Sie und Er - George Sand - E-Book

Sie und Er E-Book

George Sand

0,0

Beschreibung

George Sands berühmter, autobiographisch geprägter Roman über ihr leidenschaftliches und dramatisches Liebesverhältnis zu Alfred de Musset. Eines von 12 bisher vergriffenen Meisterwerken aus der ZEIT Bibliothek der verschwundenen Bücher.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 346

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



George Sand

Sie und Er

Roman

Aus dem Französischen von Liselotte Ronte

Titel der Originalausgabe: »Elle et lui«

Aus dem Französischen übersetzt von Liselotte Ronte und mit Zeichnungen von Alfred de Musset und Eugène Lami.

Copyright © dieser Ausgabe bei Eder & Bach GmbH, 2015

Umschlaggestaltung: hilden_design, München

Satz und Repro: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-945386-28-6

An Fräulein Jacques

Meine liebe Thérèse, da Sie mir doch gestatten, Sie nicht mit ›Fräulein‹ anzureden, so vernehmen Sie denn, was es Neues in der Welt der Künste gibt, wie unser Freund Bernard zu sagen beliebt. Sieh an, das reimt sich! Doch auf das, was ich Ihnen jetzt erzählen will, vermag ich mir überhaupt keinen Reim zu machen.

Stellen Sie sich vor, als ich gestern, nachdem ich Sie mit meinem Besuch zur Genüge gelangweilt hatte, nach Hause kam, traf ich hier einen englischen Mylord an … doch zuletzt ist er vielleicht gar kein Mylord; aber mit Sicherheit ist er ein Engländer, der mich in seiner Sprache fragte:

»Sie sind Maler?«

»Yes, Mylord.«

»Malen Sie Bildnisse?«

»Yes, Mylord.«

»Und die Hände?«

»Yes, Mylord; die Füße auch!«

»Gut!«

»Sehr gut!«

»Oh, ganz sicher! – Wohlan, wollen Sie ein Porträt von mir machen?«

»Von Ihnen?«

»Warum denn nicht?«

Dieses ›Warum denn nicht‹ kam so treuherzig heraus, dass ich ihn nicht länger für einen Einfaltspinsel halten konnte, zumal dieser Sohn Albions ein wunderschöner Mann ist. Der Kopf des Antinous sitzt auf den Schultern eines … ja, auf den Schultern eines Engländers, ein griechischer Kopf aus der besten Zeit auf der etwas sonderbar gekleideten und mit einer Halsbinde versehenen Büste eines Musterbeispiels vornehmer britischer Mode.

»Meiner Treu«, habe ich zu ihm gesagt, »Sie sind bestimmt ein schönes Modell, und von Ihnen würde ich gern eine Studie für meine eigenen Zwecke anfertigen, aber Ihr Porträt kann ich leider nicht machen.«

»Und warum nicht?«

»Weil ich kein Porträtmaler bin.«

»Oh! … Müssen Sie in Frankreich denn ein besonderes Patent für jedes Fachgebiet in den bildenden Künsten erwerben?«

»Nein; aber die Öffentlichkeit erlaubt uns kaum, auf mehreren Gebieten gleichzeitig tätig zu sein. Sie will wissen, woran sie mit uns ist, vor allem wenn wir jung sind; und wenn ich, der ich hier mit Ihnen spreche und der ich noch sehr jung bin, das Unglück haben sollte, ein gutes Porträt von Ihnen zu machen, so wäre es für mich auf der nächsten Ausstellung äußerst schwierig, mit anderen Werken als Porträts überhaupt Erfolg zu haben; ebenso würde mir für immer untersagt, mich jemals wieder an anderen Porträts zu versuchen, sollte mir das Ihre nur mäßig gut gelingen; durch Verfügung würde festgestellt, ich hätte nicht die erforderliche Befähigung für eine solche Arbeit, und es sei anmaßend von mir gewesen, mich an so etwas heranzuwagen.«

Ich erzählte meinem Engländer noch viel mehr solches dummes Zeug, mit dem ich Sie verschonen will, worüber er aber nicht schlecht staunte; dann fing er an zu lachen, und ich erkannte deutlich, dass meine Überlegungen ihm tiefste Verachtung für Frankreich einflößten, wenn nicht gar für Ihren ergebenen Diener.

