Fußspuren - Astrid Eldflug - E-Book

Fußspuren E-Book

Astrid Eldflug

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Beschreibung

»Bis wir vielleicht eines Tages erkennen, dass das, was wir im ersten Moment für eine Katastrophe gehalten haben, für das Schlimmste, das passieren kann, in Wirklichkeit eine riesengroße Chance ist. Dass das Überraschende zu einem Wunder wird.« Es ist ein Schock, als die junge Mutter erfährt, dass ihr Sohn mit einem seltenen Gendefekt zur Welt gekommen ist. Die Ärzte sprechen davon, dass Theodor nie gehen und sprechen lernen wird. Doch die Mutter gibt die Hoffnung nicht auf. Zusammen schaffen sie das scheinbar Unmögliche. Theodor steht im Alter von fünf Jahren das allererste Mal auf eigenen Beinen. Mit schonungsloser Ehrlichkeit erzählt Astrid Eldflug in einer gelungenen Mischung aus Emotionalität und Sachlichkeit die bewegenden Geschichten aus dem Alltag mit ihrem behinderten Sohn. Ein Buch über bedingungslose Liebe, das eine neue Perspektive voll Kraft und Zuversicht eröffnen wird. Eine Geschichte, die tief berührt.

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Inhalt

Kinderleicht

Das Wunschkind

Das Versprechen

Ein Schock

Willkommen

Ein ganz normales Baby

Gewissheit

Die Löwenmutter

Weihnachten

Badespaß

Der sechste Sinn

Ein langer Weg

Ein kleines Wunder

Hilfe?!

Ein Kind aus Gold

Besondere Kinder brauchen besondere Eltern

Der Superhund

Kinderleicht

Was macht der Junge?« Das Mädchen ist einen Kopf kleiner als Theodor und sieht fragend zu ihrer älteren Freundin, die neben ihr auf einem Tretroller fährt. Die beiden umkreisen uns schon seit einigen Minuten, wobei sie bei jeder Runde ein Stück näher an uns herankommen. Neugierig beäugen sie Theodor und grinsen mich schüchtern an. Ich lächle ihnen zu.

»Er kann es noch nicht«, sagt die größere der beiden, so, als sei damit alles gesagt. Für sie ist alles klar.

Mein Herz macht einen freudigen Sprung. »Genau«, sage ich, denn die beiden haben es verstanden.

»Er lernt es gerade«, erkläre ich ihnen stolz.

Sie nicken und fahren weiter. Ob Theodor lächelt, kann ich nicht sehen, denn ich stehe hinter ihm, Körper an Körper, und leite ihn durch meine Bewegungen zu einem weiteren Schritt an. Meine Arme habe ich unter seinen Achseln durchgefädelt, und mit einem besonderen Griff halte ich seine kleinen Hände, sodass ich ihm helfen kann, sein Gewicht von einem Bein aufs andere zu verlagern. Mein Blick ist nach unten auf seine Füße gerichtet, und ich konzentriere mich voll und ganz auf die Eindrücke, die ich durch unseren Körperkontakt spüre. Wann ist er zum nächsten Schritt bereit?

Seine weißen Lederschuhe mit den dunkelblauen Streifen an der Seite sehen wie ganz normale Sportschuhe aus. Doch sie haben mehr als zweihundert Euro gekostet, und im Knöchelbereich sieht man zwei schmale Metallstangen unter der Hose hervorblitzen. Die speziell angefertigten Unterschenkelorthesen, die unter Theodors Jeans versteckt sind, verleihen seinen Beinen Stabilität und sorgen für eine korrekte Ausrichtung seiner Füße. Sie waren nicht viel billiger als ein gebrauchter Kleinwagen. Die Metallgelenke der Beinschienen funkeln bei jedem Schritt im Sonnenlicht. Wir sind im Donaupark und genießen den ersten warmen Frühlingstag des Jahres. Die Sonne strahlt vom Himmel, und ich strahle vor Glück, denn Theodor geht gerade zum allerersten Mal in seinem Leben in einem Park spazieren. Er ist sechs Jahre alt.

Was für andere Kinder in seinem Alter selbstverständlich ist, ist für Theodor ein wahres Wunder. Denn er entwickelt sich nicht so wie andere Kinder. Theodor wurde mit einem seltenen Gendefekt geboren. Ihm fehlt ein wichtiges Stück vom Chromosom 5, das für die Entwicklung essentiell ist. 6,5 Megabasenpaare sind in Theodors Erbgut verloren gegangen, darunter ein wichtiges Gen namens MEF2C. Während dies auf den ersten Blick wie eine nichtssagende Kombination aus drei Buchstaben und einer Zahl erscheint, hat gerade dieses eine fehlende Gen mein ganzes Leben verändert. Obwohl das fehlende Stück im Erbgut so klein ist, dass es mit freiem Auge gar nicht zu bemerken wäre, wirkt sich das Fehlen dieses einen entscheidenden Gens dramatisch auf die Entwicklung aus. Der Gendefekt heißt 5q14.3 Deletionssyndrom und wird neuerdings auch MEF2C haploinsufficiency syndrome genannt. Was wie ein mathematischer Code klingt, hat weitreichende Auswirkungen auf Theodors Entwicklung. Wie würde ich diese Diagnose den beiden Mädchen erklären?

Schon oft haben wir auf der Straße gehört, wie Kinder ihre Mütter fragen: »Mama, was hat der Junge?« (Wenn sie erkennen, dass Theodor trotz seiner blonden Locken kein Mädchen ist.) Was hat Theodor?

Oder sollte es vielmehr heißen: »Was hat Theodor nicht?«

Denn wäre das vollständige MEF2C Gen auf beiden Chromosomen vorhanden, so würde Theodor wahrscheinlich wie die meisten anderen Kinder in diesem Alter Fußball spielen, Fahrrad fahren, in die Schule gehen und lesen und schreiben lernen. Doch Theodor lernt gerade erst gehen. Und dies ist für ihn ein wahres Wunder.

Einmal habe ich versucht, zwei Kindergartenkindern am Spielplatz zu erklären, dass Theodor noch nicht allein in der Schaukel sitzen kann, weil er einen Gendefekt hat. An ihrem entgeisterten Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass sie keine Ahnung hatten, wovon ich spreche.

»Ist er krank?«, fragte eines der Kinder.

Ein Gendefekt ist keine Krankheit. Aber Kinder wissen normalerweise auch nicht, was ein Gendefekt ist.

Alle Informationen über uns Menschen sind wie in einer großen Bibliothek in unserem Erbgut gespeichert. Die Bibliothek wird als Genom bezeichnet, die Gesamtheit unserer Gene. Unsere Haarfarbe, unsere Augenfarbe, ob wir groß oder klein sind – all dies ist in 46 Büchern in unserer körpereigenen Bibliothek festgeschrieben, den Chromosomen. Das Besondere daran ist, dass jedes der Bücher in doppelter Ausführung vorhanden ist. 23 Chromosomen werden von der Mutter vererbt, die anderen 23 Chromosomen vom Vater. Somit sichert sich der Körper ab, falls in einem der Bücher ein Tippfehler passiert. Nun kann man sich vorstellen, dass die Sätze in diesen Büchern aus vielen, vielen Wörtern bestehen – den Genen. Jedes dieser Gene steht für ein bestimmtes Wort; es ist sozusagen der Code, damit der Körper ein bestimmtes Protein produzieren kann.

Theodor fehlen also einige Wörter in einer riesigen Bibliothek. Sie sind lange vor seiner Geburt verloren gegangen. Obwohl er auf einem der beiden Chromosomen 5 eine intakte Kopie des MEF2C Gens hat, reicht diese einzelne Kopie nicht aus, um genug Protein zu erzeugen. Manchen Kindern fehlt nur ein einzelner Buchstabe in einem dieser Wörter. Anderen Kinder fehlen vielleicht mehrere Buchstaben oder sogar das ganze Wort. Man kann sich das so vorstellen: Fehlt in einem Wort ein einzelner Buchstabe, so kann es passieren, dass das neu entstandene Wort keinen Sinn mehr ergibt. Oder es ergibt einen ganz anderen Sinn als ursprünglich vorgesehen war. Falls es sich um ein besonders wichtiges Wort handelt, kann es bei einem Fehler auch passieren, dass vielleicht der gesamte Satz keinen Sinn mehr ergibt.

Liest du in einem Buch zum Beispiel das Wort Hae, so kannst du nicht mit Sicherheit wissen, ob es sich dabei um das ursprüngliche Wort handelt oder ob beim Schreiben vielleicht ein Fehler passiert ist und eigentlich Hase, Haare oder Haarschneideschere gemeint ist. Vielleicht ist nur ein Buchstabe verloren gegangen, vielleicht aber auch mehrere. Je nachdem, wie viele Buchstaben fehlen, ergibt das Wort nun vielleicht keinen Sinn mehr. Fehlt aber das ganze Wort oder fehlen vielleicht sogar mehrere Wörter, so kann es passieren, dass der Sinn des Satzes als Ganzes verloren geht. Bei Theodor fehlt das gesamte MEF2C Gen, und dies ist der Grund, warum er sich anders als andere Kinder entwickelt.

