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Die Zeit heilt keine Sünden.
Für den Mord an ihrer Mutter und ihrem Stiefvater saß Helene Waaler achtzehn Jahre lang im Gefängnis. Dann wird Kriminalkommissar Harinder Singh beauftragt, dem alten Fall nachzugehen, und ihm fallen Ungereimtheiten auf. Als Helenes leiblicher Vater Stig kurz nach ihrer Entlassung tot in seinem Haus aufgefunden wird, scheint sicher: Helene hat wieder zugeschlagen. Nur Harinder und Christina glauben an ihre Unschuld – und geraten damit ins Visier eines Mannes, der sich wie ein Schatten durch Elvestad bewegt …
„In Sachen Schreibtalent steht Næss dem norwegischen King of Crime Jo Nesbø in nichts nach. ‚Schuld‘ hält die Leser:innen bis zur letzten Seite in Atem.“ VG.
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Seitenzahl: 346
Eigentlich hat Harinder Singh kein Interesse daran, in einem abgeschlossenen, achtzehn Jahre alten Fall herumzugraben. Die Strafverteidigerin Christina Sandberg ist jedoch überzeugt, dass die Ermittlungen damals fehlerhaft waren. Sie hat für Helene Waaler, die für den Mord an ihrer Mutter und ihrem Stiefvater verurteilt wurde, die vorzeitige Entlassung aus der Haft erwirkt. Doch dann entdeckt Harinder mehr und mehr Ungereimtheiten. Helene versucht unterdessen, sich in Elvestad ein Leben abseits der Gefängnismauern aufzubauen. Als jedoch ihr leiblicher Vater Stig ermordet aufgefunden wird, gerät sie sofort unter Verdacht. Allein Harinder und Christina zweifeln an ihrer Schuld und stellen weitere Nachforschungen an. Dass damit jemand aufgescheucht wird, der lieber im Hintergrund bleibt, merken sie erst, als es schon zu spät ist ...
Sven Petter Næss, 1973 geboren, wuchs in Oslo auf. Er arbeitet mit Informations- und Kommunikationstechnologien für verschiedene Institutionen im universitären Sektor. Seit 2019 schreibt er erfolgreich Kriminalromane. Sein Roman »Furcht« erhielt 2020 die Auszeichnung für den besten Krimi Norwegens.
Im Aufbau Taschenbuch liegen seine Kriminalromane »Glut« und »Furcht« vor.
Andreas Brunstermann übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Norwegischen und Englischen. Er hat unter anderem Trude Teige, Roy Jacobsen, Jan-Erik Fjell und Jørn Lier Horst ins Deutsche übertragen. Er lebt in Berlin.
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Sven Petter Naess
Schuld
Kriminalroman
Aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann
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Kapitel 1 — Vierundzwanzig Tage zuvor Montag, 27. September
Kapitel 2 — Mittwoch, 29. September
Kapitel 3
Kapitel 4 — Freitag, 1. Oktober
Kapitel 5
Kapitel 6 — Montag, 4. Oktober
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9 — Montag, 4. Oktober
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12 — Kopenhagen, Dienstag, 5. Oktober
Kapitel 13 — Mittwoch, 6. Oktober
Kapitel 14
Kapitel 15 — Donnerstag, 7. Oktober
Kapitel 16 — Freitag, 8. Oktober
Kapitel 17 — Samstag, 9. Oktober
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21 — Samstag, 9. Oktober
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24 — Sonntag, 10. Oktober
Kapitel 25 — Montag, 11. Oktober
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28 — Dienstag, 12. Oktober
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31 — Mittwoch, 13. Oktober
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36 — Donnerstag, 14. Oktober
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42 — Freitag, 15. Oktober
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47 — Samstag, 16. Oktober
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54 — Sonntag, 17. Oktober
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60 — Sieben Monate später Donnerstag, 12. Mai
Kapitel 61 — Montag, 16. Mai
Kapitel 62 — Mittwoch, 18. Mai
Kapitel 63 — Donnerstag, 19. Mai
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67 — Freitag, 20. Mai
Kapitel 68 — Kopenhagen, Montag, 23. Mai
Kapitel 69
Kapitel 70 — Samstag, 13. September 2003
Kapitel 71 — Montag, 23. Mai
Kapitel 72 — Dienstag, 24. Mai
Epilog — Samstag, 4. Juni
Danksagung
Impressum
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Mit dem Wärmebild-Zielfernrohr kann er durch die abendliche Dunkelheit sehen.
Er hat einen ungehinderten Blick auf das weiße Holzhaus an der Spitze des waldbedeckten Hügels. Es liegt allein am Ende der Straße. Ein altes Haus, das schon bessere Tage gesehen hat. Irgendjemand hat mit einer Renovierung begonnen, die Arbeit aber nicht zu Ende gebracht.
Er hält ein Heckler & Koch MSG90 Scharfschützengewehr in den Händen, die bevorzugte Waffe sowohl des Spezialkommandos als auch der Marinejäger. Aus gutem Grund. Es funktioniert immer und richtet maximalen Schaden an.
Er liegt auf dem Bauch und wartet, versucht ruhig zu atmen. Verändert die Liegeposition, der Körper muss ganz entspannt sein.
Der einzige Muskel, den er anspannen wird, sitzt in dem Finger, der den Abzug betätigt.
Vierundzwanzig Tage zuvor Montag, 27. September
Der Himmel über der Justizvollzugs- und Sicherungsverwahranstalt Bredtveit war genauso grau wie die Mauern, hinter denen sie in den letzten achtzehn Jahren gelebt hatte.
Helene Waaler trat auf das Tor zu. Sie hörte das Verkehrsrauschen vom Trondheimsvei, der draußen am Gefängnis vorbeiführte. Für sie war es das Geräusch der Freiheit, der Lärm des Lebens, an dem sie endlich wieder teilnehmen würde.
Nachdem sie hierhergeschickt worden war, hatte man ihr nur ein paar wenige Freigänge gewährt. In der Zwischenzeit war sie zu einer vierzigjährigen Frau geworden, deren langes schwarzes Haar die ersten grauen Strähnen aufwies. Sie trug einen Rucksack von Fjällräven auf dem Rücken und eine Kiwi-Plastiktüte in der Hand, in denen sich ihr ganzes Hab und Gut befand.
Ein blauer Audi e‑tron stand auf dem Parkplatz. Helene winkte der Frau mit dem kurzen schwarzen Haar zu, die daneben wartete. Christina Sandberg war seit anderthalb Jahren ihre Rechtsanwältin. Sie war energischer als die beiden Vorgänger. Hatte sich für die vorzeitige Entlassung eingesetzt und schien fest an eine Wiederaufnahme des Falls zu glauben.