»Sagen Sie es offen heraus«, meinte er zu mir, »Sie mögen eben das Porträt nicht.«

»Wieso! Für was für einen ungebildeten Kerl halten Sie mich? Sagen Sie lieber, ich wagte mich noch nicht daran, Porträts zu malen, und ich wäre dazu auch gar nicht imstande, weil ja nur eines von beiden sein kann: entweder ist das ein Fachgebiet, das keine anderen neben sich duldet, oder es ist höchste Meisterschaft und gewissermaßen die Krönung des Talents. Manche Maler, die unfähig sind, selbst irgendetwas Neues zu schaffen, können sehr gut das lebende Modell getreulich und in ansprechender Weise abbilden. Der Erfolg ist ihnen sicher, wofern sie sich nur darauf verstehen, das Modell von seiner vorteilhaftesten Seite darzustellen, und sie obendrein das Geschick haben, es gefällig und gleichwohl nach der neuesten Mode zu kleiden; doch wenn man nur ein armer Historienmaler ist, dazu noch ein Anfänger und sehr umstritten, wie ich die Ehre habe, es zu sein, dann kann man einfach nicht gegen die Leute vom Fach antreten. Ich muss Ihnen gestehen, ich habe niemals gewissenhaft den Faltenwurf eines schwarzen Gewandes und die besonderen Züge eines bestimmten Gesichtsausdrucks studiert. Ich bin auch schlecht im Erfinden von Gestalten, Haltungen und Ausdrucksweisen. Dies alles muss sich meinem Thema, meiner Vorstellung, wenn Sie so wollen, meinem Traum unterordnen. Wenn Sie mir gestatten würden, Sie nach meinem Geschmack zu kleiden und Sie in eine Umgebung hineinzustellen, die ich nach eigenen Ideen gestalten könnte … Und selbst dann, sehen Sie, würde das alles nichts nützen, denn das wären am Ende gar nicht mehr Sie. Das wäre kein Porträt, das Sie Ihrer Geliebten schenken könnten … und schon gar nicht Ihrer Frau. Weder die eine noch die andere würde Sie wiedererkennen. Also bitten Sie mich heute nicht um etwas, das ich vielleicht eines Tages doch zu vollbringen vermöchte, sollte ich nämlich durch Zufall ein Rubens oder ein Tizian werden, weil ich es dann verstehen würde, Poet und Schöpfer zu bleiben und doch ohne Mühe und ohne Angst die gewaltige und erhabene Wirklichkeit einzufangen. Leider ist es unwahrscheinlich, dass ich jemals mehr als ein Narr oder ein Dummkopf sein werde. Lesen Sie das bei diesen oder jenen Herren nach, die darüber in ihren Feuilletons geschrieben haben.«

Denken Sie nur, Thérèse, ich habe meinem Engländer kein Wort von alledem gesagt, was ich Ihnen hier erzähle: wenn man sich selbst sprechen lässt, legt man sich seine Worte so schön zurecht; doch von allem, was ich zu meiner Entschuldigung dafür anführen konnte, dass ich das Porträt nicht auszuführen vermag, halfen einzig und allein jene wenigen Worte: »Warum zum Teufel wenden Sie sich nicht an Fräulein Jacques?«

