Fusslos -  - E-Book

Fusslos E-Book

4,3

Beschreibung

Alfons Nievergelt, Polizist aus Sternenberg, liegt auf seinem Bett. Ermordet. Zu Lebzeiten pflegte er jede Menge Feindschaften. Jahrelang stritt er mit dem Nachbarn um ein Stück Wald, vernachlässigte seine Frau, der Sohn ist verschwunden. Das ergibt eine Reihe von Verdächtigen. Leider haben alle ein Alibi. Für den Tösstaler Polizisten Noldi Oberholzer, der zu seinem Ärger den mysteriösen Fall übernehmen muss, eine echt harte Nuss zu knacken. Doch er lässt nicht locker, bis das Gespinst aus Lug und Trug zerfällt.

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KuhnKuhn

Fusslos

Noldi Oberholzers dritter Fall

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Hasensterben (2015), Nachsuche (2013)

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Martin Schlecht / Fotolia.com, © stockpackshot / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5100-3

Inhalt

Impressum

Haftungsausschluss

Personen

1. Wanderer auf der Bank

2. Tatort Puppenheim

3. Das Waldstück

4. Keine Allerweltsfrau

5. Goldener Sheriffstern

6. Letzte Rosen

7. Zwei alte Ballerknaben

8. Kümmerling

9. Kristallschale

10. Zirkusabenteuer

11. Ausgerechnet Chinesin

12. Ein Freudenschuss

13. Teufelskirche

14. Der Hase und der Igel

15. Taminabrücke

16. Nicht mit der Feuerzange

17. Ein Frauenheld

18. Paff

19. Wildwestaktion

20. Bayj seufzt

Wörter

Dank

Haftungsausschluss

Unsere Geschichte ist von Anfang bis Ende frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen und Ereignissen beruhen auf Zufällen und sind nicht beabsichtigt.

Das Tösstal ist wirklich so wunderschön, wie wir es beschreiben, auch wenn wir da und dort für den Krimi ein wenig herumgebastelt haben.

Personen

Noldi (Arnold) Oberholzer, Kantonspolizist, 57

Meret, seine Frau, 53

Verena, Tochter, 28 

Richard, Schwiegersohn, 31

Mark, deren erstes Kind, 4 

Luis und Lena, Zwillinge, nicht ganz 2

Peter, Sohn, 26, immer noch in Amerika

Cheryl, seine Freundin, 20

Felizitas, Tochter, 20

Paul, Sohn, 15

Hans Hablützel, Wildhüter, 62

Betti, seine Frau, Merets Schwester, 58

Alfons Nievergelt, 48, Polizist in Pfäffikon, Opfer

Claire, seine Frau, 37, geborene Paillard

Yannik, 14, Sohn

Ueli, Sepp und Köbi Nievergelt, Halbbrüder von Alfons

Nico Oehninger, 35, Liebhaber von Claire Nievergelt, bei der Uerikon-Bauma-Bahn

Rico Oehninger, 33, sein Bruder

Gusti Rebsamen, Immobilienmakler, 83

Bruno Lüthi, genannt Mülilüthi, 72, Waldbesitzer in Sternenberg

Marco Stettler, Gemeindeschreiber in Sternenberg

Robert Wolfer, genannt Röbi, 40, Polizist von Bauma

Werner Rühle, Franca Meile, Schalterbeamte, Noldis Kollegen in der Polizeistation Tösstal

Hans Beer, Noldis Chef, 60

Jimmy Egloff, 35, Forensiker,

Franz Notter, 58, Noldis ehemaliger Freund, sitzt im Gefängnis

Anne, Mitschülerin von Pauli, 16

Bayj, der bayrische Gebirgsschweißhund, 7

1. Wanderer auf der Bank

Der Polizist liegt im Bett. Er schläft aber nicht, er ist tot. Über sein Gesicht kriecht eine Fliege, und auf dem Boden stehen fein säuberlich nebeneinander zwei nackte Füße. Nirgends ist ein Tropfen Blut zu sehen. Die Leiche wirkt mit ihren auf dem Bauch gefalteten Händen adrett und scheinbar unversehrt. Erst als der Arzt sie umdreht, entdeckt er die Todesursache. Der Mann ist erschossen worden, mit einem einzigen aufgesetzten Schuss in den Rücken.

An dieser Stelle kommt bereits Noldi, beziehungsweise Kantonspolizist Arnold Oberholzer, ins Spiel. Er hat Ferien, denn um diese Jahreszeit ist es in der Polizeistation Tösstal relativ ruhig. Die Leute haben sich vor der Hitze in die Badi geflüchtet oder irgendwo in den Schatten der Büsche am Flussufer.

Noldi und seine Frau sind vor einer Woche losgefahren. Mit dem Auto durch den Nationalpark, über den Ofenpass nach Mustair. Dort haben sie zum ersten Mal Station gemacht. Nach dem Mittagessen besuchten sie die Klosterkirche. Vor dem Hauptaltar haben sie einander mit dem Ellbogen angestoßen. Sie erinnerten sich, wie sie vor Jahren mit den Kindern hier gewesen sind. Ihre jüngere Tochter konnte sich nicht an dem Fresko sattsehen, welches den Tanz der Salome darstellt. Sie macht einen Handstand vor Herodes, um ihm ihre Beine zu zeigen. Dafür verlangt sie den Kopf des Jochanaan. Das beeindruckte Felizitas nicht im Mindesten. Sie wollte nur so ein Kleid wie die Tänzerin, blau mit unten fünf Zipfeln.

Von Mustair fuhren Noldi und Meret weiter nach Meran. Die endlosen Obstplantagen rechts und links der Straße hatten schon Frucht angesetzt. Sie suchten ein kleines Hotel in der Altstadt. Dort im Zimmer fielen sie einander um den Hals. Sie fanden ihre ersten Ferien ganz ohne Kinder großartig und hatten gleichzeitig ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Erleichterung. Sie mussten sich kein abwechslungsreiches Programm einfallen lassen, um ihre Brut bei Laune zu halten, sondern schliefen, so lange sie Lust hatten, schlenderten müßig die Promenade am Fluss entlang und saßen stundenlang im Kaffeehaus, musterten die anderen Spaziergänger und machten über alle und jeden boshafte Bemerkungen, die sie sich vor den Kindern nie erlaubt hätten.

