Gabriel. Ein Dialogroman - George Sand - E-Book

Gabriel. Ein Dialogroman E-Book

George Sand

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Beschreibung

»Die Frau! Die Frau, ich weiß nicht, weshalb Sie mir immer von der Frau anfangen. Ich jedenfalls habe nicht das Gefühl, dass meine Seele ein Geschlecht hat, wie Sie es mir so oft beweisen wollen.« George Sand lebte mit Verve gegen die Konventionen ihrer Zeit an: Sie trug oft Männerkleidung, ließ sich früh scheiden und hatte Liebesbeziehungen mit Männern und Frauen. In keinem ihrer Werke hat sie sich mit Geschlechterrollen und -normen so persönlich und unkonventionell auseinandergesetzt wie in Gabriel. Sie nannte den Text einen »Dialogroman« oder auch eine »Phantasie«: Gabriel, Enkel und Alleinerbe des Fürsten von Bramante, erfährt erst als Jugendlicher, dass er eine Frau ist – der Fürst hat ihn fernab von der Welt mit nur zwei ins Geheimnis eingeweihten Bediensteten als Jungen aufwachsen lassen, damit Titel und Vermögen nicht Gabriels Cousin Astolphe zufallen. Als Gabriel sich gegen seinen Großvater auflehnt und Kontakt zu Astolphe sucht, bahnt sich eine Katastrophe an. Die Herausforderungen, vor denen Gabriel steht, sind bis heute existenziell: Wie lassen sich Liebe und Emanzipation miteinander vereinbaren? Schließen Freiheit und Treue einander aus? Eine Lektüre von aktueller wie zeitloser Relevanz, die derzeit in Frankreich und Deutschland wiederentdeckt wird.

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Seitenzahl: 213

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George Sand

Gabriel

Ein Dialogroman

Aus dem Französischen übersetzt von Elsbeth RankeMit einem Nachwort von Walburga Hülk-Althoff

Reclam

2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Coverabbildungen: Romaine Brooks, Peter (A Young English Girl), 1923/24 – bpk / Smithsonian American Art Museum / Art Resource, NY

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961974-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011383-7

www.reclam.de

Inhalt

Vorbemerkung

Handelnde Personen

Prolog

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

Zu dieser Ausgabe

Nachwort

Gabriel

Für Albert Grzymala.

(Erinnerung an einen abwesenden Bruder.)

Vorbemerkung

Ich habe Gabriel in einem Gasthofzimmer in Marseille geschrieben, kurz nach der Rückkehr aus Spanien, während um mich herum meine Kinder spielten. – Der Lärm der Kinder stört nicht. Gerade durch ihr Spiel leben sie in einer fiktiven Welt, in die ihnen der Traum folgen kann, ohne dass die Realität ihm ins Gehege kommt. Auch sie selbst gehören in die Welt des Ideals, so schlicht sind ihre Gedanken.

Gabriel gehört nach Form und Gehalt ganz ins Reich der Phantasie. Nur selten findet sich in der Phantasie der Künstler eine direkte Verbindung zu ihrer realen Situation, und jedenfalls keine Gleichzeitigkeit mit den Sorgen ihres äußerlichen Lebens. Der Künstler muss gerade durch eine Erfindung heraustreten aus der gesetzten Welt, die ihn beunruhigt, bedrückt, ihn langweilt oder bestürzt. Wer das nicht weiß, kann selbst kaum Künstler sein.

George Sand

Nohant, 24. September 1854

Handelnde Personen

FÜRST JULES DE BRAMANTE

GABRIEL DE BRAMANTE, SEIN ENKEL

GRAF ASTOLPHE DE BRAMANTE

ANTONIO

MENRIQUE

SETTIMIA, Astolphes Mutter

FAUSTINA

PÉRINNE, Ausstaffiererin

DER PRÄZEPTOR, Gabriels Hauslehrer

MARC, alter Diener

BRUDER CÔME, Franziskaner, Settimias Beichtvater

BARBE, Settimias alte Gesellschafterin

GIGLIO

EIN KNEIPENWIRT

BANDITEN, STUDENTEN, BÜTTEL, JUNGE MÄNNER und KURTISANEN

Prolog

Im Schloss von Bramante

Szene 1

DER FÜRST, DER PRÄZEPTOR, MARC

(Der Fürst sitzt im Reisemantel auf einem Sessel. Der Präzeptor steht vor ihm. Marc schenkt ihm Wein ein.)

DER PRÄZEPTOR. Sind Eure Hoheit noch immer so müde?

DER FÜRST. Nein. Dieser alte Wein ist der Freund alten Blutes. Es geht mir deutlich besser.

