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Die Frau im Fluss.
Ein Mann wird auf einem Parkplatz bei Oslo erschossen, ein halbes Jahr später zieht man eine schwer verletzte norwegische Studentin aus dem Water of Leith in Edinburgh. Ihr Onkel, Kriminalkommissar Harinder Singh, reist kurzerhand nach Schottland, um herauszufinden, wer seine Nichte entführt hat und was danach schiefgelaufen ist. Zeitgleich bittet er Kollegin Rachel Hauge, in Oslo nach den wahren Drahtziehern zu suchen. Dabei trifft sie auf ein Geheimnis, das nicht nur Harinders Familie zu erschüttern droht …
»Norwegen hat einen neuen Krimihelden.« Adresseavisen.
»Næss schreibt sich an die Spitze der norwegischen Krimilandschaft.« Jury des Riverton-Preises.
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Seitenzahl: 443
Als Kripo-Ermittler Harinder Singh erfährt, dass seine Nichte mehr tot als lebendig im Water of Leith in Edinburgh entdeckt wurde, hält ihn nichts mehr in Oslo. Warum hat man die norwegische Studentin entführt? Und was war anschließend schiefgegangen, so dass Amandeep im Fluss landete? Auf der Suche nach Antworten tritt Harinder der schottischen Polizei mächtig auf die Füße und kommt mithilfe eines alten Kontakts tatsächlich auf die Spur der Entführer. Schnell wird jedoch klar, dass der wahre Drahtzieher sich weiterhin versteckt hält, und Harinder beauftragt seine Kollegin in Oslo, auch zu Hause in dem Fall zu ermitteln. Als Rachel Hauge daraufhin Amandeeps alten Job in einer Bar in Grünerløkka unter die Lupe nimmt, stößt sie dabei nicht nur auf die Machenschaften der Ulriksen-Zwillinge, die den Laden führen, sondern auch auf eine Information, die Amandeeps Fall in ein völlig anderes Licht rückt …
Sven Petter Næss, 1973 geboren, wuchs in Oslo auf. Er arbeitet mit Informations- und Kommunikationstechnologien im universitären Sektor. Seit 2019 schreibt er zudem erfolgreich Kriminalromane. Sein Roman »Furcht« erhielt 2020 die Auszeichnung für den besten Krimi Norwegens.
Im Aufbau Taschenbuch ist bereits sein Kriminalroman »Glut« erschienen.
Andreas Brunstermann übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Norwegischen und Englischen. Er hat unter anderem Trude Teige, Roy Jacobsen, Jan-Erik Fjell und Jørn Lier Horst ins Deutsche übertragen. Er lebt in Berlin.
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Sven Petter Naess
Furcht
Kriminalroman
Aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
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Prolog — Oppsal, Oslo Mittwoch, 20. Februar 2019
Kapitel 1 — Edinburgh, Schottland Sonntag, 20. Oktober 2019
Kapitel 2 — Dienstag, 22. Oktober
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7 — Mittwoch, 23. Oktober
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10 — Oslo
Kapitel 11 — Edinburgh
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14 — Oslo Donnerstag, 24. Oktober
Kapitel 15 — Edinburgh
Kapitel 16
Kapitel 17 — Oslo
Kapitel 18 — Edinburgh
Kapitel 19
Kapitel 20 — Oslo
Kapitel 21
Kapitel 22 — Edinburgh
Kapitel 23
Kapitel 24 — Oslo
Kapitel 25 — Edinburgh Freitag, 25. Oktober
Kapitel 26
Kapitel 27 — Oslo
Kapitel 28 — Edinburgh
Kapitel 29 — Oslo
Kapitel 30 — Edinburgh
Kapitel 31 — Oslo
Kapitel 32 — Edinburgh Samstag, 26. Oktober
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37 — Oslo
Kapitel 38
Kapitel 39 — Edinburgh
Kapitel 40 — Oslo
Kapitel 41 — Edinburgh
Kapitel 42 — Oslo
Kapitel 43 — Edinburgh
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46 — Sonntag, 27. Oktober
Kapitel 47
Kapitel 48 — Oslo
Kapitel 49
Kapitel 50 — Edinburgh
Kapitel 51 — Oslo Montag, 28. Oktober
Kapitel 52 — Edinburgh
Kapitel 53 — Oslo
Kapitel 54 — Edinburgh
Kapitel 55 — Dienstag, 29. Oktober
Kapitel 56 — Oslo
Kapitel 57 — Edinburgh
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60 — Mittwoch, 30. Oktober
Kapitel 61
Kapitel 62 — Oslo
Kapitel 63 — Edinburgh
Kapitel 64 — Oslo Donnerstag, 31. Oktober
Kapitel 65 — Edinburgh
Kapitel 66 — Oslo
Kapitel 67 — Edinburgh
Kapitel 68 — Østfold
Kapitel 69 — Edinburgh
Kapitel 70 — Østfold
Kapitel 71 — Edinburgh
Kapitel 72 — Skjeberg, Østfold
Kapitel 73 — Edinburgh
Kapitel 74 — Gardermoen Samstag, 2. November
Kapitel 75 — Mittwoch, 6. November
Kapitel 76
Kapitel 77 — Mittwoch, 27. November
Kapitel 78 — Finstajordet, Lørenskog Donnerstag, 28. November
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Impressum
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Oppsal, Oslo Mittwoch, 20. Februar 2019
Erik Ruud war ein durch und durch verräterischer und schlechter Mensch.
Mit einer Einkaufstüte in jeder Hand kam er gerade aus dem Rema-Supermarkt, der auf halber Höhe der ansteigenden Straße lag.
Aus der Entfernung konnte man sehen, wie Ruud plötzlich auf dem Neuschnee ausrutschte, der gleich losem weißem Pulver auf dem Eis lag. Ein Fuß schoss vor, die Arme wedelten in der Luft. Es sah aus, als sei er inmitten eines rituellen Tanzes, dessen Ziel es war, das Gleichgewicht zu halten und nicht etwa die Gunst der Götter zu erbitten. Ein Kampf, den er mit denkbar kleinstem Vorsprung für sich entscheiden konnte. Es gelang ihm sogar, eine der Tüten in der Hand zu behalten, die andere hingegen nicht. Dann fluchte er laut in die abendliche Dunkelheit hinein, wie ein Alkoholiker, der im wütenden Krieg mit der Welt lag.
Ein komischer Moment, der bei der Person, die auf Ruud wartete, einen gewissen Zweifel hervorrief. Als ob der Mann gerade die jämmerliche Gestalt bloßgestellt hätte, die er wirklich war. Weshalb also eingreifen? Würde solch ein Mann nicht von ganz allein zugrunde gehen?
Jedoch nicht schnell genug. Und eine Strafe ist keine Strafe, wenn er sie nicht fühlen kann.
Nach seinem Beinahe-Sturz stapfte Erik Ruud weiter.
Der Puls stieg.
Die wartende Person machte sich bereit. Hatte eine Position hinter dem Gebüsch in der Nähe des Kindergartens gewählt, ganz oben auf dem Hügel. Im Dunkeln würde es fast unmöglich sein, eine schwarz gekleidete Gestalt mit einer Kapuze zu erkennen. Voraussetzung jedoch war, dass Ruud trotz der Schneeverhältnisse den Gehsteig nahm, anstatt den längeren, aber einfacheren Weg außen herum.
Er wird die Abkürzung nehmen, denn das tut er immer. Sein ganzes Leben handelt von Abkürzungen.
Erik spürte, dass er sich eine Muskelzerrung im Oberschenkel zugezogen hatte. Gleichzeitig schneite es weiter. Würde er denn nie aufhören, dieser verfluchte Winter? Seit fast einem halben Jahr schon war es kalt und feucht. Er war es leid, zu frieren.
Und richtig scheißleid war er es, Tag und Nacht zu arbeiten und dafür kaum etwas zurückzubekommen.
Das Restaurant und der Nachtclub brummten, und das war sein Verdienst. Und dennoch saß er bloß mit ein paar Krümeln da. Die Zwillinge hielten sich schadlos an den Überschüssen, fraßen sich satt an den Früchten seiner Mühen. So war es schon seit Langem, wenn er es recht bedachte. Vielleicht schon, seit er ihnen begegnet war.
Und solche Typen nannten sich seine Kumpel.