Ich spreche selten davon, dass Theodor behindert ist, obwohl in seinem Behindertenausweis ein Behinderungsgrad von hundert Prozent eingetragen ist. Doch was bedeutet eine solche Kategorisierung? Und welche anderen Begriffe kann ich nutzen, um Theodors Entwicklung zu beschreiben? Manche Eltern sagen, dass ihr Kind Baustellen hat. Vielleicht hat das Kind nur eine Baustelle, vielleicht aber auch ganz viele. In jedem Fall klingt dies nach richtig viel Arbeit. Es klingt aber auch danach, dass irgendetwas an diesem Kind kaputt ist und repariert werden muss – dass irgendetwas an diesem Kind falsch ist und verändert werden muss. Lieber würde ich einen Begriff verwenden, der respektvoller ist.

Ich spreche auch nur selten davon, dass Theodor besondere Bedürfnisse hat. Er hat genau dieselben Bedürfnisse wie jedes andere Kind in seinem Alter. Er will geliebt und anerkannt werden, er will spielen, Spaß haben, und er will die Welt entdecken. Manchmal sage ich, dass Theodor ein einzigartiges Kind ist. Denn es gibt wahrscheinlich auf der ganzen Welt keinen anderen Menschen, der genau denselben Gendefekt hat. Aber ist nicht jedes Kind auf seine Weise einzigartig?

Am liebsten aber sage ich, dass Theodor ein ganz besonderes Kind ist. Denn für mich ist er das wundervollste Kind auf der ganzen Welt.

Andere Kinder sind von ihm fasziniert. Wenn er mit seinem Walker, dem Gehtrainer, auf der Franklinstraße unterwegs ist, zieht er alle Blicke auf sich. Auch im September, als wir am Tegernsee inmitten der Touristen eine Runde mit dem Walker gedreht haben, waren wir sozusagen eine kleine Sensation. Viele Leute blieben stehen und lächelten uns zu. Sie waren begeistert, wie gut Theodor sich in seinem Walker bewegen kann und wie schnell er unterwegs ist. Viele Menschen haben noch nie zuvor einen Gehtrainer gesehen.

Wie oft haben wir die Frage: »Mama, was ist das?« schon gehört? Kindern erkläre ich meistens, dass Theodors Walker so etwas wie ihr eigenes Laufrad ist – ein Laufrad auf vier Rädern. Wenn die Kinder schon älter sind, frage ich sie, ob sie sich noch an die Zeit erinnern können, als sie selbst mit einem Laufwagen oder einem Laufrad unterwegs waren. Die meisten verstehen sofort, was ich meine.

Wenn ich ihnen erzähle, dass Theodor noch nicht gehen kann, entwickeln manche Kinder das Bedürfnis, mir ihr eigenes Können vorzuführen. Sie fangen an zu laufen, zu springen oder neben uns herumzustolzieren.

»Schau her! Ich kann schon gehen!«

Wie soll ich mich in einem solchen Moment verhalten? Natürlich sage ich dem Kind, wie toll es das macht. Aber ich würde lügen, würde ich behaupten, dass ich in diesem Moment nicht auch leide. Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass es mir nicht manchmal wehtut, zu sehen, wie anders diese Kinder sind. Wie einfach alles für sie ist. Sie können gehen und sprechen. Und sie mussten nicht einmal besonders hart dafür arbeiten, um diese Fähigkeiten zu erlernen. Es passierte ganz automatisch. Sie wuchsen, wurden älter und lernten es einfach. Kinderleicht. Ein Kinderspiel.

Für Theodor sind diese Dinge nicht so einfach. An manchen Tagen spüre ich, wie sich die Traurigkeit nicht so einfach wegschieben lässt. An anderen Tagen macht es mir nichts aus. Für mich ist Theodor ein ganz normales Kind. Ich vergleiche nie. Denn erst beim Vergleichen wird deutlich, wie anders er tatsächlich ist. Erst im Unterschied zu anderen Kindern fällt auf, was er in seinem Alter normalerweise machen würde.

Vergleicht man nicht und nimmt das Kind stattdessen als jenen einzigartigen Menschen an, der es ist, kann man beginnen, es mit anderen Augen zu sehen. Man sieht die Fähigkeiten des Kindes und erkennt, wo es in Bezug auf seine Entwicklung steht. Es fällt mir schwer, mir Theodor als eines dieser anderen Kinder vorzustellen. Nur selten male ich mir in Gedanken aus, was er wohl gern machen würde, hätte er keinen Gendefekt. Was wären seine Interessen? Wäre er ein ruhiges oder aufgewecktes Kind? Würde er im Wald auf Bäume klettern oder würde er Klavier spielen? All diese Dinge waren mir vor Theodors Geburt so wichtig erschienen. Heute habe ich andere Prioritäten im Leben.

Wie wäre es, wenn Theodor selbstständiger wäre? Würde er jeden Morgen mit der Schultasche am Rücken aus dem Haus gehen und mir von der Straße aus noch einmal zuwinken? Würde er mir am Muttertag ein kleines Geschenk basteln, ein Gedicht aufsagen und mir dann mit seinem kleinen Kindermund einen feuchten Kuss auf die Wange geben? Bei dieser Vorstellung habe ich Tränen in den Augen.

Bei Theodors Geburt hat mir meine Mutter ein kleines Büchlein mit Zeichnungen und Sprüchen geschenkt. Auf jeder Seite sind eine Kängurumutter und ihr Kängurubaby abgebildet. Eine dieser Zeichnungen hat mich besonders berührt. Das kleine Kängurubaby reckt seinen Kopf mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht aus dem Beutel der Kängurumutter. Die Mutter schaut ihr Baby liebevoll an und streichelt seinen Kopf. »Für dich bin ich immer genau richtig…«, steht als Überschrift zu dem Bild. Die Kängurumama drückt einen Stempel auf ihren Bauch, sodass dort die Aufschrift zu lesen steht: »Inhalt 100% perfekt.«

Als mir meine Mutter dieses Buch in der schweren Zeit nach der Geburt im Krankenhaus gab und ich beim Durchblättern diese Seite entdeckte, warf ich einen Blick auf mein Baby, das in meinen Armen lag und mich mit seinen grauen Augen unverwandt anschaute. Theodor hatte den weisesten Blick, den ich jemals gesehen hatte, und er sah mir direkt in die Augen. Aus seiner Nase hing ein dünnes grünes Kabel, die Magensonde, und an den Händen und Füßen waren Kabel und Infusionen angeschlossen. Ich wusste nicht, was uns erwarten würde und was noch vor uns lag. Die Zeit, die hinter uns lag, war mehr als schwer gewesen. Ich wusste nicht, ob die Ärzte mit ihren Befürchtungen richtig lagen, und ich wusste nicht, was mit meinem Sohn nicht stimmen sollte. Für mich war Theodor genau richtig. Er war zu 100% perfekt.

Im Nachhinein betrachtet bringt mich das Bild des Stempels zum Nachdenken. Für die Kängurumutter ist ihr Baby perfekt. Doch wie wird das Baby von den anderen »abgestempelt«? Welche Erwartungen haben die anderen, und welche Vorstellungen und Bilder verknüpfen sie mit einem Baby, von dem schon im Vorhinein klar ist, dass es anders ist und neurologische Auffälligkeiten hat?

Die Ärzte hatten Theodor schon als behindert abgestempelt, noch bevor er überhaupt geboren war. Ihre Erwartungen an seine Entwicklung waren sehr gering und ebenso blieb wenig Raum für Freude und Hoffnung. Ich erinnere mich noch sehr gut an jenen Moment, als ich in den Kreissaal kam und die Ärzte im Nebenzimmer flüstern hörte. Denn dass mein Sohn behindert war, stand bereits im Protokoll, obwohl es bis zur genetischen Untersuchung ein paar Monate später nur eine Vermutung war. Diese Vorannahme baute auf Vermutungen auf, dennoch beeinflusste sie den gesamten Geburtsvorgang und das medizinische Geschehen direkt nach der Geburt. Theodor hat nie die Möglichkeit bekommen, ohne Vorurteile auf die Welt zu kommen. Er war von Anfang an als behindert abgestempelt. Und damit waren auch die Einschränkungen festgelegt, die mit einer eventuellen Behinderung einhergehen würden.

Einerseits hatte diese frühe Diagnose natürlich Vorteile, da wir alles Mögliche unternehmen konnten, um das Risiko während der Geburt so gering wie möglich zu halten. Ebenso konnten wir bereits wenige Tage nach der Geburt mit der Physiotherapie beginnen. Andererseits brachte diese Vermutung aber neben der traumatischen Erfahrung auch viele Nachteile mit sich. Zum einen wollten mir die Ärzte nicht einmal die Chance zugestehen, auf eine natürliche Geburt zu hoffen. Ich musste mich mit ganzer Kraft zur Wehr setzen, um zu verhindern, dass sofort ein Kaiserschnitt gemacht wurde. Nur mit äußerster Willenskraft konnte ich durchsetzen, dass Theodor seinen Geburtstermin selbst aussuchen konnte.

Zum anderen hatten mir die Mutmaßungen und Befürchtungen der Ärzte derart zugesetzt, dass ich darauf vorbereitet war, nicht mein perfektes Baby aus meinem Bauch schlüpfen zu sehen, sondern ich erwartete ein monsterähnliches Wesen, vor dem ich riesengroße Angst hatte. Die Ärzte hatten es tatsächlich geschafft, mir alle Vorfreude auf mein Baby zu nehmen, und ich empfing meinen Sohn in dem Wissen, dass etwas Grundlegendes mit ihm nicht stimmte, auch wenn mir niemand genau sagen konnte, was das sein sollte.

