Glut - Sven Petter Naess - E-Book
SONDERANGEBOT

Glut E-Book

Sven Petter Naess

0,0
9,99 €
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Blutige Karwoche in Norwegen.

Als ein junger Mann in Elvestad erstochen wird, ist Harinder Singh von der Kripo Oslo alles andere als begeistert, in seine alte Heimat berufen zu werden. Doch nicht nur der Mordfall und seine Vergangenheit warten in der Provinz auf ihn, nur wenige Tage vor Ostern brennt zudem die Kirche samt Pfarrer Ramsberg nieder. Harinder sucht gemeinsam mit seiner Kollegin Rachel Hauge nach einer möglichen Verbindung. Doch in Elvestad, so viel wird schnell klar, haben viele etwas zu verheimlichen, und nicht jeder wünscht, dass die Wahrheit ans Licht kommt ...

»In Sachen Schreibtalent steht Næss dem norwegischen King of Crime Jo Nesbø in nichts nach.« VG.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 500

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Über das Buch

Als der 20-jährige Sohn der Millionärsfamilie Davidsen in der norwegischen Kleinstadt Elvestad erstochen wird, kehrt Kriminalkommissar Harinder Singh nur widerwillig in seine alte Heimat zurück. Am liebsten würde er sich nicht einmal ein Hotelzimmer im Ort nehmen, doch um den Fall Axel Davidsen zu lösen, fehlt ausgerechnet die Schlüsselzeugin. Thea Krog ist wie vom Erdboden verschluckt. Als dann auch noch die Kirche samt Pfarrer Kalle Ramsberg niederbrennt und alles auf vorsätzlichen Mord hindeutet, sucht Harinder gemeinsam mit Kollegin Rachel Hauge nach einer möglichen Verbindung zwischen den beiden Fällen. Rachel glaubt diese zu finden, als sie eine junge schwedische Polizistin kennenlernt. Lisa Toivonen untersucht das Verschwinden ihrer Cousine Carina – und die letzten zwei Personen, die das Mädchen gesehen haben, waren Axel Davidsen und Kalle Ramsberg.

Über Sven Petter Naess

Sven Petter Næss, 1973 geboren, wuchs in Oslo auf. Er arbeitet mit Informations- und Kommunikationstechnologien im universitären Sektor. Seit 2019 schreibt er zudem erfolgreich Kriminalromane. Der zweite Band seiner Reihe rund um Kripo-Oslo-Ermittler Harinder Singh erhielt 2020 die Auszeichnung für den besten Krimi Norwegens. »Glut« ist sein erster Roman im Aufbau Taschenbuch. 

Andreas Brunstermann übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Norwegischen und Englischen. Er hat unter anderem Trude Teige, Roy Jacobsen, Jan-Erik Fjell und Jørn Lier Horst ins Deutsche übertragen. Er lebt in Berlin.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlage.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Sven Petter Naess

Glut

Kriminalroman

Aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Kapitel 1 — 20 Monate später Palmsonntag, 25. März

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

September 1996

Kapitel 9 — Montag, 26. März

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12 — Dienstag, 27. März

Kapitel 13

Kapitel 14 — 6. Juli 2016

Kapitel 15 — Dienstag, 27. März

Kapitel 16 — Mittwoch, 28. März

Kapitel 17 — September 1996

Kapitel 18 — Gründonnerstag, 29. März

Kapitel 19

Kapitel 20 — Karfreitag, 30. März

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24 — Ostersonntag, 1. April

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30 — 6. Juli 2016

Kapitel 31 — Ostermontag, 2. April

Kapitel 32

Kapitel 33 — Dienstag, 3. April

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36 — 6. Juli 2016

Kapitel 37 — Dienstag, 3. April

Samstag, 24. März

Kapitel 38 — Mittwoch, 4. April

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41 — Donnerstag, 5. April

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46 — 8. Juli 2016

Kapitel 47 — Donnerstag, 5. April

Kapitel 48

8. Juli 2016

Kapitel 49 — Donnerstag, 5. April

Kapitel 50

Kapitel 51 — Freitag, 6. April

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Sonntag, 25. März

Kapitel 64

Kapitel 65

Epilog — September

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

Prolog

Carina konnte durch einen kleinen Riss in der Kunststoffplane, die sie eng umschloss, in die Dunkelheit hinaussehen, doch die Orientierung fiel ihr schwer. Sie sah ein paar Bäume, roch Gras und Erde und spürte die frische Abendluft. Sie begriff, dass sie nicht mehr in dem schrecklichen Keller eingesperrt war. Die neue Umgebung war allerdings nicht viel besser. Die Unterlage fühlte sich kalt und hart an. Ihr nackter Körper zitterte vor Kälte. Sie kam sich völlig zerschunden vor. Knochen und Gelenke schmerzten. Getrocknetes und teilweise geronnenes Blut klebte an der Folie.

Ihr Blick fiel auf eine Plastiktüte, die jemand anscheinend achtlos weggeworfen hatte, ohne sie vorher zuzuknoten. Der Inhalt ragte halbwegs daraus hervor. Sie sah ihre weiße Sommerbluse mit Rosenmuster, die zusammengeknüllt zwischen blutigen Fetzen lag.

In der Nähe ertönten gedämpfte Stimmen in ruhiger Unterhaltung, als sei es ein ganz gewöhnlicher Abend. Carina erkannte eine der Stimmen wieder. Nach allem, was dieser Mann ihr angetan hatte, klang sie in ihren Ohren wie der Schrei einer Krähe.

Ich habe dir vertraut, dachte sie. Du solltest mein sicherer Hafen sein. Doch anstatt mich zu bergen, hast du meinen Kopf unter Wasser gedrückt.

Ein Geräusch von Metall, das in Erde stieß, durchbohrte die Nacht. Zwei Spaten, die ein Loch gruben. Carina begann zu ahnen, was vor sich ging. Sie hatten sie aufgehängt, an Ketten und Haken, wie ein Stück Fleisch. Hatten unaussprechliche, grausame Dinge getan. Jetzt, nachdem sie sich bedient hatten, würden sie ihren Körper entsorgen wie Restabfall. Genauso unbedeutend wie die Tüte mit der Kleidung und den blutigen Fetzen.

Wie ungerecht.

Wie konnte das hier schon das Ende sein? Sie war erst 18. Noch nicht mal fertig mit der Schule. Und sie hatte viele Pläne. Sie träumte von einer Gesangsausbildung an einem anerkannten Konservatorium. Träumte davon, ihren Lebensunterhalt mit Singen zu verdienen. Vielleicht würde sie sogar Vegar heiraten, sofern ihre Beziehung das letzte Schuljahr und die darauffolgenden Veränderungen überlebte. Er war ein guter Kerl, sie liebten sich, aber sie war auch nicht naiv, was diese Dinge betraf. Menschen verändern sich und entgleiten einander. Es war nicht sicher, dass sie ein Paar bleiben würden. Allerdings hoffte sie es.

Seltsam.

Eigentlich hatte sie nie viel darüber nachgedacht, was das Ende wohl bedeuten mochte. Jede Anwandlung von Reflektion wurde rasch von ihrem Glauben beiseitegeschoben. Die Heilige Schrift versichert uns, dass das Ende des irdischen Lebens nur der Anfang von etwas Neuem und Wunderbarem ist. Der Glaube war ein wichtiger Teil ihres Lebens, genauso wie die Musik, wie Freunde und Familie. Er erfüllte ihr Herz mit Liebe und gab ihr Kraft und Trost in schweren Stunden.

Doch wieso konnte sie ihn jetzt nicht finden? Wo war der Glaube nun, da sie ihn mehr als je zuvor brauchte? Verzweifelt wurde ihr bewusst, dass sie ihn verloren hatte. Nein, nicht verloren. Sie hatten ihn ihr genommen. Genauso genommen wie alles andere, an dem sie sich gierig bedient hatten. Niemals würde sie ihnen vergeben können. Schmerzen und Erniedrigungen waren nichts im Vergleich zu dem kalten Hohlraum in ihrer Seele, wo früher Glaube und Hoffnung gewohnt hatten.

Das Ende kam näher, doch nicht einmal die Hoffnung, dass etwas Besseres auf der anderen Seite auf sie wartete, konnte sie auf die Begegnung vorbereiten. Sie sah nur die allumfassende und undurchdringliche Dunkelheit.

Die Stimme des anderen Mannes erklang: »Wir sollten uns beeilen. Wir haben nicht den ganzen Abend Zeit.«

»Ich arbeite so schnell ich kann.«

»Was ist, falls sie wach wird?«

»Die Dosis, die ich ihr verpasst habe, sollte ausreichend sein.«

»Sollte? Das klingt nicht gerade vertrauenerweckend.«

»Ich habe alles benutzt, was noch da war. Beruhige dich, das war mehr als genug.«

»Und wenn sie danach wach wird?«

Der andere zögerte kurz.

»Sollte sie eigentlich nicht, aber das wäre dann nicht mehr unser Problem, oder?«

Kapitel 1

20 Monate später Palmsonntag, 25. März

Es war Viertel nach drei am Sonntagmorgen, als in der Polizeistation Elvestad die Meldung über ein Fahrzeug einging, das dem Anschein nach einsam und verlassen an der Brugate außerhalb des Zentrums stand. Ein Taxifahrer war im Laufe einer Stunde zweimal an dem Wagen vorbeigefahren und hatte sich Modell und Kennzeichen notiert, für den Fall, dass er als gestohlen gemeldet war. Der diensthabende Beamte in der Polizeiwache schrieb die Informationen auf einen gelben Zettel. Es sollte noch eine halbe Stunde vergehen, ehe er sich weiter darum kümmern konnte.