Jetzt, am Tag nach der Rückkehr, geht Noldi mit seinen drei Enkeln auf dem Tössdamm spazieren. Dieser Damm wurde im vorigen Jahrhundert angelegt, um den Talgrund vor dem wilden und völlig unberechenbaren Fluss zu schützen. Auf der einen Seite des Weges fällt das Ufer steil zur Töss ab, auf der anderen geht es ebenso steil hinunter. Es ist ein schöner Tag im Juni, der Himmel blau, die Bäume grün. Auf den Wiesen hat der Hahnenfuß den Löwenzahn schon abgelöst. Der vierjährige Mark, Noldis erster Enkel, zerrt zum Zeitvertreib einen schweren Ast hinter sich her, den er am Weg gefunden hat. Die Zwillinge, Luis und Lena, sind knapp zwei. Sie kamen genau an dem Tag zur Welt, als Noldi um ein Haar erschossen worden wäre. Daran denkt er nicht gern, denn das Entsetzen steckt ihm nach wie vor in den Knochen. Lieber erinnert er sich, wie er mit Meret, seiner Frau, und seinem jüngsten Sohn in die Geburtsabteilung der Klinik Hirslanden gekommen ist.

Richard, der Schwiegersohn, war da, und die Männer schlugen einander besonders kräftig auf die Schultern, um nicht vor Rührung in Tränen auszubrechen. Dann stießen alle mit Champagner auf das glückliche Ereignis an. Sogar der damals 13-jährige Pauli bekam einen Schluck. Nur Verena, die Mutter der Neugeborenen, trank nichts. Sie war vor Erschöpfung eingeschlafen.

Die Geburt hatte sich hingezogen. Offenbar konnten sich die Zwillinge nicht einigen, wer zuerst an der Reihe wäre. Das Mädchen, ein strammes kleines Ding, setzte sich schließlich durch, dann kam ihr Bruder, auch er gesund und munter, aber eine Spur zarter als seine Schwester.

Sie lagen eng nebeneinander in ihrem Bettchen, und Noldi traf fast der Schlag, als er sich über sie beugte und ihm durch die nur halb geschlossenen Lider vier blinde Äuglein entgegenstarrten, blau wie die von jungen Katzen.

»Wie heißen sie«, fragte er seinen Schwiegersohn. »Habt ihr schon Namen für die beiden?«

»Oh ja«, antwortete anstelle ihres Mannes Verena, die eben wieder erwacht war. »Sie heißen Luis und Lena.«

Diese beiden mustert Noldi jetzt wohlgefällig und staunt einmal mehr, wie groß sie bereits geworden sind. Sie haben beide den Kopf voller Locken, das Erbteil ihrer Großmutter. Davon kann man im Moment nichts sehen, denn sie tragen zum Schutz vor der Sonne Hütchen mit Tüchern, die ihnen hinten über den Nacken hängen. Wie sie da auf dem Weg hin und her rennen, sehen sie aus wie geschäftige kleine Fremdenlegionäre. Dann entdeckt Mark auf einem Pfahl am Wegrand im hohen Gras versteckt eine schwarze sehr schmutzige, sehr unappetitliche Jacke. Jemand muss sie hier verloren oder widerrechtlich entsorgt haben. Sofort will der Junge seinen Ast gegen die neue Trophäe austauschen. Er ist fassungslos, als sein Großvater ihm das kategorisch verbietet. Da er bereits in das Alter kommt, in dem man für seine Wünsche kämpft, beginnt er zu argumentieren, und er argumentiert gut. Noldi muss seine ganze Überredungskunst aufbieten und gleichzeitig die Zwillinge in Schach halten, damit keines von ihnen in der Zwischenzeit abhanden kommt. Trotzdem ist er mit sich und der Welt zufrieden. Bis das Handy in seinem Hosensack brummt. Er fischt es heraus, schaut nicht auf die Nummer, weil er meint, es sei seine Frau. Es ist aber nicht Meret, sondern Hans Beer, Vorstand der Kantonspolizei Zürich in Winterthur.

»Chef«, sagt Noldi, »das ist gerade ganz ungünstig. Kann ich dich zurückrufen?«

»Wo bist du?«, fragt Beer.

»Ich muss die Zwillinge hüten«, antwortet Noldi. »Sie sind schlimmer als ein Sack voll Flöhe. Bin mit ihnen gerade auf dem Tössdamm. Muss höllisch aufpassen, dass mir keines ins Wasser oder auf der anderen Seite die Böschung hinunterfällt.«

»Mutig, mein Lieber«, kommentiert Beer mit einem Grinsen in der Stimme. Noldi hört es und registriert voll Unbehagen, dass es nur ganz schwach ist.

»Es handelt sich um einen Notfall«, sagt Beer auch schon. »Ich brauche dich in Winterthur.«

»Jetzt?«

»Ja. Sofort.«

Noldi sagt nichts mehr.

Sein Chef fragt: »Bist du noch da?«

»Eigentlich nicht«, erklärt Noldi frech, während er Luis, der sich gefährlich weit an den Rand des Weges wagt, hinten am Kragen packt.

»Also wir sehen uns. In einer halben Stunde bei mir im Büro«, sagt Beer und legt auf.