DER PRÄZEPTOR. Eure Hoheit haben eine lange, mühselige Reise unternommen … Und das in einem Tempo …

DER FÜRST. Sehr mühselig, in der Tat, mit über achtzig. Früher durchquerte ich für eine Kleinigkeit ganz Italien von einem Ende zum anderen, für eine Liebelei, eine Laune; jetzt brauche ich sehr gute Gründe, um in der Sänfte auch nur den halben Weg zurückzulegen, den ich damals zu Pferd bewältigte … Es ist zehn Jahre her, dass ich zum letzten Mal hier war, nicht wahr, Marc?

MARC(sehr unterwürfig). Oh! Jawohl, Euer Gnaden.

DER FÜRST. Da warst du noch frisch und munter! Und doch bist du auch jetzt erst sechzig. Geradezu ein Jüngling!

MARC. Jawohl, Euer Gnaden.

DER FÜRST(an den Präzeptor gewandt). Und wohl immer noch genauso blöde?

  (Laut.)

Jetzt lass uns allein, mein guter Marc, und lass diese Karaffe hier.

MARC. Oh! Jawohl, Euer Gnaden.

  (Er zögert, zu gehen.)

DER FÜRST(aufgesetzt gönnerhaft). Geh nur, mein Freund …

MARC. Euer Gnaden … Sollte ich nicht Herrn Gabriel Bescheid geben, dass Eure Hoheit hier sind?

DER FÜRST(mit Nachdruck). Habe ich Ihnen das nicht ausdrücklich verboten?

DER PRÄZEPTOR. Sie wissen doch, Seine Hoheit möchte Herrn Gabriel überraschen.

DER FÜRST. Nur Sie haben mich kommen sehen. Meine Leute sind die Verschwiegenheit selbst. Wenn geredet wird, mache ich Sie verantwortlich.

  (Marc zitternd ab.)

Szene 2

DER FÜRST, DER PRÄZEPTOR

DER FÜRST. Auf ihn ist doch Verlass?

DER PRÄZEPTOR. Wie auf mich selbst, Euer Gnaden.

DER FÜRST. Und … er ist, außer Ihnen und Gabriels Amme, der Einzige, der je erfahren hat …

DER PRÄZEPTOR. Er, die Amme und ich, wir sind neben Eurer Hoheit die einzigen Menschen auf der Welt, die heute von diesem gewichtigen Geheimnis wissen.

DER FÜRST. Gewichtig! Ja, Sie haben Recht; furchtbar, entsetzlich ist dieses Geheimnis, manchmal peinigt es mir gar das Gewissen. Und sagen Sie mir, Pater, ist nie irgendein Wort zu viel …

DER PRÄZEPTOR. Nicht eines, Euer Gnaden.

DER FÜRST. Und bei den Menschen, die täglich mit ihm umgehen, ist nie irgendein Argwohn aufgekommen?

DER PRÄZEPTOR. Nie, Euer Gnaden.

DER FÜRST. So haben Sie mir also in Ihren Briefen keinen Honig um den Bart gestrichen? Alles ist die reine Wahrheit?

DER PRÄZEPTOR. Eure Hoheit stehen kurz davor, sich selbst davon zu überzeugen.

DER FÜRST. Richtig! … Und das macht mich unsäglich ergriffen.

DER PRÄZEPTOR. Euer Vaterherz wird Grund zur Freude haben.

DER FÜRST. Mein Vaterherz! … Pater, überlassen wir solche Worte denen, die sie unbefangen benutzen. Wüssten sie nämlich, durch welche dreiste, ja beinahe wahnwitzige Lüge ich mir die Ruhe und Wertschätzung meiner alten Tage erkaufen musste, so würden sie mir ein schweres Vergehen zur Last legen, das weiß ich! Verwenden wir also nicht wie sie die Sprache einer engherzigen, banalen Zärtlichkeit. Meine Zuneigung zu den Kindern meines Geschlechts war ein ernsteres, ein stärkeres Gefühl.

DER PRÄZEPTOR. Ein Gefühl der Leidenschaft!

DER FÜRST. Lassen Sie das Schmeicheln, man könnte es genauso gut ein Verbrechen nennen; ich kenne den Wert der Worte und messe ihm keinerlei Bedeutung zu. Ich kenne die gemeinen Pflichten, die kindischen Sorgen, die bürgerliche Väter binden, aber darüber stehen die Ehrenpflichten, die verzehrenden Ambitionen des adligen Vaters. Mit dem Mut der Verzweiflung habe ich sie erfüllt. Ich hoffe nur, dass die Zukunft mir nicht das Gedächtnis schwächt und nicht den Stolz meines Namens hinter Verfahrens- oder Gewissensfragen zurücktreten lässt!