Ich habe nie die Gelegenheit gehabt, mein Baby in den ersten Momenten nach der Geburt als das Wunder zu begreifen, das es war. Ich habe nie die Möglichkeit gehabt, meinen Sohn ohne Erwartungen kennenzulernen und ihn zu bewundern. Jemand hatte ihm bereits in meinem Bauch einen schwarzen Stempel aufgedrückt, genauso, wie die Kängurumutter dies bei ihrem Baby macht. Nur dass die Aufschrift auf meinem Bauch nicht auf ein perfektes Baby hindeutete, sondern meinen Sohn schon vorab als behindert brandmarkte.

Kinder gehen sehr ungezwungen auf Theodor zu. Sie haben noch nicht dieses Bild von Normalität vor Augen, das Erwachsene manchmal beschämt zu Boden blicken lässt, wenn sie uns sehen. Früher haben mich diese Reaktionen oft verletzt, heute gibt es auch Tage, an denen ich mich darüber ärgere. Am nettesten fand ich die Aussage einer Mutter, die ihrem Kind auf die Frage: »Mama, was macht der Junge?« ganz einfach »Er geht spazieren, genauso wie du!« zur Antwort gab.

Manche Eltern ziehen ihre Kinder aber auch an den Händen weiter, wenn diese anfangen, Theodor anzustarren oder unangenehme Fragen zu stellen. Kinder haben das Talent, einen mit ihren Fragen so lange zu löchern, bis sie entweder eine zufriedenstellende Antwort erhalten haben oder ihnen keine Fragen mehr einfallen.

Auch eine liebe Freundin hatte Bedenken, als sie mit ihren Kindern nach längerer Zeit wieder einmal zu Besuch kommen wollte. Sie warnte mich vorab vor den eventuell beschämenden Fragen ihres Ältesten, der gleich alt wie Theodor ist und ihn auch schon mehrmals gesehen hatte. Ich solle mich schon auf unangenehme Fragen gefasst machen, denn die beiden Kinder hätten noch nie mit »Behinderten« zu tun gehabt. Dieser Satz gab mir einen kurzen Stich in die Magengrube. Dann atmete ich einmal tief ein und antwortete: »Dann haben sie ja jetzt die Gelegenheit, etwas zu lernen. Genetik für Anfänger.«

Letztendlich hatten die Kinder während des gesamten Besuchs keine einzige Frage. Sie nahmen Theodor so wahr, wie er ist, und akzeptierten sein Verhalten als etwas völlig Normales, egal, ob es sich von ihrem eigenen Verhalten unterscheidet oder nicht.

Wenn Theodor in seinem Buggy sitzt, erkennen die meisten Menschen nicht, dass er besonders ist. Er ist einfach ein Kind wie jedes andere auch, das in seinem Kinderwagen spazieren fährt. Sind wir mit dem Buggy unterwegs, zeigen die meisten Kleinkinder nur auf ihn und sagen stolz: »Baby!«, und die Eltern loben sie dafür. Die meisten dieser Kinder sind viel jünger als Theodor.

Ist Theodor mit seinen acht Jahren immer noch ein Baby, obwohl er doppelt so groß wie die kleinen Winzlinge ist, die auf wackligen Beinen an ihm vorbeisausen? In gewisser Weise ist mein Sohn ein Baby. Er trinkt aus einem Babyfläschchen, muss gefüttert werden und trägt Windeln. Er lutscht gerne an den Fingern, hat eine leidenschaftliche Begeisterung für Babyspielsachen und schaukelt am liebsten in einer Babyschaukel. Er kann nicht alleine sitzen, krabbeln oder gehen. Und er hat noch nie in seinem Leben »Mama« gesagt.

Aber wie die zwei Mädchen im Donaupark gesagt haben: »Er kann es noch nicht.«

Theodor hat so viele Dinge gelernt, die noch vor Jahren unvorstellbar waren. Er hat gelernt, nach Spielsachen zu greifen, obwohl seine Hände bei seiner Geburt so verkrampft waren, dass er die Fäuste drei Jahre lang nicht aufmachen konnte. Er hat gelernt, seinen Kopf zu halten, obwohl seine Schultern noch vor ein paar Jahren so verkrampft waren, dass sein Hals eigentlich gar nicht zu sehen war. Er hat gelernt, sich auf die Seite zu drehen, obwohl er sich jahrelang fast gar nicht bewegt hat. Er kann essen und trinken, obwohl die Ärzte ihm bei der Geburt sofort eine Magensonde durch die Nase gelegt haben.

Er kann im Sitzen und Knien spielen und ist an Spielsachen und Bilderbüchern interessiert. Er liebt Musik und erkennt seine Lieblingslieder. Er kann selbst auf meinem alten Keyboard spielen. Er kann mit meiner Unterstützung aufstehen und hat vor einem Jahr seine allerersten Schritte gemacht. All diese Dinge erscheinen so selbstverständlich, wenn wir sie bei anderen Kindern in seinem Alter sehen. Aber Theodor hat sich jeden einzelnen Fortschritt hart erkämpft. Und ich habe ihm dabei geholfen.

Ein paar Monate später machen wir vor unserem Haus eine weitere nette Bekanntschaft. Wir wohnen in einer ruhigen Seitenstraße in der Nähe der Alten Donau, gegenüber von einer Schule. Theodor kann nun schon richtig gute Schritte machen und spaziert mit meiner Hilfe jeden Abend zweihundert Meter an unserem Haus vorbei, die Straße hinunter bis zur Kreuzung, dann auf die andere Straßenseite, an der Schule vorbei und wieder zurück zu unserem Startpunkt.

An einem dieser Abende – es ist Sommer, und wir können bis 20 Uhr draußen bleiben (danach schaltet sich die Straßenbeleuchtung ein, und Theodors Aufmerksamkeit wird wie die eines Nachtfalters von den hellen Lichtern angezogen) – kommen plötzlich von hinten zwei Kinder auf uns zugelaufen. Ich höre zuerst nur, wie ihre Schritte näherkommen, denn mein Blick ist nach unten auf Theodors Füße gerichtet. Nur aus den Augenwinkeln sehe ich, dass die beiden nicht an uns vorbeigehen, sondern uns offenbar beim Gehen zusehen. Ich blicke auf. Das Mädchen hat braunes, lockiges Haar und ist ungefähr gleich groß wie Theodor. Der Junge ist auch im selben Alter. Er wohnt in einem der Nachbarhäuser, und wir kennen ihn vom Sehen. Einige Wochen zuvor habe ich ihm erklärt, warum Theodor beim Gehen Schienen tragen muss. »Wenn jemand nicht gut sieht, bekommt er eine Brille. Die hilft ihm beim Sehen. Theodor kann noch nicht alleine gehen. Die Schienen helfen ihm, damit die Beine stabiler sind.«

Die beiden beginnen zu streiten, wer von ihnen neben uns gehen darf. Im ersten Moment überlege ich, ob sie sich vielleicht über uns lustig machen. Doch ihr Interesse scheint ernst gemeint. Schließlich geht das Mädchen rechts neben uns, der Junge auf der anderen Seite.

Ich bin eigentlich ganz auf Theodor konzentriert, denn ich muss bei jedem Schritt die volle Kontrolle über sein Gewicht und seine Bewegungen haben. Ein unachtsamer Moment, und Theodor würde meinen Händen entgleiten. Einmal stolpern, und Theodor würde ungebremst zu Boden fallen. Er hat noch kein Verständnis dafür, dass es gefährlich ist, hinzufallen. Vor allem hat er noch nicht die erforderliche Körperkontrolle, um einen Sturz zu verhindern oder abzufangen. Er ist auf meine Unterstützung angewiesen. Dennoch versuche ich, den Kindern einen Teil meiner Aufmerksamkeit zu schenken.

»Er kann jetzt schon sehr gut gehen!«, sagt der Junge beeindruckt.

Ich freue mich sehr über das Kompliment. Wenn ein achtjähriges Kind erkennen kann, wie sehr sich das Gehen verbessert hat, müssen die Fortschritte wirklich offensichtlich sein.

Das Mädchen hat viele Fragen: Wie alt ist er? Wie heißt er? Theodor ist jetzt sieben Jahre alt.

»Genauso alt wie ich«, sagt das Mädchen. Sie heißt Elsa. Der Junge heißt Leon. Er ist schon acht. »Wieso geht Theodor nicht in die Schule?«, fragt das Mädchen.

Ich erkläre ihr, dass Theodor viele Sachen lernen muss, die in der Schule nicht unterrichtet werden. Er kann noch nicht sitzen und noch nicht alleine gehen.

»Aber er lernt es jetzt, oder?«, ruft das Mädchen begeistert. Ihre Freude ist echt. »Und du bringst es ihm bei, oder?«

Während wir die Straße entlangspazieren und ich versuche, mich gleichzeitig auf Theodors Schritte und auf die vielen Fragen der Kinder zu konzentrieren, erzähle ich ihnen von Theodor.

»Kann er sprechen?«, fragen die beiden.