Noldi knurrt nur, aber er weiß, was ein Befehl ist. Auch wenn es ihm absolut nicht in den Kram passt, nimmt er die Kleinen fest an der Hand und ruft dem Größeren zu: »Komm, Mark, wir müssen zurück.«

Der Junge ist nicht begeistert, aber aus dem Ton seines Großvaters hört er, dass es keinen Sinn hätte zu protestieren. Bedauernd lässt er den Ast fallen und trabt hinter den anderen her. Noldi hat der Anruf von Beer nervös gemacht. Obwohl sie alte Freunde sind, kommt es selten vor, dass ihn der Chef während der Freizeit kontaktiert. Luis und Lena schwingen tapfer ihre Beinchen, um mit Noldi mitzuhalten. Doch sie haben Mühe, bis ihm in den Sinn kommt, sein Tempo zu mäßigen. Dann marschieren sie einträchtig alle vier über die Brücke, bleiben in der Mitte stehen, um die Töss zu begutachten. So viel Zeit muss sein, denkt Noldi grimmig, denn das machen sie jedes Mal, wenn sie hier vorbeikommen. Mark hängt sich an das Geländer. Der Wasserstand ist tief. Seit einer Weile hat es nicht mehr geregnet, und die Schneeschmelze in den Bergen ist längst vorüber. Noldi denkt an den zehnjährigen Jungen, den sie vor zwei Jahren tot aus der Töss geholt haben, und nimmt die Zwillinge fester an der Hand.

»Au«, sagt Lena, sie schlenkert mit dem Arm, um sich zu befreien, doch der Griff des Großvaters lockert sich nicht. Dann überqueren sie auf dem Fußgängerstreifen die stark befahrene Tösstalstrasse. Erst am Eingang zur Sunnematt, wo Oberholzers seit dreißig Jahren wohnen, lässt er die Kleinen frei. Sie laufen los, während Mark sich beim Großvater einhängt.

Noldis Haus steht an einer Seite der Einfahrt, auf der anderen die Garage unter einem großen Kastanienbaum. Der Platz dazwischen, bedeckt von feinem Kies, ist sauber gekehrt. Da war Noldi heute früh morgens bereits am Werk. Er hat einige der kleinen grünen Kastanien, die vom Baum gefallen sind, auf das Sims zum Kellerfenster gelegt. Die holt er jetzt und gibt sie Mark. Luis und Lena sind schon bei der Treppe, die zum Eingang führt, und rufen nach der Großmutter. Meret öffnet die Haustür. Sie ist eine hochgewachsene, kräftige, aber gut gebaute Frau. Auch nach vier Geburten hat sie ihre Beweglichkeit erhalten, und es gibt Momente, da wirkt sie immer noch wie ein Mädchen. Unlängst hat sie ihrem Mann gestanden, sie habe sich zum ersten Mal die Haare gefärbt, nachdem sie am Hinterkopf eine graue Stelle entdeckte. Noldi musste sich beschämt eingestehen, er hat davon nichts bemerkt. Für ihn altert seine Frau nicht, oder nur kaum. Aber vielleicht schaut er auch nicht genau hin. Das erhält ihn so jung, wie er sich fühlt.

Jetzt steht Meret in der Haustür und fragt sofort: »Noldi, ihr seid schon zurück. Ist etwas passiert?«

»Eigentlich nicht«, antwortet er, während er die Zwillinge mit einem Schubs an ihrem Hinterteil die drei Stufen zum Eingang hinauf befördert.

»Beer hat angerufen. Er will mich sehen.«

»Wieso das? Du hast doch bis Freitag frei. Dafür haben sie dir die Wochenendstreife aufgebrummt«, sagt Meret.

»Weiß der Teufel, was der Chef hat. Er war höchst sonderbar.«

Luis und Lena sind empört, dass sie wieder ins Haus sollen. Auch Mark schaut traurig, was bei ihm selten vorkommt. Der Großvater hat versprochen, ihm ein neues Spiel zu zeigen, und jetzt will er ihn schon sitzen lassen. Er ist ein unternehmungslustiger Junge mit einem ausgeprägten Bewegungsdrang, der nicht gern alleine spielt. Für ihn ist wichtig, dass immer etwas läuft.

Das Haus der Oberholzer wird im Inneren durch einen langen Gang in zwei Hälften geteilt. Die eine Seite nimmt fast zur Gänze die Stube ein, auf der anderen liegt die große Küche mit den Nebenräumen. Dorthin geht Meret nun mit Noldi und den Kindern. Sie holt einen riesigen Krug Limonade aus dem Kühlschrank, schenkt allen ein. Die Zwillinge sind sofort getröstet. Limonade bedeutet etwas Besonderes für sie, denn zu Hause bekommen sie nur Wasser. Sie halten die Becher fest mit ihren kleinen Händen umklammert, und für Momente hört man in der Küche keinen anderen Laut als ihr eifriges Schlürfen und Schlucken.

Noldi leert sein Glas in einem Zug, stellt es dann mit einem Seufzer auf den Tisch und sagt zu Meret: »Ich muss. Leider.«

Sie erkundigt sich resigniert: »Glaubst du, dass du zum Abendessen zurück bist, wenn Verena und Richard kommen?«

»Keine Ahnung«, sagt ihr Mann. »Aber ich verspreche dir, ich beeile mich.«

Er küsst Meret, die Zwillinge müssen ihm die Hand geben, was sie nur sehr nebenbei tun. Mark hängt sich an seinen Arm. Er will mitkommen. Noldi fährt ihm über den Kopf. »Das geht leider nicht.«

Das tut ihm selbst am meisten leid, denn er hat absolut keine Lust, sich schon wieder von seinen Enkeln zu trennen. Er hat sie die ganze letzte Woche nicht gesehen und auch davor nicht zu häufig. Nachdem seine Ferien bereits bewilligt waren, erlebte der Polizeiposten Tösstal überraschend noch ein paar höchst betriebsame Tage. Es gab einen Aufstand wegen der Asylanten im Schwimmbad in Bauma, eine Einbruchsserie rumänischer Kriminaltouristen in Turben­thal. Die Polizei kennt sie bereits, kann ihnen jedoch nichts anhaben, weil sie minderjährig sind. Sie werden in Bussen am Morgen über die Grenze gekarrt, treiben ihr Unwesen in leer stehenden Ferienhäusern oder an bevölkerten Orten wie Fußgängerzonen, überfüllten Linienbussen und Bahnhöfen. Noldi ärgert sich jedes Mal, wenn er daran denkt. So auch jetzt, während er ins Auto steigt. Aber darum, überlegt er, wird es sich kaum handeln. Deswegen holt Beer ihn nicht aus dem Urlaub zurück. Da muss es schon einen gewaltigen Knall gegeben haben.