Eigentlich war alles nur ihre Schuld. Hätten sie ihn gerecht behandelt, wie einen echten Partner, wäre er niemals gezwungen gewesen, nebenher seine eigenen Geschäfte zu verfolgen. Dann wäre er auch nicht in diese Klemme geraten. Er könnte im Gefängnis landen, seine Arbeit und vielleicht auch seine Freundin verlieren, oder er opferte seine Partner.
Wer nun glaubte, dass diese Entscheidung hätte klar sein müssen, kannte die Brüder nicht. Sie gehörten nicht zur Sorte der Vergebenden.
Ein Lastwagen kam den Østmarkvei entlanggefahren und blies Schnee in beide Richtungen. Erik spürte den kalten Windstoß im Gesicht. Er überquerte die Straße und nahm den abschüssigen Gehweg, der zum Wäldchen am Fuße von Eftasåsen führte. Wegen all der Eltern, die ihre Kleinen zum Kindergarten an der Spitze des Hügels brachten oder von dort abholten, war der komplette Gehweg mit Salz und feinem Kies bestreut worden.
Er hörte die Schritte direkt hinter sich. Kies, der unter der frischen Schneeschicht knarzte. Er drehte sich nicht um. Blickte nicht über die Schulter, um zu überprüfen, wen er da hinter sich hatte. In dieser Gegend war ständig jemand unterwegs, um zu joggen, einen Spaziergang zu machen oder den Hund auszuführen, sogar an einem ekligen Abend wie diesem.
Er opferte der Person nicht einen Gedanken, bis er plötzlich hörte, dass sie seinen Namen rief.
Da blieb er stehen und drehte sich um.
Erik Ruud starrte die Gestalt an, die nur wenige Meter von ihm entfernt stand. Dunkle Kleidung, engsitzende Trainingshose, leichte Winterjacke. Kapuze über dem Kopf und Handschuhe an den Händen.
Er konnte die Augen und das Gesicht unter der Kapuze kaum erkennen und doch genug, so dass er stutzte.
»Du …?«
Für einen kurzen Moment stellte er sich ein Gespräch vor, in dem er seine beträchtlichen Überredungskünste anwandte, um die Situation zu lösen. Künste, die er schon erfolgreich eingesetzt hatte, als er mit Schmuggelware vom Zoll aufgegriffen wurde. Aber sein Gegenüber war nicht für eine Unterhaltung gekommen. Das begriff er, als er die Pistole mit dem Schalldämpfer sah.
Der erste Schuss traf ihn in die Brust.
Jetzt glitten ihm beide Einkaufstüten aus den Händen, als er nach hinten kippte und auf dem Rücken landete. Er hörte Glas zerbrechen und rang um Atem, während er auf dem kalten Boden lag. Es fühlte sich an, als ob der Frost in sämtliche Zellen seines Körpers vordrang.
Die dunkle Gestalt stieg über ihn hinweg und stellte sich ins Licht der Straßenlaterne. Die Pistolenmündung zeigte auf Eriks Kopf.
Die vom Schuss rührenden Schmerzen wurden von der intensiven Furcht überschattet, die ihn plötzlich ergriff. Er hätte um sein Leben gebettelt, war jedoch außerstande, mehr als grunzende Laute von sich zu geben. Und gleichzeitig konnte er in den Augen seines Gegenübers sehen, dass kein einziges Wort geholfen hätte.
Hier war keine Gnade zu erwarten.
Schmerzen. Kälte. Verwirrung. Angst. Reue.
All dies hörte auf zu existieren, als die Pistole zum zweiten Mal abgefeuert wurde.
Edinburgh, Schottland Sonntag, 20. Oktober 2019
Vom Parkplatz aus hatten sie einen perfekten Ausblick auf den weißen Wohnblock auf der anderen Straßenseite. Eines der eher modernen Gebäude in der Nachbarschaft. Sieben Stockwerke mit glatter Betonfassade und verglasten Balkons im Herzen von Dean Village. Die feine Gegend lag gar nicht mal so viele Kilometer von Pilrig entfernt, woher die beiden Männer im Wagen kamen, gehörte aber dennoch einer ganz anderen Welt an.
Die Straßen waren so gut wie leer. Es war Sonntagabend, in der Nähe gab es weder Pubs noch offene Geschäfte, weshalb es für die Bewohner des Viertels keinen großen Grund gab, sich durch kalten Wind und Nieselregen zu kämpfen.
Ideale Arbeitsbedingungen für den Job, den Davey und sein Kumpel vor sich hatten.
Laut der letzten Nachricht ihres Auftraggebers befand sich die Zielperson auf dem Weg nach Hause. Sie bewohnte die Eckwohnung im zweiten Stock, die, seitdem Davey und sein Kumpel den Ort ausgekundschaftet hatten, im Dunkeln lag. Die Bewohnerin war über das Wochenende verreist.
Die ganze letzte Woche hatten sie dafür verwendet, sich eine Übersicht über das Gebäude und die Nachbarn zu verschaffen. Alle Zugänge waren überprüft. Sie hatten eine Stelle gewählt, an der sie ein paar Stunden herumsitzen konnten, ohne allzu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ein passender Wagen für den Anlass war ebenfalls organisiert worden. Nichts sollte dem Zufall überlassen bleiben.
Davey verspürte das starke Bedürfnis nach einer Zigarette, wusste aber, dass er warten musste. Selbst in abendlicher Dunkelheit zogen rauchende Männer in Autos ein gewisses Interesse auf sich.
»Sollte diese Bitch nicht langsam mal auftauchen?«, fragte Lee.
»Geduld, mein Freund«, entgegnete Davey. »Sie ist bestimmt jeden Moment hier.«
»Na gut, ich muss pissen.«
»Warum bist du denn nicht aufs Klo gegangen, bevor wir losgefahren sind?«
»Bin ich doch!«, sagte sein Nebenmann.
Davey schüttelte den Kopf. Immer war irgendwas mit dem Typen. Doch dafür war Lee ein Profi. Sie hatten schon viele Jobs gemeinsam erledigt.
Ein paar Frontscheinwerfer erhellten die Straße hinter ihnen. Gerade war ein Kombi aus Douglas Gardens um die Ecke gekommen, an der alten Kirche, die jetzt eine Jugendherberge war. Davey beobachtete den Wagen im Rückspiegel. Ein Volvo, der vor dem weißen Block auf der anderen Straßenseite anhielt. Direkt vor dem Eingang.
Er sah eine Frau eine der hinteren Türen öffnen. Sie hatte etwas dunklere Haut und langes schwarzes Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war, und sie trug eine rote Windjacke und Wanderstiefel. Davey und Lee betrachteten das Porträtfoto, das sie von ihrem Auftraggeber bekommen hatten.
Die Zielperson war eingetroffen.
Das Problem waren die beiden anderen Personen, die aus dem Wagen stiegen – ein Mann und eine Frau in ähnlicher Kleidung. Sie öffneten die Heckklappe und nahmen einen Rucksack und einen Schlafsack heraus. Davey hielt den Atem an. Falls die beiden vorhatten, ihr mit dem Gepäck nach oben zu helfen, würde der Plan scheitern.
Nicht unsere Schuld, dachte er. Laut ihren Informationen sollte sie allein sein.
Davey atmete erleichtert auf, als die drei sich vor dem Eingang mit einer Umarmung voneinander verabschiedeten, ehe die beiden anderen sich wieder in den Volvo setzten. Die Zielperson winkte ihnen nach, während der Wagen wendete und denselben Weg zurückfuhr.
Die Frau schleppte das Gepäck samt Schlafsack zur Haustür und zog ein Schlüsselbund aus der Jackentasche. Davey und Lee reagierten sofort. Sie stiegen aus dem Wagen und eilten über die Straße, Davey ging voraus.
»Überlassen Sie die Tür ruhig mir«, sagte er in seinem freundlichsten Ton. Die Zielperson versuchte, die Tür mit dem Ellbogen aufzuhalten, während sie gleichzeitig nach dem Gepäck auf dem Boden griff.
Sie nickte dankbar, genauso wie er es vorhergesehen hatte. Wenn er wollte, konnte er sehr charmant sein. Davey stellte sich in die Türöffnung und wartete darauf, dass sie mit Sack und Pack über die Schwelle trat.
»Brauchen Sie Hilfe mit dem Rucksack, Miss?«, fragte er.
»Nein, danke«, erwiderte sie. »Der ist gar nicht so schwer.«
Davey lächelte liebenswürdig. Die Kleine war wirklich süß, musste er einräumen. Hübsches Gesicht und reizende Formen.