In den Augen der Gesellschaft war Helene noch immer eine gewissenlose Mörderin, die Person, die von den Boulevardblättern als »Norwegens gefährlichste Frau« bezeichnet worden war. Vermutlich primär deswegen, weil sie sich geweigert hatte, den Spielregeln zu folgen. Sie hatte keine Tränen vergossen, um Sympathiepunkte zu sammeln. Hatte niemals irgendetwas zugegeben.
Die Anwältin begrüßte sie freundlich und legte Helenes Gepäck auf die Rückbank. Dann nahmen sie Kurs auf Helenes alte Heimat Østerdalen.
»Es ist wichtig, dass du dich strikt an die Auflagen für die vorzeitige Entlassung hältst«, sagte Christina. »Die Staatsanwaltschaft hat sich gegen die Freilassung ausgesprochen, du musst daher damit rechnen, dass jedweder Verstoß gegen die Auflagen hart geahndet wird. Vor allem musst du der Meldepflicht nachkommen. Sie können Stichproben machen, um nachzuprüfen, ob du im nüchternen Zustand erscheinst. Ich vermute, dass sie das tun werden.«
»Ich habe keine Probleme mehr mit Drogen«, wandte Helene ein.
»Ich will es nur erwähnt haben. Die Rückfallquote für Insassen, die lange Strafen abgesessen haben, ist hoch. Viele meiner Mandanten kiffen, weil sie sich langweilen und dann die Routine vernachlässigen. Das ist unnötig.«
»Das wird mir nicht passieren.«
»Es beunruhigt mich, dass du zurück an einen Ort ziehst, wo du zwar bekannt bist, aber kein Netzwerk hast.«
Helene kam nicht umhin zu grinsen. Sie hatte außerhalb der Mauern ohnehin kein Netzwerk, egal, wo sie sich befand. Die alten Freunde hatten ihr vor langer Zeit den Rücken gekehrt, und das Netz, das man im Gefängnis knüpfte, hielt in der Regel nicht länger als bis zum Tag der Entlassung.
Im Heimatort allerdings wartete jemand, der bereit war, ihr einen Job zu geben. Ihre Tante betrieb gemeinsam mit ihrem Mann das Elvestad Motor Hotel. Wenn sie von dem versoffenen Schwein absah, das ihr biologischer Vater war, hatte sie keine weitere Familie.
»Du wirst auf Leute treffen, die dir nichts Gutes wollen«, warnte Christina.
»Ganz bestimmt. Ich habe nicht vor, mich zu verstecken. Apropos, konntest du eine Verabredung mit der Journalistin von Aftenposten vereinbaren?«
»Sie wird sich direkt mit dir in Verbindung setzen.«
»Gut.«
Die Journalistin hatte sie bereits im Vorfeld der Probeentlassung interviewt. Hatte ihr mit denselben alten Fragen zugesetzt: Was war eigentlich in jener Nacht auf Hof Strømnes passiert? Wenn sie ihre Mutter und ihren Stiefvater nicht umgebracht hatte, wer war es dann? Jetzt wollte sie ein Feature für die Wochenendbeilage produzieren. Auch von einem möglichen Buch über den kompletten Fall Strømnes war die Rede.
Helene hatte ein Interview während der Haftzeit abgelehnt. Die wenigen Male, die sie sich hatte verleiten lassen, etwas über den Fall zu sagen, hatten stets dazu geführt, dass sie in einem schlechten Licht dargestellt wurde. Die Journalisten drehten ihr die Worte im Mund herum oder rissen sie aus dem Zusammenhang.
Christina allerdings war der Ansicht, dass die Medien einen wichtigen Teil der Strategie ausmachten, die Aufmerksamkeit auf die Wiederaufnahme des Falls zu lenken. Sofern sie sich der Medien geschickt bedienten, konnten diese sich zu einem Sprachrohr für sie entwickeln. Helene war sogar gecoacht worden, wie sie am besten auf Fragen reagieren könnte.
Die grüne Stahlbrücke über die Glomma zeigte, dass sie wieder in Elvestad war. Oder Staden, wie die Einwohner ihre kleine Stadt gern nannten. Hinter den Baumwipfeln, die die Stadt umringten, stieg der Qualm der Papierfabrik auf. Trotz wirtschaftlicher Probleme und Skandale im Zusammenhang mit der Eigentümerfamilie stand der wichtigste Stützpfeiler der Stadt noch immer – wenn auch auf unsicheren Beinen. Der neue Vorstand hatte versucht, eine Distanz zur Vergangenheit herzustellen, indem der Papierfabrik der Name SAMDA verpasst worden war. Eine Neuausrichtung des Markenkerns, wie sie es nannten.
Helene bezeichnete es als denselben Dreck in neuer Verpackung.
Sie bemerkte das Fehlen des hohen Kirchturms im Stadtbild. Die alte Kirche war abgebrannt. Zu den leerstehenden Ladenlokalen an der Storgate waren weitere hinzugekommen. Im Gleichtakt mit neuen Kürzungen der Fabrikgehälter zeigten die Immobilienpreise konstant nach unten.
Doch nicht alles war negativ. Am Ende der Kirkegate stand eine neue und moderne Kirche, und endlich war auch der ganze Unrat weggeräumt worden, der sich im Laufe der Jahre unter der Elvestadbrücke angesammelt hatte. Was zuvor an eine Müllhalde erinnert hatte, war zu einer einladenden grünen Flusspromenade geworden.
Zukunftsglaube, Verzweiflung oder bloß die sture Weigerung aufzugeben?
Wie Helene die Stadt kannte, vermutete sie Letzteres.
Die Fahrt endete in der Ramms gate, einer L‑förmigen Sackgasse nahe der Schule, wo drei graue, vierstöckige Wohnblocks errichtet worden waren. Helene hatte eine Sozialwohnung im mittleren Block mieten können.
Es war eine spärlich möblierte Zweizimmerwohnung von 45 Quadratmetern. Eine Wohnung, die nur jemand wertschätzen konnte, der lange Jahre in einer Zelle gelebt hatte.
»Das ist nur vorübergehend«, sagte Christina. »Wir können was Besseres finden, sobald sich der Wirbel erst einmal gelegt hat. Ein Schritt nach dem anderen, oder?«
Helene nickte. »Ein Schritt nach dem anderen«, wiederholte sie.
»Brauchst du sonst irgendwas?«
Helene überlegte.
