war. Nils war, im Gegensatz zu ihm, allzu zielstrebig, allzu kühl berechnend, allzu opportunistisch, ein Mann, der nie in die Strudel des Lebens gerissen worden war, aber auch nie dessen Höhen kennengelernt hatte.

Karl-Friedrichs Traumsohn hätte unkompliziert, aufrichtig, fröhlich und aufgeweckt sein sollen, mit blondem Haar, treuherzigen blauen Augen, von hellen dichten Wimpern umgeben, ein Junge, der in jeder Beziehung Margit glich, nur dass er eben keine Frau war, die ihn kritisch betrachtete, sondern ein unbefangener Junge, der ihn rückhaltlos bewunderte.

Stattdessen hatte er den stierschädeligen David bekommen, ein befremdliches Kind, das in seiner eigenen Welt zu leben schien. Seine Augen waren nicht blank und blau, sondern von einem tiefen, samtigen Schwarz wie ein Moorsee. Noch nie war es Karl-Friedrich gelungen zu erahnen, was hinter seiner breiten, gewölbten Stirn vor sich ging. David weinte nie und lachte selten. Er konnte sich stundenlang mit sich selber beschäftigen, spielte mit einfachen Holzstücken, die er miteinander reden ließ und deren Bedeutung Karl-Friedrich nicht begriff.

Er fand zu dem Jungen keinen Kontakt, mochte sich auch nicht darum bemühen, da Margit, wie er fand, David viel zu viel von ihrer knapp bemessenen Freizeit opferte und ihn und die beiden Mädchen darüber zu kurz kommen ließ. Vielleicht war es das, was seine Frau ihm übel nahm und weswegen sie sich immer weiter von ihm entfernte.

Aber das, verdammt noch mal, dachte er, geht doch gegen die Natur einer Ehe. Eine Frau hat ihren Mann mehr zu lieben als ihren Sohn, und wenn eine Spannung entsteht, muss sie doch wissen, wohin sie gehört.

Das würde er ihr einmal ganz energisch sagen, sich nicht wieder mundtot machen lassen oder zulassen, dass sie sich einer Auseinandersetzung in ihrer unnahbar kühlen Art einfach entzog. Ein richtiger Krach würde die Atmosphäre endlich einmal bereinigen.

Er stellte fest, dass ihm nur noch zwanzig Minuten Zeit blieben, bis er seine Praxis wieder öffnen musste. Er pflegte ambulante Patienten grundsätzlich nachmittags zu empfangen. An den Vormittagen, wenn er noch ganz frisch war, operierte er in der Klinik der Karmeliterinnen in der Harlachinger Straße, wo er fünfzehn Betten und einen hochmodernen Operationssaal zur Verfügung hatte. Anschließend machte er dann Visite und instruierte seinen Assistenten.

Zwanzig Minuten – Zeit genug, doch noch ein Nickerchen zu machen. In der Küche war es still geworden. Ruth und Eva saßen jetzt wahrscheinlich über ihren Hausaufgaben. Ein Vogel tirilierte in der großen Buche. Karl-Friedrich atmete tief und versuchte, seine Gedanken völlig abzuschalten. Allmählich wurde er schläfrig.

Er hörte die Töne der Mundharmonika, ehe sie sein Bewusstsein erreichten.

Dann öffnete er die Augen. Was war das? Ein kleines, einfaches Lied auf einer Mundharmonika geblasen. Die Töne kamen perlend klar, einer nach dem anderen, und obwohl Karl-Friedrich sich für gänzlich unmusikalisch hielt, erkannte er die Melodie: Alle Vögel sind scho-on da, alle Vögel alle …

Dann wurde das Lied wiederholt, gleichzeitig aber auch ausgebaut mit Umwandlungen und Variationen. Immer noch blieb die Melodie klar erkennbar. Sie endete, und es begann etwas Neues: drei Töne, dann noch einmal, ein vierter, ein fünfter dazu, noch einmal von Anfang an, es klang, als wenn jemand aus dem Kopf eine Melodie zusammensuchte oder gar selber erfand.

Karl-Friedrich stand auf und ging den Tönen nach. Er wusste nicht, was er erwartete, aber als er, fast versteckt in einer kleinen Grube hinter dem Fliederbusch, seinen Sohn David fand, war er durchaus nicht überrascht.

»Was fällt dir ein, solch einen Lärm zu machen?«, fragte Karl-Friedrich barsch. Er war feinfühlig genug, das Rührende dieses kleinen Schauspiels zu empfinden, aber gleichzeitig befremdete es ihn zutiefst, es war ihm unbegreiflich, wie ein gesunder Junge freiwillig musizieren mochte.