Sie musste geahnt haben, dass sich jemand von hinten näherte, denn in diesem Augenblick drehte sie den Kopf.
Aber da war es bereits zu spät.
Lee drückte ihr die Elektroschockpistole in den Nacken. Es knisterte, als der Strom auf ihre nackte Haut traf. Ein kräftiges Zucken durchfuhr ihren Körper, und im selben Moment verlor sie die Kontrolle über ihre Motorik. Die Augen rollten nach hinten weg. Aus ihrem Mundwinkel rann Speichel. Sie wäre zu Boden gefallen, wenn Lee sie nicht aufgefangen hätte. Er hielt sie fest, während weitere Zuckungen durch ihren Körper jagten, bis sie schließlich reglos in seinen Armen lag.
Dienstag, 22. Oktober
Harinder Singh erspähte die schottische Hauptstadt schon während des Anflugs. Oder zumindest die Punkte, die hoch genug lagen, um aus dem Nebel herauszuragen, der sich wie ein Schleier über Edinburgh gelegt hatte.
Wie die Überreste untergegangener Welten sah er die Dächer von Sandsteingebäuden hervorstehen. Im Westen erahnte er die Mauern des alten und berühmten Schlosses, das majestätisch auf dem Gipfel eines erloschenen Vulkans thronte.
Unter anderen Umständen hätte er sich darauf gefreut, die verborgen unter ihm liegenden Straßen und Gebäude zu erkunden. Seine beiden vorherigen Besuche in der Stadt waren kurz gewesen, und schon lange hatte er Lust verspürt, wieder dorthin zurückzufahren.
Aber das hier war keine Urlaubsreise. Er war nicht hier, um Sightseeing zu machen oder Museen zu besuchen. Stattdessen versuchte er, sich das Bevorstehende als Arbeit vorzustellen. Das vermittelte ihm ein Gefühl von Kontrolle über die Krise, die sich abspielte. Allerdings hatte sein Chef mehr als deutlich gemacht, dass er sich keinesfalls offiziell mit dem Fall befassen dürfe.
»Ich kann Sie nicht davon abhalten, zu fahren«, hatte Abteilungsleiter Musæus gesagt. »Und dennoch rate ich davon ab. Sie wissen ja sicher, was man über Ärzte sagt? Dass sie die schlimmsten Patienten sind? Nun, das Gleiche gilt für Polizeibeamte, die gleichzeitig Angehörige sind. Lassen Sie die Edinburgh-Polizei in Ruhe ihre Arbeit machen, Sie werden ja ohnehin immer auf dem Laufenden gehalten.«
Harinder hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Vermutlich war es ein gut gemeinter Rat gewesen, aber nicht hinzufliegen, war zu keinem Zeitpunkt infrage gekommen.
Musæus, oder die Maus, wie er hinter seinem Rücken genannt wurde, hatte geseufzt.
»Wie ich sehe, könnte ich genauso gut mit der Wand reden«, sagte er. »In Ordnung, aber vergessen Sie nicht, dass Sie dort drüben keinerlei Befugnisse haben. Falls die Polizei Informationen an Sie weitergibt, dann geschieht das zu deren Bedingungen. Treten Sie den Leuten nicht auf die Zehen und unternehmen Sie nichts eigenmächtig. Auch wenn Sie als Privatperson hinüberfahren, sind Sie dennoch einer von uns. Falls Sie sich blamieren, wirft das auch auf uns ein schlechtes Licht.«
Die Maus hatte nicht eher lockergelassen, bis Harinder bestätigte, dass er seine Worte vernommen hatte.
Das Hotel lag zentral in der Princes Street, der Hauptstraße von Edinburgh. Es handelte sich um ein sogenanntes altehrwürdiges Hotel, was bedeutete, dass es an schäbig grenzte, mit Teppichboden in sämtlichen Räumen. Der Bahnhof lag gleich gegenüber. Die weißen Straßenbahnen rollten fast lautlos durch die Straßen, ganz im Gegensatz zu den blauen Waggons in Oslo, die meist nach einander ablösenden Erdbeben klangen.
Harinder war müde und hungrig. Obwohl der Flug erst um elf losgehen sollte, war er seit fünf Uhr morgens wach gewesen. Und da er nicht länger schlafen konnte, war er kurzerhand aufgestanden und hatte Schränke und Schubladen durchsucht, in der Hoffnung, dass sich doch noch irgendwo ein Päckchen Zigaretten verbarg.
Leider hatte er ein altes gefunden, worin noch zwei Zigaretten steckten.
Der Krieg gegen das Nikotin erstreckte sich schon über mehrere Jahre, und von Zeit zu Zeit verlor er eine Schlacht. Dieses Mal lag es ganze zehn Monate zurück, dass er zuletzt einen tiefen Lungenzug getan hatte.
Harinder rief seine Schwester Jaspreet an, um sie über seine Ankunft zu informieren.
»Ich bin sehr froh, dass du da bist, aber es war wirklich nicht nötig, hierherzukommen«, sagte sie.
»Amandeep hätte es sich gewünscht«, entgegnete er.
Er hörte ein Seufzen am anderen Ende der Leitung. Als ob Jaspreet nicht die Kraft zum Streiten hätte.
»Na ja, vielleicht kannst du uns ja mit der Polizei helfen?«, fragte sie. »Die erzählen uns nichts. Bloß, dass sie mehrere Spuren verfolgen.«
»Das müssen sie sagen, wenn sie nichts Konkretes in der Hand haben«, sagte Harinder. »Wie geht es ihr denn?«
»Keine Veränderung«, sagte Jaspreet mit tränenerstickter Stimme. »Sie behalten sie im künstlichen Koma. Da gibt es eine Schwellung im Gehirn, die zurückgehen muss. Kritisch, aber stabil, nennen sie ihren Zustand. Ich habe das viele Male zuvor gehört, aber erst jetzt ist mir aufgefallen, wie absurd diese Formulierung klingt.«
»Ich komme zum Krankenhaus«, sagte Harinder.
»Okay.«
Er versuchte, nicht zu viel über den mangelnden Enthusiasmus in ihrer Stimme nachzudenken, sondern ordnete dies in erster Linie als Folge ihrer psychischen Belastung ein. Gleichzeitig konnte er nicht davon absehen, dass ihr geschwisterliches Verhältnis gewisse Komplikationen in sich barg.
Während Harinder in Norwegen geboren und aufgewachsen war, kam seine Halbschwester Jaspreet ursprünglich aus Indien. Ihr gemeinsamer Vater war bereits verheiratet und Jaspreet war schon ein kleines Mädchen gewesen, als die Familie in den frühen siebziger Jahren aus Jalandhar im indischen Punjab nach Norwegen umzog.
Dann verliebte der Vater sich in eine Bankangestellte aus Hedmark.
Die arrangierte und relativ lieblose Ehe musste den neuen und starken Gefühlen für die junge Norwegerin weichen. Das Verhältnis hatte Schockwellen durch ihre beiden Familien und den jeweiligen Freundeskreis geschickt. Zu jener Zeit war die Liebesbeziehung als unerhört, ja geradezu skandalös betrachtet worden. Für seine verschmähte Gattin und die Tochter handelte es sich um unverzeihlichen Verrat, und es gab keinen Zweifel, auf welcher Seite die indische Familie und der Freundeskreis standen. Sie brachten zum Ausdruck, was sie von der Geschichte hielten, indem sie sich von ihm abwandten.
Noch bis zu diesem Tag hatte der Vater nur wenig Kontakt mit alten Bekannten aus seiner ehemaligen Heimat. Kanvar Singh war ein sturer Mann, der eine Beleidigung niemals vergaß.
Lange hingegen hatte er versucht, das Verhältnis zu seiner Tochter zu reparieren, doch ohne großen Erfolg. Harinder konnte gut verstehen, dass es schwierig war, in dem Wissen aufzuwachsen, vom eigenen Vater verlassen worden zu sein. Noch dazu in einem kalten, fremden Land.
Erst, als sie beide erwachsen geworden waren, hatten sie einen gewissen Kontakt aufgebaut. Harinder hatte sie und ihre Familie in Lørenskog ab und an besucht, meist zusammen mit seiner Tochter Savi. Jaspreet und er sandten einander Geburtstagsgrüße und Ähnliches, doch besonders eng war ihr Verhältnis nie geworden.