»Er kann in seiner eigenen Sprache sprechen, aber er kann noch keine richtigen Wörter sagen.«

»Wie ein Baby? Also so – ah, ahm, ma?«

Sie hat es verstanden.

»Schau, er trägt Schienen! Die helfen ihm beim Gehen.« Der Junge zeigt auf Theodors Füße und ist stolz, dass er Elsa etwas erklären kann.

»Und ihr übt immer gemeinsam?«, fragt sie mich.

»Ja«, sage ich. »Theodor kann so viele Sachen. Aber er kann es noch nicht alleine. Deswegen helfe ich ihm dabei.«

Elsa erzählt, dass ihre Eltern beschlossen haben, einen Familienhund anzuschaffen. Morgen werden sie ihn abholen.

»Ich werde ihn F-O-R-E-S-T nennen«, erzählt sie, »wie Forest Gump. Das ist mein Lieblingsfilm.«

Ich wundere mich, dass sie den Film in ihrem Alter überhaupt kennt.

»Der musste ja auch Schienen tragen, oder?«, frage ich sie.

»Ja, aber dann ist er einfach losgerannt, die Schienen sind beim Laufen zerbrochen und dann konnte er ohne Schienen gehen«, erklärt sie mir.

»So wie bei Theodor?« Sie sieht mich hoffnungsvoll an.

»Er ist so süß!«, sagt sie und strahlt Theodor an. »Jetzt hat er mich angelächelt.«

Ich erhielt die Diagnose kurz nach der Geburt. Mein wundervolles Baby war mit einem seltenen Gendefekt geboren, der eine schwere Entwicklungsverzögerung verursacht. Die Ärzte drückten mir einen Zettel in die Hand, der meinen perfekten Sohn mit folgenden Begriffen beschrieb: »schwere geistige Retardierung, fehlende Sprache und stereotype Bewegungen.«

Sie sagten, er würde niemals gehen und sprechen lernen und schickten mich nach Hause. Mein Leben, so wie ich es bisher gekannt hatte, brach in diesem Moment zusammen. Alle meine Wünsche, Träume und Hoffnungen wurden zunichte gemacht. Ein Journalist hat mich einmal gefragt, woher ich die Kraft für unseren Alltag nehme.

»Ich habe mir nicht ausgesucht, dass Theodor einen Gendefekt hat«, antwortete ich. »Aber es ist nun einmal so, und wir versuchen, das Beste daraus zu machen.«

So etwas wünscht sich niemand. Und dennoch gibt es Menschen, die der Ansicht sind, dass eine Behinderung etwas ist, das in die eine Familie passt, in die andere Familie aber nicht. Als eine liebe Bekannte gerade mit ihren Zwillingen schwanger war, erzählte sie mir beim Frühstückstreffen, dass sie natürlich alle Tests machen lassen. Ein behindertes Kind wäre ihrem erstgeborenen Sohn gegenüber nicht fair. »Außerdem passt das nicht in unsere Familie. Wir reisen gern.«

Theodor und ich reisen auch gern. Er liebt das Meer, und wir sind mit dem Auto schon bis nach Dänemark gekommen. Ich kenne einige Eltern, die wegen der Therapien ihrer Kinder quer durch die ganze Welt reisen. Delfintherapie in Ägypten oder Bulgarien, Stammzellentherapie in Panama, Mexiko oder der Ukraine, Therapie in Deutschland, Kalifornien oder Dänemark, Hüftoperation in New York. Dabei handelt es sich aber wahrscheinlich nicht um jene Art von Reisen, von denen meine Bekannte träumt. Doch wer träumt schon von Therapien, wenn wir uns ein Kind wünschen?

Ich denke, es ist reichlich naiv zu glauben, man hätte die Macht, zwischen einem perfekten Kind und einem behinderten Kind zu wählen. Und selbst wenn man die Wahl hätte – wofür würde man sich entscheiden? Manche Menschen sprechen von »einer Laune der Natur«, andere vom »Schicksal«, manche nennen es auch »Bestimmung«. War es ein Experiment der Natur oder ein Schicksalsschlag?

Egal, wie man es bezeichnet – ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen, dass man diese Wahlmöglichkeit nicht hat. Denn es gibt Dinge, die liegen außerhalb unserer Macht. Wir haben darauf keinen Einfluss. Wir können noch so sehr alles versuchen in dem Bemühen, das Beste für das Baby im Bauch zu tun. Wir können nicht verhindern, dass manchmal etwas passiert, was wir nicht erwarten. Dass es sich dabei um etwas handelt, was im ersten Moment unsere Welt zusammenbrechen lässt. Dass es etwas ist, was unsere größten Ängste noch bei weitem übertrifft. Dass es so unerwartet kommt, dass wir nicht darauf vorbereitet sein können, weil unsere Gedanken im Vorhinein gar nicht so weit reichen.

Wir haben keinen Einfluss darauf. Wir können nur lernen, damit umzugehen. Bis wir vielleicht eines Tages erkennen, dass das, was wir im ersten Moment für eine Katastrophe gehalten haben, für das Schlimmste, das passieren kann, in Wirklichkeit eine riesengroße Chance ist. Dass das Überraschende zu einem Wunder wird.

Ich denke, es ist mehr als unfair, würde man einem behinderten Kind nicht einmal die Möglichkeit geben, perfekt zu sein. Handelt es sich bei perfekt und behindert tatsächlich um Gegensätze?

»Er ist mein einfachstes Kind«, habe ich einmal eine Mutter mit einem Augenzwinkern über ihr Kind mit diesem seltenen Gendefekt sagen gehört. Dabei hat sie vier Kinder.

Theodor ist ein wundervolles Kind, und unser Leben mag dem einer durchschnittlichen Familie mit einem Achtjährigen nicht einmal ansatzweise ähneln. Dennoch war er genau das Baby, auf das ich mich neun Monate lang gefreut hatte. Er und kein anderer war das Baby, das ich mir gewünscht hatte. Und er ist der Sohn, der alles für mich bedeutet.

Ein perfektes Kind zu haben bedeutet immer auch, das Kind so anzunehmen, wie es ist. Erst dann sieht man das Kind wirklich. Und wenn man es schafft, das Kind als jenen eigenständigen Menschen zu sehen, der er oder sie ist, so wird dieses Kind zu einem perfekten Kind, ohne dafür eine bestimmte Vorlage erfüllen zu müssen.

Ich hatte keine Vorlage für Theodor. Es gab in meinem Kopf keine Schablone, in die er hätte passen müssen. Dennoch war die Diagnose ein riesengroßer Schock, der mein ganzes Leben verändert hat. Obwohl ich keine konkreten Vorstellungen davon gehabt hatte, was ich mir von meinem Leben mit einem Kind wünschte, war die Wirklichkeit, wie sie sich letztendlich präsentierte, genau das Gegenteil von jeglicher Vorstellung, die ich hätte haben können.

Denn ich hatte mit meinen 27 Jahren keinerlei Erfahrung mit behinderten Kindern. Ich wusste nichts über Physiotherapie, Orthesen oder Stehschienen, und viele der medizinischen Eingriffe, die die Kinder einiger meiner Freunde und Bekannten durchmachen mussten, die Operationen, die gemacht werden mussten oder gemacht wurden, hatten Namen, die ich noch nie zuvor in meinem Leben gehört hatte.

Ich wusste zwar über die biologischen Grundlagen der DNA Bescheid, da ich nach Abschluss meines Universitätsstudiums den Studiengang Bioengineering einer berufsbegleitenden Fachhochschule besucht hatte, doch ich war nicht darauf vorbereitet, welche Auswirkungen jene Themen, die wir auf dem Papier für Prüfungen lernen mussten, im wahren Leben haben können. Anstatt einen Fußball oder ein Laufrad zu kaufen, kaufe ich für meinen Sohn Therapiedreiräder, Walker und Stehtrainer.

Ich habe schon viele Eltern sagen gehört: »Ich wünschte, mein Kind wäre mit einer Bedienungsanleitung geboren worden.«

Denn jedes Kind mit diesem seltenen Gendefekt ist so einzigartig, dass es eigentlich keine Anhaltspunkte für seine Entwicklung gibt. Was soll man also erwarten, wenn man die niederschmetternde Diagnose erhält? Muss man den Prognosen der Ärzte Glauben schenken und jegliche Hoffnung aufgeben? Soll man versuchen, auf das Beste zu hoffen? Oder soll man sich einfach überraschen lassen? Vieles wäre in den ersten Jahren einfacher, hätte man zur Geburt ein Benutzerhandbuch mitbekommen, in dem eine Anleitung zu finden ist, um die Entwicklung seines Kindes trotz Gendefekt bestmöglich zu fördern.

Während der ersten Lebensjahre machte Theodor kaum Fortschritte. Die Vorstellung, dass er jemals Schritte machen würde, erschien zu diesem Zeitpunkt absurd. Er konnte ja noch nicht einmal seinen Kopf halten. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, er hatte keinen Blickkontakt, konnte sich nicht zur Seite rollen und konnte natürlich nicht sitzen. Es war deprimierend. Aber dann änderte ich mein eigenes Denken. Anstatt mich auf seine offensichtlichen Einschränkungen zu konzentrieren, fing ich an, nach seinen Fähigkeiten Ausschau zu halten. Ich fing an, nach Möglichkeiten zu suchen. Es schien, als ob er rein gar nichts machen könnte. Aber war es wirklich so? Gab es etwas, das er machen konnte?