DER PRÄZEPTOR. Das Schicksal hat Eure Ziele bislang wunderbar gestützt.

DER FÜRST(nach kurzem Schweigen). Sie schrieben, er sei von schöner Gestalt?

DER PRÄZEPTOR. Bewundernswert! Das lebende Abbild seines Vaters.

DER FÜRST. Ich hoffe, sein Charakter hat mehr Energie!

DER PRÄZEPTOR. Wie ich es Eurer Hoheit wiederholt vermeldet habe, unglaubliche Energie!

DER FÜRST. Sein armer Vater! Er war ein schüchterner Charakter … eine furchtsame Seele. Guter Julien! Wie mühsam konnte ich ihn nur überzeugen, in der Beichte auf dem Totenbett das Geheimnis zu wahren! Bestimmt hat diese Last sein Leben verkürzt …

DER PRÄZEPTOR. Eher doch der Schmerz, den ihm der zu frühe Tod seiner schönen jungen Gattin zufügte …

DER FÜRST. Ich habe Ihnen verboten, mir die Dinge schönzureden; Pater, ich bin ein Mann, der die ganze Wahrheit ertragen kann. Ich weiß, ich habe Herzen bluten lassen, und es werden noch weitere bluten! Nun denn, was geschehen ist, ist geschehen … Er tritt sein siebzehntes Jahr an; er muss von recht hübscher Größe sein?

DER PRÄZEPTOR. Mehr als fünf Fuß, Euer Gnaden, und er wächst weiter und schnell.

DER FÜRST(mit sichtbarer Freude). Wahrhaftig! Es stimmt, das Schicksal steht uns bei! Und das Gesicht, hat es schon männliche Züge? Schon! Ich möchte mich selbst betrügen … Nein, sagen Sie nichts mehr; ich werde ihn ja sehen … Sprechen Sie nur von seiner Moral, von der Erziehung.

DER PRÄZEPTOR. Alles, was Eure Hoheit angeordnet haben, wurde gewissenhaft erfüllt, und alles ist wunderbar geglückt.

DER FÜRST. Sei gelobt, Fortuna! … wenn Sie nichts übertreiben, Pater. So wurde also nichts unversucht gelassen, um seinen Geist zu formen, um ihn mit allem Wissen zu schmücken, das ein Fürst besitzen muss, um seinem Namen und seinem Rang Ehre zu machen?

DER PRÄZEPTOR. Eure Hoheit sind umfassend gebildet. Ihr werdet selbst meinen edlen Schüler befragen können und sehen, dass sein Studium anspruchsvoll und durch und durch männlich war.

DER FÜRST. Lateinisch, Griechisch, hoffe ich?

DER PRÄZEPTOR. Er beherrscht das Lateinische wir Ihr selbst, das darf ich sagen, Euer Gnaden; und das Griechische … wie …

  (Er lächelt gewandt.)

DER FÜRST(herzlich lachend). Wie Sie, Pater? Wunderbar, ich danke Ihnen und gestehe Ihnen in diesem Punkt die Überlegenheit zu. Und Geschichte, Philosophie, Literatur?

DER PRÄZEPTOR. Das kann ich mit Sicherheit bejahen; die Ehre fällt dabei ganz dem Verstand des Schülers zu. Seine Fortschritte waren schnell, geradezu erstaunlich.

DER FÜRST. Studiert er gerne? Gelten seine Vorlieben ernsten Dingen?

DER PRÄZEPTOR. Er studiert gerne, und er ertüchtigt sich auch gerne, liebt die Jagd, die Waffen, den Wettlauf. Seine Geschicklichkeit, seine Ausdauer und sein Mut gleichen die körperliche Kraft aus. Seine Vorlieben gelten den ernsten Dingen, aber er hat auch die Vorlieben seines Alters: für schöne Pferde, reiche Gewänder, glänzende Waffen.

DER FÜRST. In diesem Fall steht alles zum Besten, und Sie haben meine Absichten vollkommen begriffen. Jedoch ein Wort noch. Haben Sie es verstanden, seinen Gedanken diese besondere, ganz eigene Ausrichtung zu geben … Sie wissen, was ich meine?