Er sagte dreimal »Oh!«. Dann bat er mich um Ihre Anschrift, schon war er auf und davon, ohne die geringste Erklärung abzugeben, und ließ mich höchst verwirrt und recht ärgerlich zurück, weil ich meine Ausführungen über das Porträt nicht beenden konnte; denn schließlich, meine liebe Thérèse, wenn dieser Tölpel von einem schönen Engländer heute zu Ihnen kommt, was ich ihm durchaus zutraue, und er Ihnen alles wiederholt, was ich Ihnen gerade geschrieben habe, das heißt alles, was ich ihm gar nicht gesagt habe, über die guten Handwerker und die großen Meister, was werden Sie dann von Ihrem undankbaren Freund denken? Dass er Sie den Ersteren zurechnet und Sie für unfähig hält, etwas anderes zu vollbringen als recht hübsche Porträts, die jedermann gefallen? Ach! Meine liebe Freundin, wenn Sie gehört hätten, was ich ihm alles über Sie gesagt habe, als er schon weggegangen war! … Sie wissen es, Sie wissen, dass Sie für mich nicht Fräulein Jacques sind, die Porträts malt, die gut getroffen und sehr beliebt sind, sondern ein überragender Mensch, als Frau verkleidet, der, ohne jemals auf der Akademie gewesen zu sein, fähig ist, in einer Porträtbüste den ganzen Körper und die ganze Seele einzufangen, und der es auch versteht, sie beide erkennbar zu machen, so wie die großen Bildhauer der Antike und die großen Maler der Renaissance. Doch ich schweige lieber; Sie mögen es nicht, dass man Ihnen sagt, was man von Ihnen denkt. Sie tun so, als hielten Sie das alles nur für Komplimente. Sie sind doch sehr stolz, Thérèse!

Heute bin ich richtig melancholisch, und ich weiß nicht warum. Am Morgen habe ich so schlecht gefrühstückt … Und überhaupt habe ich noch nie so schlecht gegessen wie jetzt, seitdem ich eine Köchin habe. Und dann bekommt man auch keinen guten Tabak mehr. Die Tabakregie verdirbt alles. Und dann habe ich neue Stiefel bekommen, die gar nicht passen … Und dann regnet es … Und dann, und dann, ich weiß es selbst nicht! Seit einiger Zeit sind die Tage schrecklich eintönig, finden Sie nicht auch? Nein, das finden Sie nicht. Sie kennen dieses Unbehagen nicht, die Freude, die langweilt, und die Langeweile, die trunken macht, das Leid ohne Namen, über das ich neulich Abend mit Ihnen sprach in jenem kleinen lila Salon, wo ich jetzt so gern sein möchte; denn ich habe heute einen schlechten Tag fürs Malen, und da ich nicht malen kann, würde es mir Vergnügen bereiten, Ihnen mit meiner Unterhaltung lästig zu fallen.

Heute werde ich Sie also nicht sehen! Sie haben da eine unausstehliche Familie, die Sie Ihren erlesensten Freunden entzieht! Notgedrungen werde ich also heute Abend irgendeine fürchterliche Dummheit begehen müssen! … Das kommt nun von Ihrer Güte zu mir, meine liebe große Freundin. Da ich mich so töricht und so nichtig fühle, wenn ich Sie nicht sehen darf, muss ich mich unbedingt betäuben, auch auf die Gefahr hin, Sie zu erzürnen. Doch seien Sie ganz beruhigt; ich werde Ihnen nicht erzählen, wie ich meinen Abend verbracht habe.

Ihr Freund und Diener

11. Mai 183…

Laurent.

An Herrn Laurent de Fauvel

Zunächst, mein lieber Laurent, bitte ich Sie, wenn Sie ein wenig Freundschaft für mich empfinden, dass Sie zumindest nicht zu häufig Dummheiten begehen, die Ihrer Gesundheit schaden. Alle anderen seien Ihnen gestattet. Sie werden mich bitten, Ihnen nur eine solche zu nennen, und schon bin ich höchst verlegen; denn in Sachen Dummheiten kenne ich wenige, die nicht schädlich wären. Es fragt sich nur, was Sie als Dummheit bezeichnen. Wenn es sich um diese langen Abendessen handelt, von denen Sie neulich gesprochen haben, so glaube ich, diese werden Sie zugrunde richten, und das betrübt mich nur allzu sehr. Mein Gott, was denken Sie sich dabei, wenn Sie mutwillig ein so kostbares und schönes Leben zerstören? Doch Sie mögen Predigten nicht; ich begnüge mich mit der Bitte.