Per Lyngstad kam nach einem Einsatz zurück in die Polizeistation. Er und seine Kollegin Dina Martinsen schleppten einen sinnlos betrunkenen jungen Mann mit sich herein, der die Nacht in der Ausnüchterungszelle verbringen sollte.

An den Wochenenden konnte es in der ansonsten recht verschlafenen Stadt mitunter hoch hergehen. Am schlimmsten war es für gewöhnlich in der Strandgate, dieser gekrümmten Straße im Zentrumskern nahe der Glomma. Hier reihten sich die Lokale aneinander, einschließlich zweier schäbiger Spelunken an der Südseite. Meistens ging es um Lärm und Besäufnisse. Schlägereien, Sachbeschädigung, Urinieren in der Öffentlichkeit und – glücklicherweise nicht so häufig – die eine oder andere Messerstecherei.

Wahrscheinlich war es immer schon so gewesen, Per allerdings war der Ansicht, dass es mit den Jahren schlimmer geworden war. Immer öfter gingen bei der Polizei Meldungen über Personenschäden ein, die durch Gewalt und Rauschzustände verursacht waren, und die Betroffenen schienen immer jünger zu werden. Ganz abgesehen von selbst gebranntem Schnaps war es für junge Leute heute viel einfacher, auch an stärkeren Stoff und Designerdrogen heranzukommen.

Der Diensthabende reichte Per den gelben Zettel und fragte, ob er so nett sein und zur Brugate hinausfahren könnte. Falls der Wagen dort noch stünde, könnte er versuchen, den Besitzer ausfindig zu machen, oder das Fahrzeug abschleppen lassen. Auf diesem Abschnitt der Strecke herrschte nämlich Parkverbot.

»Einen Kaffee dürfen wir uns vorher aber noch gönnen, oder?«, fragte Per.

Große Dosen Koffein waren Voraussetzung dafür, eine lange Nachtschicht zu überstehen.

Nachdem er den Kaffee in sich hineingekippt hatte, ging er mit Martinsen wieder hinaus zum Streifenwagen. Als die Kollegin aus Røros vor sieben Monaten zu ihnen gekommen war, sozusagen direkt von der Polizeihochschule, war es seine Aufgabe gewesen, ihr zu zeigen, wie die Dinge an ihrer Polizeiwache abliefen. Sogar ein Lokalpatriot wie Per wusste, dass Elvestad nicht der schillerndste Ort war, um eine Karriere zu beginnen, doch in Zeiten wie diesen war es tatsächlich eine Herausforderung, nach Beendigung der Ausbildung überhaupt eine Arbeitsstelle zu finden. Bis jetzt hatte Dina sich nicht beschwert, jedenfalls nicht so, dass er etwas davon mitbekommen hätte.

Die Luft war feucht und kühl. Und obwohl sich der März dem Ende zuneigte, war vom Frühling nicht das Geringste zu spüren. Ostern stand vor der Tür, aber die bewaldeten Hügel, welche die Stadt umkränzten, waren noch immer schneebedeckt. Der Winter in dieser Gegend zog sich nie einfach widerstandslos zurück.

Immerhin war die dunkle Jahreszeit vorbei, dachte Per voller Optimismus. Jetzt setzte die Dämmerung schon ein, bevor die Tagesschicht begann.

Die Polizeistation lag am nördlichen Ende der Storgate, der Hauptader in Elvestad. Im Volksmund hieß der Ort einfach nur Staden. Langsam rollte der Streifenwagen durch die Hauptstraße, keine Menschenseele war unterwegs. Laub und Papierfetzen trieben ziellos durch die Gegend. Pers Blick fiel auf Essensreste und zerbrochene Flaschen. Er schüttelte den Kopf. Manchmal fragte er sich, was in den Menschen bloß vorging.

Sie kamen an der Busstation und dem alten Bahnhof der schon vor langer Zeit eingestellten Eisenbahnlinie vorbei. Das Gebäude war später zu einem Hotel und Restaurant umgebaut worden. Einer der wenigen Orte in der Stadt, wo man wirklich gut essen konnte.

Sechshundert Meter von der Stelle entfernt, wo die Storgate in die Brugate überging, führte die grüne Stahlbrücke über die Glomma, die die Stadtgrenze markierte. Links zeigte eine Straße nach Eldoråsen hinauf, einer kleinen Anhöhe am Rande der Stadt, wo kaum ein Mensch wohnte. Die Baustelle am Fuße der Anhöhe zeugte von den Plänen, diesen Zustand zu verändern.

50 Meter vor der Brücke stand der gemeldete Wagen. Er nahm fast die Hälfte der nach Süden führenden Fahrbahn ein. Der Besitzer hatte sich auf jeden Fall eines Parkvergehens schuldig gemacht. Per fuhr an den Straßenrand und hielt dicht hinter dem Wagen an. Die Scheinwerfer badeten das Fahrzeug in gleißendes Licht.

Es handelte sich um einen himmelblauen Audi S5. Ein prächtiger Sportwagen der Sorte, die man in einem Ort wie Staden nur selten zu Gesicht bekam. Noch ehe er das Kennzeichen im Register überprüfte, ahnte Per schon, wem der Wagen gehörte. Seine Vermutung wurde bestätigt, als der Name Glenn Davidsen und die Adresse Parkallé 1 auf dem kleinen Display erschienen. Der Fabrikdirektor hatte schon immer eine Schwäche für schnelle Autos gehabt.

Allerdings hatte er nicht die Angewohnheit, sie mitten in der Nacht am Straßenrand abzustellen.

Der Himmel war immer noch dunkel, nicht die geringste Andeutung von Licht am Horizont. Martinsen nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und richtete den Lichtstrahl auf die Fahrerseite, während Per durch die Scheibe spähte. Der Audi war leer. Er probierte die Fahrertür und stellte fest, dass sie unverschlossen war. Er beugte sich ins Wageninnere vor und nahm den Geruch der frisch gewienerten Ledersitze wahr sowie den unverkennbaren Duft von Marihuana. Der Schlüssel steckte im Zündschloss. Per trat an die Motorhaube und legte die Hand darauf.

Kalt.

»Kennst du den Besitzer?«, fragte Dina Martinsen.

Per nickte. »Wir sind nicht gerade die besten Kumpel, aber alle in Staden kennen Glenn Davidsen. Seine Familie besitzt die Papierfabrik Davidsen International.«

Martinsen nickte.

»Es heißt, dass ihm die halbe Stadt gehört«, sagte sie.

»So gut wie.«

Glenn Davidsen hatte die Leitung des Familienunternehmens übernommen, nachdem sein Vater sich zurückgezogen hatte. In der Zeit davor hatte Glenn sich einen soliden Ruf als Schürzenjäger und Partylöwe erworben. Die allgemeine Auffassung war indes, dass dies der fernen Vergangenheit angehörte.

Der Marihuanadunst, der den Polizisten beim Öffnen der Tür entgegengeschlagen war, erzählte allerdings eine andere Geschichte.

Per ging einmal um den Wagen herum und stellte fest, dass die Beifahrertür nur angelehnt war. Der Strahl der Taschenlampe erfasste ein paar dunkle Flecken auf dem Asphalt, dicht am Rande der Fahrbahn.

»Blut«, sagte er.

»Sollten wir das nicht der Zentrale melden?«, fragte Martinsen.

»Ja …«, erwiderte Per, während er mit fernem Blick auf die Brücke starrte. »Aber ich will erst was überprüfen.«

Er trat in den Straßengraben neben der Fahrbahn und folgte dem kurzen Abhang zum Flussufer hinunter. Dichtes feuchtes Gebüsch erschwerte das Vorwärtskommen. Der Untergrund war glatt.

Der Bereich unter der Elvestadbrücke war einst ein beliebter Tummelplatz für Jugendliche gewesen. Er lag außerhalb des Zentrums und war vor neugierigen Blicken der Erwachsenen geschützt. Ein passender Ort für ein paar flüchtige Küsse oder auch mehr. Für einen Schluck aus der Flasche, die jemand aus Papas Barschrank geklaut hatte. Auch Per war dort gewesen. In späteren Jahren hatten Vermüllung und Verfall die meisten Jugendlichen vertrieben, während Obdachlose, Herumtreiber und Junkies die Anonymität des Ortes weiterhin schätzten.

»Was glaubst du denn zu finden?«, fragte Martinsen. »Das ist doch hier die reinste Müllkippe.«

Sie hatte natürlich recht, und Per konnte ihre Abscheu gut nachvollziehen. Die Leute hatten unter der Brücke allen möglichen Müll abgeladen, darunter Möbel und defekte Haushaltsgeräte. Alte, von Motten zerfressene Matratzen lagen herum. Einmal hatten sie jemanden, der an einer Überdosis gestorben war, auf einer der Matratzen gefunden. Vögel und andere Tiere hatten ein ausgiebiges Festmahl gehalten. Die Augen des Mannes waren verschwunden, und Teile des Gesichts waren abgenagt worden. Ein forensischer Odontologe war nötig gewesen, um die Identität des armen Kerls zu klären. Der Tote hatte über eine Woche dort gelegen, ehe man ihn entdeckt hatte.

»Halt die Taschenlampe nach unten gerichtet«, bat Per.