Er bezweifelte, dass überhaupt ein Verhältnis existiert hätte, wenn seine Nichte nicht gewesen wäre. Sie hatte sich Kontakt sowohl mit dem Großvater als auch mit dem Onkel gewünscht, was die Erwachsenen zwang, sich mit den Umständen zu arrangieren.
Jaspreet und ihr Mann, Gurman, hatten nur ein Kind, nämlich ihre 27‑jährige Tochter Amandeep. Nach einem Spontanabort und einer Totgeburt hatten sie aufgehört, sich weitere Kinder zu wünschen.
Mit sechzehn hatte Amandeep ihren Onkel Harinder angerufen, weil sie eine Präsentation über den Polizeiberuf halten sollte. Er hatte ihr alle Fragen detailliert beantwortet, hatte sie im Polizeipräsidium herumgeführt und war mit ihr im Streifenwagen umhergefahren. Danach hatten sie zu Hause bei ihm und seiner damaligen Frau zu Abend gegessen, und er erinnerte sich noch, wie gerührt er gewesen war, zu sehen, dass Amandeep seine Tochter Savi so hemmungslos verwöhnte. Choti bahan, hatte sie sie genannt.
Kleine Schwester.
Savi war außer sich vor Verzweiflung über das Geschehen. Als Harinder und sie zuletzt gesprochen hatten, war sie in Tränen ausgebrochen, und ausnahmsweise einmal hatte sie ihn ermuntert, so schnell wie möglich aufzubrechen.
Amandeep hatte den Wunsch geäußert, selbst Polizistin zu werden, wenn sie erwachsen würde. Und weil es in ihrer Natur lag, alle Pläne und Ideen mit großem Ernst zu verfolgen, hatte Jaspreet ihren Bruder kontaktiert und ihn inständig gebeten, er möge sie in diesem Vorhaben nicht noch bestärken. Jaspreet hatte größere Ambitionen für ihre Tochter.
Polizistin wurde sie also nie. Amandeep hatte das Gymnasium mit lauter Einsen und Zweien hinter sich gebracht und absolvierte danach ein Jahr eines Bachelor-Studiengangs in Wirtschaft, ehe sie ihren Eltern graue Haare wachsen ließ, als sie sich zum Wehrdienst beim Militär meldete.
Dort durchlief sie die Grundausbildung und bewarb sich nach Ablauf der Dienstzeit sogar für einen Auslandseinsatz in Afghanistan. Harinder hatte ein Foto von ihr bekommen, auf dem sie in Khaki-Uniform und mit einem Gewehr über der Schulter in der afghanischen Wüste posierte, und er hatte gedacht, dass seine Schwester Jaspreet es vermutlich doch vorgezogen hätte, wenn Amandeep sich für den Polizeiberuf entschieden hätte.
Zum Glück war seine Nichte wohlbehalten zurückgekehrt. Zur großen Erleichterung ihrer Familie hatte sie das Studium wieder aufgenommen und einen Bachelorgrad an der Norwegischen Wirtschaftshochschule erlangt.
Zu Beginn des Jahres hatte sie beschlossen, einen Master im Ausland zu machen, und war nach Schottland gefahren, um Betriebswirtschaft an der Edinburgh Business School zu studieren. Sie teilte sich die im Westen der Stadt gelegene Wohnung mit einer anderen Studentin. Riya Chaudry hatte ebenfalls einen indischen Hintergrund, war aber britische Staatsbürgerin.
Es war Riya gewesen, die die Familie darüber informiert hatte, dass Amandeep am Sontag nicht wie erwartet von einer Bergwanderung mit Freunden zurückgekehrt war.
Vierundzwanzig Stunden später war sie im Water of Leith aufgefunden worden, bewusstlos und gerade noch am Leben.
Der Krankenhauskomplex befand sich nicht weit vom Stadtzentrum entfernt, lag aber dennoch in ländlicher Umgebung. Ein frischer Wind herrschte und schien den Nebel vertrieben zu haben, als Harinder aus dem Taxi stieg.
In der Cafeteria gleich neben der Notaufnahme traf er auf Jaspreet und ihren Mann. Seine Schwester war eine zierliche Frau in dunkler Kleidung, sie trug eine Hornbrille, ihr schulterlanges Haar zeigte dezente Andeutungen von Grau. Gurman Singh überragte sie deutlich. Ein Mann mit breiten Schultern, üppigem Bart und blauem Turban. Er nickte ernst und streckte die Hand aus, als Harinder vor ihm stand. Kein Lächeln und keine Höflichkeitsphrasen. Jaspreet zog ihn in eine kurze Umarmung. Allein das verriet schon, wie sehr das Geschehen sie mitgenommen hatte.
Entgegen Harinders Rat hatten sie am Montag, nachdem Amandeep als vermisst gemeldet worden war, das erste Flugzeug nach Schottland genommen. Harinder war sich ziemlich sicher gewesen, dass hinter ihrem Verschwinden kein dramatisches Ereignis verborgen lag. So etwas kam nur selten vor. Als Kommissar in der taktischen Ermittlungsabteilung der Kripo konnte er das mit ziemlicher Sicherheit sagen.
Am Montagabend hatte ein junges Paar gerade seinen Hund ausgeführt, als sie die im Fluss treibende Gestalt entdeckten. Der Mann war geistesgegenwärtig in den kalten Fluss gesprungen und hatte sie an Land gezogen. Amandeep hatte leblos gewirkt, weshalb er sich darangemacht hatte, sie wiederzubeleben.
Hätte das Paar sie nicht gefunden, wäre Amandeep im Fluss womöglich weitergetrieben worden. Noch ein paar weitere Minuten in dem kalten Wasser, und sie wäre garantiert tot gewesen.
Zufälle, die einen Unterschied ausmachten. Harinder erlebte so etwas ständig bei seiner Arbeit.
»Kann ich sie sehen?«, fragte er.
Amandeep lag zur Beobachtung auf der Intensivstation. Harinder musste sich damit begnügen, sie durch eine Glasscheibe zu betrachten.
Sie war an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Nährflüssigkeit wurde ihr intravenös über einen Infusionsbeutel verabreicht, der neben dem Bett an einem Ständer hing. In einen Patientenkittel gekleidet, ruhte sie anscheinend friedlich auf dem Bett. Harinder sah Bewegung hinter ihren geschlossenen Augen. Ein Zeichen für Hirnaktivität, wie er wusste.
Zu diesem Zeitpunkt galt es, auf alles zu setzen, was positiv gedeutet werden konnte.
Wieso war sie Sonntagabend verschwunden? Wohin war sie gefahren und wo hatte sie sich in der Zwischenzeit aufgehalten, bis sie am Montag gefunden wurde? Die einzige Person, die diese Fragen vorläufig beantworten konnte, lag bewusstlos auf der anderen Seite der Glasscheibe.
Gesicht und Körper zeugten von der Gewalt, der sie offenbar ausgesetzt gewesen war. Harinder hatte sich den Bericht am Telefon vorlesen lassen. Schädelbruch. Kieferbruch. Rippen. Finger. Das Gesicht war mit Schwellungen und blauen Flecken überzogen. Die meisten Verletzungen konnten von einem Sturz aus großer Höhe herrühren, wie etwa von einer der Brücken über den Water of Leith, aber nicht alle. Oberhalb der Handgelenke hatte sie tiefe Hautverletzungen.
Ein Zeichen dafür, dass ihre Hände fest zusammengebunden worden waren.
Es war ein schmerzlicher Anblick, und Harinder spürte seinen Puls ansteigen. Er ballte die Hände zu Fäusten und versuchte, ruhig zu atmen. Er dachte an das aufgeweckte und altkluge Mädchen zurück, das neugierig auf alles war. An die Teenagerin, die so gern Babysitter für Savi spielte oder ihr bei den Hauaufgaben helfen wollte. An die junge Frau, die immer zur Stelle war, wenn jemand sie brauchte.
Und er spürte das schlechte Gewissen nagen, weil er sich selbst nicht so entgegenkommend verhalten hatte.
Er bedeutete ihr etwas, trotzdem hatte er sich nicht so um sie gekümmert, wie er es hätte tun sollen. Es hatte Verabredungen gegeben, die er nicht einhalten konnte, weil er plötzlich für eine Mordermittlung nach Bodø musste. Er hatte Telefongespräche mit ihr geführt, die er abkürzte, weil er sich inmitten von etwas befand, das er nicht abbrechen konnte oder wollte. Immer gab es einen Fall. Immer einen Ort, an den er reisen, eine Besprechung, an der er teilnehmen, einen Bericht, den er vollenden musste. Oder es gab ein Detail, das sich nicht aus seinen Gedanken vertreiben ließ. Das um seine Aufmerksamkeit buhlte und diese schließlich auf Kosten der Person auf sich zog, der er eigentlich hätte zuhören sollen.