David ließ die Mundharmonika sinken und sah seinen Vater mit einem seiner schwarzen Blicke an, die aus weiter Ferne zu kommen schienen. »Aber ich mache doch nur Musik.«

»Und glaubst du etwa, das ist kein Lärm? Du hast mich im Schlaf gestört.«

»Das wollte ich nicht.«

»Gib her!« Er streckte die Hand aus, und der Junge legte sein Instrument vertrauensvoll hinein. »Woher hast du das?«

»Vom Sepp.« Und als der Vater die Augenbrauen hob, fügte er hinzu: »Vom Huber Sepp, der wo nebenan wohnt.«

Karl-Friedrich kannte den Jungen, von dem David sprach, nicht, oder er konnte sich doch nicht an ihn erinnern. Aber er wusste, dass die Leute von nebenan Obdachlose und Flüchtlinge waren, die in einer alten Wehrmachtsbaracke Unterschlupf gefunden hatten.

»Und du willst behaupten, dass dir jemand von da so mir nichts, dir nichts eine Mundharmonika schenkt?«

»Hat er ja gar nicht.«

»Aber du hast doch eben gesagt …«

David blickte den Vater unerschrocken an und erklärte in einem Ton, als wenn sich das von selbst verstünde: »Aber wir haben doch getäuschelt.«

»Ihr habt … was?«

»Ich habe ihm zwölf Murmeln gegeben und er mir seine Mundharmonika. Natürlich ist die viel mehr wert«, setzte David mit einigem Stolz hinzu, »aber er kann nicht drauf spielen.«

»Hat Sepp seinen Vater gefragt, ob er das darf?«

»Der hat gar keinen Vater.«

»Seine Mutter?«

»Das weiß ich nicht.«

»Aber ich weiß, dass du mich nicht gefragt hast, und ich möchte wetten, dass du auch nicht mit deiner Mutter darüber gesprochen hast. Wie stellst du dir das eigentlich vor? Glaubst du, du kannst die Dinge, die wir dir kaufen, ganz einfach gegen andere vertauschen? Nächstens gibst du noch deinen Wintermantel für ein altes Klavier her.«

»Meiner ist mir schon zu klein«, sagte David, und er fragte hoffnungsvoll: »Meinst du, dass man wirklich ein Klavier dafür kriegen könnte?«

Zum tausendsten Mal fragte Karl-Friedrich sich, ob David wirklich so naiv oder ob er unverschämt war. »Du scheinst mich immer noch nicht zu verstehen«, sagte er wütend, »ich dulde keine Tauschgeschäfte. Ein für alle Mal nicht. Hast du jetzt vielleicht endlich begriffen?«

»Ja, Vati.«

»Das will ich hoffen.« Karl-Friedrich wandte sich zum Gehen. Nach wenigen Schritten war David neben ihm und zupfte an seinem Ärmel. »Vati, meine Mundharmonika!«

»Die bringe ich hin, wo sie hingehört … zu deinem Freund Sepp.«

»Aber der hat doch meine Murmeln gekriegt, und bestimmt hat er schon welche davon verloren, und überhaupt …«

»Schluss jetzt!«, donnerte Karl-Friedrich. »Oder willst du ein paar hinter die Ohren haben?«

Er bekam keine Antwort. Die kleine Hand an seinem Ärmel ließ los. David blieb zurück.

Karl-Friedrich drehte sich nicht nach ihm um, denn er kannte den Blick, mit dem der Junge ihm nachsah. Er hatte seinen kleinen Triumph gehabt, aber er kam sich schäbig vor. Wie leicht hatte es ein erwachsener Mann, einen kleinen Jungen ins Unrecht zu setzen und fertigzumachen.

Einen Augenblick war er nahe daran, ihm die Mundharmonika zuzuwerfen. Aber dann tat er es doch nicht.

Einige Tage später, als Karl-Friedrich gerade den letzten Patienten verabschiedet hatte, kam Margit aus ihrer Praxis in sein Sprechzimmer herüber. Sie tat das manchmal, wenn sie mit ihm unter vier Augen etwas zu besprechen hatte. Fräulein Gebhardt, seine Hilfe, klingelte dann, wie verabredet, zu ihr hinüber, wenn er frei wurde.

Als sie über die Türschwelle trat, schlank und schmal, die Hände in die Taschen ihres Kittels geschoben, der jene weiße, neutrale Nüchternheit ausströmte, die so gut zu ihr passte, das kurz geschnittene blonde Haar leicht gesträubt, unter den Augen Schatten der Erschöpfung, empfand er eine echte, große Freude. Er hätte sie am liebsten in die Arme genommen, aber irgendwo in seinem Inneren setzte eine Sperre ein, ein ihm unerklärlicher Widerstand, der ihn zwang, hinter seinem Schreibtisch sitzen zu bleiben und den schwer Beschäftigten zu mimen. Seine vollen, fest zusammengepressten Lippen gönnten ihr nicht einmal ein Lächeln.

Sie tat, als wenn sie seine Abwehr gar nicht bemerkte. »Hallo, Karl«, sagte sie leichthin, »wie ist es dir heute ergangen?«

»Wie immer«, behauptete er, ohne sie anzusehen.