Er startet, biegt von der Sunnematt auf die Tösstal-strasse, am Bahnhof vorbei, holpert über die Geleise, fährt um die lange Rechtskurve, dann die Straße entlang, wo auf der einen Seite die Gärtnerei und neue Wohnblocks, auf der anderen einzelne hohe schmalbrüstige Häuschen stehen. Nach der 50er-Zone gibt er Gas. Es ist zwar nur ein lächerlich kurzes Stück, das man schneller fahren darf, denn schon nach der Abzweigung zum Friedhof Kollbrunn kommt die nächste Beschränkung, und so geht es mehr oder weniger bis Winterthur. Noldi spekuliert während der Fahrt weiter daran herum, wieso, in aller Welt, sein Chef ihn unbedingt sehen will. Sie sind Freunde seit ihrer Militärzeit, und die Tatsache, dass Beer die Karriere­leiter aufgestiegen, während Noldi einfacher Polizist geblieben ist, hat ihre Freundschaft nie getrübt. Doch seit der Umstrukturierung der Kantonspolizei im Raum Tösstal vor zwei Jahren haben sie dienstlich wenig miteinander zu tun. Die Einsatzpläne kommen jetzt direkt aus der Zentrale in Zürich, die in ihrem Computersystem jederzeit sehen können, wo die Streifenwagen sich gerade befinden.

»Also, Chef«, fragt Noldi, kaum dass er den Kopf durch die Tür gestreckt hat.

»Alfons Nievergelt ist ermordet worden«, sagt Beer ohne weitere Einleitung. »Du weißt, der Kollege aus Sternenberg, welcher bei der Zusammenlegung der Polizeiposten nicht in die neue Station Tösstal wollte.«

Noldi versucht, die Sache sportlich zu nehmen.

»Aber deshalb hat ihn keiner umgebracht.«

Der Chef lächelt flüchtig, wird dann gleich wieder ernst.

»Komm setz dich«, sagt er.

Polizist Oberholzer wirft sich in den Stuhl vor Beers Schreibtisch. Der Chef sucht nervös etwas in der Schublade. Das ist so ganz und gar nicht seine Art. Noldi beschleicht ein ungutes Gefühl. Trotzdem fragt er noch forsch: »Darum hast du mich kommen lassen? Für Sternenberg sind Wolfer und Rühle zuständig.«

Beer seufzt.

»Lass mich ausreden.«

Noldi grunzt ungeduldig, aber er ist still.

»Wolfer hat ermittelt, jetzt übernimmst du.«

»Hans, das ist nicht dein Ernst.«

»Nein, eine Anordnung aus Zürich.«

»Ja, aber Wolfer hat den Sternenberger viel besser gekannt als ich.«

»Eben.«

»Wieso?«

»Man hat Wolfer mit sofortiger Wirkung von dem Fall abgezogen.«

Noldi schaut seinen Chef und langjährigen Freund mit gerunzelter Stirn an.

»Nein«, sagt er.

»Doch.«

»Warum?«

»Du weißt, dass ich dir das eigentlich nicht sagen darf.«

»Aber du sagst es mir trotzdem.«

»Klar. Weil du sonst keine Ruhe gibst.«

»Also?«

»Die Direktion in Zürich hat einen Brief bekommen, in dem es heißt, Robert Wolfer habe sich im ›Club Relax‹ in Volketswil gratis bedienen lassen.«

»Das ist ein Ding«, sagt Noldi verdutzt.

»Drei Mal darfst du raten, von wem der Brief stammt.«

»Von Nievergelt.«

»Genau. Und jetzt ist er tot.«

Da sagt Noldi nichts mehr.

»Was denkst du?«, fragt Beer nun seinerseits.

»Wolfer ist einer aus unserem Team, und keiner hat bemerkt, dass mit ihm etwas schief läuft?«

»Erstens,« beginnt Beer, »handelt es sich nicht um ein Etablissement in eurem Revier, zweitens weiß man noch nicht, ob an der Sache etwas dran ist, und drittens ist das alles äußerst dubios. Nur, Nievergelt kann man nicht mehr fragen, der ist tot.«

»Ob wahr oder nicht, irgendetwas muss in jedem Fall faul sein.«

»Stimmt, und Wolfer hat somit ein Tatmotiv.«

»Nein, Hans«, sagt Noldi, »er ist Polizist ebenso wie Nievergelt.«

»Und du meinst, deshalb kann er den anderen nicht umbringen. Das sagst ausgerechnet du?«

Noldi geht sofort zu wie eine Auster. Über dieses Thema will er nicht reden. Auch mit Beer nicht.

Der weiß, was in seinem Freund vorgeht.

»Lass es gut sein«, sagt er ungewöhnlich sanft und wechselt das Thema.

»Dir ist nichts aufgefallen?«

»Nein, wie auch. Wenn er wirklich dort im Puff war, hat er das in seiner Freizeit erledigt. Und von seinem Privatleben weiß ich nichts«, sagt Noldi mürrisch. »Die aus Bauma bleiben eher unter sich.«

Schließlich fragt er: »Haben sie ihn suspendiert?«

»Nein, er ist weiter im Dienst. Sie haben ihn nur von dem Fall abgezogen. Da wäre er eindeutig befangen.«

Noldi hebt den Kopf, schaut Beer direkt an.

»Und ich? Was soll ich machen?«

»Ermitteln, lieber Noldi, ermitteln.«

»Warum ausgerechnet ich? Kann das nicht Rühle übernehmen? Er ist der zweite aus Bauma und kennt sich in Sternenberg viel besser aus.«

»Alle, sogar die in Zürich, sind sich einig, wenn jemand mit dieser brenzligen Situation zu Rande kommt, dann du. Du könntest es als Kompliment auffassen.«

»Danke für die Blumen. Ich verzichte gern, wenn man mich dafür in Ruhe meine Enkel hüten lässt.«

Beer überhört die despektierliche Bemerkung. Er sagt nur knapp: »Das ist eine Weisung von oben.«

Einen Augenblick schweigen sie, jeder in seine Gedanken versunken. Noldi betrachtet seinen Chef. Was er für ein Bubengesicht hat, denkt er. Das kommt nur zum Vorschein, wenn er verunsichert ist. Sonst schaut er drein wie ein General. Dann überlegt er, ob es eine Möglichkeit gibt, den undankbaren Job irgendwie loszuwerden. Leider ist er nicht so geschickt darin wie sein Sohn Pauli, dem es nie an einer Ausrede mangelt.