Wenn ein Kind mit besonderen Herausforderungen konfrontiert ist, braucht es eine besondere Mutter. Also wurde ich diese besondere Mutter für Theodor. Ich wurde Erfinderin, ein Genie im Beobachten seiner Möglichkeiten, und ich richtete meinen Blick darauf, was er kann. Langsam erkannte ich, dass er eigentlich so viele Fähigkeiten hat – ich musste sie nur entdecken und ihm dabei helfen, einen Weg zu finden, sie zu verbessern. Als ich begann, kleine Veränderungen zu bemerken, erkannte ich jeden dieser kleinen Fortschritte als einen von vielen Tausenden winziger Meilensteine. Ich begann, mich über jeden dieser kleinen Fortschritte zu freuen.

Ich dachte: »Wenn er das lernen konnte, kann er vielleicht noch etwas lernen, und noch etwas, und noch etwas.«

Am Anfang haben die Veränderungen vielleicht winzig gewirkt. Auf den ersten Blick sind sie vielleicht unbedeutend erschienen. Aber wenn viele kleine Veränderungen aufeinander aufbauen, können sie zu großen Veränderungen werden. Theodor hat so vieles gelernt, obwohl viele Menschen es nicht für möglich gehalten haben. Die Prognosen, die man mit der Diagnose eines Gendefektes erhält, mögen vielleicht stimmen. Sie können aber genauso gut falsch sein. Niemand kann im Vorhinein wissen, wie sich ein Kind entwickeln wird. Bei Theodors Geburt haben viele Menschen nicht an seine Möglichkeiten geglaubt. Aber ich habe die Hoffnung nie aufgegeben. Ich habe immer gespürt, dass Theodor eigentlich nach Spielsachen greifen will, aber er konnte es nicht. Ich habe immer gespürt, dass er eigentlich sitzen will, aber er konnte es nicht. Ich wusste, dass ich einen Weg finden musste, damit er lernen kann.

Der Weg seiner Entwicklung ist einzigartig. Es ist ein langer und anstrengender Weg, denn mein Sohn muss sich tausendmal so sehr anstrengen wie ein Kind ohne Gendefekt, um Fortschritte zu machen. Auf unserem Weg haben wir bisher schon viele Geschichten erlebt. Manche von ihnen waren lustig, andere traurig. Manche dieser Geschichten waren filmreif und glichen eher einer Tragödie.

An dieser Stelle habe ich mich dazu entschlossen, ein Buch über unsere Geschichte zu schreiben. Dies ist unsere gemeinsame Geschichte. Es ist ein Buch voll Hoffnung, Liebe und Inspiration.

Das Wunschkind

Die Sonne strahlt vom Himmel. Theodor trägt eine blaue Badehose mit gelben Haien. Die nasse Windel habe ich in meiner Badetasche verschwinden lassen. Das Geräusch des Windes, der die salzige Meeresluft zu unserem Strandplatz trägt, vermischt sich mit dem Stimmengewirr der anderen Badegäste zu einem beruhigenden Rauschen. Theodor liegt unter dem Sonnenschirm im Schatten und lässt es über sich ergehen, unnachgiebig mit klebrig-weißer Sonnencreme eingecremt zu werden. Nur als ich bei seinem Gesicht angelangt bin, dreht er sich von mir weg und versucht, meinen Händen zu entkommen. Schließlich haben wir es geschafft. Ich setze ihm seine blaue Sonnenbrille auf und achte darauf, dass die Bügel gut hinter seinen Ohren sitzen. Theodor strampelt mit den Beinen und schiebt das Badetuch zur Seite. Seine Füße landen im warmen Sand. Bei jeder Bewegung wirbelt er eine kleine Staubwolke auf, bis nicht nur das Handtuch von einer dünnen Sandschicht bedeckt ist, sondern auch an seinen frisch eingecremten Beinen unzählige Sandkörner kleben. Nun müssen wir auf jeden Fall ins Wasser gehen, um den Sand wieder abzuspülen, bevor er mit seinen Händen hineingreift und sich vielleicht alles im Gesicht verschmiert. »Komm, Theodor«, sage ich und verstaue die Sonnencreme in der Badetasche.

Meine Eltern sind noch in der Ferienwohnung, und Veronika ist zum Strandcafé gegangen, um italienischen Cappuccino für uns zu kaufen. Ich rolle Theodor zur Seite und schiebe meinen Arm mit einem geübten Griff zwischen seinen Beinen hindurch, sodass seine Kniekehle auf meinem Unterarm zu liegen kommt. Dann rolle ich ihn über die Seite zum Sitzen und greife mit meiner Hand an seinen Oberarm, sodass ich ihn sicher halten kann. Mit einer gekonnten Bewegung drücke ich mich mit meinen Knien hoch und stehe mit Theodor im Arm auf. Es erinnert ein bisschen an eine Übung im Fitnesscenter, bei der ich ein schweres Gewicht mühelos vom Boden stemme.

Die Leichtigkeit, mit der ich ihn hochhebe, täuscht. Fast könnte man meinen, ich trage ein Baby im Arm. Dass Theodor 1,15 m groß ist und 25 kg wiegt, würde man im ersten Moment vielleicht gar nicht vermuten, denn ich trage ihn nur mit einem Arm. Wie oft habe ich ihn heute schon hochgehievt und wieder hingelegt? Ich zähle nach: 36-mal habe ich die Übung an diesem Tag schon gemacht. Die leichten Rückenschmerzen bestätigen, dass dies eine ziemlich beeindruckende Zahl ist. Ein behindertes Kind zu haben kann auch körperlich sehr anstrengend sein. An manchen Tagen ist es sogar Schwerstarbeit. Wer schon einmal mit 25 kg am Arm Kniebeugen gemacht oder einen 50 kg schweren Buggy durch Sand oder Schnee geschoben hat, weiß, wovon ich rede. Das ist Crossfit vom Feinsten.

Beim Tragen bin ich ein bisschen vorsichtiger als normalerweise, denn durch die Sonnencreme fühlt Theodor sich rutschig an. »Wir gehen zum Wasser«, sage ich zu ihm.

Den Schwimmreifen holen wir später. Zuerst werden wir im seichten Wasser im Sand spielen. Theodor reibt sich mit der Hand übers Gesicht und erwischt dabei auch die Sonnenbrille. Nun sind die Gläser, die ich vorhin noch extra geputzt habe, nicht mehr sauber, sondern mit Sonnencreme verschmiert. Na gut. Ich setze mich also mit meinem Sohn im Arm auf die Sonnenliege und versuche die Brille so gut es geht zu säubern, damit er nicht nur die verschmierten Stellen auf den abgedunkelten Gläsern sieht.

Nun können wir losgehen. Der Sand ist so heiß, dass ich die kurze Strecke zum Meer normalerweise im Laufen zurücklegen würde. Doch mit Theodor im Arm geht das nicht. Also gehe ich so schnell ich kann, bis ich endlich das kühle Nass der Wellen auf meinen Zehenspitzen spüre. Ich beneide alle Eltern, deren Kinder allein ins Wasser laufen. Doch gleichzeitig freue ich mich, dass Theodor ganz ohne meine Hilfe im Sand sitzt, als ich ihn ein paar Meter vom Wasser entfernt auf den Boden setze. Alle paar Minuten schafft es eine besonders hohe Welle, bis zu unseren Füßen zu rollen. Theodor zieht seine Zehen zurück. Das Wasser ist ihm heute noch zu kalt, denn obwohl die Sonne vom wolkenlosen Himmel brennt, weht ein kühles Lüftchen, das die Hitze erträglich macht.

Theodor gräbt seine Zehen in den nassen Sand, der hier durch die Feuchtigkeit dunkelbraun ist. Mit den Händen beginnt er, im Sand zu wühlen. Ich sitze dicht hinter ihm und bin bereit, ihn sofort aufzufangen, wenn er nach vorne oder zur Seite kippen würde oder wenn er sich in einem Anflug von Übermut nach hinten wirft. Es ist das erste Jahr, in dem Theodor stabil genug ist, um ganz ohne meine Unterstützung im Sand zu sitzen. Das Meeresrauschen und der Wind üben eine eigentümliche Faszination auf ihn aus, die sich auf magische Weise auf seine Körperspannung auswirkt. In diesem Moment fühlt er sich wie ein anderes Kind an. Normalerweise ist er eher wackelig, und sein Oberkörper fühlt sich ganz weich an – wie Wackelpudding oder wie ein Stück Gummi. Hier am Meer ist seine Körperspannung so gut, dass er mit völlig aufrechtem Rücken sitzt.

Während ich darauf achte, dass wir von den anderen Kindern, die rund um uns übermütig herumtoben, nicht nassgespritzt werden, schaue ich auch darauf, dass Theodor sich nicht unerwartet eine Handvoll Sand in den Mund schaufelt. Es ist erstaunlich, wie kräftig er hier beim Wasser ist. Ich habe eine Idee. Ich möchte versuchen, ob er im seichten Wasser vielleicht sogar stehen kann. Es ist Ebbe, und das Meer hat sich soweit zurückgezogen, dass der Uferbereich in einer langen, flach abfallenden Sandbank ins Meer mündet. Die Sandbank ist mit kleinen Wasserpfützen durchzogen, in denen Kinder ihre Sandburgen bauen. Das Meer ist die ersten zwei Meter nur knöcheltief. Anders als an manchen anderen Tagen ist das Wasser heute kristallklar, und das Sonnenlicht funkelt auf den kleinen Wellen. Die Strömung im seichten Wasser hat ein wellenförmiges Muster im Sand hinterlassen.