Sie schwang sich auf die Kante des Schreibtisches. »Man sollte nicht glauben, dass der Arbeitstag eines namhaften Chirurgen so gleichförmig verlaufen könnte«, sagte sie mit gutmütigem Spott. Jetzt hätte sie sich gerne eine Zigarette angesteckt, um die angespannte Situation zu entkrampfen. Aber seinen Mahnungen folgend, hatte sie sich das Rauchen bald nach dem Kriege abgewöhnt. Sie hatte es niemals leidenschaftlich betrieben, und doch gab es Momente wie eben diesen, wo sie es vermisste. »Hast du einen Cognac für mich?«, fragte sie. »Ich könnte eine kleine Aufmunterung brauchen.«

Er holte aus dem unteren Fach des Schreibtischs die Flasche und ein Glas, schenkte ihr ein. Sie hatte gewünscht, er würde mit ihr trinken. Seine Zurückhaltung wirkte wie eine Missbilligung und war, das wusste sie, auch so gedacht.

Sie nahm einen Schluck, und ihr schmales Gesicht bekam Farbe. »Erwartest du etwa, dass ich mich entschuldige?«

»Für was?«

»Genau das möchte ich dich fragen!«

»Ich hoffe«, erklärte er mit Nachdruck und sah sie jetzt, zum ersten Mal, voll an, »dass du endlich deinen beruflichen Ehrgeiz zurücksteckst, aufhörst, auf deine verdammte Selbstständigkeit zu pochen …«

Sie fiel ihm ins Wort: »… und dass ich mich damit begnüge, nur noch Hausfrau und Mutter zu spielen! Du lieber Himmel!« Sie stieß einen übertriebenen Seufzer aus. »Etwas Neues fällt dir anscheinend auch nicht mehr ein.«

»Du machst nicht einmal den Versuch, meine Wünsche zu verstehen.« Seine Stimme klang bitter.

Sie bereute ernstlich, ihm Gelegenheit zu seinen alten Vorwürfen gegeben zu haben, aber sie hoffte immer wieder – und immer wieder vergeblich –, dass eine klare Aussprache die Atmosphäre reinigen und in ihnen beiden Verständnis für die Ansprüche des anderen erwecken könnte. »Bitte, Karl«, sagte sie weich, »ich bin wirklich nicht gekommen, um mich mit dir zu streiten.«

»Weshalb denn?«, fragte er scharf.

»Es handelt sich um eine Patientin, die ich heute in der Sprechstunde hatte, eine Nonne, zweiundsechzig Jahre alt, hat ein ganzes Leben lang geschuftet und kann kaum noch latschen …«

»Schick sie zu mir.«

»Das habe ich getan. Ich habe sie an dich überwiesen. Meiner Ansicht nach handelt es sich um eine altersbedingte Gefäßverengung, die nur noch operativ behandelt werden kann. Aber da eben liegt das Problem: Schwester Bernadette hat natürlich kein persönliches Vermögen, sie kann eine Operation keinesfalls bezahlen.«

Er wusste, worauf sie hinauswollte, aber er stellte sich stur. »Dann muss eben ihr Kloster blechen.«

»Ihr Orden«, sagte Margit eindringlich und beugte sich zu ihm herab, »ist ebenfalls bettelarm. Die Schwestern sind aus Prag ausgewiesen und haben dort alles verloren. Sie wurden hier im Westen in der Kinderklinik Steinhöring eingesetzt, obwohl sie keinerlei Pflegeerfahrung haben. Jetzt kämpfen sie darum, endlich wieder eine Schule eröffnen zu dürfen. Sie haben weiß Gott kein Geld … kaum das Nötigste zum Leben.«

»Dann sollen sie sich an den Papst wenden«, erwiderte Karl-Friedrich und erhob sich achselzuckend, »ich kenne deinen katholischen Fanatismus, meine Liebe … aber du wirst doch wohl nicht leugnen wollen, dass der Vatikan gut bestückt ist.«

Margit rutschte vom Schreibtisch. »Das spielt doch überhaupt keine Rolle, Karl! Davon hat die arme Schwester doch nichts. Genauso gut könntest du einem Hilfsarbeiter bei Krupp vorschlagen, sich eine Operation, für die die Krankenkasse nicht aufkommt, vom Chef persönlich bezahlen zu lassen! Und fang bloß nicht wieder von meinem angeblichen Fanatismus an! Ja, ich bin Katholikin, aber keineswegs fanatisch … sonst hätte ich dich ja gar nicht geheiratet!«

Sie standen sich dicht gegenüber und blickten sich zornig erregt in die Augen.

Margit fing sich als Erste. »Ach, Karl«, sagte sie und legte die Arme um seinen Hals, »warum machst du es mir und dir so schwer? Ich kenne doch dein gutes Herz … du könntest es gar nicht über dich bringen, der armen Person nicht zu helfen.«

Er packte ihre Handgelenke. »Du irrst dich, meine Liebe!«