Bevor er noch eine zündende Idee hat, schiebt Beer das dünne Kuvert, welches er vor sich liegen hat, über den Tisch. Noldi öffnet es nur widerwillig, holt zwei Fotos heraus und fällt fast vom Sitz. Auf dem einen ist der tote Polizist zu sehen, wie er ausgestreckt auf dem Bett liegt, auf dem anderen zwei glatt abgeschnittene Füße. Bei ihrem Anblick dreht sich Noldi schier der Magen um. Nicht, dass er noch nie irgendwelche abgerissene Gliedmaßen gesehen hätte, aber diese hier wirken so sauber. Als wären sie aus Wachs, aus Plastik oder Stein. Ein Präparat für den medizinischen Anschauungsunterricht, ein Jux, vielleicht sogar Kunst. Alles nur nicht echt, wie sie da so unverbindlich neben dem Bett stehen. Um diese absurden Gedanken zu vertreiben, nimmt Noldi die restlichen Blätter aus dem Kuvert. Es handelt sich um den Report über den Tatbestand, verfasst von Wolfer, den Obduktionsbefund, den Bericht der Spurensicherung, sowie die Personalien des Toten. Er schaut die Unterlagen durch, aber mehr als ein paar Satzfetzen bleiben bei ihm nicht hängen.

»Seine Frau hat ihn gefunden«, sagt Beer, der ihn beobachtet.

»Das auch noch.«

»Ja. Sie steht unter Schock. Ich weiß nicht, ob Wolfer sie schon befragt hat. Er soll dir berichten, wie weit er bis jetzt gekommen ist. Dann weißt du, wo du weitermachen musst. Die Unterlagen kannst du mitnehmen.«

Er lehnt sich im Stuhl zurück.

»Noch etwas, das Detail mit den Füßen haben wir bis jetzt unter Verschluss gehalten. Davon kann also außer der Polizei und den Beteiligten niemand etwas wissen. Ich wünsche dir viel Erfolg, mein Lieber. Und halt mich auf dem Laufenden.«

Noldi nimmt das Kuvert, schiebt den Stuhl, auf dem er gesessen ist, ordentlich zurück, will eigentlich noch etwas sagen, überlegt es sich dann und geht.

Unterwegs zu seinem Auto denkt er, dass Beer ihn zweimal mit »mein Lieber« angeredet hat. Das kann nur bedeuten, er hält diese Mission für einen Schleudersitz. So ungefähr fühlt Noldi sich auch. Er hat keinen Schimmer, wo er beginnen soll. Er weiß nur, er kann jetzt nicht ins Büro, zu Wolfer, den sie von dem Fall abgezogen haben und mit dem er darüber reden muss. Aber nicht gleich. Er wird zuerst eine Strategie ausdenken, wie er dieses heikle Gespräch so schlau wie möglich einfädelt.

Gut, sagt er sich grimmig, dass Beer ihm nicht vorgeschrieben hat, was er als Erstes tun soll. So bleibt ihm wenigstens ein winziger Spielraum, und den wird er nutzen, indem er statt auf den Polizeiposten schnurstracks nach Sternenberg fährt.

Unterwegs überlegt Noldi, wann er das letzte Mal dort oben war. Einmal, es muss Jahre wenn nicht Jahrzehnte her sein, da hat er allein mit Meret einen Ausflug hinauf gemacht.

Sie sind mit dem Postauto bis zum »Sternen« gefahren, haben dort zu Mittag gegessen und wollten dann hinunter in die Tablat wandern. Es war ein klirrend kalter Wintertag, doch der Blick über das Tösstal, die durchsonnte Weite, die glitzernden Wälder und verschneiten Hochebenen ließen sie den Frost vergessen.

Nach dem Kaffee brachen sie auf. Leider stellte sich heraus, dass der Weg durch den Wald vollständig vereist war. Es handelte sich um nicht viel mehr als eine schmale Kerbe im Steilhang. Auf der einen Seite ging es steil bergan, auf der anderen ebenso steil bergab, und das Eis auf dem Pfad war spiegelglatt. Noldi wäre trotzdem, ohne viel zu überlegen, irgendwie nach unten gerutscht. Nur die sonst nicht zimperliche Meret weigerte sich. So krochen sie nach einer lebhaften Diskussion fast auf allen Vieren das kurze Stück Weg wieder zurück und wanderten Arm in Arm die Straße hinunter ins Tal. Auch wenn er es sich nicht anmerken ließ, war Noldi heilfroh, dass seine Frau ihn vor diesem unsinnigen Abenteuer bewahrt hatte.

Ein anderes Mal, erinnert er sich, hatten sie mit Vreni und Peter, ihren beiden älteren Kindern, im Hochsommer einen Ausflug nach Sternenberg gemacht. Noldi rechnet nach, wie alt die beiden damals waren, und kommt dabei zu dem verblüffenden Schluss, dass ihr Pauli zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht geboren war. Innerlich grinsend muss er sich eingestehen, ein Leben ohne seinen pfiffigen Jüngsten wäre für ihn undenkbar.

Auch damals waren sie mit dem Bus nach Sternenberg gefahren, bei der Station Rossweid ausgestiegen und nach Bauma hinuntergewandert. Der Tag war sehr heiß, das Heu duftete auf den Wiesen, und an den Bäumen rührte sich kein Blatt. Sie hatten diese Route gewählt, weil sie durch eine Schlucht führt. Dort war die Luft feucht und frisch, die Sonnenstrahlen drangen nur gedämpft durch das leuchtend grüne Laubdach. Sie kamen am Hagheerenloch vorbei. Noldi erzählte den Kindern, dass dort früher Raubritter gehaust hätten. Peter, damals im Primarschulalter, zeigte großes Interesse an der Geschichte, und der Vater musste mit ihm unbedingt die Höhle inspizieren. Der Junge schleppte sogar eine Taschenlampe mit. Ihr dünner Strahl reichte bei Weitem nicht, das nasse niedrige Loch auszuleuchten. Meret, die gegen dieses Abenteuer protestiert hatte, blieb mit Vreni draußen auf einer Bank sitzen, hielt ungeduldig Wache, bis Mann und Sohn wieder heil ans Tageslicht kamen.