»Da war so eine Schachtel mit Sachen, die meiner Mutter gehört haben«, sagte sie. »Du weißt schon, Schmuck, Uhren, Briefe und so weiter. Die hätte ich gern.«
»Ich werde mal sehen, was ich finden kann. Wenn dir sonst noch was einfällt, melde dich einfach«, sagte Christina und überließ ihre Mandantin sich selbst.
Helene Waaler setzte sich auf einen Küchenstuhl. Blickte aus dem Fenster, wo sie Bäume sehen und trotz des grauen Himmels Vögel singen hören konnte.
Ein Schritt nach dem anderen, wiederholte sie für sich und versuchte das beklemmende Gefühl abzuschütteln, noch immer in einer Zelle zu sitzen.
Mittwoch, 29. September
Vorsichtig stieg Harinder Singh aus der Straßenbahn, die vor dem marmorverkleideten Gerichtsgebäude am C. J. Hambros plass angehalten hatte. Nachdem ihm endlich eine Kniegelenksprothese in das rechte Bein eingesetzt worden war, versuchte er sich daran zu gewöhnen, ohne Krücken auszukommen. Es war eine komplizierte Operation gewesen, die von Schmerzen, allgemeinem Unbehagen und langwierigen Reha-Maßnahmen begleitet war. Und sich langfristig gelohnt hatte.
In der Kaffeebar um die Ecke war es nicht allzu voll. Er kaufte einen doppelten Espresso und ein Stück Karottenkuchen und suchte sich einen Tisch weit entfernt vom Fenster. Als ob er am liebsten nicht gesehen werden wollte.
Einige Minuten nach ihm kam sie zur Tür hereingeeilt. Blaugrauer Blazer, Rock und über der Schulter eine große Umhängetasche mit Dokumenten. Direkt aus dem Gericht, wie ihm klar wurde. Die Zeit reichte offenbar gerade für eine kurze Kaffeepause, ehe es weiterging.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Ich bin froh, dass du so kurzfristig kommen konntest«, sagte Christina Sandberg.
»In meinem Terminkalender stand nicht so viel«, sagte Harinder.
»Wie geht’s denn deinem Knie?«
»Immer besser, behaupten sie.«
»Bist du noch krankgeschrieben?«
»Bis Ende nächster Woche.«
Danach wurde er in der taktischen Ermittlungsabteilung bei der Kripo zurückerwartet. Etwas, auf das er sich freute und vor dem ihm gleichzeitig grauste. Er sehnte sich zurück zu seiner Arbeit, war aber nicht sicher, ob er und sein Arbeitgeber nach den vergangenen Ereignissen wieder bei null anfangen konnten. Es hatte Reibereien zwischen ihm und der Leitung gegeben. Seine Nichte wurde von Interpol wegen Mordes gesucht. Seit zwei Jahren hatte sie niemand mehr gesehen, und ihm war die Schuld für ihr Entkommen zugeschoben worden. Wahrscheinlich nicht zu Unrecht.
»Ich wollte mit dir gern über eine Mandantin reden, die sich zufälligerweise in deiner Heimatstadt befindet«, sagte Christina.
»Helene Waaler?«
»Kennst du sie?«
»Ich weiß, dass sie vor zwei Tagen rausgelassen wurde.«
»Warst du in irgendeiner Weise in die damalige Ermittlung involviert?«
Harinder musste lachen. »Für wie alt hältst du mich? 2003 war ich ein blutjunger Streifenpolizist. Das war mein erstes Jahr in der Behörde.«
»Gut. Dann bist du jedenfalls nicht mehr voreingenommen als andere auch«, sagte Christina.
Harinder schnitt den Kuchen durch und bot ihr ein Stück an. Sie schüttelte den Kopf.
»Und wieso ist das gut?«, wollte er wissen.
»Weil ich dich um einen Gefallen bitten möchte.«
»Nein«, sagte Harinder.
»Wie bitte?«
»Du hast mich verstanden.«
»Aber ich habe doch noch nicht mal erwähnt, worum es geht.«
»Das brauchst du auch nicht. Ihr arbeitet daran, ihren Prozess neu aufzurollen. Und um das zu schaffen, braucht ihr neue Beweise. Die ihr nicht habt, weil eure Aussagen in der Presse sonst mehr als nur Rhetorik enthalten würden. Also muss jemand zu graben anfangen, damit das Urteil aufgehoben wird und ihr die Millionen für die Wiedergutmachung einstreichen könnt. Klingelt da was?«
Die Spur eines Lächelns huschte über ihr Gesicht.
»Du bist der beste Mordermittler des Landes, Harinder, aber momentan sitzt du auf der Zuschauerbank. Das ist die totale Verschwendung«, sagte sie. »Du kommst doch auch aus Elvestad. Du kennst die Verhältnisse dort besser als die meisten.«
»Du brauchst gar nicht so dick aufzutragen. Ich werde meine Hände jedenfalls nicht in dieses Wespennest stecken.«
Die Heimkehr der wegen Doppelmord verurteilten Frau hatte starke Reaktionen ausgelöst. Harinder hatte einen wütenden Leserbrief vom Bruder des einen Mordopfers gelesen. Er hatte daran erinnert, dass die ehemalige Black-Metal-Vokalistin nach einem Rockkonzert zum heimatlichen Hof zurückgekehrt war und Mutter und Stiefvater mit einer Pumpgun erschossen hatte. Vermutlich im Streit über Drogen. Er kritisierte, dass Helene Waaler jedwede Verantwortung für die Untaten von sich wies.
»Sie reißt Wunden auf, die nie ordentlich heilen konnten«, schrieb der Onkel.
Und das war vermutlich noch äußerst diplomatisch formuliert.
»Hast du vielleicht bessere Pläne?«, fragte Christina. »Rachel sagt, du langweilst dich zu Tode. Dass du ein Hobby brauchst.«
»Sollte ich Schwierigkeiten mit meiner freien Zeit bekommen, werde ich mich mit Sicherheit auch ohne euren Rat durchschlagen.«
Rachel war Harinders gute Freundin und Kollegin. Und außerdem die Ex-Partnerin von Christina.
»Hast du was gegen meine Mandantin oder gegen mich?«, fragte sie.
»Das ist nichts Persönliches, Christina. Aber als Polizist wird man bei manchen Dingen eben argwöhnisch.«
Für einen Verteidiger zu arbeiten, war, unabhängig von den Umständen, in etwa das Gleiche, wie auf die Dunkle Seite zu wechseln. Bei der Polizei gab es kaum eine andere Berufsgruppe, die gleichermaßen niedrig im Kurs stand. Und einige aus dieser Gruppe wandten mitunter die schmutzigsten Tricks an, um ihre Mandanten unabhängig von ihrer tatsächlichen Schuld in Schutz zu nehmen, und zogen schonungslos die Kompetenz und Integrität der mit dem jeweiligen Fall befassten Ermittler in Zweifel.