»Sieh nur, was sie ihr angetan haben …«, sagte Jaspreet mit gebrochener Stimme. »Sieh, was sie unserer Ami angetan haben.«
Sie lehnte den Kopf an die Schulter ihres Mannes, der sie in seine Arme nahm. Harinder wollte etwas Tröstendes sagen, wusste aber, dass sich alles nur wie leeres Geschwätz anhören würde. Dass es nichts verändern könnte.
Jaspreet und Gurman hatten nach ihrer Ankunft in Schottland zweimal mit der Polizei gesprochen. Zum ersten Mal, als es sich »nur« um einen Vermisstenfall handelte, und dann ein weiteres Mal, nachdem Amandeep gefunden worden war.
Beim letzten Termin hatten sie mit einer Ermittlerin gesprochen, die laut Jaspreet sowohl professionell als auch sympathisch gewirkt hatte. Für den Fall, dass die beiden sie erreichen wollten, hatte sie ihre Karte hinterlassen. Diese trug das Logo der Police Scotland, wie es nun hieß, nachdem alle Polizeidistrikte des Landes zusammengelegt worden waren.
Detective Sergeant Roisin Lawson, West End Police Station.
Harinder fragte sich, wie wohl ihr Vorname ausgesprochen wurde. Aber das würde er sicher herausfinden, wenn er sich mit ihr unterhielt. Das gedachte er bald zu tun. Doch zunächst wollte er eine klare Abfolge der Ereignisse nachzeichnen. Er musste so viel wie möglich über Amandeeps Bewegungen vor ihrem Verschwinden herausfinden. Womit sie sich beschäftigt hatte und mit wem sie zusammen gewesen war. Denn falls sie nicht rein zufällig zum Opfer geworden war, könnten diese Informationen Aufschlüsse über ihr Verschwinden geben. Die Erklärungen für solche Verbrechen waren am häufigsten in den persönlichen Beziehungen zu finden.
Amandeep wohnte erst seit zwei Monaten in Edinburgh. Sie war Ende August in die Stadt gekommen, eine Woche vor Beginn des Semesters. Nach ein paar Wochen in einem Studentenwohnheim war sie in die Wohnung gezogen, die Riya Chaudry in Dean Village unterhielt. Der letzte Freitag war unterrichtsfrei gewesen. Gemeinsam mit ein paar Studienfreunden hatte Amandeep einen Ausflug in das schottische Hochland unternommen.
Laut Jaspreet waren Amandeep und ihre Mitbewohnerin gute Freundinnen geworden, allerdings war Riya nicht mit auf den Wochenendausflug gekommen. Sie waren zu sechst gewesen, drei Frauen und drei Männer. Jaspreet zeigte Harinder ein Foto, das Amandeep ihr von der Tour geschickt hatte. Sechs lächelnde und fröhliche junge Menschen in Wanderoutfit, die dicht nebeneinanderstanden, damit der Fotograf ganz links alle mit auf das Selfie bekam.
Harinders Nichte war Nummer drei von links, zwischen einer Frau mit Rastazöpfen und einem Mann mit kahl geschorenem Kopf und John-Lennon-Brille.
Die beiden waren die Einzigen aus der Truppe, die Jaspreet namentlich kannte. Amandeep hatte sie ein paarmal erwähnt, während sie mit ihrer Mutter telefonierte. Samantha Henderson und Ian Burchill waren auch diejenigen, die Amandeep nach dem Ausflug nach Hause gefahren hatten. Sie behaupteten, sie gegen zehn am Sonntagabend direkt vor der Haustür abgesetzt zu haben.
»Direkt vor der Haustür, das heißt …«
»Sie haben gesagt, sie hätten genau vor dem Eingang gehalten.«
»Aber haben sie gesehen, dass Amandeep ins Haus gegangen ist?«
Jaspreet nahm sich lange Bedenkzeit für die Beantwortung der Frage, schüttelte aber schließlich den Kopf. Harinder vermutete, es sollte bedeuten, dass sie es nicht wusste.
Der Punkt war jedoch wichtig. Amandeep hatte einen Schlafsack und einen Rucksack mitgenommen, aber nichts davon war in ihrer Wohnung gefunden worden. Es sollte vermutlich nicht mehr als eine Minute gedauert haben, vom Wagen der Freunde zur Haustür und dann die Treppe zu der Wohnung hinaufzugehen.
Weshalb also hatte sie das nicht getan?
Was war im Laufe dieser Minute geschehen, was hatte sie von ihrem Kurs abgebracht?
»Kann sie vielleicht beschlossen haben, irgend woanders hinzufahren?«, fragte Harinder.
»Und wohin?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht zu einer anderen Freundin? Oder zu einem Geliebten, von dem die anderen nichts wissen sollten?«
Jaspreet und Gurman schüttelten entschieden den Kopf.
»Es gibt keinen Geliebten«, sagte Gurman.
»Jedenfalls nicht, soweit wir wissen«, ergänzte Jaspreet. »Riya sagt das Gleiche. Sie ist seit der Trennung von Vijay vor ein paar Monaten mit niemandem zusammen gewesen … Erinnerst du dich an Vijay?«
Harinder nickte. Amandeep war mit einem Medizinstudenten namens Vijay Sharma liiert gewesen. Sogar von Heirat hatten sie gesprochen, ehe das Ganze vor etwa einem halben Jahr in die Brüche gegangen war.
»Eine schmerzliche Trennung«, sagte Jaspreet. »Ich glaube sogar, das war einer der Gründe, warum sie im Ausland studieren wollte.«
»Wirklich schade. Er war ein guter Kerl«, sagte Gurman.
Ganz zu schweigen davon, dass er Arzt ist, dachte Harinder. Denn wenn es etwas gab, das Inder gern in der Familie hatten, so waren das Ärzte. Und Jaspreet hatte mehrmals ihrem Wunsch Ausdruck verliehen, dass Amandeep Medizin studieren sollte, obwohl sie niemals das geringste Interesse dafür gezeigt hatte. Einen Arzt zu heiraten, war demnach vermutlich das Zweitbeste.
Als Einzelkind musste sie die Last der Erwartungen ihrer Eltern ganz allein tragen.
Dass weder die Eltern noch die Mitbewohnerin etwas von einem neuen Typen wussten, bedeutete allerdings nicht, dass es ihn nicht gab. Harinder machte sich Notizen, wollte das später genauer untersuchen.
Er betrachtete das Foto, das Amandeep von ihrem Ausflug geschickt hatte.
Darauf war es später Samstagnachmittag, ein Tag vor der Rückkehr nach Edinburgh. Sie lächelte breit in die Kamera. Hatte die Arme um zwei ihrer Freunde geschlungen. Ihre braunen Augen leuchteten vor echter Freude. Harinder erinnerte sich, wie selten ein solches Lächeln von ihr zu bekommen war. Die meiste Zeit war sie ernster Stimmung. Aber dort, genau in diesem Moment, sah sie glücklich aus.
Sechs junge Menschen. Drei Frauen und drei Männer. Zwei davon waren ein Paar, Henderson und Burchill. War es vielleicht gar nicht so undenkbar, dass es sich bei den übrigen ebenso verhielt?
Harinder fiel auf, dass Amandeep die Einzige in der Gruppe mit asiatischer Herkunft war.
Er fragte sich, ob seine Schwester den Umgang Amandeeps eigentlich guthieß. Sie und ihr Mann waren traditionelle Sikhs. Sie besuchten den Gurdwara in Alnabru und hatten ihre Tochter nach traditionellen indischen Werten erzogen. Eines der vielen Dinge, die den Abstand zu Harinders Vater Kanvar und seiner norwegischen Familie verdeutlichten.
Dean Village. Knappe fünf Autominuten von der geschäftigen Princes Street entfernt war der Großstadtlärm mit einem Mal verschwunden. Amandeep wohnte in einer ruhigen Straße mit großen Gärten und flachen Häusern, die fast allesamt die gleiche sandfarbene Fassade aufwiesen.