So ist es, das Tösstal, denkt Noldi, während er mit dem Auto Kurve um Kurve der gewundenen Straße nimmt, unten der Talgrund mit dem Fluss, in den Seitentälern der steile Anstieg zu Hochebenen und Kreten. Überall in den dicken grünen Falten der bewaldeten Hänge verborgen liegen Heiligtümer und Geheimnisse. Wer sich vor Verfolgung schützen wollte oder aus einem anderen Grund das Tageslicht scheute, fand hier Unterschlupf.

Da fällt ihm wieder ein, was ihn nach Sternenberg führt. Hinter diesem Mord steckt ebenfalls ein Geheimnis. Und ausgerechnet er soll es herausfinden. Was für eine Zumutung. Er ist nicht aus der Gegend. Daher sind seine Chancen, in einer so kleinen geschlossenen Gemeinschaft wie einem Bergdorf, überhaupt etwas zu erfahren, gleich Null. Das können sich nur die in Zürich ausdenken.

Dann ist er schon oben auf der Höhe, sieht die ersten Häuser der weit auseinander gezogenen Streusiedlung. Sternenberg ist kein Dorf, das sich um seine Kirche schart, es gibt keinen richtigen Kern. Wenn doch, dann ist das hier die Beiz, der »Sternen«, an dem er bald darauf vorbeikommt. Kurz entschlossen biegt er von der Straße ab. Da der Parkplatz besetzt ist, stellt er den Wagen nahe an die Hausmauer, damit er niemand den Weg versperrt. Er steigt aus, streckt sich, schaut sich um. Die Vorderfront des Gebäudes ist mit den für das Tösstal so typischen kleinen grauen Holzschindeln bedeckt, die wie Fischschuppen übereinander liegen. Sie schützen die Wand vor Schnee, Regen und Wind. Ein paar Stufen führen zum Eingang, rechts und links neben der Tür hängen Blumenampeln mit blühenden Geranien. Auf der klobigen Holzbank vor dem Haus sitzt ein Wanderer mit überschlagenen Beinen, Stock und Sonnenhut.

Weiter vorne sieht Noldi den Garten, die Tische unter gelben Sonnenschirmen sind mit Gästen besetzt, ein friedliches Bild. Doch nachdem er einen Platz gefunden und sich niedergelassen hat, stellt sich schnell heraus, so friedlich ist die Stimmung nicht. Bei diesen Gästen handelt es sich nicht um Einheimische, sondern um Ausflügler, Wanderer, Velo- und Motorradfahrer, Sensationslustige, die auf die eine oder andere Weise von einem Mord hier oben Wind bekommen haben.

Die Kellnerin hat alle Hände voll zu tun. Sie ist eine fast männlich wirkende Person mit einer kantigen schwarzen Brille im Gesicht. So gar nicht das, denkt Noldi, was man sich unter einer Serviertochter vorstellt. Obwohl er im Dienst normalerweise nicht trinkt, entscheidet er sich für ein Bier und ein Salamibrot. Die Ausnahme scheint ihm angemessen. Er lehnt sich zurück und richtet seine Aufmerksamkeit auf das Geschwätz rundherum. Am Tisch hinter ihm sitzen drei Frauen, die, das wird ihm schnell klar, in einer Sozialbehörde tätig sind. Sie diskutieren einen Fall, den eine von ihnen umständlich darlegt. Links neben Noldi sitzt ein einzelner Gast, eindeutig ein Velofahrer. Er ist schon ein älteres Semester, aber sorgfältig auf jugendlich zurecht gemacht mit glänzenden, blauen sehr eng anliegenden Hosen, die oberhalb der knochigen Knie enden. Auch er trinkt Bier und isst ein dick belegtes Brot, auf das er noch reichlich Mayonnaise schmiert. Als die Kellnerin ihm die zweite Stange hinstellt, spricht er sie auf den Polizistenmord an. Offensichtlich kennt sie den Gast und scheint nicht abgeneigt, ihm mitzuteilen, was sie weiß. Doch sie senkt ihre Stimme dabei so, dass Noldi nicht viel versteht. Erst als sie sagt, »und bei jeder Gemeindeversammlung hat er Mais gemacht«, wird sie unwillkürlich lauter. Aber mehr kommt bei Noldis Lauschangriff nicht heraus. Frustriert holt er das Kuvert aus dem Sack und liest Wolfers Bericht über die Auffindung der Leiche noch einmal. Es ist nicht viel, was da steht.

Der Tote, Alfons Nievergelt, 48, Polizist in Pfäffikon, wurde um 15.50 Uhr von Robert Wolfer aus der Polizeistation Tösstal im Schlafzimmer seines Hauses im Cholerholz 6 tot aufgefunden. Wolfer hatte einen Termin mit Nievergelt vereinbart. Als dieser nicht zum Treffen erschien, weder an der Dienststelle noch zu Hause telefonisch erreichbar war, vermutete er zunächst nichts Schlimmes. Nievergelt war für seine originelle Berufsauffassung bekannt. Außerdem wusste Wolfer, dass Nievergelts Frau eine Woche Urlaub machte und der 14-jährige Sohn im Ferienlager war. Dann meldete die Zentrale in Zürich um 15.30 Uhr dem Posten Turbenthal einen Notruf. Ein Wanderer habe angegeben, im Cholerholz sei ihm eine Frau in die Arme gelaufen, die unter Schock stehe. Als er sie zurück in ihr Haus begleitete, habe er dort eine Leiche gefunden.