»Bedeutet die Wahrheit denn nichts, oder geht es hier nur um die Loyalität zum Rudel?«, fragte sie. »Genauso entstehen Justizirrtümer, Harinder. Niemand möchte einen Kollegen hintergehen oder zulassen, dass die Behörde das Gesicht verliert. Vergiss nicht, dass ich diese Kultur kenne. Es war gewiss nicht das Geld, das mich in den privaten Sektor gelockt hat, sondern die verfluchte Politik. All die ungeschriebenen Regeln. Aber das muss ich dir ja wohl nicht erklären.«
»Und was ist die Wahrheit?«
»Dass Helene Waaler das Recht hat, angehört zu werden. Sie hat fast ihr halbes Leben im Gefängnis verbracht. Und dennoch sagen manche, dass man sie niemals hätte freilassen dürfen. Mit diesem Urteil im Hintergrund wird es ihr fast unmöglich gemacht, ein normales Leben zu führen. Glaubst du vielleicht, dass es einfach ist, an einen Ort wie Elvestad zurückzukommen? Die Einzige, die ihr eine Arbeit geben wollte, ist ihre Tante. Helene hat einen Bachelor in Soziologie und muss jetzt als Zimmermädchen in einem Motel arbeiten.«
»Wer hat behauptet, dass es einfach wäre?«, entgegnete Harinder. »Noch ist sie eine Frau im besten Alter. Du sagst, sie habe ihr halbes Leben im Knast verbracht, aber immerhin hat sie ein Leben. Ihre beiden Opfer hatten da nicht so viel Glück. Und übrigens kannte ich eines von ihnen, falls du dich fragen solltest, mit wem ich hier sympathisiere.«
»Und wenn sie unschuldig ist?«
»Das halte ich für wenig wahrscheinlich. Auf Basis dessen, was ich weiß.«
»Genau. Auf Basis dessen, was du weißt.« Christine lächelte, als hätte sie einen Volltreffer gelandet. »Ich weiß jedenfalls, dass das Verfahren gegen Helene mindestens drei große Löcher aufweist, die jedes für sich schon Anlass für berechtigten Zweifel bietet. Als ich noch Polizeijuristin war, habe ich dafür gesorgt, dass die Fälle, die dann schließlich zur Anklage kamen, wasserdicht waren. Und das ist dieser nicht.«
Harinder blickte sie skeptisch an. Er wusste ja, dass Christina eine verflucht gute Polizeijuristin gewesen war. Eine der besten, mit denen er je gearbeitet hatte.
»Welche Löcher?«, ließ er sich hinreißen zu fragen.
»Lies dir die Falldokumente durch«, sagte sie. »Ein Mann wie du sollte sie schnell finden.«
»Selbst wenn ich dazu bereit wäre, könnte ich nicht ohne Rechtsgrundlage anfangen, in alten Ermittlungsunterlagen zu graben.«
»Du hast zwar keine Rechtsgrundlage, aber dafür hast du die Pflicht, nach Fehlern zu suchen. Wenn die Wiederaufnahme eines Falles bewilligt wird, ist der Fall nicht mehr alt. Die Frage ist nur, was du zu verlieren fürchtest«, sagte Christina.
»Meinen Ruf? Meine Karriere?« Harinder aß den halben Karottenkuchen auf und schob ihr die andere Hälfte zu. »Tut mir leid, aber ich kann dir nicht helfen.«
Rachel Hauge wartete auf das Ende des Arbeitstages, damit sie joggen gehen und danach ein großes Glas Rotwein trinken konnte. Schon den dritten Tag in Folge saß sie in einem zivilen Polizeiwagen vor einem Klempnerbetrieb und hoffte darauf, dass der Inhaber auftauchte. Worauf ihrer Ansicht nach kaum eine Chance bestand. Sie mussten davon ausgehen, dass der Menschenhändler vor der Kripo gewarnt worden war.
Nachdem man Harinder Singh krankgeschrieben hatte, war Rachel dem Team eines anderen Kommissars zugeteilt worden – einem Veteranen, der den Ausdruck »die alte Schule« verwendete, als handele es sich dabei um einen Ehrentitel. Anstatt befördert zu werden, wie es der Abteilungsleiter erwähnt hatte, wurde sie jetzt wie eine Anfängerin behandelt, die sich mit allen möglichen Drecksarbeiten zufriedengeben musste.
Es gab Grenzen dafür, wie lange sie bereit war, sich damit abzufinden. Der Kommissar könnte vielleicht in einem Jahr in Pension gehen. So lange hatte sie nicht vor zu warten. Wenn nicht bald etwas passierte, müsste sie mit dem Chef ein ernstes Wort über ihre Zukunft reden.
Gerade als ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, erschien der Name des krankgeschriebenen Kollegen auf dem Handydisplay.
»Störe ich?«, fragte Harinder.
»Nur meine Phantasien über rituellen Selbstmord. Was gibt’s?«
»Ich war heute früh Kaffee trinken mit deiner Ex.«
»Falls du ein Mittel gegen Läuse benötigst, können sie dir in der Apotheke bestimmt etwas empfehlen.«
»Aua. Ich dachte, ihr hättet euch geeinigt, wieder auf zivilisierte Weise miteinander umzugehen.«
»Das haben wir. Es ist nur …«
Sie führte den Satz nicht zu Ende. Er wusste, was sie meinte. Ex-Partner waren kompliziert. Von Hals über Kopf verliebt sein bis zu dem Punkt, an dem man sich fragte, ob man die Person überhaupt leiden konnte. Als sie sich kennengelernt hatten, war Christina eine sieben Jahre ältere Polizeijuristin, während Rachel noch als unbeschriebenes Blatt in Uniform herumstolzierte. Christina stammte aus einer feinen Familie aus Bygdøy und war mit einem Promi-Anwalt verheiratet, mit dem sie einen fünf Jahre alten Sohn hatte. Nicht der ideale Ausgangspunkt für eine neue Beziehung, doch Rachel hatte sich mitreißen lassen. Alle im Polizeipräsidium hatten plötzlich etwas, worüber sie tratschen konnten.
»Was wollte sie?«, fragte sie.
Sie bekam die Kurzversion geschildert. Christina wollte einen Ermittler anwerben. Rachel konnte sie verstehen. Einen hochverdienten Kripomann wie Harinder an Bord zu holen, wäre wirklich ein gelungener Coup.