Er glaubte, ein paar Schleifspuren oder etwas Ähnliches im Schlamm unter der Brücke zu sehen. Trotz des Lichtkegels war es schwierig, etwas Genaueres zu erkennen. Plötzlich rutschte Per auf dem weichen Untergrund aus. Er machte einen Ausfallschritt und war kurz davor, das Gleichgewicht wiederzufinden, als er über etwas Hartes stolperte. Martinsen streckte helfend die Hand aus, konnte aber nicht verhindern, dass er rücklings im Matsch landete.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Ja, alles okay …«

Der Sturz war nicht tragisch gewesen. Im schlimmsten Fall würde er eine oder zwei Schürfwunden davontragen. Eher fühlte er sich peinlich berührt und konnte seiner Kollegin kaum in die Augen blicken, als sie ihm wieder auf die Beine half.

»Ich bin vielleicht ein Tollpatsch …«, sagte er und seufzte gereizt, als er die Schmutzspuren an der Uniform entdeckte.

Während er versuchte, den schlimmsten Dreck wegzuwischen, sah er im Licht der Taschenlampe, dass rote Flecken auf seiner Hand zurückgeblieben waren. Die zähe Konsistenz ließ keinen Raum für Zweifel. Als er Martinsen bat, den Lichtstrahl auf den Boden zu richten, sah er, worüber er gestolpert war:

Die Füße einer männlichen Leiche.

Kapitel 2

21 Jahre, nachdem er aus der Stadt fortgezogen war, überquerte Kommissar Harinder Singh zum ersten Mal wieder die Elvestadbrücke. Er sah die Glomma vorbeirauschen. Er sah den Qualm der Fabrik in der Ferne. Den hohen Turm der alten Kirche am Ende der Kirkegate. Und er sah die Konturen einer Kleinstadt, die sich auf den ersten Blick nicht im Geringsten verändert hatte.

Genauso, wie sie es mögen, dachte er.

Zusammen mit seiner Kollegin Rachel Hauge hatte er an einem Sonntagmorgen 160 Kilometer mit dem Wagen zurückgelegt, nachdem in Oslo die Meldung über den Mord eingegangen war. Die Polizeidienststelle in Elvestad war klein. Es gab dort weder die Notwendigkeit noch die Ressourcen für qualifizierte Mordermittler und Kriminaltechniker. Als sich das Mordopfer als Mitglied der vornehmen Familien Davidsen entpuppte, hatte die Polizeichefin nicht gezögert, sowohl technische als auch taktische Unterstützung durch die Kripo anzufordern.

Einer Sache konnten sich die Einwohner von Elvestad durchaus rühmen: Sie brachten einander nicht am laufenden Band um. Die Mordrate war seit Ende des Krieges konstant niedrig geblieben. Vor zehn Jahren war zuletzt jemand in der Stadt ermordet worden. Eine heftige Schlägerei vor einer Kneipe hatte seinerzeit tragisch geendet, als einer der Streithähne sich den Kopf an der Bordsteinkante einschlug. Der Fall hatte keiner großen Ermittlung bedurft; der weinende, reumütige Täter nahm noch an Ort und Stelle die Verantwortung auf sich.

»Ich muss ja doch sagen, dass ich das ziemlich spannend finde«, sagte Rachel Hauge.

»Was denn?«

»Mal deine Heimatstadt zu sehen.«

Harinder Singh schüttelte den Kopf.

»Spannend? Das wirst du nach einem Tag Aufenthalt bestimmt nicht mehr sagen, das kann ich dir versichern.«

»Sieht jedenfalls nicht nach dem schlimmsten Ort zum Aufwachsen aus.«

»Verglichen womit?«, sagte Harinder. »Rakkestad?«

Sie schmunzelte angesichts des kleinen Angriffs auf ihre eigene Heimatstadt. »Ja, zum Beispiel.«

Rachel Hauge war 32 und ein aufsteigender Stern. Abteilungsleiter Musæus, im Allgemeinen die Maus genannt, hatte sie vom Polizeidistrikt Oslo zur Kripo geholt. Er betonte gern, dass er ein gutes Auge für Talente habe. Und in diesem Fall hatte er unzweifelhaft recht gehabt. Harinder hatte ziemlich schnell begriffen, dass Rachel diese Kombination aus Intelligenz und Phantasie besaß, die so wichtig für die Ermittlungsarbeit war. Und noch etwas anderes, was er derzeit bei den meisten Menschen vermisste.

Esprit.

Die rothaarige Kollegin durfte gern glauben, dass es spannend war, nach Staden zu kommen, Harinder selbst hätte die Reise allerdings am liebsten vermieden. Als die Maus angerufen und seinen lang ersehnten Sonntagsfrieden gestört hatte, hatte Harinder sogar gefragt, ob sein Chef nicht jemand anderes für den Auftrag suchen könne. Das könne er bestimmt, hatte der Chef geantwortet, allerdings habe er keine Lust dazu. Er meinte nämlich, dass Harinders Ortskenntnisse von Nutzen sein könnten.

Und wenn die Maus sich erst einmal entschieden hatte, war es sinnlos, die Diskussion fortzuführen.

Harinders Widerwille beruhte auf mehr als der Tatsache, dass er eigentlich geplant hatte, in der Osterwoche ein paar Überstunden abzufeiern und Zeit mit seiner Tochter Savi zu verbringen. Auch wenn das allein schon ein wunder Punkt war. Denn Savi lebte mit ihrer Mutter und dem Stiefvater in Holmlia, und Harinder sah sie nur selten. Woran in erster Linie seine Arbeit schuld war. Als taktischer Ermittler bei der Kripo musste er ständig damit rechnen, ohne große Vorwarnung irgendwohin geschickt zu werden. Und hätte die Maus ihn auf die Hochebene von Finnmark geschickt, hätte er auch nicht protestiert.

Staden hingegen war etwas völlig anderes.

Harinder konnte sich noch gut an den Tag erinnern, an dem er als Achtjähriger erfahren hatte, dass seine Familie in die Heimatstadt der Mutter im hintersten Winkel von Østerdalen umziehen würde, einen Ort, in dem er nur ein paarmal gewesen war, um seine Großeltern zu besuchen. Im Laufe eines kurzen Gesprächs war die ihm bekannte Welt zusammengestürzt, und weder feuchte Tränen noch wütende Proteste hatten an dem Entschluss etwas ändern können. Er musste sich von der sicheren und vertrauten Gegend im Osloer Osten verabschieden, von einer Schule, an der er sich wohlfühlte, und von allen seinen Freunden. Und das alles zum Vorteil einer Kleinstadt, die näher an der schwedischen Grenze als an Oslo lag. Er wusste noch, wie er sich in seinem Zimmer eingeschlossen und heulend im Bett gelegen hatte. Wie er seine Eltern angebrüllt hatte, dass er sie hasste.

Damals war er noch zu jung gewesen, um zu verstehen, dass die Eltern keine große Wahl hatten. Seine Mutter arbeitete als Buchhalterin und hatte während der Bankenkrise in den achtziger Jahren ihre Stellung verloren. Sein Vater stammte aus einem Dorf in der Nähe von Jalandhar im Punjab, war Sohn eines Polizisten und Neffe zweier notorischer Ganoven, vor denen sich das ganze Dorf fürchtete. In den siebziger Jahren, als Bedarf an Arbeitskräften herrschte, war er als junger Mann nach Norwegen ausgewandert. Seine Ausbildung als Ingenieur indes erwies sich auf dem norwegischen Arbeitsmarkt als so gut wie wertlos, so dass er sich mit Putzjobs und anderen Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt.

Ein Cousin der Mutter hatte ihr von einer Stellung bei der Sparkasse Hedmark, Filiale Elvestad erzählt. Kurze Zeit später wurde seinem Vater eine Arbeit in der Papierfabrik außerhalb der Stadt angeboten.

Steht man mit leeren Händen da, hat man keine große Wahl.

Der Übergang war heftig gewesen. Von zwei vollen Parallelklassen mit je 30 Schülern zu einer Gemeinschaftsklasse mit 15. 15 fremde Gesichter mit seltsamem Akzent, die ihn misstrauisch beäugten, weil er ganz offensichtlich nicht einer von ihnen war. Und es gab genügend Klassenkameraden, die nicht zögerten, auf diese Dinge deutlich hinzuweisen. Zugezogene aus der Hauptstadt waren eine Sache, eher Dunkelhäutige eine andere. Man hätte meinen sollen, dass eine norwegische Mutter mit Wurzeln in der Stadt eine Hilfe gewesen wäre, aber das machte es in vielerlei Hinsicht nur schlimmer. Sie hatte einen Dunkelhäutigen geheiratet.

An einem Ort wie Staden lernte man zu kämpfen.

Niemals war es ihm gelungen, die dort herrschende, rückwärtsgewandte Mentalität auch nur annährend zu verstehen. Nie hatte er vergessen dürfen, dass er anders war. Dass er streng genommen nicht dorthin gehörte.

Rachel hatte natürlich recht. Es gab noch schlimmere Orte zum Aufwachsen. Verglichen mit dem Dorf, aus dem sein Vater stammte, lebten sie wie die Könige. Materiell betrachtet hatten sie alles, was sie brauchten. Es gab auch gute Leute hier, Menschen, die ihm viel bedeutet hatten. Aber es gab nicht eine schöne Erinnerung an diesen Ort, die nicht von einer hässlichen besudelt worden war.

Nach Abschluss der Schule war er direkt zum Militär gegangen und dann für das Studium weiter nach Oslo gezogen. Als sein Vater die Arbeit in der Papierfabrik verlor und die Familie gezwungen war, wieder näher in Richtung Hauptstadt zu ziehen, schien es, als ob alle Verbindungen nach Elvestad ein für alle Mal durchtrennt waren.