Die Notrufzentrale wies den Mann an, vor Ort zu bleiben und nichts anzurühren. Die Polizeistation Tösstal verständigte daraufhin Robert Wolfer, der bereits in der Gegend war. Dieser begab sich sogleich zur angegebenen Adresse, traf dort den Zeugen und Claire Nievergelt an. Die Frau war nach wie vor nicht ansprechbar. Im Obergeschoss fand er den Toten, welchen er als Alfons Nievergelt identifizierte. Der Mann lag auf dem Bett, vollständig bekleidet. Die Todesursache war zunächst nicht erkennbar. Der Tote hatte eine kleine Rissquetschwunde an der linken Augenbraue. Es gab jedoch keine Anzeichen eines Kampfes. Auf dem Boden neben dem Bett standen seine abgetrennten Füße. Da unter diesen Bedingungen von einem mehr als dubiosen Todesfall auszugehen war, verständigte Wolfer statt dem Bezirksarzt sofort den Rechtsmediziner, Spurensicherung und Staatsanwalt. Dann bemühte er sich um die Frau, versuchte, sie zu einer Aussage zu bewegen, was ihm nicht gelang. Sie weigerte sich auch, ihren Platz am Bettrand zu verlassen. Erst als der Arzt ihr nach seinem Eintreffen eine Spritze verabreichte, ließ sie sich in die Stube führen, wo sie, vom Beruhigungsmittel sediert, auf dem Sofa wegdämmerte.

Der Zeuge, welcher die Polizei verständigt hatte, heißt Gustav Rebsamen, ist 83 Jahre alt, wohnhaft in Uster. Auf Wolfers Frage nach dem Grund seines Aufenthaltes im Cholerholz gab der Mann zu Protokoll, er habe eine Wanderung gemacht. Er behauptete, den Toten nicht zu kennen, änderte seine Aussage aber, als er dessen Namen erfuhr, und gab zu Protokoll, Nievergelt habe ihn vor Jahren wegen eines Hauskaufs kontaktiert. Der Handel sei nicht zustande gekommen. Er habe den Toten nicht erkannt, da er ihm nie persönlich begegnet sei.

Wolfer schien sich mit dieser Antwort begnügt zu haben. Sowohl die Frau des Toten als auch der Zeuge schieden für ihn als Verdächtige aus, da beide ein Alibi vorzuweisen hatten.

Ob Wolfer die Angaben überprüft hat, kann Noldi dem Protokoll nicht entnehmen. Er muss, denkt er, ihn bei nächster Gelegenheit danach fragen. Dass Rebsamen für Wolfer bei Gott auch kein Unbekannter ist, findet er erst später heraus. Als er im Garten des »Sternen« in Sternenberg den Bericht liest, ahnt er noch nichts von diesen Zusammenhängen. Er ärgert sich nur, dass er so dürftig abgefasst ist.

Eine Sache aber hat Wolfer mustergültig erledigt. Es gibt einen lückenlosen Bericht über das Alibi jedes einzelnen Beamten in der Polizeistation Pfäffikon. Es scheint, als wäre es Wolfer ein Anliegen gewesen, die Kollegen dort aus der Mordsache Nievergelt herauszuhalten. Das wird er, denkt Noldi, sich genauer anschauen, doch es ist nicht seine oberste Priorität.

Vorerst versucht er, so gut er kann, sich aus den Unterlagen ein Bild der Situation am Tatort zu machen. Es gelingt ihm nicht. Wolfer verliert kein Wort über seine ersten Eindrücke. Wie hat der Raum auf ihn gewirkt? War alles an Ort und Stelle? Wie lauteten die ersten Einschätzungen des Arztes? Woher hatte der Tote die Verletzung an der Augenbraue? Wo befanden sich Schuhe und Socken des Toten? Wie weit im Umkreis des Hauses hat die Spurensicherung gesucht? Wie hat Wolfer überhaupt festgestellt, woran Nievergelt gestorben ist? Wie hat die Ehefrau den Toten entdeckt? Wo war sie vorher? Wurde sie inzwischen vernommen? Wenn ja, was hat sie ausgesagt? Wo ist das Vernehmungsprotokoll?

Als Nächstes nimmt Noldi den Obduktionsbefund zur Hand. Dort steht, der Tote war bekleidet mit Arbeitshosen und einem Hemd. Die Totenstarre hatte sich bereits weitgehend wieder gelöst, die Totenflecken waren voll ausgebildet. Das bedeutet, der Eintritt des Todes musste mindestens 36 Stunden zurückliegen. Da der Raum relativ kühl war, hat der Verwesungsprozess noch nicht voll eingesetzt. Todesursache ist ein Schuss in den Rücken. Das Geschoss, welches zehn Zentimeter unter dem linken Schulterblatt in den Körper eingedrungen ist, hat das Herz durchschlagen. Ein Austritt konnte nicht gefunden werden. Bei der Tatwaffe handelt es sich möglicherweise um eine alte Schweizer Armeepistole, SIG, Kaliber 7,65, heute ein gesuchtes Sammlerstück. Sie wurde direkt aufgesetzt, der Schusskanal verläuft leicht von oben nach unten. Das deutet auf einen Täter hin, der größer als Nievergelt ist, oder, wie Noldi bei sich ergänzt, höher gestanden hat. Möglicherweise ist das Opfer gesessen oder gekniet. Es gibt keine Abwehrverletzungen. Er hat offensichtlich nicht mit der Bedrohung gerechnet. An seinem Hemd finden sich Schmauchspuren. Der Tatzeitpunkt ist, da er länger als 36 Stunden zurückliegt, nur schwer einzuschätzen. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass der Tod in der Nacht des 25. eingetreten ist. An den Schnittstellen der Beine sind keine nennenswerten Blutungen aufgetreten, was bedeutet, die Füße wurden mit Sicherheit erst post mortem abgetrennt. Harzreste in den Wunden lassen auf eine Kettensäge als Werkzeug schließen. Humus an der Arbeitskleidung und im Haar sowie Sägespäne an Nievergelts Händen deuten darauf hin, dass er vor seiner Ermordung im Wald mit Holzarbeiten beschäftigt war. Man konnte jedoch weder in Haus, Garage oder im Auto des Toten eine Baumsäge sicherstellen, was vermuten lässt, dass der Täter Nievergelts eigenes Gerät benützt und dann verschwinden hat lassen. Der Tote weist eine Rissquetschwunde über der rechten Augenbraue auf. Die Schwellung ist nicht voll ausgebildet. Der Pathologe geht davon aus, dass Nievergelt nach dem Schuss einknickte, mit dem Gesicht an einer Kante aufschlug und dann erst zu Boden ging.