DER PRÄZEPTOR. Ja, Euer Gnaden. Seit seiner zartesten Kindheit (Eure Hoheit hatten selbst seiner Phantasie diesen ersten Anstoß gegeben) wurde er durchdrungen von der ruhmreichen Stellung des Mannes und von der Schmach der weiblichen Rolle in Natur und Gesellschaft. Die ersten Gemälde, die er erblickt hat, die ersten Grundzüge der Geschichte, die ihm zu denken gegeben haben, haben ihm die Schwäche und Dienstbarkeit des einen Geschlechts vor Augen geführt, sowie die Freiheit und Macht des anderen. Seht hier auf diesen Tafeln die Fresken, die ich nach Eurem Befehl habe fertigen lassen: auf dieser den Raub der Sabinerinnen, auf jener Tarpeias Verrat; dann die Verbrechen und Bestrafung der Danaiden; dort der Verkauf von Sklavinnen im Orient; andernorts gibt es verstoßene Königinnen, geächtete oder verratene Geliebte, hinduistische Witwen auf dem Scheiterhaufen ihres Gatten; überall die Frau als Sklavin, Besitz, Eroberung, die, wenn sie ihre Ketten abzuschütteln versucht, zu nichts als Lüge, Verrat, feigen und nutzlosen Verbrechen greifen kann und sich dadurch doch nur einer noch härteren Strafe aussetzt.

DER FÜRST. Und welche Gefühle haben diese ständigen Beispiele in ihm erweckt?

DER PRÄZEPTOR. Eine Mischung aus Abscheu und Mitleid, aus Sympathie und Hass …

DER FÜRST. Sympathie, sagen Sie? Ist er denn je einer Frau begegnet? Hat er je ein paar Worte wechseln können mit den Vertreterinnen eines anderen Geschlechts als … seinem? …

DER PRÄZEPTOR. Ein paar Worte wohl; ein paar Gedanken nie. Er hat nur von weitem die Bauernmädchen gesehen, und er würde niemals mit ihnen sprechen.

DER FÜRST. Und Sie meinen wirklich, dass er selbst nichts von der Wahrheit ahnt?

DER PRÄZEPTOR. Seine Jugend war so keusch, seine Gedanken sind so rein, die Wahrheit ist ihm mit einem so undurchdringlichen Schleier verhüllt, dass er nichts ahnt und erst aus dem Mund Eurer Hoheit erfahren wird, was er erfahren muss. Allerdings muss ich Euch warnen: Es wird ein harter Schlag, ein heftiger, vielleicht ein übersteigerter Schmerz … Das ist nun die Kehrseite der Dinge …

DER FÜRST. Bestimmt … gut so. Sie werden ihn im Gespräch vorbereiten, wie wir es vereinbart haben.

DER PRÄZEPTOR. Euer Gnaden, ich höre ein Pferd im Galopp … Er ist es. Wenn Ihr durch dieses Fenster sehen wollt … Er kommt.

DER FÜRST(steht lebhaft auf und blickt, versteckt hinter dem Vorhang, durchs Fenster). Was denn! Dieser junge Mann auf einem schwarzen Pferd, so schnell wie der Wind?

DER PRÄZEPTOR(stolz). Ja, Euer Gnaden.

DER FÜRST. Der Staub, den er aufwirbelt, verhüllt mir sein Gesicht … Dieses prächtige Haar, diese elegante Gestalt … Ja, das muss ein hübscher Reiter sein … Gute Haltung auf dem Pferd; Anmut, Geschick, Kraft sogar … Wie! Wird er etwa über die Mauer springen, dieser junge Heißsporn?

DER PRÄZEPTOR. Wie immer, Euer Gnaden.

DER FÜRST. Bravissimo! Ich hätte es mit fünfundzwanzig nicht besser gemacht. Pater, wenn die übrige Erziehung genauso gelungen ist, beglückwünsche ich Sie und werde Sie zu Ihrer Zufriedenheit entlohnen, verlassen Sie sich darauf. Jetzt trete ich in den Raum, den Sie mir angewiesen haben. Hinter dieser Wand höre ich Ihre Unterredung mit. Ich muss mich selbst darauf vorbereiten, ihn zu sehen, muss ihn etwas kennen lernen, bevor ich mit ihm spreche. Ich bin ergriffen, das gestehe ich offen, Pater. Das hier ist ein ernster Moment in meinem Leben und im Leben dieses Kindes. Alles wird sich in einem Augenblick entscheiden. Von seinem ersten Eindruck hängt die Ehre einer ganzen Familie ab. Die Ehre! Welch leeres, welch allmächtiges Wort …!

DER PRÄZEPTOR. Der Sieg wird Euer sein, wie immer, Euer Gnaden. Zwar konnte ich seine Instinkte nicht vollständig nach Eurem Willen formen, und so wird sich seine schwärmerische Seele in der ersten Bestürzung vielleicht auflehnen; doch die Abscheu vor der Sklaverei, der Durst nach Unabhängigkeit, nach Tätigkeit und Ruhm werden über alle Skrupel triumphieren.