Was Harinder betraf, musste sich daran nichts ändern.

Ungeachtet dessen war er darauf eingestellt, diesen Fall genauso professionell und neutral zu behandeln wie jeden anderen. Gleichwohl konnte er nichts gegen den sich bildenden Kloß in seinem Hals ausrichten, als er zum ersten Mal nach zwei Jahrzehnten die grüne Stahlbrücke wiedersah.

Er wusste, dass auf der anderen Seite noch alte Gespenster warteten.

Und diese machten sich in dem Augenblick in seinen Gedanken breit, als sein Blick auf Eldoråsen fiel, wo seine ehemalige Freundin Martine und ihre Familie gelebt hatten; ein eigener Zweig der allgegenwärtigen Davidsen-Sippe. Er merkte, dass nicht alles so unverändert war, wie es zunächst gewirkt hatte. Es sah aus, als ob ein Teil des Waldes am unteren Ende des Hangs entfernt worden wäre und dort jetzt neue Wohnhäuser entstünden. Spuren von getrocknetem Matsch, der vermutlich von Kettenfahrzeugen stammte, führten von der Hauptstraße zu einem künstlichen Hügel auf der Südseite des Hangs. Ein großes Schild versprach neue Häuser mit »Panoramablick« auf den Fluss. Das große, altmodische D im Logo der Immobiliengesellschaft war identisch mit dem im Logo der Papierfabrik.

Die Kriminaltechniker der Kripo waren bereits im Morgengrauen ausgerückt. Als Harinder Singh und Rachel Hauge eintrafen, hatten die Männer schon mit der Spurensicherung im Umkreis der Brücke begonnen. Sie hatten einen begehbaren Weg durch das Gebüsch und hinunter zu der Stelle freigelegt, wo die Leiche gefunden worden war. Blaue Blitzlichter zuckten, während die Leiche, der Tatort und der verlassene Audi aus allen erdenklichen Blickwinkeln fotografiert wurden. Kriminaltechniker in Overalls und mit Plastiküberzügen an den Schuhen stocherten auf der Jagd nach Spuren mit Pinzetten im Boden herum. Ein Streifenpolizist hielt an der Straße Wache, um Unwillkommene auf Abstand zu halten.

Die beiden Ermittler parkten und stapften den Weg hinunter. Der herbe Geruch des Flusswassers, vermischt mit kürzlich erfolgtem Niederschlag, hing in der Luft. Sie stießen auf eine kleine Gruppe aus drei Polizisten. Der Lockenkopf mit der verdreckten Uniform und seine jüngere Kollegin waren Per Lyngstad und Dina Martinsen. Die dritte Person war eine blonde Frau mit Rangabzeichen auf den Schultern. Polizeiinspektorin Sara Bolstad, die Leiterin der Polizeistation Elvestad. Als Harinder in Oslo losgefahren war, hatte er kurz mit ihr telefoniert, um einen groben Situationsbericht zu bekommen und um sie wissen zu lassen, dass er und Rachel unterwegs waren.

Nach den üblichen Höflichkeitsphrasen bat Harinder um eine Beschreibung der Umstände des Leichenfunds. Per Lyngstad war es sichtlich unangenehm zu beschreiben, wie er das Gleichgewicht verloren hatte und über den Toten gestolpert war. Er war noch nicht dazu gekommen, sich umzuziehen, doch dass er womöglich den Tatort verunreinigt hatte, bekümmerte ihn weitaus mehr als sein Äußeres.

»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken«, sagte Harinder. »Aber der Ordnung halber sollten Sie Ihre Uniform und die Stiefel den Technikern zur Untersuchung vorlegen.«

Per nickte.

Er und Martinsen hatten die Leiche oberflächlich untersucht, nachdem sie den Fund gemeldet hatten. Sie wussten, dass es eine Weile dauern würde, bis die Kriminaltechniker aus Oslo einträfen. Zwecks Dokumentation hatten sie Fotos mit den Handys geschossen. Es gab Risse in der Kleidung des Toten, die anzeigten, wo ein scharfes Objekt, möglicherweise ein Messer, ihn getroffen hatte. Er war mehrmals in Brust und Bauch gestochen worden, außerdem einmal in den Hals. Das Blut am Mund des Opfers deutete auf schwere innere Verletzungen hin.

Ein gewaltsamer Tod.

»Der Audi gehört Glenn Davidsen, aber ich konnte schnell feststellen, dass es nicht er war, den wir gefunden hatten«, sagte Per. »Der Tote ist sein Sohn.«

Axel Davidsen war 20 Jahre alt, Student im ersten Semester an der Norwegian Business School in Oslo, ein lokales Fußballtalent und Präsident des Abiturkomitees aus dem letzten Schuljahr.

Doch zuallererst ein Davidsen.

Harinder kannte die Familie besser, als irgendjemand von den anderen auch nur vermutete. Der Fabrikbesitzer, dem der Audi gehörte, war zehn Jahre älter als er. Sie waren nie Freunde gewesen oder hatten sich in denselben Kreisen bewegt, doch Harinder konnte sich gut an ihn erinnern. Wenn Glenn Davidsen es die Mühe wert fand, konnte er charmant und freundlich sein, aber ebenso konnte er ein arrogantes Arschloch sein. Und außerdem schwer zu zügeln. Als er einmal ohne Führerschein und betrunken am Steuer seines Wagens geschnappt worden war, hatte Vater Georg direkt den Polizeichef angerufen und die Sache geregelt. Weil sie so viel in der Stadt und der Umgegend besaßen, gingen sie davon aus, auch alle zu besitzen, die dort lebten.

Nur selten nahm es jemand auf sich, sie zu korrigieren.

Unter der grünen Stahlbrücke war nun also der Erbprinz gefunden worden. Jemand hatte ihn erstochen und inmitten von Müll und mottenzerfressenen Matratzen zurückgelassen.

Harinder kannte die Einwohner gut genug, um zu wissen, dass die Reaktionen auf den Todesfall kräftig ausfallen würden. Sie würden eine umgehende Aufklärung des Verbrechens verlangen. Abgesehen davon würde der Davidsen-Clan ihnen während der Ermittlungen ständig im Nacken sitzen. Es ließ sich kaum ahnen, was diesen Menschen alles einfallen könnte.

Arbeitsruhe konnten sie schlichtweg vergessen.

Harinder überkam der plötzliche Drang nach einer Zigarette. Es war sechs Monate her, dass er seinen letzten Zug genommen hatte. Savis langjährige Kampagne, ihm das Rauchen abzugewöhnen, hatte schlussendlich gefruchtet. Doch er vermisste es.

»Gibt es hier irgendwo Überwachungskameras in der Nähe?«, fragte er.

Die Polizeichefin schüttelte den Kopf.

»Die nächste Kamera befindet sich an der Kreuzung Storgate und Parkvei«, sagte sie. Ihr hart ausgesprochenes R und die weichen Konsonanten verrieten, dass sie nicht aus der Gegend stammte. »Die zeichnet den ganzen Verkehr stadtein- und stadtauswärts auf. Da dürften wir wohl eine Aufnahme des Audi finden.«

Ivan Moreno koordinierte die kriminaltechnischen Arbeiten und war einer der Ersten am Tatort, nachdem die Kripo hinzugezogen worden war. Er war nicht zu übersehen. Ein groß gewachsener Bär, der unter Alopezie litt. Seit er ein Teenager war, hatte er nicht ein einziges Haar auf dem Kopf getragen. Weder Bartwuchs noch Augenbrauen.

Sobald Harinder und Rachel sich mit Overall, Papierhaube und Plastikpuschen ausgerüstet hatten, führte Moreno sie am Tatort herum. Ein kleines Zelt war am Fundort errichtet worden, um die Leiche in dieser frühen, kritischen Phase der Ermittlung zu schützen.

Moreno zeigte ihnen einen durchsichtigen Beweisbeutel, der eine Geldbörse enthielt.

»Die haben wir in seiner Innentasche gefunden. Darin ist ein Führerschein, ausgestellt auf Axel Christian Georg Davidsen, 20 Jahre alt. Das Foto stimmt mit dem Äußeren des Toten überein.«

»Er ist es. Die örtliche Polizei hat ihn sofort erkannt«, sagte Harinder.

Die Geldbörse enthielt außerdem fünfhundert Kronen in bar sowie eine Kreditkarte. Er trug eine teure Uhr am Handgelenk, ein iPhone steckte in seiner Jackentasche.

»Da können wir einen Überfall als Motiv ja sofort ausschließen«, sagte Rachel.

Moreno zeigte auf eine Stelle, die mit Absperrband umgeben war. Am Boden waren viel Blut und Schleifspuren zu sehen.

»Ich glaube, dass das Opfer dort ermordet und dann unter die Brücke geschleift wurde«, sagte er.

»Ein Versuch, die Leiche zu verstecken?«, fragte Rachel.

»Vielleicht«, erwiderte Harinder.

Morenos Team würde so lange wie nötig am Tatort arbeiten. Sonntage wurden als Überstunden bezahlt, die Motivation der Techniker stand außer Frage.