Harinder blieb vor der Belford Road 54 stehen. Zog einen Stadtplan hervor, den er am Flughafen erstanden hatte. Er konnte zwar mithilfe von Google Maps und seinem eigenen Orientierungsvermögen durch die Stadt navigieren, wollte aber die für die Ermittlung relevanten Orte graphisch hervorheben und das Ganze schwarz auf weiß vor sich haben. Amandeeps Adresse wurde mit dem ersten Kugelschreiberkreuz versehen.
Wie er feststellte, floss der Water of Leith ganz in der Nähe. Der Fluss schlängelte sich von Ost nach West durch die ganze Stadt. Leith hingegen, der Ort, an dem Amandeep gefunden worden war, lag auf der entgegengesetzten Seite.
Wie alle britischen Städte war auch Edinburgh voller Überwachungskameras. Allerdings deckten sie nicht jeden Quadratmeter der Stadt ab, wenngleich die Behörden den Eindruck erweckten, genau das tun zu wollen.
Musste man früher einen Handlungsverlauf durch Zeugenaussagen und die Sichtung von Beweismitteln rekonstruieren, war es inzwischen genauso gewöhnlich, den Hergang des Geschehens auf einem Bildschirm serviert zu bekommen. Immer mehr von diesen Wanzen tauchten in den großen Städten auf.
In diesem Fall jedoch entdeckte Harinder keine einzige Kamera in unmittelbarer Nähe.
Riya Chaudry ließ ihn via Gegensprechanlage ein. Sie wartete an der Tür, als er in die zweite Etage hinaufkam. Schnell registrierte er, dass sie und Amandeep in etwa gleich alt waren und sich ähnelten. Allerdings hatte Riya längeres Haar und benutzte mehr Make‑up, wodurch sie etwas hellhäutiger wirkte.
Nervös spielte sie mit ihren Fingern, während sie ihn fragte, ob er Tee oder Kaffee wolle. Er lehnte dankend ab und ließ den Blick durch die Wohnung schweifen. Sie war hell und geräumig, mit zwei Schlafzimmern und schöner Aussicht auf den Vorort und den Fluss. Wenn Riya Eigentümerin der Wohnung war, bedeutete dies, dass sie oder ihre Eltern viel Geld hatten.
Ein Bild, das einen prominenten Platz auf dem Regal einnahm, verstärkte diesen Eindruck. Es zeigte Riya zusammen mit einem älteren Paar, bei denen es sich vermutlich um ihre Eltern handelte, und zwei jungen Männern, die wahrscheinlich ihre Brüder waren. Alle waren tadellos gekleidet und posierten lächelnd in einem sonnenbeschienenen Garten hinter einer herrschaftlichen Villa.
»Ich bin froh, dass Sie hier sind«, sagte Riya. »Amanda hat mir erzählt, dass sie einen Onkel hat, der bei er Polizei ist. Sie war so stolz auf Sie. Hat gesagt, dass Sie nach einem großen Fall vor einem Jahr in den Nachrichten gewesen sind. Stimmt es, dass Sie einen Serienmörder gefasst haben?«
Serienmörder wäre etwas zu viel gewesen, jedenfalls klinisch betrachtet, aber Harinder nickte nur kurz. Es lag anderthalb Jahre zurück. Der Fall hatte zu einem Wiedersehen mit der Kleinstadt in Østerdalen geführt, in der er aufgewachsen war. Und hätte ihn fast ein Bein gekostet, nachdem ihm ins Knie geschossen worden war. Noch immer war es nicht ganz in Ordnung.
Sie nahmen auf der weißen Sofagruppe Platz. Riya trank aus einer Dose Red Bull. Angesichts ihrer Anspannung war das wohl kaum etwas, das sie brauchte, dachte Harinder.
»Ich bin so verzweifelt und begreife einfach nicht, was passiert sein kann«, sagte sie. »Die Wohnung war leer, als ich am Sonntagabend nach Hause gekommen bin, und ich wusste ja, dass Amanda vor mir hier sein sollte. Als sie am Montagmorgen immer noch nicht aufgetaucht war, begriff ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie ist einfach nicht der Typ, der auf diese Weise verschwindet. Sie ist immer so verlässlich. Sie liebt ihre Gewohnheiten, verstehen Sie? Steht jeden Morgen früh auf und geht immer zur gleichen Zeit zum Training.«
Harinder nickte. »Sie nennen sie Amanda?«
»Alle hier nennen sie so«, erwiderte Riya.
»Kannten Sie einander, bevor sie eingezogen ist?«
Riya schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe eine Anzeige aufgegeben, um das zweite Schlafzimmer zu vermieten, und Amanda war eine von denen, die darauf geantwortet haben. Ich bin von den Einnahmen nicht abhängig, weil mein Vater die Wohnung besitzt, aber ich finde es langweilig, allein zu wohnen. Sie und ich haben uns sofort gut verstanden. Zwei indische Mädchen in Edinburgh. Wir mögen dieselben Sachen und können einander Klamotten und so was ausleihen. Wir können über alles reden. Wenngleich ich wohl etwas zu viel quatsche und sie besser zuhören kann.«
Harinder lächelte. »Sie war am Wochenende auf einer Wanderung«, sagte er. »Kennen Sie jemanden von denen, die dabei waren?«
»Ja, die sind alle an der Uni. Sam, beziehungsweise Samantha, ist eine enge Freundin von uns beiden.«
»Aber Sie sind nicht mit auf den Ausflug gegangen?«
»Nein«, sagte Riya und schüttelte den Kopf. »Ich musste nach Hause, nach Aberdeen. Da wohnt meine Familie. Mein Vater hatte Geburtstag, und am Samstag hatten wir eine Familienfeier.«
»Wann sind Sie zurückgekommen?«
»Sonntagnachmittag bin ich in den Zug gestiegen. Ich war etwa um 22:30 Uhr in Waverley.«
»Sie waren nicht zu Hause, als Samantha und Ian Amandeep vor der Tür abgesetzt haben, aber Sie sagen, Sie hätten damit gerechnet, dass sie vor Ihnen zu Hause wäre. Ist das richtig?«
»Ja. Wir haben uns von unterwegs Nachrichten geschickt. Mein Zug hatte Verspätung, und da schrieb sie mir, dass sie wahrscheinlich vor mir zurück sein würde. Deshalb war ich ja so erstaunt, dass niemand da war. Ich habe sie sogar angerufen, um zu hören, wo sie bleibt, aber sie ist nicht ans Telefon gegangen. Und dann habe ich Sam angerufen, und … nun, sie war überrascht und sagte, sie und Ian hätten sie vor über einer halben Stunde abgesetzt.«
Riyas Augen wurden feucht.
Harinder nahm sein Handy und zeigte ihr die Fotos von der Wanderung, die Jaspreet an ihn weitergeleitet hatte.
»Können Sie mir bitte die Namen und Telefonnummern von Amandeeps Freunden aufschreiben?«
Die Polizei hatte diese Informationen garantiert schon, aber Harinder war nicht sicher, ob sie die mit ihm teilen würde. Die Personen auf dem Foto gehörten zu den Letzten, die Amandeep vor ihrem Verschwinden gesehen hatten, und galten somit als Zeugen. Womöglich sogar als Personen von Interesse für die Ermittlungen.
Dass Amandeep mit dem Wagen nach Hause gebracht worden war, beruhte vorläufig nur auf der Aussage der beiden Freunde.
Riya schniefte, nickte kurz und stand auf, um Papier und Stift zu holen. Sie schrieb fünf Namen und fünf Telefonnummern auf einen Zettel.
»Ist hier jemand dabei, auf den Amandeep vielleicht ein Auge geworfen hat, oder umgekehrt?«, fragte Harinder.
Riya gestattete sich ein Lächeln, ehe sie auf den Mann mit den feinen blonden Haaren zeigte.
»Stuart mag sie. Das ist ganz offensichtlich, und er ist süß. Amanda mag ihn auch, glaube ich, aber sie ist vorsichtig, wenn es um Jungs geht. Eine neue Beziehung ist wohl das Letzte, was sie sich derzeit vorstellen kann, nach all dem, was sie mit ihrem Ex erlebt hat. Sie wissen sicher, wovon ich rede.«
Harinder hatte keine Ahnung. Er wusste nur, was seine Schwester gesagt hatte: dass die Trennung von Vijay Sharma schmerzhaft gewesen sei.