Und nun zu Ihrem Engländer, der Amerikaner ist und im Übrigen gerade hier war; und da ich Sie zu meinem großen Bedauern weder heute Abend noch vermutlich morgen sehen werde, muss ich Ihnen sagen, dass Sie auf jeden Fall unrecht daran tun, sein Porträt nicht malen zu wollen. Er hätte es sich etwas kosten lassen, und bei einem Amerikaner wie Dick Palmer bedeutet das viele Banknoten, die Sie nötig brauchen, eben um keine Dummheiten mehr zu machen, das heißt um nicht immer wieder dem Kartenspiel zu verfallen in der Hoffnung auf den großen Glückswurf, den Menschen mit Phantasie doch niemals erzielen, denn Menschen mit Phantasie können nicht spielen. Sie verlieren ständig und müssen dann ihre Phantasie befragen, wovon sie ihre Schulden bezahlen sollen, ein Geschäft, auf das sich diese Dame Phantasie nicht versteht und zu dem sie sich nur herablässt, um den armen Körper, den sie bewohnt, in Brand zu stecken.

Sie finden mich sicher sehr nüchtern, nicht wahr? Das ist mir einerlei. Wenn wir übrigens die Frage genauer betrachten, dann sind alle Gründe, die Sie Ihrem Amerikaner und mir gegenüber angeführt haben, keinen roten Heller wert. Sie können das Porträt nicht machen, das ist schon möglich, das ist sogar sicher, wenn es unter den Bedingungen des bürgerlichen Erfolgs geschehen muss; aber Herr Palmer hat in keiner Weise verlangt, dass dies so sein sollte. Sie haben ihn für einen Spießbürger gehalten, und da haben Sie sich getäuscht. Er ist ein Mann mit großem Urteilsvermögen und Geschmack, der etwas von Kunst versteht und begeistert von Ihnen ist. Sie können sich denken, dass ich ihn gut aufgenommen habe! Als er zu mir kam, war ich seine letzte Hoffnung; das habe ich genau gespürt, und dafür war ich ihm sehr dankbar. Übrigens habe ich ihn getröstet und ihm versprochen, ich wolle mein Möglichstes tun und Sie dazu bewegen, ihn doch zu malen. Übermorgen müssen wir diese ganze Angelegenheit noch einmal besprechen, denn ich habe mich mit besagtem Herrn Palmer für den Abend verabredet; er soll mir helfen, Ihnen gegenüber seine Sache zu vertreten, damit er Ihre Zusage mitnehmen kann.

Und nun, mein lieber Laurent, wenn wir uns jetzt zwei Tage nicht sehen, so vertreiben Sie sich die Zeit, so gut Sie können. Das dürfte Ihnen nicht schwerfallen, Sie kennen viele geistreiche Leute, und Sie verkehren in den besten Kreisen. Ich dagegen bin nur eine alte Moralpredigerin, die Sie sehr gern hat, die Sie beschwört, nicht jeden Abend so spät zu Bett zu gehen, und die Ihnen rät, sich weder Exzessen noch irgendwelchen Ausschweifungen hinzugeben. Dazu haben Sie einfach nicht das Recht: Genie verpflichtet!

Ihre Gefährtin

Thérèse Jacques.