»Jetzt erzähl mir bitte nicht, dass du zugesagt hast.«
»Ich habe Nein gesagt.«
»Gut. Weiter so. Christina glaubt sowieso nicht, dass du irgendwas beweisen könntest, das ist der Punkt. Du hast einen bekannten Namen. Allein die Tatsache, dass du das Fallmaterial durchsähest, würde ihre Pläne legitimieren, und das will sie natürlich ausnutzen.«
»Das ist mir alles schon klar. Ich wollte dich nur auf dem Laufenden halten«, sagte Harinder. »Hast du ihr erzählt, dass ich mich zu Tode langweile und ein Projekt brauche, um mir die Zeit zu vertreiben?«
»Hat sie das gesagt? Ich habe sie nämlich seit Längerem nicht gesehen.«
»Sie meint, das Urteil sei fehlerhaft, und sie schien sich ihrer Sache sehr sicher zu sein«, entgegnete Harinder.
»Das ist sie in der Regel. Aber den Köder solltest du nicht schlucken«, sagte Rachel. »Ich war damals noch ein Teenager, erinnere mich aber an das Stück, das die Band von Helene Waaler damals herausgegeben hatte. Eines dieser schlechten Lieder, die nur bekannt werden, weil sie als berüchtigt gelten. Erinnerst du dich daran?«
»Metal war jetzt nicht so mein Ding.«
»Es hieß ›Patricide‹.«
Helene Waaler und die Band Death of Utopia hatten es auf einer Bühne in Oslo aufgeführt, nur Stunden bevor sie nach Hause gefahren war und ihre Eltern hingerichtet hatte.
One night I’ll knock on your door
and kill you all
Freitag, 1. Oktober
Er rannte über ein Kornfeld, fort von den Schreien und Gewehrschüssen.
Es war stockdunkel, das Feld war von Nebel eingehüllt. Er konnte kaum sehen, wo er langlief, und stolperte immer wieder über die Unebenheiten am Boden. Die Geräusche waren das Einzige, woran er sich orientieren konnte. Diese herzzerreißenden Geräusche. Er rannte, bis er außer Atem war und Blutgeschmack im Mund hatte. Doch egal, wie sehr er sich vorwärtsmühte, erschien es ihm, als käme er kaum vom Fleck.
Er sah über die Schulter und registrierte einen Schatten, der näher kam. Dann stolperte er abermals, und dieses Mal fiel er hin. Er drehte sich auf dem kalten Boden herum und hob den Kopf, um dem Jäger in die Augen zu blicken.
Harinder erwachte in seinem Bett. Er blieb liegen und wartete darauf, dass sein Puls sich wieder beruhigte. Noch immer saß ihm der Traum in den Knochen. Nach einer Weile setzte er sich im Bett auf. Das steife rechte Bein machte sich bemerkbar, aber nicht mehr so sehr wie früher.
Es war gerade mal zehn vor fünf, doch er wusste, dass er nicht wieder einschlafen würde. Einen Moment lang blieb er auf der Bettkante sitzen und kämpfte gegen den Drang, sich eine Zigarette anzuzünden. Er hatte Savi versprochen, mit dem Rauchen aufzuhören. Da seine Tochter jetzt bei ihm wohnte, war es schwierig, das Versprechen zu brechen. Sie konnte mit der Präzision eines Drogenspürhunds die kleinste Spur von Zigarettenrauch erschnüffeln.
Harinder zog ein T‑Shirt über und betrat die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Die Straße draußen war noch nicht wieder zum Leben erwacht. Wobei in dieser Straße ohnehin nicht von viel Leben gesprochen werden konnte. Harinders Wohnung im Maridalsvei lag dicht am Vøyensving, einer Straße, die bewies, dass man auch mitten in der Stadt friedlich wohnen konnte. Es wäre geradezu idyllisch gewesen, wenn nicht dieser braune Blechkasten von Wohnblock auf der anderen Straßenseite den Blick auf Iladalen verstellt hätte.
Er nahm die Zeitung von der Türmatte und setzte sich an den Küchentisch, auf dem alte Zeitungen aus der Vorwoche gestapelt lagen. In den vergangenen Monaten war Harinder zu einem fleißigen Leser geworden. Zeitungen, Bücher, Zeitschriften. Auf diese Weise füllte er seine langen, monotonen Tage aus. Die Abende beschloss er gern mit einem Film. Am liebsten einem alten mit Humphrey Bogart, Clint Eastwood oder dem Bollywood-Star Amitabh Bachchan.
Er breitete die druckfrische Zeitung auf dem Küchentisch aus und zog die Wochenendbeilage heraus. Die Titelseite zeigte das Gesicht einer Frau mit blassem Gesicht, nussbraunen Augen und langem schwarzen Haar.
»EINE UNSCHULDIGE FRAU?«, lautete die dazugehörende Schlagzeile.
Die Jahre hatten die schärfsten Kanten ihres Gesichts abgeschliffen. Vor langer Zeit hatten sie beide dieselben Schulen in Elvestad besucht, von der Grundschule bis zur Oberstufe, allerdings war sie zwei Klassenstufen unter ihm gewesen.
Helene Waaler.
Harinder brauchte seinen Alptraum gar nicht zu analysieren. Die Botschaft hätte auch nicht deutlicher sein können, wenn sie ihm von einer Looney-Tunes-Figur mit einem Vorschlaghammer in den Kopf gehämmert worden wäre.
Die Strømnes-Morde.
Die Freilassung der Täterin hatte den Fall aus dem Schlaf des Vergessens gerissen. In der Wochenendbeilage gab es mehrere Seiten mit einem umfangreichen Interview von Helene Waaler, während andere Zeitungen Faktenboxen abdruckten und True-Crime-Experten ausführlich zu Wort kommen ließen. Sogar dieser dicke Professor aus Schweden hatte etwas zu sagen. VG hatte den Drummer aus ihrer alten Band aufgespürt, der von dem letzten Abend mit der Truppe erzählte. Ein Auftritt in einem Osloer Rock-Club, nur wenige Stunden vor der Tragödie in dem Haus in Elvestad.
Harinder erinnerte sich sehr viel klarer an die Details, als er gegenüber Christina Sandberg eingeräumt hatte. Als ihn die Neuigkeiten aus der alten Heimat erreichten, hatte er es kaum glauben können. Elvestad war doch ein Ort, in dem niemals etwas passierte, und plötzlich gab es einen Doppelmord.
Eines der Opfer war Britt Strømnes. Sie war seine Klassenlehrerin in der Unterstufe gewesen, die Favoritin der Teenagerjungs, die beim Anblick ihres hübschen Gesichts mit dem warmen Lächeln, den tiefblauen Augen und dem rotblonden Haar jedes Mal in totale Verwirrung gerieten. Die Badeausflüge mit viel nackter Haut und steifen Brustwarzen waren Anlass für eine Menge schlafloser Nächte auf der Klassenfahrt in der Neunten gewesen.