»Der Wagen wurde erstmals gegen zwei in der Nacht entdeckt«, sagte Harinder. »Wir müssen also herausfinden, wann genau und aus welchem Grund Axel Davidsen hierhergekommen ist. Und ob jemand mit ihm zusammen war.«

»Es gibt eigentlich nur wenige realistische Szenarien«, sagte Rachel. »Erstens: Das Opfer kam allein hierher und hat den Täter getroffen – entweder zufällig oder nach Absprache. Zweitens: Das Opfer war in Begleitung einer weiteren Person und ist dann dem Täter begegnet. Oder drittens: Er ist mit dem Täter gemeinsam hergekommen.«

»Genau. So oder so haben wir es also mit jemandem zu tun, den er kannte«, sagte Harinder. »An einem Ort wie diesem ist alles andere völlig undenkbar.«

»Was sagt der Rechtsmediziner?«, fragte Rachel.

»Ach, ihr wisst ja, wie die sind«, erwiderte Moreno. »Immer sehr vorsichtig mit Äußerungen, ehe die Obduktion stattgefunden hat, und gern auch dann noch zurückhaltend. Aber die Todesursache ist einigermaßen offensichtlich. Dem Opfer wurden mehrere Stiche mit einem scharfen Gegenstand zugefügt, wahrscheinlich einem Messer. Und infolge der Verletzungen ist er dann gestorben.«

Es schien sich um ein einfaches, gerades Messerblatt von etwa zehn Zentimetern Länge gehandelt zu haben. Ein Springmesser oder ein Taschenmesser. Es gab deutliche Anzeichen eines Kampfes. Das Opfer hatte Verletzungen am rechten Handrücken und im Gesicht. Moreno deutete die Zeichen so, dass der junge Davidsen sowohl ausgeteilt als auch eingesteckt hatte.

»Zeitpunkt?«, fragte Harinder.

»Nach der Körpertemperatur zu urteilen, kann er nicht mehr als zwei oder drei Stunden tot gewesen sein, als er entdeckt wurde. Sobald der Obduktionsbericht fertig ist, wissen wir mehr«, sagte Moreno.

»Wie oft wurde auf ihn eingestochen?«

»Neunmal«, sagte Moreno. »Achtmal mehr als nötig. Jeder einzelne der Stiche hätte ihn töten können.«

Neun Einstiche.

Was konnte jemanden nur dazu bringen, neunmal mit einem Messer auf einen anderen Menschen einzustechen? Hinter solch einer Handlung musste eine ungeheure Wut stecken. Selbst für einen aus der Kontrolle geratenen Zweikampf wirkte das alles viel zu heftig.

Ein kalter Windhauch ließ Harinder erschaudern. Sein Blick schweifte umher. Nur wenige Meter neben ihnen floss die Glomma mächtig und rauschend unter der Brücke dahin. Die Brücke war im Laufe der Jahre rostig geworden, außerdem verschandelt von der Umgebung, die eher einer Müllhalde als einer Passage glich. Harinder konnte deutlich den Verfall sehen, der seit damals eingetreten war, und das machte ihn überraschend traurig. Auf dem Weg hierher hatte er nur an die schlechten Erinnerungen und Assoziationen gedacht, die der Ort mit sich brachte. Jetzt dachte er daran, dass er einmal jemanden unter der Brücke geküsst hatte.

Alte Gespenster suchten diesen Ort heim. Eine Ablenkung, die er nun wirklich nicht brauchte.

»Nein, da bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als in diesem Dreckstall aufzuräumen«, sagte er. »Wir verschaffen uns erst mal eine Übersicht über Familie und Bekannte. Dort sind die Täter meist zu finden, und auch dieses Mal wird es nicht anders sein.«

Kapitel 3

Das Tor an der Parkallé verdeutlichte, dass alles dahinter Privatbesitz war. Die Häuser, der tadellose Asphalt der Straße und die üppigen grünen Linden, die sie flankierten. Alles gehörte der Familie Davidsen.

Am Ende der Zufahrt lag ein massives Haus aus grauem Stein, das Harinder eher an eine germanische Festung als an das Heim einer Familie erinnerte. Das prächtige Gebäude stand dort, wo während des Krieges ein schönes altes Herrenhaus in Flammen aufgegangen war, ehe der Großvater von Axel Davidsen das Grundstück an sich gerissen und das geschmacklose Monument als Zeichen seines Wohlstandes darauf errichtet hatte.

Sie saßen zu dritt im Wagen, Polizeichefin Bolstad hatte auf der Rückbank Platz genommen. Als oberste Vertreterin der Polizei in Staden wollte sie dabei sein, wenn die Familie über den Todesfall unterrichtet werden würde. Eine schwere Aufgabe, die auch nicht leichter wurde, wenn man viel Berufserfahrung besaß. Nichts, was man tat oder sagte, konnte den Aufprall dämpfen.

Vielleicht hatte sie deshalb Verstärkung mitgenommen, dachte Harinder und warf einen Blick in den Rückspiegel. Ein kleines weißes Elektroauto folgte ihnen lautlos. Der Gemeindepfarrer von Elvestad war zusammen mit anderen Schaulustigen an der Brücke aufgetaucht. Wobei es sich in seinem Falle um mehr als nur morbide Neugier gehandelt hatte. Jemand hatte ihn informiert, woraufhin er die Vorbereitungen für den sonntäglichen Gottesdienst abgebrochen hatte. Sofort hatte er sich angeboten, die Polizei zu den Angehörigen zu begleiten, und Bolstad hatte das für eine gute Idee gehalten.

Harinder kannte ihn aus alten Zeiten. Als er das Gymnasium besucht hatte, war Karl Erik »Kalle« Ramsberg ein junger Vertretungslehrer gewesen. Er war der Sohn des alten Gemeindepfarrers und hatte Religion unterrichtet. Abgesehen davon, dass sein rotblondes Haar merklich dünner geworden war, hatte er sich nicht viel verändert.

Glenn Davidsen war als Eigentümer des Besitzes aufgeführt. Er war der ältere der beiden Söhne von Georg Davidsen und hatte sein Elternhaus zur selben Zeit übernommen, wie er geschäftsführender Direktor der Davidsen International geworden war. Innerhalb der Familie galt die Übernahme als wichtiger symbolischer Schritt des Generationenwechsels. Er lebte zusammen mit seiner Frau Caroline und den Kindern Andrea und Axel.

Sara Bolstad wusste auch zu berichten, dass der alte Direktor Georg noch immer mit Argusaugen über das Haus wachte. Er war 75 und hatte drei Jahre zuvor einen mittelschweren Schlaganfall erlitten. Wenn es um große und wichtige Entscheidungen ging, hatte der Patriarch vermutlich noch immer das letzte Wort.

»Wie gut kennen Sie die Familie?«, fragte Rachel.

»Ich habe sie ein paarmal zu verschiedenen Gelegenheiten getroffen«, erwiderte Bolstad. »Aber ich kann nicht sagen, dass ich sie gut kenne. Die Familie ist sehr verschlossen.«

»Inwiefern?«

»Man kann an ihrem Tisch sitzen, ihre Speisen zu sich nehmen und ihren Wein trinken, aber ebenbürtig wird man nie. Deren Loyalität endet an der Toreinfahrt, die wir gerade passiert haben.«

»Die Michael-Corleone-Doktrin«, sagte Harinder.

»Wie bitte?«, fragte Rachel.

»Ergreife nie wieder gegen Deine Familie für irgendjemand Partei.«

Harinder wartete vergeblich darauf, dass Rachel das Zitat erkannte.

»Das ist aus Der Pate. Sie haben merkbare Lücken in Ihrer Allgemeinbildung, mein Fräulein.«

Sie hielten vor der Parkallé 1 an. Es war noch keine zehn Uhr. Die nicht mehr ganz junge Hausangestellte, die die Tür öffnete, wusste natürlich sofort, dass etwas Schreckliches passiert war, als sie die vierköpfige Abordnung entdeckte. Sie bat sie, einen Augenblick in der geräumigen Eingangshalle zu warten. Die war mit zwei massiven Kleiderschränken, Schuhregalen und einem hohen Spiegel ausgerüstet, der eine ganze Wand bedeckte. Auf einem kleinen Tisch stand eine Vase mit Osterglocken.

Glenn Davidsen begrüßte sie. Obwohl noch früher Sonntagmorgen herrschte, war er elegant und formell gekleidet. Diskrete Sonnenbräune, kaum eine Falte im Gesicht und ohne Andeutung eines grauen Haars in der blonden, wohlfrisierten Mähne. Nicht schlecht für einen 51-jährigen Mann, der in einem Ort lebte, wo der Winter ein halbes Jahr andauerte.

Sein Blick wanderte abwartend zwischen den vier Besuchern hin und her. Harinder stellte sich ganz neutral als »Kommissar Singh« vor, ohne zu erwähnen, dass sie einander schon vor vielen Jahren begegnet waren. Glenn Davidsen schien ihn nicht wiederzuerkennen.

»Worum geht es denn?«, fragte er.

»Ist Caroline zu Hause?«, fragte Polizeichefin Bolstad.

Glenn nickte und rief seine Frau. Nach dem morgendlichen Sport noch im Trainingsanzug, trat Caroline zu den anderen. Sie war ein paar Jahre jünger als ihr Mann und anscheinend weniger eitel, da sie es unterlassen hatte, die grau gewordenen Haarsträhnen zu färben. Harinder wusste, dass sie eine ehemalige Teilnehmerin des Miss-Norwegen-Wettbewerbs war und aus einer guten Familie in Hamar kam. Als sie und Glenn geheiratet hatten, wurde die Verbindung von allen Seiten als perfekter Zusammenschluss betrachtet.