An Fräulein Jacques

Meine liebe Thérèse, in zwei Stunden fahre ich mit Graf S*** und Prinz D*** zu einem Fest auf dem Land. Wie man mir versichert, soll viel Jugend und Schönheit dort sein. Ich verspreche und schwöre Ihnen, keine Dummheiten zu machen und keinen Champagner zu trinken …, wenigstens nicht, ohne mir bittere Vorwürfe zu machen! Was wollen Sie! Sicher wäre ich lieber in Ihrem großen Atelier herumspaziert und hätte in Ihrem kleinen lila Salon dummes Zeug geschwätzt; doch da Sie sich mit Ihren zahllosen Vettern aus der Provinz in die Einsamkeit zurückgezogen haben, wird Ihnen meine Abwesenheit morgen bestimmt auch nicht sonderlich auffallen: Sie genießen ja den ganzen Abend lang die liebliche Musik des angloamerikanischen Tonfalls. Ach! Dick heißt er, dieser gute Herr Palmer? Ich dachte immer, Dick sei die Koseform von Richard! Freilich beherrsche ich an Sprachen allerhöchstens Französisch.

Was das Porträt anlangt, so wollen wir nicht mehr davon sprechen. Sie sind viel zu mütterlich, meine liebe Thérèse, wenn Sie an meine Interessen zum Nachteil der Ihren denken. Auch wenn Sie viele gute Auftraggeber haben, so weiß ich doch, dass Ihr Edelmut es Ihnen nicht erlaubt, reich zu sein, und dass einige zusätzliche Banknoten viel besser in Ihren Händen aufgehoben sind als in den meinen. Sie würden sie dazu verwenden, andere glücklich zu machen; ich aber würde sie, wie Sie sagen, im Kartenspiel vergeuden.

Übrigens war ich noch nie so wenig zum Malen aufgelegt! Dazu bedarf es zweier Dinge, die Sie besitzen: kühle Überlegung und Inspiration; Erstere werde ich niemals besitzen, und die zweite habe ich gehabt. Außerdem ist sie mir restlos verleidet wie eine alte Närrin, die mich kreuzlahm gemacht hat, indem sie mich querfeldein auf dem hageren Rücken ihrer Schindmähre hat reiten lassen. Ich erkenne sehr wohl, was mir fehlt; auch wenn es Ihnen missfallen sollte, ich habe einfach noch zu wenig gelebt, und ich verreise jetzt für drei oder sieben Tage mit der Dame Wirklichkeit in Gestalt einiger Nymphen aus dem Opernballett. Bei meiner Rückkehr hoffe ich der vollendetste Weltmann zu sein, mit anderen Worten der blasierteste und der vernünftigste.

Ihr Freund

Laurent.

1.

Schon auf den ersten Blick verstand Thérèse nur allzu gut, dass Verdruss und Eifersucht diesen Brief diktiert hatten.

»Und doch«, sagte sie sich, »ist er nicht in mich verliebt. O nein! Er wird bestimmt niemals in irgendjemanden verliebt sein, und in mich schon gar nicht.«

Und während sie den Brief noch einmal durchlas und vor sich hin träumte, fürchtete Thérèse, sie könne sich selbst belügen, wenn sie sich einzureden versuchte, Laurent drohe in ihrer Nähe keine Gefahr.

»Ach was! Welche Gefahr denn schon«, sprach sie weiter zu sich selbst: »leiden an einer verliebten Laune? Kann man denn überhaupt an einer verliebten Laune sehr leiden? Ich weiß das einfach nicht. Ich habe nie eine gehabt!«

Doch da schlug die Wanduhr fünf Uhr nachmittags.

Nachdem Thérèse den Brief in ihre Tasche gesteckt hatte, verlangte sie nach ihrem Hut, schickte ihren Diener für vierundzwanzig Stunden auf Urlaub, gab ihrer getreuen Catherine noch einige Anweisungen und bestieg eine Droschke. Zwei Stunden später kam sie mit einer kleinen zarten Frau zurück, die leicht vornübergebeugt und tief verschleiert war, so dass nicht einmal der Kutscher ihr Gesicht zu sehen bekam. Sie schloss sich mit dieser geheimnisvollen Person ein, und Catherine trug ihnen ein kleines, aber sehr schmackhaftes Mahl auf. Thérèse umsorgte und bediente ihre Besucherin, die sie voller Entzücken und mit solcher Begeisterung anschaute, dass sie kaum essen konnte.