Vor allem hatte er jedoch in Erinnerung, dass sie nett gewesen war. Sie kümmerte sich um ihre Schüler und hatte immer ein offenes Ohr. Stets hatte sie einen aufmunternden Kommentar, und immer, wenn sie auf der Straße an ihm vorbeifuhr, winkte und lächelte sie.
Er erinnerte sich an den Schock, als er hörte, dass sie ermordet worden war. Wie er seine Gesichtszüge unter Kontrolle halten musste, als die Kollegen bei der Polizei über den Fall diskutierten. Seine Trauer konnte er erst zeigen, als er wieder allein war.
Die Familientragödie erreichte ihren Höhepunkt, als ihre Tochter Helene verhaftet und des Mords beschuldigt wurde. Eine überraschende Wendung, die doch nicht unmittelbar schockierte. Helene hatte von der warmen Ausstrahlung ihrer Mutter nur wenig geerbt. Sie hatte nur wenige Freunde und fing vor allen anderen ihres Alters zu rauchen und zu trinken an. Ganz zu schweigen von ihrem explosiven Temperament.
Harinder musste an eine Episode aus der Unterstufe denken. Eine Schulstunde, die durch laute Stimmen auf dem Gang gestört wurde. Der Lehrer öffnete die Tür, um nachzusehen, was los war, und Harinder war einer derjenigen, die neugierig durch den Türspalt spähten. Was er sah, war eine fuchsteufelswilde Helene mit knallrotem Gesicht, die dem Schulinspektor ein paar Bücher hinterherwarf und brüllte, er sei ein Pädoschwein. Als ein anderer Lehrer sie festzuhalten und zu beruhigen versuchte, biss sie ihm in die Hand.
Sie wurde für eine Woche suspendiert.
Ein Problemkind.
Harinder wusste seinerzeit nicht, dass ihr Leben eine Hölle gewesen war, bis sie und ihre Mutter schließlich ihrem biologischen Vater entkommen konnten. In dem aktuellen Interview nahm die Zeitung bei der Erwähnung ihres Vaters kein Blatt vor den Mund. Sowohl er als auch ehemalige Liebhaber, die Helene ausgenutzt und misshandelt hatten, bekamen ihr Fett weg. Ein heftiger Bericht über ein Mädchen, das sich selbst verletzt, unter Essstörungen gelitten und schon im Alter von vierzehn Jahren Haschisch geraucht hatte. Ein Mädchen, dem die erforderliche Hilfe nicht zuteilgeworden war.
Doch eine unschuldige Frau?
Daran zweifelte Harinder. Norwegen verfügte – mit wenigen Ausnahmen – über ein funktionierendes Rechtssystem. Als Polizist war er jedoch oft frustriert über Anklagevertreter, die eine offensichtlich schuldige Person entkommen ließen, weil die Beweislage angeblich zu schwach war. Die Liste solcher Fälle war lang, gerade weil das Risiko eines Justizirrtums minimiert werden sollte.
Die Beweise gegen Helene Waaler mussten stark gewesen sein.
»Du wirst auf Leute treffen, die dir nichts Gutes wollen.«
Die Rechtsanwältin hatte sie gewarnt, und Helene glaubte darauf vorbereitet zu sein, dass es sich bei Elvestad um feindliches Territorium handelte.
Am Freitagnachmittag stand sie bei der Rückkehr von der Arbeit vor dem Briefkasten. Es war keine gewöhnliche Post gekommen, nur ein zusammengefaltetes A4‑Blatt, das jemand durch den Schlitz geschoben hatte. Sie faltete es auseinander und starrte auf die großen roten Buchstaben.
Sie holte tief Luft. Fasste nach dem ovalen Goldmedaillon mit dem Blumenmuster, das sie um den Hals trug. Sie hatte es in der Schachtel mit den Sachen ihrer Mutter gefunden, die Christina ihr nach Hause geschickt hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter es je getragen hatte, doch es war ein hübsches Schmuckstück.
Im Laufe der letzten Tage hatte sie – von Menschen, die nicht einmal versuchten, diskret zu sein – neugierige und ängstliche Blicke sowie anklagende Bemerkungen geerntet. Doch dieser Zettel war etwas anderes. Er überschritt eine Grenze.
Anonymer Absender, jeder x‑Beliebige konnte also dahinterstecken. Oder etwa nicht?
Sie dachte an die Tage, die seit ihrer Entlassung vergangen waren, an die Menschen, denen sie begegnet war.
Jeden Tag fuhr sie mit dem Bus zur Arbeit. Die Haltestelle lag an der Südseite des Stadtzentrums, gleich hinter dem stillgelegten Bahnhof. Von dort konnte sie direkt in die Werkstatt des Mannes blicken, von dem sie zwar ihren Namen hatte, der ansonsten aber nur für blaue Flecken und Kindheitstraumata verantwortlich war. Sie konnte nicht begreifen, dass jemand Stig Waaler aufsuchte, um sich von ihm seinen Wagen reparieren zu lassen. Nichts scheute dieser Mann mehr als harte Arbeit.
Sie hatte ihn auf dem Platz vor der Werkstatt stehen und rauchen sehen. Und er hatte sie gesehen.
Die Therapeutin im Gefängnis hatte sie darauf vorbereitet, dass sie früher oder später auf ihren Vater stoßen würde. Das Gleiche galt für »Onkel« Morten, den Bruder ihres Stiefvaters. Der einen gegen sie gerichteten bösen Leserbrief in der Lokalzeitung verfasst hatte. Weit weniger vorbereitet war sie hingegen auf den Busfahrer gewesen, der sie hässlich angestarrt hatte, als sie am Donnerstag zur Arbeit gefahren war.
Ein großer Mann mit glatt rasiertem Schädel und grauem Kinnbart. Sie hatte nicht zurückgestarrt, im Gefängnis lernte man, unfreundlichen Blicken auszuweichen. Erst nach einer Weile war ihr klargeworden, dass es Niels sein musste, der da am Steuer saß. Dass sie überhaupt darüber nachgrübelte, zeigte, wie sehr die Jahre ihm mitgespielt hatten. Helene war schockiert angesichts des Verfalls.
Wo er doch früher so schneidig gewesen war. Ein verlogener Drecksack, das ja, aber dennoch anziehend.
Seit dem Prozess hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Davor waren sie beide die Triebkräfte hinter Death of Utopia gewesen. Gemeinsam hatten sie alle Stücke geschrieben, sie die Texte und er die Musik. Niels hatte darüber phantasiert, wie die Metal-Szene ihnen zu Füßen liegen würde. Und Niels hatte sie mit Speed bekannt gemacht.