Diese Annahme untermauert auch der Bericht der Spurensicherung, welche sowohl am Spiegeltisch als auch auf dem Boden geringe Mengen von Blut sicherstellen konnte. Patronenhülse war keine vorhanden.

Auffindungsort der Leiche, das Schlafzimmer des Paares, ist identisch mit dem Tatort.

Jemandem die Füße abschneiden, das gibt eine rechte Sauerei, überlegt Noldi. Lieber hätte er das Thema gemieden, doch er sagt sich, er muss den Vorgang nachvollziehen, wenn er auch nur eine Ahnung bekommen will, was sich abgespielt hat. Laut Bericht wurden nur minimale Spuren von Knochen und Muskelfasern sichergestellt. Also hat der Täter eine Unterlage, wahrscheinlich eine Plane, verwendet. Auch diese Annahme stützt der Bericht, denn dort heißt es, das Blut am Spiegeltisch wie auch auf dem Boden sei verwischt. Da keine Plane gefunden wurde, hat der Täter sie mitgenommen, denkt Noldi. Oder kann er sie irgendwo auf dem Gelände eingebuddelt haben? Hätte er sie verbrannt, würde man das vermutlich schnell feststellen. Wahrscheinlich war er im Auto unterwegs. Obwohl das Haus abseits liegt, irgendwie musst du dort wieder weg. Und das eher schnell, wenn du einen umgebracht hast. Du hast eine Baumsäge, eine Pistole und die blutige Plane bei dir. Zu Fuß schleppst du das alles nicht so leicht davon. Irgendwie, denkt er, schaut das Ganze wie geplant aus, auch dann, wenn das Abschneiden der Füße eine spontane Aktion war, weil die Säge gerade dalag. Und die Plane? Wie passt die ins Bild? Stammt sie aus dem Haus? Oder hat der Täter sie mitgebracht? Aber wo liegt der Sinn dieser Aktion? War es Wut? Kaum. Passt einfach nicht. Hass? Schon eher. Oder was sonst?

Noldi trinkt einen Schluck von seinem Bier. Es schmeckt abgestanden und ist bereits warm. Geistesabwesend wischt er sich den Mund mit der Papierserviette ab und überlegt, dass es in puncto Reifenabdrücke vermutlich schlecht ausschaut. Es hat schon lange nicht mehr geregnet. Und andere Spuren? Er sucht im Bericht die Stelle mit den Fingerabdrücken. Nur die des Ermordeten und seiner Frau wurden im Schlafzimmer sichergestellt sowie einige wenige deutlich kleinere, die vermutlich von einem Kind stammen dürften, aber noch nicht identifiziert werden konnten.

Zur Sicherheit, heißt es weiter, wurden, trotzdem der Todeszeitpunkt bereits Tage zurück lag, bei den anwesenden Personen, Claire Nievergelt und Gusti Rebsamen, Schmauchtests vorgenommen, die beide negativ ausfielen.

Mutlos legt Noldi die Papiere wieder auf den Tisch. Von all dem weiß er nichts. Jetzt ist Nievergelt tot und in der Rechtsmedizin, der Tatort untersucht, die Obduktion abgeschlossen. Wolfer hat seinen Bericht geschrieben und er, Noldi, keine Gelegenheit mehr, erste Eindrücke zu sammeln. Er hat die Leiche nicht gesehen, was er auf jeden Fall nachholen muss. Nur um irgendein Bild zu erhalten, auch wenn es bereits weit davon entfernt ist, ursprünglich zu sein, denn der Polizist liegt bereits seit fünf Tagen auf Eis. Erfahrungsgemäß kein Zeitpunkt mehr, an welchem Tote noch viel verraten.

Der Bericht von Wolfer ist auffallend karg, beinahe schnoddrig. Möchte wissen, denkt Noldi, was der alles nicht geschrieben hat. Und warum nicht.

Er hat plötzlich genug von diesem Gastgarten, von seinem Bier und dem fettigen Brot auf dem Teller und den Fliegen, die immer zudringlicher werden. Er winkt der Kellnerin, legt ihr schweigend das Geld hin, will schon aufstehen. Dann überlegt er es sich doch anders.

»Haben Sie den ermordeten Polizisten gekannt?«, fragt er wie nebenbei.

Die Frau zuckt zusammen. Schon hofft er, sie werde etwas Interessantes zu erzählen haben, doch sie streicht nur die Münzen, die er ihr als Trinkgeld hingelegt hat, mit der Handkante vom Tisch, sagt: »Da oben kennt jeder jeden, aber das ist es auch schon.«

Damit packt sie den Teller sowie das Bierglas und verschwindet eilig in Richtung Gaststube.

Noldi seufzt. Er glaubt der Frau nicht, doch ihm fällt nichts ein, was sie zum Reden bringen würde. Sobald er sich als Polizist zu erkennen gibt, ist die Chance vertan, an Informationen zu kommen. Die Leute im Tösstal halten gegen Fremde zusammen, auch dann, wenn sie einander spinnefeind sind. Er überlegt, was er eigentlich hier oben erwartet hat. Er hat auf eine Inspiration gehofft, eine Spur, irgendetwas, mit dem er beginnen könnte. Bis jetzt hat er nicht viel in der Hand. Er muss etwas finden, aber wie, hat ihm keiner gesagt. Er kann es auf seine Art versuchen. Er verlässt den Gastgarten, geht zum Auto, vorbei an der Hausbank, die jetzt leer ist.

2. Tatort Puppenheim

Noldi fährt die paar Meter zum Parkplatz beim Friedhof. Dort steigt er wieder aus. Verdrossen schaut er sich um. Er sieht keinen Menschen. Am Anschlagbrett der Bushaltestelle steht auch nicht mehr als das Datum der nächsten Papiersammlung.

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