DER FÜRST. Ich hoffe, Sie orakeln richtig! Ich höre ihn … sein Schritt ist beherzt! Ich gehe hier hinein … Ich gebe Ihnen eine Stunde … mehr oder weniger, je nach …

DER PRÄZEPTOR. Euer Gnaden, Ihr werdet alles hören. Wenn Ihr wünscht, dass er vor Euch tritt, lasst einen Gegenstand fallen; dann weiß ich Bescheid.

DER FÜRST. Nun denn!

  (Er betritt den Nebenraum.)

Szene 3

DER PRÄZEPTOR, GABRIEL

(Gabriel im modischen Jagdgewand, langes, lockiges, zerzaustes Haar, die Gerte in der Hand. Er wirft sich schnaufend auf einen Stuhl und wischt sich die Stirn.)

GABRIEL. Puh! Ich kann nicht mehr.

DER PRÄZEPTOR. Sie sind tatsächlich bleich, Monsieur. Sie hatten doch nicht etwa einen Unfall?

GABRIEL. Nein, aber beinahe hätte mein Pferd mich abgeworfen. Dreimal hat es in vollem Galopp gescheut. Merkwürdig, das ist mir mit diesem Tier noch nie passiert. Mein Reitknecht sagt, das ist ein schlechtes Omen. Für mich ist es ein Zeichen, dass mein Pferd launisch wird.

DER PRÄZEPTOR. Sie wirken erschüttert … Sie sagen, Sie wären beinahe abgeworfen worden?

GABRIEL. Ja, tatsächlich. Beinahe, beim dritten Mal. Und da bin ich wirklich erschrocken.

DER PRÄZEPTOR. Erschrocken? Sie, ein so guter Reiter?

GABRIEL. Nun, ich bekam Angst, wenn Sie so wollen.

DER PRÄZEPTOR. Nicht so laut, Monsieur, man könnte Sie hören.

GABRIEL. Na, und wenn? Bin ich etwa einer, der seine Worte hütet und seine Gedanken versteckt? Was wäre daran so beschämend?

DER PRÄZEPTOR. Ein Mann darf niemals Angst haben.

GABRIEL. Genauso gut könnte man sagen, mein lieber Pater, ein Mann darf nie frieren oder nie krank sein. Ich glaube, ein Mann darf seinen Feind nur nie sehen lassen, dass er Angst hat.

DER PRÄZEPTOR. Der Mann ist von Natur aus dazu veranlagt, sich der Gefahr zu stellen, und eben das unterscheidet ihn von der Frau.

GABRIEL. Die Frau! Die Frau, ich weiß nicht, weshalb Sie mir immer von der Frau anfangen. Ich jedenfalls habe nicht das Gefühl, dass meine Seele ein Geschlecht hat, wie Sie es mir so oft beweisen wollen. Zu nichts verspüre ich in mir eine absolute Fähigkeit: Zum Beispiel fühle ich mich nicht absolut tapfer, und auch nicht absolut feige. Es gibt Tage, wenn unter der heißen Mittagssonne meine Stirn glüht, mein Pferd vom Galopp berauscht ist wie ich, da würde ich allein zum Vergnügen über die tiefsten Abgründe unserer Berge hinwegsetzen. Und es gibt Abende, da erschauere ich beim Klappern eines Fensters im Wind und würde um keinen Ruhm in der Welt ohne Licht über die Schwelle meiner Kapelle treten. Glauben Sie mir, wir stehen alle unter dem Eindruck des Augenblicks, und würde ein Mann vor mir behaupten, er habe noch nie Angst gehabt, so hielte ich ihn für einen Angeber, genauso wie eine Frau mir sagen könnte, dass sie an manchen Tagen voller Mut ist, ohne dass ich mich wundern würde. Als Kind habe ich mich der Gefahr oft bereitwilliger gestellt als heute: Denn ich war mir ihrer nicht bewusst.

DER PRÄZEPTOR. Mein lieber Gabriel, Sie sind heute sehr spitzfindig … Aber lassen wir das. Ich habe Ihnen mitzuteilen …

GABRIEL. Nein, nein! Ich will meine Spitzfindigkeit zu Ende bringen und Sie mit Ihren eigenen Argumenten schlagen … Ich weiß genau, warum Sie das Gespräch ablenken wollen …

DER PRÄZEPTOR. Ich verstehe Sie nicht.