Dann gab es noch die Leute, mit denen sie im Elvestad Motor Hotel zusammenarbeitete.
Tante Wencke war in Ordnung. Sie war die kettenrauchende kleine Schwester von Stig. Sie ähnelten einander, von der krummen Nase bis zu den buschigen Augenbrauen, doch ihre Gemüter unterschieden sich. Die Tante war jovial, redselig und tief gläubig. Vergebung war eine große Sache.
Onkel Roy mochte Helene nicht und wollte sie nicht im Hotel haben, aber er hatte nicht viel zu sagen. Der ehemalige Boxer war im Ring ein Profi gewesen, wirkte zu Hause allerdings eher wie ein Hasenfuß.
Helene bezweifelte, dass der Zettel von ihm oder einem der anderen Hotelangestellten stammte. Jedenfalls war Roy mehr der direkte Typ.
Sie las die Nachricht noch einmal. Ihr Gefühl sagte ihr, dass dies nur der Anfang war.
DU HÄTTEST DICH FERNHALTEN SOLLEN, DRECKSHURE!
Montag, 4. Oktober
Die Morgenzeitung hatte Gesellschaft bekommen, als Harinder die Tür öffnete. Eine Papiertüte vom Lieferdienst mit Brötchen, Croissants, Brotbelag und Orangensaft. Und außerdem zwei zusammengebundene dicke Polsterumschläge mit seinem Namen auf dem oberen. Keine Absenderangabe, doch Harinder hatte einen Verdacht.
Der bestätigte sich, als er die Umschläge öffnete. Es waren Kopien der Fallunterlagen über die Strømnes-Morde 2003. Informationen über die Opfer und die Beschuldigte, technische Untersuchungsberichte, Illustrationen, Vernehmungsprotokolle, Zeugenaussagen und andere Dokumente, die sich im Laufe der Entwicklung des Falls angehäuft hatten.
Am interessantesten war der zusammenfassende Bericht, der eine umfangreiche Übersicht aller der Anklage zugrunde liegenden Beweise enthielt. Falls man sich in den Fall einarbeiten wollte, wäre es am besten, mit diesem Bericht zu beginnen.
Falls.
Die verschiedenen Unterlagen waren digitalisiert und über die Datenbank der Polizei abrufbar. Harinder hätte sich das Material demnach auch selbst beschaffen können, sofern er gewollt hätte. Doch Papierkopien waren besser. Nicht nur, weil sie leichter zu lesen waren, sondern auch weil das Register bei so alten Fällen wie diesem schnell Fehler beinhalten konnte. Außerdem wurde jeder Tastendruck protokolliert, es würde also nicht unbemerkt bleiben, wenn er in den Dateiordnern herumschnüffelte.
Christina wusste dies alles natürlich.
Das i‑Tüpfelchen war das Foto, das sie an den Bericht geheftet hatte.
Ein Klassenfoto aus der Mittelstufe der Elvestad-Schule im Jahr 1994.
Ziemlich weit links in der zweiten Reihe stand ein molliger Junge mit etwas dunklerer Haut als der Rest seiner Klasse, struppigem Haar und linkischem Lächeln. Ganz am Rand stand die Norwegischlehrerin in einem roten Kleid mit gelben Blumen und mit dem strahlenden, natürlichen Lächeln, an das er sich noch heute erinnerte.
Christina war wirklich gut, das musste man ihr lassen.
Sein Fokus würde immer auf den Opfern liegen, auf denen, die nicht mehr für sich selbst sprechen konnten. Und Christina erwartete nichts anderes.
Den Köder solltest du nicht schlucken.
Er blätterte durch den ersten Teil der Mappe. Sah das Foto, das dem Bericht über die Verhaftung beigefügt war. Es war nicht sehr schmeichelhaft. Mit erweiterten Pupillen starrte Helene Waaler in die Kamera, ein intensiver Blick, der zu dem FUCK THE WORLD-Shirt unter der offenen Lederjacke passte. Ungepflegtes Haar und verlaufenes Make‑up.
Das Foto war nur Stunden nach den Morden entstanden, kurz bevor man sie formell beschuldigt hatte. Allerdings war sie zunächst gar nicht deswegen festgenommen worden. Sie galt als Zeugin, und ein Streifenwagen hatte sie an der Bushaltestelle Lillevann aufgegriffen, einen Kilometer vom heimatlichen Hof entfernt. Sobald sie den Wagen entdeckt hatte, versuchte sie zu fliehen. Als die beiden Polizisten sie später in die Polizeistation zerrten, hatte der eine Kratzspuren im Gesicht, während der andere nach einem Tritt in den Unterleib noch immer hinkte.
Harinder dachte, wie tief sie sich von Anfang an doch in den Dreck geritten hatte.
Ungeachtet dessen behauptete also diese gewiefte Anwältin namens Christina Sandberg, dass der Fall Schwachstellen aufwies. In Ordnung. Wenn sie unbedingt seine Expertenmeinung dazu hören wollte, dann sollte sie diese bekommen. Allerdings war nicht sicher, ob die ihr gefallen würde.
»Was ist denn das?«
Savi war aufgestanden. Sie gähnte und streckte sich, ihr langes dunkles Haar war verwuschelt, und sie trug dieses abgewetzte Unterhemd, in dem sie so gerne schlief. Harinder hatte sich noch nicht richtig an die Tatsache gewöhnt, dass er jetzt eine erwachsene Tochter im Haus hatte. Sie war achtzehn Jahre alt und im letzten Jahr der Oberstufe.
»Frühstück«, sagte er.
»Super.«
Sie wühlte in der Tüte mit den Lebensmitteln und Getränken, ohne weitere Fragen zu stellen. Harinder nahm die Aktenmappen mit ins Wohnzimmer und setzte sich in die Sofaecke.
Es war Montagmorgen und die letzte Woche seiner Krankschreibung.
Der Nachbar hatte die Schüsse auf Hof Strømnes als Erster gemeldet. Es war zwanzig vor zwei in der Nacht auf Samstag, den 13. September. Aufgrund mangelnder Kapazitäten in der Elvestad-Polizeistation dauerte es über eine halbe Stunde, bis der erste Streifenwagen vor Ort war.
Bei den Opfern handelte es sich um den dreiundvierzigjährigen Jonas Strømnes und seine zwei Jahre jüngere Frau Britt.