Laurent seinerseits bereitete sich auf die angekündigte Lustbarkeit vor; doch als Prinz D*** ihn mit seinem Wagen abholen wollte, sagte ihm Laurent, eine unvorhergesehene Angelegenheit halte ihn leider noch für zwei Stunden in Paris fest, er werde aber im Laufe des Abends in das Landhaus des Prinzen nachkommen.

Laurent hatte jedoch überhaupt nichts zu erledigen. In fieberhafter Eile hatte er sich angekleidet und mit besonderer Sorgfalt frisieren lassen. Dann warf er seinen Rock auf einen Sessel und fuhr mit der Hand durch seine viel zu symmetrisch angeordneten Locken, ohne daran zu denken, wie er nun wohl aussehen mochte. Er ging in seinem Atelier auf und ab, bald schneller, bald langsamer. Als Prinz D*** weggegangen war, nachdem er ihm zehnmal das Versprechen abgenommen hatte, sich mit der Abfahrt zu beeilen, stürzte Laurent auf die Treppe hinaus, um den Prinzen zu bitten, er solle doch auf ihn warten, und um ihm zu sagen, er lasse die Angelegenheit fallen und könne doch gleich mitfahren; aber er rief ihn nicht zurück und begab sich in sein Zimmer, wo er sich auf sein Bett warf.

›Warum verschließt sie mir für zwei Tage ihre Türe? Da steckt etwas dahinter. Und wenn sie mich schließlich für den dritten Tag bestellt, dann nur, damit ich bei ihr einen Engländer oder Amerikaner treffe, den ich gar nicht kenne! Sie dagegen, sie kennt diesen Palmer sehr wohl, den sie bei seinem Kosenamen nennt! Wieso hat er mich dann um ihre Anschrift gebeten? Um mir etwas vorzumachen? Warum sollte Thérèse mir etwas vormachen? Ich bin nicht ihr Geliebter, ich habe keinerlei Anrecht auf sie! Der Geliebte von Thérèse! Das werde ich bestimmt nie sein. Gott bewahre mich davor! Eine Frau, die fünf Jahre älter ist als ich, vielleicht sogar mehr! Wer kennt schon das Alter einer Frau, und noch dazu dieser Frau, von der niemand etwas weiß! Hinter einer so geheimnisvollen Vergangenheit muss sich irgendeine Riesendummheit verbergen, vielleicht eine handfeste Schande. Und zu alledem gibt sie sich spröde oder fromm oder philosophisch, wer weiß das schon? Über alles spricht sie so unvoreingenommen oder so tolerant, so unbefangen … Weiß man denn, was sie wirklich denkt, was sie will, was sie liebt, und ob sie überhaupt fähig ist zu lieben?‹

Da platzte Mercourt herein, ein junger Kritiker, ein Freund von Laurent.

»Ich weiß«, sagte er zu ihm, »Sie wollen nach Montmorency rausfahren. Ich komme auch nur auf einen Sprung, ich mochte Sie lediglich um eine Adresse bitten, und zwar um die von Fräulein Jacques.«

Laurent fuhr zusammen.

»Und was zum Teufel wollen Sie von Fräulein Jacques?«, antwortete er und tat so, als suche er Papier, um sich eine Zigarette zu drehen.