Ich hebe Theodor hoch und trage ihn ein paar Meter weiter in Richtung Meer. Nun spüre ich den wellenförmigen Sand unter meinen Zehen. Langsam lasse ich seine Füße nach unten gleiten. Zuerst zieht er die Beine hoch, als er das Wasser spürt, doch nach einiger Zeit hat er sich an die Temperatur gewöhnt. Zum ersten Mal in diesem Jahr berühren seine Fußsohlen den Sand. Ich spüre, wie er Gewicht auf seinen Füßen übernimmt, und lasse den Griff meiner Hände immer lockerer werden, bis ich ihn nur noch ganz leicht unter den Achseln stabilisiere. Es ist beeindruckend.

Die Sonne lässt seinen sandfarbenen Haarschopf golden leuchten. Die Haare haben sich vom Salzwasser und der ozeanischen Brise zu kleinen Löckchen eingekringelt. Vor einigen Wochen hat Theodor seinen ersten Haarschnitt von einer richtigen Friseurin bekommen. Die Haare im Nacken sind kurz geschnitten, vorne und an der Seite werden die langen, wilden Strähnen im Surferlook vom Wind zerzaust. Im Stehen reicht sein Kopf bis knapp über meinen Bauchnabel.

Ich blicke nach unten und sehe die Narben auf meinem Bauch, die von der Schwangerschaft zurückgeblieben sind. Die Geburt hat ihre Narben hinterlassen – nicht nur auf meiner Haut, sondern auch in meinem Herzen. Mein Körper sieht nicht nur anders aus als vor sieben Jahren, ich bin auch ein anderer Mensch geworden. Ich erinnere mich, als mein Neffe vor ein paar Jahren zu mir gesagt hat, mein Bauch sehe aus wie der »einer alten Oma«. Er meinte es als Scherz. Ich war nicht gekränkt darüber, denn mein Körper ist der Beweis dafür, was Theodor und ich bei der Geburt durchgemacht haben.

Ich spüre, wie stabil Theodor vor mir steht, und lehne seinen Rücken gegen meine Oberschenkel. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich das Gefühl, er würde ganz allein stehen. Und das gibt mir den Mut, etwas auszuprobieren, was wir noch nie zuvor gemacht haben. Ich nehme meine Hände, die ihn seitlich stützen, ganz weg. Und Theodor steht von selbst, seine Füße in den Sand vergraben, sein Rücken gegen meine Oberschenkel gelehnt. Es ist unglaublich. Mit einem Strahlen im Gesicht lege ich meine Hände sanft auf seine Schultern, sodass ich ihn stützen kann, wenn seine Knie einknicken. Ich weiß, dass dies jeden Moment passieren kann und dass er völlig hilflos einfach umfallen würde, wenn ich ihn nicht halte.

Ich blicke nach unten und sehe, wie ein kleiner Schwarm winziger Fische neben unseren Füßen vorbeischwimmt. Theodor bemerkt die Fische nicht. Er steht an meinen Körper gelehnt, als wäre es ganz selbstverständlich.

Ermutigt von diesem für uns beide überwältigenden Augenblick greife ich unter seinen Achseln hindurch und nehme seine Hände in diesem speziellen Griff, den wir erst ein paar Monate zuvor beim gemeinsamen Gehen entdeckt haben. Der Griff hilft mir, sein Gewicht von einem Bein auf das andere zu verlagern, und gibt mir gleichzeitig die Möglichkeit, ihn sicher auffangen zu können, wenn er stolpert oder ein Fuß bei einem Schritt nicht gut landet.

Langsam verlagere ich sein Gewicht und achte darauf, ob ich spüre, wie er ein Bein hebt. Es dauert einen Moment, denn durch das kühle Wasser ist Theodors Körper nicht nur sehr kräftig, sondern auch ein bisschen steif geworden. Doch dann hebt er zuerst ein Bein aus dem knöchelhohen Wasser, macht einen Schritt und hebt dann das andere Bein. Mein siebenjähriger Sohn geht zum allerersten Mal im Sand spazieren. Ich bin mir bewusst, dass jeder Schritt ein kleines Wunder ist.

Da er keine Schienen trägt, die ihm helfen, die Füße im 90-Grad-Winkel zu beugen, landen bei jedem Schritt zuerst die Zehen am Boden. Es sieht ein bisschen aus, als würde ein Storch im Wasser spazieren. Ich sehe, wie neben uns eine Familie mit dem Tretboot aufs offene Meer hinausfährt. Sie winken uns zu. Ich bin unglaublich stolz auf Theodor. Und auch auf mich. Und darauf, was wir zusammen erreicht haben. Es ist ein perfekter Moment. Hier in Italien hat unsere Geschichte ihren Anfang genommen. An diesem Strand in Venedig habe ich vor Jahren das erste Mal den Wunsch verspürt, ein Kind zu bekommen.

Ein wenig später, als wir vom Bootsverleih bis zum nächsten Strandabschnitt spaziert sind, bemerke ich, dass Theodors Beine eine bläuliche Farbe angenommen haben und dass er Gänsehaut hat. Es ist also Zeit, unseren Spaziergang fürs Erste zu beenden und uns auf unserem Strandplatz in die Handtücher einzuwickeln. Ich blicke noch einmal zurück auf die kleinen Fußspuren, die Theodors Füße im feuchten Sand hinterlassen haben. Diese Fußspuren bedeuten mir in diesem Moment alles, denn sie sind der Beweis, dass mein Sohn tatsächlich auf eigenen Beinen steht. Ich habe sieben Jahre lang auf diesen Moment gewartet.

»Bravo, Theodor«, sage ich. Schließlich sind wir in Italien, und ich möchte ihn auf Italienisch loben. Am liebsten würde ich ihn vor Freude in die Luft schubsen, doch dazu ist er fast schon etwas zu schwer.

Ich spüle ihm im Meer den Sand von den Füßen und trage ihn zu unserem Strandplatz zurück. Veronika ist währenddessen mit dem Cappuccino zurückgekommen. Sie hat unsere Badetücher ausgeschüttelt und fein säuberlich im Schatten aufgelegt. Wir haben mehrere Badetücher nebeneinander ausgebreitet, denn Theodor braucht viel Platz, um sich herumrollen zu können. Nachdem ich ihn abgetrocknet habe, ziehe ich ihm eine frische Windel, eine kurze Hose und ein T-Shirt an. Ich kitzle seinen Bauch und freue mich über sein Lachen, denn auch das ist etwas ganz Besonderes. Theodor wälzt sich von einer Seite auf die andere, während meine Finger seinen Bauch kitzeln. Sein kleiner Mund ist zu einem Lachen geöffnet, und ich sehe die zwei Zahnlücken. Im April hat die Zahnfee seinen ersten Milchzahn geholt, und erst vor ein paar Wochen hat sie meinen Sohn in den kleinen Drachen Ohnezahn verwandelt, als sie auch seinen zweiten Schneidezahn geholt hat.

Als Theodor genug vom Kitzeln hat, greife ich nach dem Cappuccino. Dabei erinnere ich mich an die Zeit der Schwangerschaft, als ich neun Monate auf Kaffee verzichtet habe, um das Baby im Bauch keinem Stress auszusetzen. Ich erinnere mich auch an all die anderen Dinge, auf die ich geachtet habe. Und die letztendlich nicht verhindern konnten, dass mein Baby mit einem Gendefekt geboren wurde. Selbst nach sieben Jahren denke ich noch manchmal darüber nach, ob es einen Grund dafür gibt. Die Frage nach dem Warum ist noch nicht vergessen, obwohl sie mit den Jahren an den meisten Tagen verblasst ist. Hier im Sonnenschein ist alles gut. Theodor ist gerade zum allerersten Mal im Sand spazieren gegangen.

Ein paar Liegestühle weiter sitzt Francesca, unsere italienische Bekannte, die »Hallo« anstatt »Auf Wiedersehen« sagt und ihre Deutschkenntnisse gerne in einem anregenden Gespräch mit mir auffrischt. Ihre Kenntnisse beschränken sich allerdings auf ein paar einfache Sätze, die sich nicht für alle Unterhaltungen gleich gut eignen. Aus diesem Grund unterhalte ich mich lieber auf Englisch mit ihr.

»I saw Theodor was walking«, ruft sie mir begeistert zu.

»Very good!” Sie klatscht in die Hände und lächelt uns an.

Ich bin stolz, dass sie uns gesehen hat. Francesca hat drei Kinder. Zwei von ihnen sind im selben Alter wie mein Neffe, der Jüngste der Familie, Giovanni, ist vier Jahre alt. Ich beobachte, wie er ausgelassen mit den anderen Kindern Fangen spielt. Jedes Jahr wird deutlicher, wie groß der Unterschied zu Theodors Entwicklung ist. Giovanni hat sich in den vergangenen Jahren von einem Baby zu einem selbstständigen Kleinkind entwickelt. Während er mit den anderen Kindern herumtollt, sitzt seine Mutter im Liegestuhl und liest Zeitung. Mein Sohn braucht bei den meisten Dingen Unterstützung. Es gibt nur wenig, das er ganz alleine machen kann, und selbst dabei muss man ständig aufpassen und für seine Sicherheit sorgen. Giovanni hingegen legt sich selbstständig seine Schwimmflügel an, ruft seiner Mutter im Laufen ein »Ciao, Mama« zu, und schon ist er mit seinen Geschwistern in den Fluten verschwunden.