GARBIEL. Doch, doch! Erinnern Sie sich, wie Sie einmal einen Bach nicht überqueren wollten, weil die Brücke aus lose verflochtenen Ästen fast nicht mehr hielt? Dabei stand ich schon in der Mitte! Sie wollten nicht vom Ufer weg, und auf Ihre Bitte kehrte ich um. Da hatten Sie also Angst?

DER PRÄZEPTOR. Daran erinnere ich mich nicht.

GABRIEL. Oh, doch!

DER PRÄZEPTOR. Wahrscheinlich hatte ich Angst um Sie.

GABRIEL. Nein, denn ich war schon zur Hälfte drüben. Für mich war es genauso gefährlich, umzukehren wie weiterzugehen.

DER PRÄZEPTOR. Und daraus wollen Sie schließen …

GABRIEL. Daraus, dass ich als zehnjähriges Kind ohne Bewusstsein für die Gefahr wagemutiger war als Sie, der weise, umsichtige Mann, ergibt sich, dass absoluter Mut keine ausschließliche Eigenschaft des Mannes ist, sondern eher des Kindes und – wer weiß? – vielleicht auch der Frau.

DER PRÄZEPTOR. Woher nehmen Sie all diese Gedanken? Ich habe Sie nie so logisch argumentieren hören!

GABRIEL. Tja, ich erzähle Ihnen eben nicht alles, was mir durch den Kopf geht.

DER PRÄZEPTOR(besorgt). Was denn zum Beispiel?

GABRIEL. Ach, was weiß denn ich! Ich bin heute ganz sonderbar aufgelegt. Ich möchte mich über alles lustig machen.

DER PRÄZEPTOR. Und wer hat Sie so lustig gemacht?

GABRIEL. Im Gegenteil, traurig bin ich! Wissen Sie, ich hatte einen wunderlichen Traum, der mich mitgenommen und den ganzen Tag geradezu verfolgt hat.

DER PRÄZEPTOR. Wie albern! Und dieser Traum also …

GABRIEL. Ich habe geträumt, ich wäre eine Frau.

DER PRÄZEPTOR. Das ist nun wirklich merkwürdig … Und woher kommt Ihnen diese Einbildung?

GABRIEL. Ja, woher kommen Träume? Das sollten Sie mir erklären, mein lieber Lehrer.

DER PRÄZEPTOR. Und dieser Traum war Ihnen sicher unangenehm?

GABRIEL. Nicht im Geringsten; denn in meinem Traum wohnte ich nicht auf dieser Erde. Ich hatte Flügel, und ich schwebte über den Welten, auf dem Weg in ich weiß nicht in welche ideale Welt. Herrliche Stimmen sangen rings um mich; ich sah niemanden; aber die leichten, leuchtenden Wolken, die durch den Äther zogen, spiegelten meine Gestalt, und ich war ein junges Mädchen in einem langen, wallenden Gewand mit einem Blumenkranz.

DER PRÄZEPTOR. Dann waren Sie also ein Engel, keine Frau.

GABRIEL. Ich war eine Frau; denn plötzlich wurden meine Flügel schwer, der Äther schloss sich über meinem Kopf wie eine undurchdringliche gläserne Kuppel, und ich fiel und fiel … und um den Hals trug ich eine schwere Kette, deren Gewicht mich in den Abgrund zog; und da wachte ich auf, beladen mit Traurigkeit, Überdruss und Schrecken … Ach, reden wir nicht mehr davon. Was haben Sie mir heute beizubringen?

DER PRÄZEPTOR. Ich habe ein ernstes Gespräch mit Ihnen vor, um Ihnen eine bedeutende Neuigkeit mitzuteilen, und ich verlange Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

GABRIEL. Eine Neuigkeit! Das wäre die erste in meinem Leben, denn seit ich lebe, höre ich immer dasselbe. Ist es ein Brief von meinem Großvater?

DER PRÄZEPTOR. Noch besser.

GABRIEL. Ein Geschenk? Daran liegt mir nichts. Ich bin kein Kind mehr, das sich über eine neue Waffe freut oder über neue Kleider. Ich kann nicht glauben, dass mein Großvater nur an mich denkt, um sich um meine Toilette Gedanken zu machen oder um mein Vergnügen.

DER PRÄZEPTOR. Dabei mögen Sie schöne Kleider, sogar etwas zu gerne.

GABRIEL. Das stimmt; aber ich wünschte, mein Großvater würde mich als jungen Mann betrachten und mir die unerhörte Ehre erweisen, seine Bekanntschaft zu machen.

DER PRÄZEPTOR. Nun, mein Lieber, diese Ehre wird Ihnen in Kürze zuteil werden.

GABRIEL. Das höre ich jedes Jahr.