Die Polizeichefin überbrachte die Nachricht, und Harinder sah, wie der Gesichtsausdruck von Glenn Davidsen binnen Sekunden von Unglauben in Entsetzen umschlug. Er sagte keinen Ton, streckte nur den Arm aus, um sich am Türrahmen abzustützen. Sein Atem ging schwer, als hätte er Schwierigkeiten Luft zu bekommen. Carolines Reaktion war sowohl heftiger als auch unmittelbarer. Ein lauter, schmerzerfüllter Schrei hallte durch den Raum. Fast wäre sie auf dem Fußboden zusammengebrochen, wenn der Pfarrer nicht zu ihr getreten wäre und sie festgehalten hätte.

Die Familie war im Salon versammelt. Glenn und Caroline Davidsen hatten mit Tochter Andrea in der Sofagruppe Platz genommen. Die junge Frau hatte ihr Aussehen weitgehend von der Mutter geerbt, bis auf eine Ausnahme: Die blaugrünen Augen waren unverwechselbar Davidsen-Augen.

Martine hatte solche Augen gehabt.

Glenns leerer Blick wirkte wie der eines Mannes, der sich schon mit ein paar Schnäpsen beruhigt hatte. Sein Vater, Georg, hatte sich in einem Sessel in der Ecke niedergelassen. Da saß er und umklammerte seinen Gehstock. Sein Schädel glänzte. Nur ein paar dünne weiße Strähnen an den Seiten waren von seinen Haaren noch übrig. Seine Augen waren tief in die Höhlen eingesunken, wirkten allerdings noch so klar, wie sie immer gewesen waren.

Harinder wusste, dass die Familie Zeit und Ruhe brauchte, um den Verlust zu bewältigen, anderseits konnte die Übersicht von Axels Aktivitäten im Vorfeld des Mordes nicht warten. Vorläufig gab es keine Zeugen, weshalb mit allen Personen gesprochen werden musste, die ihn möglicherweise im Laufe des Samstags gesehen hatten. Harinder wollte so schnell wie möglich eine umfassende Liste mit Kandidaten haben und noch vor Ende des Tages mit den Zeugenvernehmungen beginnen.

»Ich weiß, dass das nicht einfach ist, aber wären Sie bereit, ein paar Fragen zu beantworten?«, fragte er.

Mit einer gewissen Kraftanstrengung richtete Glenn sich auf und nickte. Caroline schien außerstande, eine Antwort zu geben. Sie hatte eine Hand auf den Arm ihres Mannes und die andere auf den der Tochter gelegt, als ob sie sich an den beiden festklammern wollte.

Es war fast unmöglich, kein Mitgefühl aufzubringen. Sie hatten einen Sohn, einen Bruder, einen Enkel verloren. Das Leben würde nie wieder so sein wie vorher. Harinders eigene größte Angst bestand darin, dass seiner minderjährigen Tochter etwas zustoßen könnte. Diese Angst hatte er seit ihrer Geburt, und sie war auch nicht verschwunden, nur weil Savi inzwischen älter geworden war. Harinder bezweifelte, dass sich daran je etwas ändern würde.

»Habe ich das richtig verstanden, dass Axel in Oslo gewohnt und dort studiert hat?«, fragte er.

Glenn Davidsen nickte.

»Er studiert … studierte Business Management an der BI in Oslo«, sagte er.

»Aber er war über die Osterferien zu Hause?«

»Donnerstagabend ist er gekommen«, sagte Glenn. Er schluchzte und rieb sich die Augen. »Er hatte zwei Wochen Osterferien. Wir hatten vor, einen Tag vor Gründonnerstag alle zusammen zu unserer Hütte in Kvitfjell hochzufahren und dort das Osterwochenende zu verbringen.«

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen oder mit ihm gesprochen?«

»Am Samstag habe ich ihn überhaupt nicht gesehen«, erklärte Glenn. »Ich bin ins Büro gefahren, noch ehe Axel aufgestanden war, und bin erst spät wieder nach Hause gekommen. Es gab viel zu erledigen, ehe ich mich in die Osterferien verabschieden konnte. Axel war noch nicht zurück, als Caroline und ich zu Bett gegangen sind. Aber es war Samstagabend, also war das nichts Ungewöhnliches. Er wollte natürlich Zeit mit seinen Freunden verbringen, wenn er schon mal zu Hause war …«

Harinder hörte, dass Glenns Stimme zu versagen drohte, und wandte sich daher an Caroline.

»Was ist mit Ihnen?«

»Wir haben uns am Frühstückstisch unterhalten, nachdem er aufgestanden war. Danach ist er dann zum Training gefahren«, sagte Caroline. Sie sprach leise, und Harinder fragte sich, ob sie ein Beruhigungsmittel zu sich genommen hatte. »Ich habe den Nachmittag mit ein paar Freundinnen verbracht und Axel danach nicht mehr gesehen. Aber er muss nach dem Training zu Hause gewesen sein. Seine benutzten Sachen lagen im Waschraum.«

»Welche Pläne hatte er für den Abend?«

Keiner von den Erwachsenen konnte es mit Sicherheit sagen, aber sie vermuteten, dass er etwas mit seinen Freunden unternehmen wollte, die in den Ferien ebenfalls nach Hause gekommen waren. Als Harinder nach Details fragte, wurden ihm die Namen von drei Jungen genannt, die anscheinend zu Axels engstem Freundeskreis gehörten. Das reichte zunächst. Die drei könnten ihm und Rachel mit Sicherheit noch weitere Namen nennen.

»Ja, und dann Susanne«, sagte Caroline. »Ich glaube, sie war auch zu Hause, wobei wir sie nicht gesehen haben …«

»Susanne?«

»Susanne Rustad«, sagte Glenn. »Seine Freundin. Die wohnen zusammen in Oslo.«

Andrea räusperte sich. »Ich glaube, die sind gar nicht mehr zusammen …«, sagte sie.

»Ach«, entgegnete Glenn, als ob ihm dies völlig neu wäre.

Freundin oder Exfreundin, jedenfalls hatte Susanne sich schnell einen Ehrenplatz auf der Liste mit Zeugen erworben, die befragt werden mussten.

»Was ist mit Leuten, mit denen Axel sich nicht so gut verstanden hat? War er vielleicht in einen Konflikt verwickelt?«, fragte Harinder.

Glenn und Caroline schüttelten unisono den Kopf.

»Ich weiß von keinem Konflikt«, sagte Glenn. »Axel war beliebt. Die Leute mochten ihn.«

Harinder richtete den Blick auf Andrea.

»War das auch Ihr Eindruck?«

»Ja. Axel war außergewöhnlich beliebt«, sagte sie mit Tränen in den Augen.

»Gab es irgendetwas an seinem Verhalten, das auf Angst oder Unruhe hindeuten konnte?«

»Nein. Ganz im Gegenteil«, sagte Glenn.

»Er hatte überaus gute Laune, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe«, sagte Caroline.

»Haben Sie eine Vorstellung davon, was geschehen sein könnte? Oder wer …?«, fragte Glenn.

»Nein, es ist noch zu früh, etwas darüber zu sagen, leider«, erwiderte Harinder. »Er wurde erstochen, es gibt Anzeichen dafür, dass ein Kampf stattgefunden hat, und wir müssen davon ausgehen, dass er den Täter kannte. Mehr lässt sich im Augenblick nicht sagen.«

»Gibt es etwas, das wir tun können?«

»Ja, geben Sie uns Bescheid, sobald Ihnen noch mehr einfällt. Es kann wichtig sein, egal, wie trivial es Ihnen vorkommen mag.«

»Mit anderen Worten also auf dem Hintern sitzen und Däumchen drehen, während da draußen ein Mörder herumläuft?«, fragte Glenn. Seine Trauer war von Wut abgelöst worden. Sein Blick war wieder klar. »Ich weiß, dass Sie nicht von hier sind. Aber lassen Sie sich gesagt sein, dass wir über Ressourcen verfügen: Leute, Ausrüstung, Genehmigungen – das alles ist nur ein Telefongespräch entfernt. Sie als Polizeibeamte müssen an Budgets und so etwas denken, aber uns mangelt es nicht an Mitteln. Wir werden dieses Schwein finden!«

Harinder wollte auf den polemischen Tonfall seines Gegenübers nicht eingehen, insbesondere nicht, weil Glenn sich anscheinend schon am Barschrank versorgt hatte.

»Sollten wir etwas benötigen, melden wir uns bei Ihnen«, entgegnete er so diplomatisch wie nur möglich.

Glenn sagte nichts, sondern sank mit gebeugtem Kopf nur tiefer in das Sofa.

»Ich hoffe, dass Sie es tun«, sagte Georg Davidsen. Der Patriarch sprach leise, aber deutlich. »Wir erwarten, über jede Entwicklung auf dem Laufenden gehalten zu werden.«

Das tust du ganz bestimmt, dachte Harinder.

»Dürfen wir uns Axels Zimmer ansehen?«, fragte Rachel.

Axels Zimmer lag im ersten Stock, im selben Flügel wie die Schlafzimmer seiner Eltern und seiner Schwester. Im Zimmer des jungen Mannes herrschte Ordnung. Keine Kleidung oder sonstige Gegenstände auf dem Fußboden. Das Bett war gemacht, mit beinahe militärischer Präzision. Schranktüren und Schubladen waren geschlossen. Der Schreibtisch war aufgeräumt. Keine losen Poster an den Wänden, alle waren eingerahmt. An der Wand gegenüber dem Bett hing ein Flachbildschirm von mindestens 40 Zoll.

»Viel kann er in letzter Zeit nicht hier gewesen sein«, sagte Harinder. »Meine Wohnung sieht chaotischer aus.«

»Aber du hast vermutlich auch keine Haushaltshilfe«, mutmaßte Rachel.