Als meine Eltern an den Strand kommen, ist es Zeit, dass Theodor etwas zu trinken bekommt. Ich habe stilles Mineralwasser in Glasflaschen aus Österreich mitgebracht, das ich in ein Babyfläschchen einfülle. Ich denke an den Sommerurlaub, als Theodor drei Jahre alt war. Am Weg zum Strand fiel eines der Fläschchen aus der Badetasche meiner Mutter und zersprang in Tausende Scherben, wobei auch der Fläschchensauger kaputt wurde. Obwohl unser Auto bis zum Dach mit Gepäck vollgepackt war, hatte ich nicht daran gedacht, mehrere Sauger mitzubringen. Nun hatten wir ein wirkliches Problem. Denn Theodor konnte zwar aus einem Becher trinken, aber nur ganz kleine Mengen und nur schluckweise. Bei der Hitze wäre das viel zu wenig, und vor allem konnte er den Becher nicht selbstständig halten. Er war es gewohnt, aus einem bestimmten Sauger zu trinken, und wie sich herausstellte, war dieser in Italien nicht erhältlich. Wir mussten uns also etwas überlegen. Mein Vater machte sich auf den Weg und versuchte sein Glück in allen Drogeriemärkten im Umkreis von hundert Kilometern. Als er nicht fündig wurde, musste er seinen Suchradius notgedrungen erweitern und kam erst Stunden später wieder zurück. Er hatte nach Österreich fahren müssen, um in der ersten Stadt kurz nach der italienischen Grenze den passenden Sauger zu kaufen.

Meine Mutter hebt Theodor hoch und setzt sich mit ihm auf die Liege. Als sie ihm das Fläschchen zeigt, macht er den Mund auf. Er hat Durst. Während er mit dem Trinken beschäftigt ist, nutze ich die Gelegenheit, um schwimmen zu gehen. Wenn ich mit Theodor alleine am Strand bin, ist das nicht möglich. Ich laufe die paar Meter zum Meer und weiter durch die Wellen hindurch, bis mir das Wasser bis zum Bauch reicht. Dann lasse ich mich in die nächste Welle fallen und schwimme los. Das Wasser bildet einen angenehmen Kontrast zu der Wärme der Sonne, die von oben mein Gesicht anscheint. Ich drehe mich auf den Rücken und schwimme noch weiter. Der Lärm und das Kinderlachen werden immer leiser, je weiter ich mich vom Strand entferne.

Man sagt, dass sich ein Kind seine Eltern aussucht. Viele Menschen sind überzeugt, dass die Seele eines Kindes nach dem passenden Platz sucht und entscheidet, ob und wann sie geboren wird. Sie sucht so lange, bis sie die passende Mutter gefunden und einen Platz entdeckt hat, an dem sie es schön haben wird. Erst dann kommt sie auf die Welt. Hat Theodor mich auf diese Weise gefunden? Hat er mich ausgesucht und entschieden, dass er bei mir leben will?

Meine Tante hat kurz nach der Geburt meines Sohnes zu mir gesagt: »Jedem wird nur so viel zugemutet, wie er ertragen kann.« Für mich war die Bedeutung ihrer Worte damals kein Trost. Im Gegenteil. Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen? Warum sollten manche Menschen mehr ertragen können als andere? Vor allem wollte ich nicht akzeptieren, dass gerade mir mehr zugemutet wurde als anderen Menschen – nur weil ich es ertragen konnte? Das fühlte sich nicht fair an.

»Das Leben ist nun einmal nicht fair«, sagte jemand anderer zu mir. Dies war besonders hart, denn es vermittelte mir das Gefühl, naiv zu sein, da ich mir tatsächlich erhofft hatte, das Leben würde fair zu mir und meinem Kind sein. War dieser Wunsch falsch? Warum hatten wir nicht auch ein bisschen Glück verdient? Weil ich das Unglück ertragen konnte? Tatsächlich hatte ich selbst nicht das Gefühl, mehr ertragen zu können als andere Menschen – und vor allem wollte ich nicht mehr ertragen müssen.

Heute sprechen die Menschen von mir als »Löwenmutter« und von meinem Sohn als »Kämpfer«. Ich stelle mir das Bild von uns beiden zusammen vor. Während ich eine anmutige Raubkatze bin, steht mein Sohn mit winzig kleinen Boxhandschuhen neben mir. Während ich ihn bis aufs Blut verteidigen würde, kämpft er sich durchs Leben. Der Löwe ist eines der stärksten Raubtiere der Welt. Ich selbst habe mich bis zu Theodors Geburt nie als starke Frau gesehen.

»Theodor kann sich glücklich schätzen, dass er dich als seine Mutter ausgewählt hat!”, hat mir Carla Reed, eine Therapeutin aus den USA, die ich sehr schätze, am Muttertag geschrieben.

Dieser Satz hat mir ein Lächeln auf die Lippen gezaubert. Ich mag den Gedanken, dass Theodor sich bei mir wohlfühlt. Dass er zu mir gehört und mich als seine Mutter ausgesucht hat – egal, ob ich nun eine Löwin oder vielleicht doch nur eine ganz normale Frau mit Ängsten, Sorgen und Schwächen bin.

Theodor ist ein echtes Wunschkind. Wenn ich mir vorstelle, dass er auf der Suche nach einem guten Platz um uns herumgeschwirrt ist und sich für mich entschieden hat, so denke ich, dass ich seine Entscheidung damals spüren konnte. Er klopfte sozusagen an meine Tür. Ich war 27 Jahre alt, und es war Hochsommer, als ich zum ersten Mal den unbeschreiblichen Wunsch verspürte, ein Kind zu bekommen. Theodor hatte es anscheinend eilig. Er war für mich bestimmt und hatte mich gefunden. Und ich wünschte mir von einem Tag auf den anderen ein Kind, obwohl ich mir all die Jahre davor nicht wirklich viele Gedanken über dieses Thema gemacht hatte.

Alles begann hier in Italien, dem Ort, an dem schon so vieles begonnen hat. Als ich selbst ein Jahr alt war, habe ich hier meinen ersten Sandkuchen gebacken, und drei Jahre später fuhren mein Cousin und ich voll Stolz mit einem Pokal in den Händen nach Hause. Wir hatten den Sandbauwettbewerb gewonnen. Später ging ich hier das erste Mal in eine Disko, wurde zum ersten Mal geküsst und verbrachte den ersten Urlaub ohne Eltern zusammen mit meinen Schulfreundinnen. Und mit 27 begann ich darüber nachzudenken, warum ich am Strand den Blick nicht mehr von den Babys abwenden konnte, Tränen in den Augen hatte, wenn sie auf ihre Mamas zugelaufen kamen, und Gänsehaut bekam, wenn ich die kleinen Winzlinge lachen und weinen sah.

Es begann, als ich in der warmen Abendsonne über den Strand spazierte und den Babys und Kleinkindern dabei zusah, wie sie sich gekonnt im Sand bewegten, wie sie ihre akrobatischen Positionswechsel vollzogen, auf wackeligen Beinen standen, bis sie schließlich einfach umkippten und auf ihren Windelpopos landeten, und wie sie dann alle gleichzeitig wie um die Wette in einer unglaublichen Geschwindigkeit auf die schäumenden Wellen zukrabbelten. Manche standen auf, gingen ein paar Schritte, fielen wieder auf die Knie und krabbelten weiter. Und ich blieb fasziniert stehen und sah zu, wie die kleinen Geschöpfe mit ihren Ärmchen im Wasser plantschten und erst in allerletzter Sekunde, bevor eine hohe Welle über ihre Köpfe schwappen konnte, von den rettenden Händen ihrer erwachsenen Begleiter hochgehoben wurden. Mamas und Papas fischten ihre Säuglinge aus den Wellen und trugen sie zurück zu ihrem Startpunkt. Sobald sie dort angelangt waren, begann das Schauspiel wieder von vorn. Die Babys hopsten auf ihren Popos, wechselten vom Seitsitz auf die Knie, brachten sich in ihre Startposition und krabbelten los. Sie erinnerten mich an die kleinen Babyschildkröten, die nach dem Schlüpfen direkt aufs offene Meer zutorkeln und von der erstbesten Welle in den Ozean hinausgespült werden.

Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich meinen Blick nicht von den Babys abwenden. Ich war ganz sicher keine von diesen Frauen, die schon im Kindergartenalter jedes Mal in schrille Schreie ausbrechen, wenn sie irgendwo im Umkreis von zwei Metern ein Baby erblicken. Ich war Babys gegenüber neutral und sogar etwas vorsichtig. Denn ich hatte kaum Erfahrung mit ihnen. Sie waren mir nicht ganz geheuer. Ich habe keine Verwandten, die mir ihre Winzlinge jedes Wochenende zum Babysitten anvertrauten. Ich habe auch keine jüngeren Geschwister.