DER PRÄZEPTOR. Und morgen ist es so weit.

GABRIEL(mit ernsthafter Befriedigung). Ah! Endlich!

DER PRÄZEPTOR. Erfüllt diese Neuigkeit all Ihre Wünsche?

GABRIEL. Ja, ich habe meinem edlen Ahnen vieles zu sagen, viele Fragen zu stellen, und wahrscheinlich auch Vorwürfe zu machen.

DER PRÄZEPTOR(erschrocken). Vorwürfe?

GABRIEL. Ja, wegen der Einsamkeit, in der er mich hält, seit ich auf der Welt bin. Denn ich habe sie satt, und ich will diese Welt kennen lernen, von der ich so viel höre, diese Männer, die man mir rühmt, diese Frauen, die man erniedrigt, all den so geschätzten Besitz, diese Vergnügungen, nach denen man strebt … Ich will alles kennen lernen, alles erfahren, alles besitzen, allem trotzen! Ha, das erstaunt Sie; aber hören Sie: Man kann Falken im Käfig erziehen und ihnen die Erinnerung oder den Instinkt der Freiheit abgewöhnen: Ein junger Mann jedoch ist ein Vogel mit besserem Gedächtnis und mehr Verstand.

DER PRÄZEPTOR. Ihr illustrer Ahn wird Ihnen seine Absichten mitteilen, Sie werden ihm Ihre Wünsche vortragen. Mein Amt bei Ihnen ist beendet, mein lieber Zögling, und ich wünsche, Seine Hoheit hat nicht zu befinden, dass ich es schlecht verrichtet habe.

GABRIEL. Herzlichen Dank! Wenn ich einigen Verstand vorweisen kann, so gebührt alle Ehre dafür meinem lieben Präzeptor; wenn mein Großvater mich für töricht befindet, kann mein Präzeptor sich die Hände in Unschuld waschen und erklären, dass er aus meinem armen Hirn einfach nichts hat herausholen können.

DER PRÄZEPTOR. Sie Schlingel! Wollen Sie mir endlich zuhören?

GABRIEL. Wobei? Ich dachte, Sie hätten mir alles gesagt.

DER PRÄZEPTOR. Ich habe noch gar nicht begonnen.

GABRIEL. Dauert es sehr lange?

DER PRÄZEPTOR. Nein, wenn Sie mich nicht dauernd unterbrechen.

GABRIEL. Ich bin ganz Ohr.

DER PRÄZEPTOR. Schon mehrfach habe ich Ihnen erklärt, was ein Majorat ist, und wie die Vererbung eines Landguts mit Titeln, Rechten, Privilegien, Ehren und dem Vermögen, das daran gebunden ist …

  (Gabriel gähnt hinter vorgehaltener Hand.)

Sie hören nicht zu?

GABRIEL. Verzeihen Sie.

DER PRÄZEPTOR. Ich sagte …

GABRIEL. Bei Gott, Pater, fangen Sie nicht wieder damit an. Ich kann den Satz beenden, ich kenne ihn auswendig: »… und dem Vermögen, das daran gebunden ist, in einer Familie abwechselnd von der älteren auf die jüngere Linie fallen sowie von der jüngeren wieder auf die ältere übergehen kann, weil es laut Erbrecht dem ältesten männlichen Sprössling einer Linie zufällt, wenn die andere Linie nur noch durch Mädchen vertreten wird.« Und das soll alles sein, was Sie mir Neues und Interessantes zu sagen hatten! Wirklich, wenn Sie mir nie etwas Besseres beigebracht hätten, würde ich lieber überhaupt nichts wissen.

DER PRÄZEPTOR. Haben Sie ein bisschen Geduld! Bedenken Sie, wie viel ich bei Ihnen oft davon brauche.

GABRIEL. Das stimmt, mein Freund, verzeihen Sie. Ich bin heute launisch gestimmt.

DER PRÄZEPTOR. Das merke ich. Vielleicht sollten wir das Gespräch lieber auf morgen oder auf heute Abend verschieben.

  (Leises Geräusch im Nebenraum.)

GABRIEL. Wer ist da?

DER PRÄZEPTOR. Sie werden es erfahren, wenn Sie mir zuhören wollen.

GABRIEL(erregt). Er! mein Großvater vielleicht?

DER PRÄZEPTOR. Vielleicht.

GABRIEL(läuft zur Tür). Wie das, vielleicht! Und Sie spannen mich auf die Folter …

  (Er versucht zu öffnen. Die Tür ist von innen verriegelt.)

Was denn! Er ist hier, und mir wird es verheimlicht!

DER PRÄZEPTOR. Lassen Sie, er ruht.