»Was hat sie Ihnen denn davon erzählt?«
»Dass es ein schwieriges Verhältnis war. Sie war froh, dass es zu Ende war. Was sie von ihm erzählt hat, klang nicht gerade sympathisch.«
»Inwiefern?«
»Das war nicht ihr Lieblingsthema, um es milde auszudrücken, jedenfalls hat sie gesagt, dass man ihm nicht vertrauen könnte. Dass er manipulierend war und die Kontrolle haben wollte. Und dass er ein bisschen zu sehr an Alkohol und Drogen interessiert war. Ich weiß nicht, ob er direkt gewalttätig gewesen ist, aber es war klar, dass Dinge passiert sind, die nicht in Ordnung waren.«
Harinder beschloss, zu Fuß zurück ins Zentrum zu gehen. Während er der Straße zu der hohen Brücke folgte, die er zuvor mit dem Taxi passiert hatte, nahm er die Visitenkarte der schottischen Polizeibeamtin hervor. Roisin Lawson war Detective Sergeant, was bedeutete, dass sie die Ermittlungen vermutlich nicht allein leitete.
»Lawson«, meldete sie sich knapp, als er sie anrief. Leider keine Chance, herauszufinden, wie ihr Vorname ausgesprochen wurde.
»DS Lawson, hier ist Harinder Singh von der Kripo in Norwegen«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob Sie davon unterrichtet wurden, dass ich in Edinburgh …«
»Wir wurden gewarnt, ja«, erwiderte Lawson. Ihre Wortwahl verriet, dass sie gut im Bilde war und anscheinend Sinn für Humor hatte. »Ich habe das aber so verstanden, dass Sie in erster Linie als Privatperson hier sind, und unsere Kontaktperson bei der Kripo noch immer Chief Inspector Lundberg ist?«
»Das stimmt«, sagte Harinder, dem es schwerfiel, ihren starken Akzent zu verstehen. »Dennoch hoffe ich, dass wir uns unterhalten können. Ich war gerade eben in Amandeeps Wohnung und habe mit ihrer Mitbewohnerin gesprochen.«
»Ich verstehe. Und wo sind Sie jetzt?«
»Auf dem Weg zurück ins Zentrum.«
»Meine Schicht ist seit zwei Stunden beendet. Wir können uns gern irgendwo treffen, wenn Sie möchten.«
»Am liebsten da, wo man etwas essen kann«, sagte Harinder.
Lawson schlug Stockbridge Tap am Raeburn Place vor. Das liege näher an seinem Standort als an ihrer Wohnung, aber sie könne in einer halben Stunde dort sein.
Harinder fand die Adresse bei Google Maps. Nachdem er die hohe Steinbrücke über Dean Village überquert und sich durch ein paar steile Seitenstraßen mit Kopfsteinpflaster gekämpft hatte, stand er schließlich vor dem Pub. Das Lokal wirkte größer, als von außen betrachtet, und war sehr gut besucht. Viele Menschen standen an der Bar. Zwei Gäste brachen gerade auf, so dass Harinder einen Tisch am Fenster ergattern konnte. Direkt vor der Nase zweier junger Männer, die etwas verschnupft reagierten.
Er studierte die Speisekarte, während er auf das Eintreffen von DS Lawson wartete. Sein Magen knurrte, dennoch wollte er mit der Bestellung warten, für den Fall, dass sie ebenfalls etwas essen wollte.
Zehn Minuten später tauchte Lawson auf. Er erkannte sie auf die gleiche Weise, wie sie vermutlich auch ihn erkannte: Es war nie schwierig, einen Bullen ausfindig zu machen, besonders, wenn sich der oder die Betreffende allein in einem großen Lokal befand. Etwas lag in dem Blick, der Art, wie alle Winkel in einem Raum schnell und methodisch abgescannt wurden.
Sie schien Anfang dreißig zu sein. Aschblondes Haar, das ihr in den Nacken fiel. Ernster Blick und verkniffener Mund. Ihr leicht mit Sommersprossen bedecktes Gesicht war ungeschminkt. Sie trug eine lange Lederjacke und Jeans und wirkte erfrischend unprätentiös.
Lawson nickte ihm kurz zu und ergriff seine ausgestreckte Hand. Schüttelte den Kopf, als er fragte, ob sie auch etwas essen wolle, entschied sich aber für einen halben Pint Best. Harinder bestellte für sie beide, obwohl er nicht genau wusste, was Best eigentlich war. Ein Biertrinker war er nie gewesen. Zum Essen nahm er einen Burger mit Hirschfleisch.
»Danke«, sagte Lawson, als er das Glas vor ihr abstellte. »Sie sind der Onkel von Miss Kaur, nicht?«
Er nickte.
»Stehen Sie einander nahe?«
»Wir sehen uns nicht so häufig, leider, aber Amandeep weiß, dass sie sich auf mich verlassen kann, wenn es nötig ist. Familie ist … tja, manchmal etwas kompliziert.«
Lawson setzte ein schiefes Grinsen auf.
»Sind Sie schon mal in Edinburgh gewesen?«
»Zweimal«, sagte er. »Ein Wochenendtrip vor ein paar Jahren und ein Seminar in Verbindung mit meiner Arbeit. Vor dem Seminar hatte ich einen Polizisten von hier kennengelernt. Wir haben gemeinsam an einem Kurs teilgenommen, der von Interpol durchgeführt wurde. Aber ich weiß nicht, ob er immer noch im Dienst ist.«
»Wie heißt er?«
»James Riddle.«
Lawsons Gesichtsausdruck verriet, dass sie den Namen kannte. »Mein alter Chef. Er ist inzwischen pensioniert.«
»Interessanter Typ«, meinte Harinder.
»Eine absolute Nervensäge – in der ganzen Polizeibehörde berüchtigt«, sagte sie. »Und selbst auf die Gefahr hin, unhöflich zu sein, muss ich sicher sein, dass Sie nicht auch eine Nervensäge sind. Sie begreifen doch, welche Rolle Sie in diesem Fall einnehmen, nicht wahr?«
»Überhaupt keine«, sagte Harinder.
»Genau.« Lawson nickte bestätigend. »Mein Chef möchte, dass das glasklar ist. An guten Tagen kann DCI Millar ein netter Kerl sein, aber unangebrachte Einmischung wird er keineswegs dulden.«
»Aber es ist doch in Ordnung, wenn ich mit Leuten rede, oder? Leute, die Amandeep kennen und in letzter Zeit Kontakt mit ihr hatten?«
»Sie haben bereits mit der Mitbewohnerin geredet, und das ist schon in Ordnung, aber am liebsten hätten wir, dass Sie mich fragen, wenn Sie etwas wissen möchten. So weit wie möglich werden wir die Informationen mit Ihnen teilen. Sie sind ein Angehöriger in diesem Fall, aber Sie sind auch ein Kollege, insofern sind wir großzügig.«
»Das freut mich zu hören.«
»Pissen Sie uns nur nicht auf den Teppich.«
Harinder nickte. Eine klare Ansage.
Ein saftiger Burger wurde gebracht, mit frischen Zutaten. Die Pommes waren selbst gemacht und knusprig.
»Können Sie mir verraten, wie der Status quo ist?«, fragte er.
»Stand der Dinge ist, dass wir breite Ermittlungen durchführen«, sagte Lawson. »Wir überprüfen die Überwachungskameras in der Nähe und haben schon mit Zeugenvernehmungen begonnen. Dabei denke ich besonders an die fünf Personen, mit denen Ihre Nichte das Wochenende verbracht hat. Anscheinend kann niemand von denen uns dabei helfen, zu verstehen, was sich zugetragen hat. Sie alle beteuern, dass es ein phantastischer Ausflug war und dass Miss Kaur sich gut amüsiert hat. Niemand hat etwas Gegenteiliges geäußert.«
»Was ist mit den beiden, die sie nach Hause gefahren haben, Henderson und Burchill?«
»Was soll mit denen sein?«
»Wirkt ihre Geschichte glaubwürdig?«
Er nahm einen Bissen vom Burger, während Lawson ihn musterte.