»Nicht mehr, seitdem meine Frau ausgezogen ist.«

»Womit wir immerhin dieses Mysterium gelöst hätten.«

»Dann lass uns doch mal sehen, ob wir ebenso geschickt dunkle Geheimnisse ausgraben können wie dummes Zeug von uns zu geben«, sagte Harinder. »Sieh dir doch bitte den Schrank und die Regale an.«

Er selbst trat an den Schreibtisch. Das einzig Interessante war das eingerahmte Foto einer sehr jungen, lächelnden Frau, bei der es sich vermutlich um Susanne Rustad, Axels Freundin, handelte. Oder Exfreundin. Eine fotogene Brünette mit Rehaugen, langem Pferdeschwanz und sonnengebräunter Haut. Harinder ging davon aus, dass sie hoch oben in der Liste der lokalen Schönheiten rangierte. Etwas anderes wäre für einen Davidsen auch nicht infrage gekommen.

Auf dem Boden neben dem Schreibtisch stand eine Computertasche. Darin befanden sich Fachbücher und ein Macbook. Eines der neuen Modelle, die so gut wie gar nichts wogen. Er legte das Laptop in einen Beweisbeutel. Mit dem Computer und dem Handy verfügten sie nun über die wichtigsten Gegenstände, die dem Opfer gehört hatten.

»Gilt das hier wohl als dunkles Geheimnis?«, fragte Rachel und hielt ein Pillenglas hoch, das sie im Regalfach hinter einigen DVDs entdeckt hatte. Das Gläschen war unbeschriftet. Die länglichen weißen Kapseln waren ganz sicher nicht in einer gewöhnlichen Apotheke gekauft worden.

»Amphetamin, falls ich mich nicht irre«, sagte sie.

»Wir nehmen sie mit, wobei ich nicht glaube, dass die Pillen etwas mit dem Mord zu tun haben«, sagte Harinder. »Axel Davidsen hat bestimmt nicht den falschen Leuten Geld geschuldet. Das tun derart stinkreiche Menschen für gewöhnlich nicht.«

Harinder ging noch einmal durch den Raum. Wenn es auch nicht wie ein typisches Jungenzimmer aussah, so war es doch ein Zimmer, in dem eine Kindheit stattgefunden hatte, in dem bleibende Erinnerungen geformt und in dem eine Zukunft geplant worden war. Eine so helle Zukunft, dass der Junge eine Sonnenbrille tragen musste, wie es in einem Lied hieß.

Eine Zukunft, die abrupt mit neun Messerstichen geendet hatte.

Kapitel 4

Lars Müller war auf dem Weg nach Hamar, als er am frühen Sonntagmorgen die Brugate passierte und die Absperrungen am Straßenrand entdeckte. Er erkannte den blauen Audi, den Glenn Davidsen seinem verwöhnten Sohn zum Geburtstag geschenkt hatte, und begriff sofort, dass irgendetwas Schlimmes passiert sein musste. Viele Jahre war er selbst Polizist gewesen, bis diese Deppen, die dem Polizeidistrikt Innlandet vorstanden, beschlossen hatten, eine Emanze aus Südwestnorwegen einzustellen, um die Leitung der Polizeistation Elvestad zu übernehmen. Früh hatte Müller verstanden, dass eine weitaus heller leuchtende Zukunft im privaten Bereich der Sicherheitsbranche auf ihn wartete. Wer hatte schon Lust, für eine humorlose und neurotische Frau zu arbeiten, die selbst hinter den unschuldigsten und bestgemeinten Äußerungen einen potenziellen Fall für die Personalabteilung zu wittern glaubte?

In Hamar wartete ein wohlhabendes Ehepaar, das nach einer Woche Urlaub auf den Malediven in ein Haus zurückgekehrt war, das man völlig auf den Kopf gestellt hatte. Jemand war in ihre Villa eingebrochen, hatte die Alarmanlage ausgeschaltet und kurzerhand Möbel und Wertgegenstände mitgehen lassen. Die Polizei verdächtigte eine litauische Bande, die in Ostnorwegen ihr Unwesen trieb. Ein schwacher Trost für das arme Paar, dem so gut wie alles an beweglichen Gütern gestohlen worden war, abgesehen vom Inhalt der beiden Koffer, die sie bei sich hatten.

Nachdem sie den Einbruch gemeldet hatten, riefen sie den ehemaligen Polizisten an, der kurz vor Weihnachten die Nachbarschaft vor Banden professioneller Einbrecher aus Osteuropa gewarnt hatte. Er hatte die Schwächen des standardisierten Sicherheitssystems aufgezeigt, das im Haus des Paars installiert war, und sich sogar die Mühe gemacht, ihnen zu demonstrieren, wie ein echter Profi mit entsprechender Ausrüstung das System ganz einfach umgehen könnte.

Ohne dass dies einen bleibenden Eindruck bei dem feinen Herrn und seiner mindestens 15 Jahre jüngeren Frau hinterlassen hatte.

Bis zum Eintreten des Schadens.

Müllers Großmut verbot ihm, einen Groll gegen das Paar zu hegen, und er versprach, am Sonntagmorgen vorbeizukommen und ein neues System zu installieren, das seine Firma rund um die Uhr auf dem Kontrollschirm haben würde. Er war sogar bereit, ihnen das System zum selben günstigen Einführungspreis zu verkaufen, den er ihnen vor einem halben Jahr versprochen hatte, und das, obwohl die entsprechende Kampagne bereits beendet war. Das Wichtigste war, dass der Finanzmann und seine Gattin sich in ihrem Heim sicher fühlten.

Sobald er mit der Arbeit fertig war, müsste er Rune anrufen und eine Verabredung mit ihrem festen Hehler in Oslo vereinbaren. Müller hatte die Villa im Dezember ausspioniert und festgestellt, dass das Paar viele schöne Sachen besaß, die wohl einen ordentlichen Batzen Geld wert waren.

All das musste allerdings warten, bis er herausgefunden hätte, was genau an der Elvestadbrücke vorgefallen war.

Er brauchte nicht viel Zeit. Der Streifenpolizist, der am Straßenrand Wache hielt, war ein alter Bekannter von Müller. Jon Fredly war ein Bulle der alten Schule. Ein verlässlicher Typ, der die Ärmel hochkrempelte und seine Arbeit machte, ohne zu seufzen und zu klagen, und der sich für seine Kollegen einsetzte.

Er sah nichts Verwerfliches in einem vertraulichen Schwatz mit einem alten Kollegen. Schnell verstand Müller, dass es um Mord ging, und dass es sich bei dem Opfer um den Sohn von Glenn Davidsen handelte. Ein verwöhnter und unangenehmer Rotzjunge, doch ungeachtet dessen der Erbe des gesamten Davidsen-Imperiums. Demnach also ein wichtiger verwöhnter und unangenehmer Rotzjunge.

Alles, was den Davidsen-Clan anging, ging auch Müller etwas an. Schon lange war sein Verhältnis zu der Familie in der Parkallé eine sichere Quelle für Zusatzeinnahmen und Privilegien gewesen.

Die Polizeichefin war überraschend früh vor Ort gewesen, um die Familie über das Auffinden des Toten zu informieren. Eigentlich war Müller froh, nicht derjenige sein zu müssen, der mit den schlechten Nachrichten aufkreuzte. Aber er zögerte nicht allzu lang, ehe er Glenn und Georg anrief, seine Anteilnahme ausdrückte und seine Dienste anbot. Er musste sein Angebot nicht wiederholen.

Der alte Georg war verzweifelt darüber, dass die Polizei die Kripo hinzugezogen hatte. Ihm gefiel der Gedanke nicht, dass Fremde in familiären Angelegenheiten herumwühlen würden. Viel besser fand er die Idee, dass ein alter treuer Freund wie Lars sich der Sache annahm.

An Mitteln sollte es nicht mangeln.

Müller konnte immer noch wie ein Polizist denken. Außerdem kannte er die lokalen Verhältnisse wesentlich besser, als es eine Clownstruppe aus der Hauptstadt jemals könnte. Der Schlüssel zur Lösung eines jeden Falls hieß Informationen, und eben diese einzuholen hatte er schon begonnen. Er hatte eine Liste mit Axels engsten Freunden erstellt und hatte Wind von einer großen Party bekommen, die am Samstagabend bei einem dieser Freunde stattgefunden hatte. Vielleicht war Axel ja direkt von der Party zur Brücke gefahren. In diesem Fall bezweifelte Müller allerdings, dass der Junge allein dorthin gekommen war.

Aber das würde er schon bald herausgefunden haben.

Müller wusste auch, wo er beginnen müsste; bei dem Mädchen, mit dem Axel die letzten zwei Jahre zusammen gewesen war. Die Tochter von Dan Rustad, diesem hirntoten Trottel, den die Einwohner zum Bürgermeister von Elvestad gemacht hatten. Das Mädchen würde sicher das eine oder andere zu erzählen haben.

Während seine alten Kollegen von der Polizeistation Elvestad und die Gäste von der Kripo vor ihren Computerbildschirmen hockten und Tortendiagramme analysierten, würde er von Angesicht zu Angesicht demjenigen gegenüberstehen, der Axel Davidsen erstochen hatte.

Noch ehe Müller mit ihm fertig wäre, würde der Betreffende auf Knien darum flehen, ein Geständnis ablegen zu dürfen.

Kapitel 5

Rachel Hauge machte es sich im einzigen Vernehmungsraum der Polizeistation bequem. Ein schlichter Raum mit grauen Wänden, lediglich mit einer Uhr ausgestattet. Videokameras und Aufnahmegeräte mussten bei Bedarf aus der Requisitenkammer geholt werden.