GABRIEL. Nein! Er hat sich gerührt, er hat Geräusche gemacht.

DER PRÄZEPTOR. Er ist müde, krank; Sie können ihn nicht sehen.

GABRIEL. Warum schließt er sich vor mir ein? Ich wäre ohne einen Laut eingetreten; ich hätte liebevoll über seinen Schlaf gewacht; ich hätte sein erhabenes Antlitz betrachtet. Sehen Sie, Pater; ich habe es immer geahnt, er liebt mich nicht. Ich bin allein auf der Welt: Einen einzigen Beschützer habe ich, einen einzigen Verwandten, und der kennt und liebt mich nicht!

DER PRÄZEPTOR. Fort, mein lieber Schüler, mit diesen traurigen und schuldhaften Gedanken. Ihr illustrer Ahn hat Ihnen keine billigen Beweise seiner Zuneigung zukommen lassen, wie sie in den niederen Klassen üblich sind …

GABRIEL. Hätte der Himmel mich doch in diesen Klassen zur Welt kommen lassen! Dann wäre ich kein Fremder, kein Unbekannter für das Oberhaupt meiner Familie.

DER PRÄZEPTOR. Gabriel, Sie werden heute ein großes Geheimnis erfahren, das Ihnen alles erklären wird, was Ihnen bis heute ein Rätsel schien; ich sage es Ihnen ganz offen: Ihnen steht die feierlichste, die erschreckendste Stunde bevor, die Ihnen bisher geschlagen hat. Sie werden sehen, welch unermessliche, welch unglaubliche Fürsorge seit dem Augenblick Ihrer Geburt und bis heute über Sie gebreitet war. Wappnen Sie sich mit Mut. Sie haben heute einen großen Entschluss zu fassen, ein großes Geschick auf sich zu nehmen. Wenn Sie erfahren haben, was Sie nicht wissen, werden Sie nicht mehr sagen, dass Sie nicht geliebt werden. Zumindest wissen Sie, dass Ihre Geburt ersehnt wurde wie eine Gunst des Himmels, wie ein Wunder. Ihr Vater war krank, und man hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass er einen Erben für seinen Titel und sein Vermögen zeugen würde. Und schon triumphierte die jüngere Linie der Bramanter in der Hoffnung auf das Erbe des ruhmreichen Titels, den Sie eines Tages tragen werden …

GABRIEL. Ja, ja, das alles weiß ich. Im Übrigen habe ich mir vieles zusammengereimt, was Sie mir nicht gesagt haben. Zwischen den Brüdern Julien und Octave, meinem Vater und meinem Onkel, stand vermutlich die Eifersucht; vielleicht hatte auch mein Großvater eine heimliche Vorliebe für seinen älteren Sohn … Da kam ich zur Welt. Allseitige Freude, nur nicht für mich; denn mich bedachte der Himmel nicht mit einem Charakter, der diesen ernsten Umständen gewachsen wäre.

DER PRÄZEPTOR. Was sagen Sie da?

GABRIEL. Ich sage, dass dieses Gesetz der Erbfolge von Mann zu Mann ein Ärgernis ist, vielleicht gar eine Ungerechtigkeit. Dieses ewige Hin und Her des Besitzrechts zwischen den Linien einer Familie kann nur das Feuer der Eifersucht entfachen, Groll nähren, Hass zwischen Verwandten schüren, Väter zwingen, ihre Töchter zu hassen, und Mütter beschämen, die Kinder ihres Geschlechts geboren haben! … Zwangsläufig müssen Ehrgeiz und Habsucht kräftige Wurzeln treiben in einer solchen Familie, die sich wie eine hungrige Meute um die Beute des Majorats drängt, und die Geschichte hat mich gelehrt, dass daraus Verbrechen erwachsen können, die der Menschheit Abscheu und Schande einbringen. Nanu, was haben Sie, lieber Meister, dass Sie mich so ansehen? Sie sind ja ganz verstört! Haben Sie mich nicht genährt mit der Geschichte der großen Helden und der Feiglinge? Haben Sie mir nicht immer vorgeführt, wie Heldentum und Aufrichtigkeit gegen Arglist und Niedertracht kämpfen? Wundert es Sie, dass mir davon ein Begriff von Gerechtigkeit geblieben ist, eine Liebe zur Wahrheit?

DER PRÄZEPTOR(leiser). Gabriel, Sie haben ja Recht; aber um Himmels willen, seien Sie weniger kategorisch und weniger beherzt, wenn Sie vor Ihrem Ahnherrn stehen.

  (Ungeduldiges Lärmen im Nebenraum.)

GABRIEL(laut).