Meine Erfahrung mit Babys hatte sich bis zu diesem Tag im Großen und Ganzen auf die Puppenspiele mit meiner babyborn Puppe beschränkt. Diese Puppe, die in den 1980er Jahren supermodern war und mir später als Übungsmodell zum Windeln Anlegen und Anziehen dienen sollte, zeichnete sich vor allem durch ein besonderes Detail aus. Aus dem mitgelieferten Pulver ließ sich ein zähflüssiger Brei anrühren, den man ihr mit einem Puppenfläschchen in die Mundöffnung einflößen konnte. Setzte man das Puppenbaby danach auf sein Töpfchen und wartete ein paar Minuten, so füllte sich dieses auf zauberhafte Weise mit gelber Flüssigkeit. Ehrlich gesagt war ich als Kind mehr an Autos als an Puppen interessiert, und wenn ich mit meiner Nachbarin Prinz und Prinzessin spielte, musste mit ziemlicher Sicherheit immer ich der Prinz sein (sie war ein Jahr älter als ich und nutzte das schamlos aus, um das pinkfarbene Paillettenkleid meiner Mutter tragen zu dürfen), aber die undurchschaubare Technik hinter dieser Fütter-Funktion interessierte mich, weil ich unbedingt herausfinden wollte, wie es funktionierte.

Ich hatte als Kind auch keine übermäßig stark ausgeprägten Hochzeitsphantasien. Im Alter von vier Jahren war ich der festen Überzeugung, dass ich später meinen Cousin heiraten würde, und es machte mich echt wütend, wenn meine Eltern behaupteten, das ginge nicht. In der Weihnachtszeit fand ich große Freude daran, die Geschichte von Maria und Josef nachzuspielen, wobei ich das wunderschöne gewebte Tuch mit den Goldfäden aus dem Kasten meiner Mutter heraussuchte. Mit diesem vornehm gewickelten Kopftuch verwandelte ich mich im Handumdrehen in die hochschwangere Maria. Mithilfe der großen Sofakissen wuchs mir in Sekundenschnelle ein riesiger Babybauch. Da Josef nicht in Sichtweite war, begab ich mich allein auf den Rücken meines Esels und machte mich auf den langen und beschwerlichen Weg nach Bethlehem, wo schließlich – und das war der beste Teil des Spiels – mein Puppenbaby auf wundersame Weise das Licht der Welt erblickte.

Als ich älter wurde, verlor dieses Spiel seinen Reiz, und ich dachte nicht mehr daran. An der Uni beschäftigte ich mich während meines Studiums der Gender Studies eher damit, ob Mädchen rosarote Kleidung tragen sollen und ob Geschlechterstereotype durch Erziehung oder Vererbung entstehen. Wir lernten über gendergerechte Erziehung im Kindergarten, und ich machte mir Gedanken darüber, wie man verhindern kann, dass Kinder mit festgefahrenen Rollenbildern aufwachsen. Heute erscheinen mir diese Überlegungen in Anbetracht der realen Schwierigkeiten, mit denen mein Sohn zu kämpfen hat, banal. Wie wichtig kann es sein, ob Mädchen Friseurinnen und Jungen Ärzte werden wollen, wenn mein Sohn mit acht Jahren Windeln trägt und gefüttert werden muss? Ist es wichtig, ob im Pflegebereich Männer und Frauen arbeiten und ob man »Krankenschwester« oder »Pfleger« und »Pflegerin« sagt? Natürlich sehe ich alle diese Dinge immer noch, die mir damals wichtig erschienen waren, doch haben sich meine Interessen und Prioritäten verschoben.

Mit Anfang zwanzig fragte mich eine betagte Verwandte bei einer Familienfeier, was ich denn später einmal beruflich machen möchte, immerhin studierte ich ja an der Uni. Nachdem ich einerseits nicht die geringste Idee hatte, was ich nach Abschluss des Studiums tatsächlich machen wollte und mich die Frage andererseits ärgerte, sagte ich das Abwegigste, was mir in diesem Moment in den Sinn kam. Ich sagte, ich würde später »Hausfrau und Mutter« werden wollen. Meine eigene Mutter beschwerte sich später bei mir über die freche Antwort. Wenn ich heute daran zurückdenke, so wundere ich mich, dass im Nachhinein betrachtet doch auch etwas Wahrheit in dieser Zukunftsvorstellung lag, die mir damals so absurd vorgekommen war. Tatsächlich bin ich heute strenggenommen Hausfrau und Mutter, auch wenn ich mich gerne scherzhaft als Managerin von Theodor oder als Leiterin unserer eigenen PR-Agentur bezeichne.

Als ich zwanzig war, bekam meine Schwester ein Kind. Ich studierte damals schon seit zwei Jahren in Wien und war nur an den Wochenenden und in den Ferien in der Gegend, um meinen Neffen zu sehen. Trotzdem hatten wir eine enge Beziehung. Ein halbes Jahr später bekam auch ich Familienzuwachs, einen acht Wochen alten Hund namens Jimmy. Die beiden wurden die besten Freunde. Mein Neffe, der gerade erst sechs Monate alt war, hatte die größte Freude daran, mit dem Hundewelpen herumzutollen. Wir dichteten lustige Lieder über Jimmy, den süßesten Hund der Welt, und konnten Stunden damit verbringen, uns zu verkleiden und witzige Fotoserien von uns zu knipsen.

Ich genoss die Zeit mit meinem Neffen sehr. Als er älter wurde, warfen wir auf der Wiese Stöckchen für Jimmy, spielten Fangen und machten uns auf die Suche nach einem der vielen Geheimverstecke, die mein Neffe auf Anhieb in jedem Gebüsch und hinter jedem Strauch fand. Er liebte es, wenn ich mit der Schere in seinen weißblonden Haaren herumschnipselte und ihm ausgefallene Frisuren schnitt. Als Noel seine Familienphase durchmachte und bei jedem Tier, das wir sahen, wissen wollte, ob es Mama- oder Papa-Ente ist, und ich ihm verzweifelt zu erklären versuchte, dass nicht jedes weibliche Tier automatisch eine Mama und nicht jedes männliche Tier automatisch ein Papa ist, wurde er richtig wütend. Und im Kindergarten erzählte er bei der Jause stolz von seiner Tante in Wien, die keinen Mann, sondern einen Hund hatte. Ich war die coole Tante, die in der Großstadt wohnte, Motorrad fuhr und Schlagzeug spielte. Ich nahm Noel in unseren Proberaum mit, wo er mit Lärmschutzkopfhörern auf mein Drumset einhämmern durfte, und ließ ihn auf meinem geparkten Motorrad sitzen.

Im Winter dachten wir uns am Spielplatz phantasievolle Rollenspiele aus. Wir stellten uns vor, dass wir hoch oben auf dem kleinen Hügel wohnten und jeden Tag mit dem Schlitten ins Tal fahren mussten, um auf dem zugefrorenen See – der Dreckspfütze neben dem Klettergerüst – eisfischen zu gehen. Wir hackten mit unseren Schuhen kleine Löcher in die zugefrorenen Pfützen und ließen lange Stöcke ins Wasser hängen, um unser Abendessen zu fangen. Dass unsere Schuhe danach ganz nass waren, gehörte irgendwie zum Spiel dazu.

Wir machten mit Jimmy lange Erkundungstouren in der Au, ließen ihn im Ententeich baden und entdeckten geheime Plätze im Wald, an die man nur gelangte, wenn man verbotenerweise über den niedrigen Holzzaun neben dem Weg kletterte. Wir fanden ein kleines Bächlein, das in einer alten Holzrinne mündete und von dort aus in einen der vielen Schlossteiche geleitet wurde. Neben der Holzrinne verlief ein schmaler Holzsteg, der über einen tiefen Graben im Wald führte. Der Holzsteg war so schmal und rutschig, dass jeder Schritt ein Wagnis war. Dennoch balancierten wir mit größter Vorsicht darüber. Wir sammelten Brennnessel, um daraus eine Suppe zu kochen, die ich zu Hause heimlich entsorgte, weil Noel einige giftige Pflanzen und Blätter gepflückt hatte.

All diese Spiele, die ich mit Anfang zwanzig mit meinem Neffen gespielt habe, haben keine Bedeutung für meinen eigenen Sohn. Dennoch – falls ich irgendeine Vorstellung davon gehabt habe, was ich gerne mit meinem Kind unternehmen würde, so habe ich diese Spiele vor mir gesehen. Ich verbrachte gerne Zeit mit meinem Neffen, doch hatte ich mir aus irgendeinem Grund nie vorgestellt, selbst Mutter zu sein.

Als ich mit 27 Jahren das erste Mal den Wunsch verspürte, ein Kind zu bekommen, war dieses Gefühl so stark und weltbewegend, dass ich die nächsten Tage und Wochen nur daran denken konnte. Am Abend ging ich mit meinem Hund im warmen Licht der untergehenden Sonne am Strand spazieren, und den ganzen Weg zum Leuchtturm dachte ich darüber nach, wie es wäre, ein Kind zu haben. Während mein Hund in die Wellen sprang und die Stöckchen aus dem Wasser holte, die ich ihm hineinwarf, schaute ich gedankenversunken aufs Meer hinaus, dessen Oberfläche im rötlichen Licht in einem glänzenden Dunkelblau funkelte.