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte sie. »Die beiden sind die Letzten, die Amandeep Kaur vor ihrem Verschwinden gesehen haben. Sie behaupten, sie hätten sie am Sonntagabend gegen zehn nach Hause gebracht, doch Sie, Mr Singh, spekulieren, dass das vielleicht gar nicht der Fall war. Dass etwas während des Ausflugs oder auf der Rückreise passiert ist.«
»Das ist doch kein abwegiger Gedanke?«
»Nein, ich hatte den gleichen Gedanken. Aber die Geschichte der beiden ist tatsächlich glaubwürdig«, sagte Lawson. »Ich habe mit ihnen gesprochen, an ihren Aussagen ist nichts, was mir komisch vorkam. Wir haben sechs Personen in zwei Autos, die gleichzeitig von Fort William losgefahren und einander bis in die Stadt hinein gefolgt sind. Henderson und Burchill haben Miss Kaur nach Hause gebracht und sind dann weiter nach Balgreen gefahren, um den Wagen bei Burchills Bruder abzuliefern. Sie hatten ihn sich anlässlich des Ausflugs von ihm ausgeliehen. Wir haben mit dem Bruder noch nicht gesprochen, aber er kann bestimmt sagen, um welche Zeit die beiden bei ihm eingetroffen sind.«
»Ich würde mir das auf jeden Fall bestätigen lassen. Wenn auch nur, um sie als Tatverdächtige auszuschließen«, sagte Harinder.
»Danke, darauf wäre ich von allein nie gekommen.«
Harinder schenkte ihr ein versöhnliches Lächeln.
»Das Problem ist eher diese eine Minute, die man braucht, um vom Wagen die Treppe hinauf und in die Wohnung zu gelangen«, sagte er. »Sie war auf einem längeren Wochenendausflug, ist ganz bestimmt erschöpft und schleppt schweres Gepäck mit sich herum. Hätte sie geplant, gleich nach ihrer Rückkehr woanders hinzufahren, wäre sie doch trotzdem in die Wohnung hinaufgegangen, um die Sachen abzulegen, die sie nicht brauchte. Vielleicht auch, um sich umzuziehen. Aber wieso hat sie das nicht getan? Gehen wir mal davon aus, dass sie geheime Pläne hatte und sich Riya gegenüber nicht erklären wollte. Aber Riya war nicht zu Hause, und Amandeep wusste das, weil sie sich unterwegs Nachrichten geschrieben haben.«
Lawson dachte nach und nickte schließlich. »Okay. Und was ist Ihrer Ansicht nach passiert?«
»Etwas oder jemand hat Amandeep an jenem Abend daran gehindert, in die Wohnung hinaufzugehen«, sagte er. »Und wenn es nicht die beiden Freunde waren, wer oder was könnte es dann gewesen sein?«
Weder Harinder noch Lawson hatten eine Antwort auf diese Frage. Eine Weile saßen sie nur da und schwiegen. Harinder aß seinen Burger auf und nahm einen großen Schluck von dem Bier, das vollmundig und auf die richtige Art bitter schmeckte. Fast eine Mahlzeit für sich. Das ganze Glas würde er wohl kaum leeren können.
»Sie war gefesselt«, sagte er.
Lawson nickte. »Vermutlich hatte sie für längere Zeit die Hände auf dem Rücken gefesselt, nach den Verletzungsspuren zu urteilen.«
»Aber als sie im Fluss gefunden wurde, war sie nicht gefesselt?«
»Nein.«
»War sie bekleidet?«
»Abgesehen von der roten Jacke und den Schuhen trug sie dasselbe Outfit, in dem sie zuletzt gesehen wurde«, sagte Lawson.
»Es gibt also keinen Hinweis auf einen sexuellen Hintergrund?«
»Sie wurde nicht vergewaltigt, wenn es das ist, was Sie meinen«, erwiderte Lawson.
Immerhin ein kleiner Trost, dachte Harinder.
Plötzlich fiel ihm wieder der Anruf ein, der ihn an jenem Morgen vor acht Jahren geweckt hatte:
Onkel Hari, kannst du mir helfen? … Ich bin in der Notaufnahme … Bitte ruf nicht meine Eltern an.
Er schüttelte die bösen Erinnerungen ab und richtete den Blick wieder auf Lawson.
»Können Sie mir zeigen, wo sie gefunden wurde?«
Lawson hatte keine Argumente, ihm den Fundort nicht zu zeigen, wirkte allerdings nicht sonderlich begeistert von dem Vorschlag. Vielleicht dachte sie, dass er sich schon viel zu sehr in die Ermittlungen einmischte. Aber es half nichts. Er wollte den Ort sehen, um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen.
Sie fuhren in ihrem silbergrauen Vauxhall, was eigentlich nur die britische Bezeichnung für einen Opel ist. Sie passierten den Bahnhof und das Luxushotel Balmoral, ehe sie in den Leith Walk einbogen. Lawson erklärte, die Straße führe hinunter nach Leith, dem Hafengebiet von Edinburgh. Einige der Viertel um den Hafen konnten recht rau sein. Viel Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Touristen kamen nach Leith, um die königliche Yacht »Britannia« zu bestaunen, wurden aber meist mit dem Bus herumgefahren. Von der Idee, die Gegend auf eigene Faust zu durchstreifen, wurde abgeraten.
Harinder fiel auf, dass die Umgebung nach und nach immer weniger touristenfreundlich wurde. Schäbige Ziegelsteinbauten mit der Ladenkette Poundland oder einer Dönerbude im Erdgeschoss. Hochhäuser. Graffiti an den Wänden. Reihenhäuser, vor deren Fenstern die Wäsche getrocknet wurde.
Lawson verließ die Hauptstraße und fuhr an einem Park entlang, ehe sie in eine schmale Einbahnstraße mit Gewerbelokalen auf beiden Seiten einbog. Sie hielten neben einem Gebäude aus rotem Backstein, wo auf Schildern Büroräume zur Miete angeboten wurden. Gleich vor ihnen floss der Water of Leith unter einer kleinen Brücke hindurch.
Auf der anderen Seite des Ufers lagen ein paar alte und verfallene Lagerhäuser. Einige davon mit verrostetem Blechdach und Holzbrettern, die vor die zerbrochenen Fenster genagelt worden waren.
Eine kleine Grünanlage zog sich zum Fluss hinunter, doch weder von der Straße noch von der Brücke gingen Treppen dorthin. Nur ein asphaltierter Gehsteig führte hoch über dem Wasser an der einen Uferseite entlang. Die Brücke war auf beiden Seiten eingezäunt. Zum Wasser waren es nicht mehr als zwei oder drei Meter, aber das war hoch genug, um sich zu verletzen, wenn man dort hinunterfiel.
Lawson führte Harinder zu dem Gehsteig, deutete auf den Fluss und einen großen offenen Bereich auf der anderen Uferseite.
»Dort drüben sind Paul McKinnon und Lisa George gewesen, als sie Miss Kaur im Wasser entdeckt haben«, sagte sie. »Der Fluss kann auf diesem Teilstück ziemlich seicht sein. Die Strömung ist nicht stark. Die beiden haben gesagt, sie sei langsam flussabwärts getrieben. Sie kann nicht lange im Wasser gelegen haben. Wir versuchen schon, herauszufinden, wo genau sie hineingefallen ist. Sie war bewusstlos, und die Theorie lautet, dass sie hart aufgeprallt ist, als sie ins Wasser sprang oder hineingestoßen wurde. Um das Bewusstsein zu verlieren, muss der Sturz aus einer gewissen Höhe erfolgt sein.
»Wie von dem Gehsteig«, mutmaßte Harinder.
»Genau. Oder von der Brücke.«
Harinder ging zurück auf die Straße und betrachtete die Umgebung erneut. In der Nähe gab es keine sichtbaren Überwachungskameras. Er sah weitläufige Grundstücke, von denen einige anscheinend unbebaut waren. Es war früher Abend, kaum ein Mensch war zu sehen.
Er zog seinen Stadtplan hervor und markierte den Fundort mit dem Kugelschreiber. Zwei Kreuze bis jetzt. Eines weit im Westen, das andere im Osten, mit dem Water of Leith als Verbindungslinie. Doch das war vermutlich nur Zufall.
Kein Zufall war allerdings, dass seine Nichte genau hier gefunden worden war.
Mittwoch, 23. Oktober
Das Frühstück im Hotel wurde ab sieben Uhr serviert. Harinder saß schon um Viertel vor im Restaurant. Sein Appetit war nicht sehr groß, doch er nahm zwei Eier und schenkte sich Kaffee ein.
In der Nacht hatte er nicht viel geschlafen. Die Gedanken hatten sich in seinem Kopf gedreht. Nicht gerade hilfreich war zudem, dass sich sein rechtes Knie wieder gemeldet hatte. Die Schmerzen kamen genauso zuverlässig wie eine hohe Stromrechnung in einem trockenen, kalten Wintermonat.