»Ich? Nichts … das heißt, doch! Ich möchte sie gern kennenlernen; ich kenne sie nur vom Sehen und Hörensagen; nach der Anschrift aber frage ich für jemanden, der sich gern malen lassen möchte.«

»Sie kennen Fräulein Jacques vom Sehen?«

»Und ob! Sie ist doch jetzt ganz berühmt, und wem wäre sie wohl nicht aufgefallen? Sie ist wie geschaffen dafür.«

»Finden Sie?«

»Nun ja! Sie etwa nicht?«

»Ich? Ich weiß nicht. Ich habe sie sehr gern, ich bin da nicht ganz unbefangen.«

»Sie haben sie sehr gern?«

»Ja, wie Sie sehen, spreche ich das sogar aus, was wiederum beweist, dass ich ihr nicht den Hof mache.«

»Sehen Sie sie häufig?«

»Ab und an.«

»Dann sind Sie also ihr Freund … ernsthaft?«

»Na schön, ja, ein wenig … Warum lachen Sie?«

»Weil ich kein Wort davon glaube; mit vierundzwanzig ist man nicht der ernsthafte Freund einer Frau, die … jung und schön ist!«

»Unsinn! Weder ist sie so jung noch so schön, wie Sie sagen. Sie ist eine gute Freundin, recht angenehm anzuschauen, weiter nichts. Dennoch gehört sie zu einem Typ, den ich gar nicht schätze; und ich muss mich zwingen, ihr nachzusehen, dass sie blond ist. Blondinen mag ich nur in der Malerei.«

»So blond ist sie nun auch wieder nicht! Sie hat sanfte schwarze Augen, ihr Haar ist weder braun noch blond, und sie versteht sich darauf, es in ganz besonderer Weise zu frisieren. Übrigens steht ihr das, sie sieht aus wie eine gutmütige Sphinx.«

»Das ist ein hübsches Wort; aber … Sie persönlich, mögen Sie denn große Frauen?«

»Sie ist nicht sehr groß, sie hat kleine Füße und kleine Hände. Sie ist eine richtige Frau. Ich habe sie mir genau angeschaut, weil ich in sie verliebt bin.«

»Sieh mal einer an, wie kommen Sie denn dazu?«

»Ihnen macht das doch wohl nichts aus, da sie Ihnen als Frau nicht besonders gefällt?«

»Mein Lieber, und wenn sie mir gefiele, es wäre genau dasselbe. In diesem Fall würde ich es vorziehen, mich mit ihr besser zu stellen als augenblicklich; aber verliebt wäre ich nicht, das ist ein Zustand, von dem ich nichts halte; folglich wäre ich auch nicht eifersüchtig. Führen Sie Ihren Vorsatz unverdrossen aus, wenn es Ihnen denn so beliebt.«

»Ich? Ja, wenn sich die Gelegenheit bietet; aber ich habe keine Zeit, sie zu suchen; und im Grunde bin ich wie Sie, Laurent, und neige durchaus zu Geduld, da ich ja in einem Alter bin und in einer Welt lebe, wo es an Vergnügungen und Freuden nicht mangelt … Doch da wir schon von dieser Frau sprechen und Sie sie kennen … so sagen Sie mir doch … und das ist meinerseits reine Neugier, was ich Ihnen hiermit ausdrücklich versichere … ob sie nun Witwe ist oder …«.

»Oder was?«

»Ich wollte sagen, ob sie die Witwe eines Liebhabers ist oder die eines Ehemannes.«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Nicht möglich!«

»Ehrenwort! Ich habe sie nie danach gefragt. Das ist mir auch völlig gleichgültig!«

»Wissen Sie, was über sie geredet wird?«

»Nein, darum kümmere ich mich überhaupt nicht. Was wird denn geredet?«

»Sehen Sie, nun kümmern Sie sich doch darum! Es heißt, sie sei mit einem reichen Mann von Stand verheiratet gewesen.«

»Verheiratet …«.