Jonas war Bauer in vierter Generation und Eigentümer des Hofs. Ein Foto in den Fallunterlagen zeigte einen breitschultrigen Mann mit blondem lockigen Haar und Bartstoppeln. Er hatte eine Narbe auf der Oberlippe, die von einer ehemaligen Lippenspalte zeugte. Ein Schönheitsfleck in einem groben Gesicht.
Im Gegensatz zu Britt war er nie zuvor verheiratet gewesen und hatte keine Kinder. Auch in den sechzehn Jahren ihres Zusammenlebens auf Strømnes hatten sie keine gemeinsamen Kinder bekommen, es gab keinen Erben, der den Hof hätte übernehmen können. Es gab nur Helene, die Britt im Alter von zwanzig Jahren auf die Welt gebracht hatte.
Im Jahr 2003 war der Polizeidistrikt Hedmark entstanden, der achtzehn Jahre später im Zusammenhang mit verschiedenen Neuordnungen wieder aufgelöst werden sollte. Der Bezirk hatte die offizielle Verantwortung für die Ermittlungen im Fall Strømnes übernommen, mit technischer und taktischer Unterstützung durch die Kripo. Harinder registrierte den Namen des Kollegen, der den taktischen Beistand geleistet hatte.
Hauptkommissar Eystein Musæus.
Oder »die Maus«, wie der Zweimetermann im Kripogebäude genannt wurde. Inzwischen Abteilungsleiter und Harinders gegenwärtiger Vorgesetzter.
Harinder schüttelte den Kopf und kam nicht umhin, Christina in Gedanken zu tadeln. Er kam mit seinem Chef relativ gut aus, doch sie beide waren stur und temperamentvoll, was mitunter zu gewissen Reibungen geführt hatte. In einem seiner alten Fälle herumzuwühlen, würde ihr Verhältnis wohl kaum verbessern.
Gleichwohl war Musæus ein Paradebeispiel dafür, dass nicht nur untaugliche Ermittler im System nach oben gelobt wurden. Er war ein Fachmann bis in die Fingerspitzen und duldete keine Schlampereien und Abkürzungen.
Was in Harinder eine gewisse Skepsis in Bezug auf Christinas Behauptungen hervorrief.
Der Tatort ließ sich mithilfe des umfangreichen Bildmaterials untersuchen. Harinder sortierte es und versuchte, die Umgebung zu visualisieren und sein Bewusstsein auf den 13. September 2003 zu fokussieren.
Der Hofplatz lag am Ende einer langen Auffahrt. Ein gelbes Wohnhaus aus den fünfziger Jahren, eine heruntergekommene Scheune mit abgeplatzter roter Farbe und eine ältere Gesindestube, die zeitweilig vermietet wurde. Doch zu dieser Zeit hatte sie leer gestanden.
Er herrschte Nebel am frühen Morgen, genauso wie er es in der Nacht zuvor geträumt hatte. Zuckende Blaulichter und schnell aufgebaute Scheinwerfer, die die Dunkelheit zu durchdringen versuchten. Zwischen den einzelnen Lichtmasten gab es viel Platz.
Auf dem Boden gleich neben dem Kiesweg glänzte ein metallischer Gegenstand. Beweis Nummer eins, eine Pumpgun von Remington. Die Mordwaffe, die die Täterperson nach der Benutzung achtlos weggeworfen hatte.
Harinder versetzte sich selbst in das Innere des Hauses.
Jonas Strømnes lag am Fuß der nach oben führenden Treppe auf dem Rücken. Umgeben von Blut, das aus einer großen Schusswunde in der Brust ausgetreten war. Seine leeren Augen waren weit aufgerissen. Sein kariertes Flanellhemd stand offen, der Ledergürtel saß locker um die Hüfte.
Allein der Anblick des getöteten Bauern erklärte einen Teil des Tathergangs. Er musste jemanden im Haus herumschleichen gehört haben und war aufgestanden, um nachzusehen. Er hatte sich in aller Eile angezogen und war gerade die Treppe hinuntergekommen, als er auf die Person mit dem Gewehr stieß.
Aus kurzer Distanz war er erschossen worden.
Ein Foto zeigte eine leere Patronenhülse auf dem Boden neben ihm. Kaliber zwölf.
In Gedanken ging Harinder die Treppe hinauf. Von den Blutspritzern an der Wand am oberen Ende der Treppe gab es ein extra Foto.
Britt Strømnes lag im Flur vor dem Schlafzimmer, das sie sich mit ihrem Mann geteilt hatte. Mit dem Nacken lehnte sie schräg an der Wand. Ihr langes weißes Nachthemd war blutverschmiert. Teile ihres Schädels waren verschwunden und hatten sich mit der verspritzten Hirnmasse vermischt, die an der Wand klebte.
Harinder rümpfte die Nase. Die hübsche Lehrerin, an die er sich erinnerte, war nicht wiederzuerkennen.
Und wieder wirkte der Ablauf ganz klar. Sie musste auf den Lärm unten reagiert haben und war ihrem Mann gefolgt. Die Täterperson hatte aus der Entfernung auf sie geschossen und dabei ihren Arm getroffen.
Verletzt und sehr wahrscheinlich in einem Anfall von Panik musste Britt versucht haben, in die entgegengesetzte Richtung zu fliehen. War aber dann von der Person mit der Flinte eingeholt worden. Beim zweiten Versuch hatte der Schütze sie in den Kopf getroffen.
Eine gnadenlose Hinrichtung.
Diese Handlung hatte dazu geführt, dass Helene Waaler mit der Höchststrafe von einundzwanzig Jahren bedacht worden war. Die Ermordung von Jonas konnte, im äußersten Fall, mit einer Affekthandlung erklärt werden. Doch Britts Tod war die Folge einer wohlüberlegten Handlung. Sie hatte nicht nur einmal geschossen und ihren Arm verletzt, sondern sie musste das Gewehr durchgeladen haben, ehe sie die Treppe hinaufgestürzt war und den Job beendet hatte.
Sie hatte ihrer Mutter nicht einen Hauch von Gnade gewährt.
Auf den ersten Blick war alles wie erwartet. Harinder fand, dass die Ermittlung vielleicht ein wenig eingleisig verlaufen war, was zweifellos einen von Christinas Kritikpunkten ausmachte. Doch die technischen Beweise, die Helene Waaler zu Fall gebracht hatten, waren überzeugend.
Erstens: Sie konnte zum Zeitpunkt des Mordes mit dem Tatort in Verbindung gebracht werden.
Nach dem Konzert in Oslo war sie mit der Band zurückgefahren und hatte geplant, bei ihrem Liebhaber Niels Lund in Elverum zu übernachten. Ein hitziger Streit im Wagen zwischen Helene und ihm führte jedoch dazu, dass sie darauf bestand, nach Hause gefahren zu werden.