Unmodern und unpraktisch, dachte Rachel, die allerdings nichts Besseres erwartet hatte. Im Laufe ihrer acht Monate bei der Kripo hatte sie oftmals gesehen, wie schlecht es um die kleinen Polizeiwachen in den ländlichen Distrikten bestellt war. Warum sollte es daher in einem Ort, den ihr Kollege als »gottverlassenes Loch mitten Wald« bezeichnete, anders aussehen?

Nur selten hatte sie ihn mit so wenig Enthusiasmus an einen Fall herangehen sehen. Natürlich war er wie immer professionell bis in die Fingerspitzen, gleichwohl hatte sie bisher nichts von der Begeisterung gespürt, die er für gewöhnlich an den Tag legte. Tatsächlich hatte er sogar die Maus gebeten, sich nach einem anderen Ermittler umzuschauen. Dabei musste der Chef sonst darauf achten, dass Harinder sich nicht zu viel auf einmal vornahm. Wenn sie demnächst eine Pause einlegten, würde er ihr hoffentlich verraten, weshalb er diesen Ort so sehr verabscheute. Elvestad war beileibe keine Großstadt, wobei Rachel aus einem noch kleineren Ort stammte, der offiziell gar nicht als Stadt geführt wurde. Auch sie hätte so einiges über Rakkestad sagen können. Und dennoch war sie mehrmals im Jahr zu Hause, um ihre Eltern zu besuchen, ohne den Ort als Ursprung aller Plagen zu sehen. Tatsächlich gab es dort inzwischen sogar Menschen, deren Gesicht sich nicht krampfhaft verzog, wenn sie Hand in Hand mit einer Frau über die Straße ging.

Bei diesem Gedanken warf sie unwillkürlich einen Blick auf ihre rechte Hand. Noch immer gab es diese blasse Spur an ihrem Finger, der bis vor Kurzem noch mit einem goldenen Ring geschmückt war. Sie schätzte sich selbst gern als besonnen ein, tatsächlich aber hatte sie den Ring in einem Wutanfall vom Finger gezogen und gleich einem Projektil von sich geschleudert. Und damit war die ein Jahr währende Verlobungszeit abrupt beendet gewesen.

Wachtmeister Per Lyngstad rollte ein Wägelchen mit Aufnahmegeräten und einer Kanne frischem Kaffee in den Vernehmungsraum. Er montierte die Kameras und überprüfte, ob das Tonbandgerät funktionierte. Dann bereiteten sie sich auf die Ankunft der Frau und der drei jungen Männer vor, die als Zeugen vorgeladen waren. Tore André Bjølset, Vegar Caspersen und Frode Hagen hatten bereits draußen im Gang Platz genommen. Drei anscheinend ganz durchschnittliche junge Männer, die vom Ernst der Stunde geprägt waren. Noch vor einem knappen Jahr hatten sie gemeinsam die Schule besucht.

Harinder hatte die Vernehmungen an Rachel delegiert und vorgeschlagen, dass sie einen der lokalen Polizeibeamten hinzuziehen könne. Es mochte von Vorteil sein, wenn die Zeugen zumindest ein bekanntes Gesicht vor sich hätten. Per hatte sich sofort freiwillig für die Aufgabe gemeldet, obwohl er in den letzten 24 Stunden kaum geschlafen hatte.

»Kennst du einen von denen?«, fragte Rachel.

Per nickte.

»Die sind hier im Ort alle gut bekannt.«

»Und was hast du für einen Eindruck von ihnen?«

»Ich würde sagen, das sind ganz normale nette junge Männer«, erwiderte Per. »Vegar ist immer schon ein sympathischer und ordentlicher Junge gewesen. Gut in der Schule und ein aktiver Kirchgänger. Jetzt studiert er Ingenieurwesen in Gjøvik. Außerdem fährt er Motocross. Nimmt an Wettkämpfen teil, auf ziemlich hohem Niveau sogar.«

»Und die anderen?«

»Leisten ihren Militärdienst in Rena ab. Allerdings kann ich mir für die beiden keine glänzende akademische Zukunft vorstellen. Du darfst mich nicht missverstehen, das sind beide nette Jungs, aber sie beschäftigen sich in erster Linie mit Autos und Partys. Du kennst sicher diesen Typus.«

Rachel nickte. Sie kam aus Indre Østfold und kannte diesen Typus zur Genüge.

Axel Davidsen hatte zu einer der meist privilegierten Familien der Stadt gehört. An einem Ort wie Elvestad bedeutete das sozusagen eine Jugend ohne Gleichgestellte. Seine Freunde stammten aus relativ normalen Familien. Ihre Eltern waren Feuerwehrleute, Lehrerinnen, Zahnärzte und Buchhalter.

Nach dem Abitur waren die Freunde in verschiedene Richtungen versprengt worden, hatten allerdings den Kontakt gepflegt und trafen einander, wenn sie in den Ferien oder an den Feiertagen nach Hause kamen.

»Sollte ich sonst noch was wissen?«, fragte Rachel.

Per dachte nach, ehe er eine Antwort gab.

»Sie alle waren vor fast zwei Jahren Zeugen in einem Vermisstenfall«, sagte er schließlich. »Ein Mädchen aus ihrer Klasse ist in dem Sommer verschwunden. Der Fall hat damals hohe Wellen geschlagen. Sie hieß Carina Johnson und war die Freundin von Vegar Caspersen. Wir haben mit ihm und dem Rest der Klasse gesprochen.«

»Ist was dabei herausgekommen?«

Per schüttelte den Kopf.

»Vegar war mit seinen Eltern im Urlaub, als Carina verschwunden ist. Ich habe mehrmals mit ihm telefoniert, ehe die Familie nach Hause gekommen ist, um bei der Suchaktion zu helfen. Der Junge hat sich ihr Verschwinden sehr zu Herzen genommen.«

Nun, zwei Jahre später, war also einer seiner besten Freunde ermordet worden.

»Er tut mir wirklich leid«, sagte Per.

Rachel nickte.

»Wie ist der Fall ausgegangen?«

»Ist immer noch ungeklärt.«

Pers Tonfall nach zu urteilen, war das ein Fall gewesen, der ihn sehr beschäftigt hatte.

Vegar Caspersen war derjenige, der Axel am längsten gekannt hatte. Da Susanne Rustad noch nicht aufgetaucht war, beschlossen Rachel und Per die Befragung mit ihm zu beginnen.

Der 20-jährige Ingenieurstudent war groß und breitschultrig. Sein dichtes Haar war kurz geschnitten, stand aber in alle Richtungen ab. Es schien, als ob er durch das ständige Auf- und Absetzen seines Motorradhelms es nicht der Mühe wert fand, mit einem Kamm durch sein Haar zu gehen. Er setzte sich an die andere Seite des Tisches und nickte stumm. Die Röte unter seinen Augen verriet, dass er erst vor kurzer Zeit ein paar Tränen weggewischt hatte.

»Bitte erzählen Sie uns doch, wann Sie Axel zuletzt gesehen haben«, sagte Rachel.

Vegar war am Freitagnachmittag nach Staden gekommen, um die Feiertage mit seinen Eltern zu verbringen. Wie die Familie Davidsen hatten sie geplant, kurz vor Ostern ins Gebirge zu fahren. Er hatte Axel und die anderen erst am Samstag getroffen. Tore André Bjølset hatte einige Tage zuvor alle zu einer Party bei sich zu Hause eingeladen, seine Eltern waren verreist.

Am Vormittag war Vegar auf der Piste im Wald vor der Stadt gewesen, um mit seinem Motorrad zu üben. Er hatte für die nächste Landesmeisterschaft eine Medaille ins Auge gefasst und musste daher so oft es ging trainieren. Er und Axel hatten schon angefangen Motocross zu fahren, als sie beide noch in der Mittelstufe gewesen waren. Allerdings war Axel nach einer Weile abgesprungen.

Am Nachmittag hatte Frode Hagen ihn abgeholt, um die erforderlichen Einkäufe für die Party zu erledigen. Axel war Vegar erst begegnet, als sich die ganze Gang gegen fünf Uhr in der Pizzeria Palazzo in der Storgate traf. Die vier Kumpel plus die Freundinnen von Frode und Tore. Auch Susanne Rustad gehörte zu der alten Gang, aber sie war nicht mit zum Essen gegangen, weil sie zusammen mit ihrer Mutter irgendetwas erledigen wollte. Vegar wusste nicht was, jedenfalls war sie später am Abend zu der Party gekommen.

Zwischen Susanne und Axel war es vor einiger Zeit zur Trennung gekommen, aber soweit Vegar wusste, waren sie nicht im Streit auseinandergegangen. Axel hatte sogar genau darauf geachtet, dass sie wie sonst auch zur Party eingeladen wurde.

Die Party entwickelte sich zu einem klassischen Tore-Fest, wie sie es nannten. Obwohl sie primär für den engsten Freundeskreis gegeben wurde, waren im Laufe des Abends auch jede Menge anderer Gäste gekommen. Es handelte sich um alte Bekannte aus der Schule sowie einen Trupp aus Tores und Frodes Militärbasis. Vegar kannte nicht mal die Hälfte von ihnen. Sie hatten viel Bier und Selbstgebrannten getrunken, aber alles war ganz entspannt abgelaufen. Etwas zu laute Musik und die Beschwerde eines Nachbarn, aber kein Radau und keine Schlägereien.