»Richtiggehend verheiratet, vor dem Standesbeamten und dem Priester.«

»Dummes Zeug! Sie würde seinen Namen und seinen Titel tragen.«

»Ach!, das ist es ja eben. Dahinter steckt ein Geheimnis. Wenn ich Zeit habe, werde ich versuchen, das herauszubekommen, und es Ihnen dann mitteilen. Es heißt, sie habe – soweit bekannt – keinen Liebhaber, obwohl sie ein sehr freies Leben führt. Übrigens müssten Sie das doch am besten wissen?«

»Darüber weiß ich gar nichts. Nein, so was! Nun hören Sie mir mal zu. Glauben Sie womöglich, ich brächte meine Tage damit zu, die Frauen zu beobachten und auszuhorchen? Schließlich bummle ich für meine Person nicht so viel herum wie Sie! Ich finde, das Leben ist sehr kurz, will man leben und arbeiten.«

»Leben … da will ich nichts sagen. Sie scheinen in vollen Zügen zu leben. Was das Arbeiten anlangt … so heißt es, Sie arbeiteten nicht genug. Sieh mal an, was haben Sie denn dort? Lassen Sie mal sehen!«

»Nein, das ist nichts, ich habe nichts Neues angefangen.«

»Aber gewiss doch, dieser Kopf dort … sehr schön, Teufel nochmal! Nun lassen Sie mich schon sehen, oder Sie kommen in der nächsten Kunstausstellung schlecht weg.«

»Dazu sind Sie durchaus imstande.«

»Ja, wenn Sie es darauf anlegen; aber dieser Kopf da, der ist einfach ganz herrlich und verdient unbedingt Bewunderung. Was soll das geben?«

»Weiß ich es?«

»Soll ich es Ihnen sagen?«

»Sie würden mir einen Gefallen tun.«

»Machen Sie daraus eine Sibylle. Sie putzen sie fein heraus, ganz wie Sie wollen. Das verpflichtet zu nichts.«

»Sieh mal einer an. Das ist eine Idee.«

»Außerdem wird diejenige, der sie ähnelt, nicht kompromittiert.«

»Das soll jemandem ähneln?«

»Wahrhaftig! Sie Witzbold! Glauben Sie vielleicht, ich würde sie nicht erkennen? Nun hören Sie aber auf, mein Lieber, Sie wollen sich wohl über mich lustig machen, wenn Sie alles abstreiten, selbst die klarsten Dinge. Sie sind der Liebhaber jener Gestalt dort!«

»Zum Beweis, dass dem nicht so ist, fahre ich jetzt nach Montmorency«, sagte Laurent kühl und nahm seinen Hut.

»Das beweist noch gar nichts!«, entgegnete Mercourt.

Laurent verließ das Haus, und Mercourt, der mit ihm die Treppe hinuntergegangen war, sah ihn noch in eine Mietdroschke steigen; doch Laurent ließ sich in den Bois de Boulogne fahren, wo er ganz allein in einem kleinen Café zu Abend aß und von wo er bei einbrechender Dunkelheit zurückkehrte, zu Fuß und ganz in seine Träume versunken.

Zu jener Zeit war der Bois de Boulogne noch nicht das, was er heute ist. Er wirkte kleiner, nicht so gepflegt, ärmlicher, geheimnisvoller und ländlicher; dort konnte man träumen.

An den Champs-Élysées, die weniger prunkvoll und nicht so bewohnt waren wie heute, gab es neue Viertel, in denen kleine Häuser mit winzigen, aber sehr lauschigen Gärten noch zu niedrigen Preisen vermietet wurden. Dort konnte man leben und arbeiten.

In einem dieser weißen schmucken Häuschen, inmitten von blühendem Flieder, verborgen hinter einer hohen Weißdornhecke, die von einer grün gestrichenen Gartentüre abgeschlossen wurde, wohnte Thérèse. Es war im Monat Mai. Das Wetter war herrlich. Laurent selbst hätte wohl nur schwerlich erklären können, wie er abends um neun Uhr hinter diese Hecke in der ausgestorbenen und noch nicht fertigen Straße geraten war, wo noch keine Laternen aufgestellt waren und Brennnesseln und Unkraut auf der Böschung wuchsen.

Die Hecke war sehr dicht, und Laurent ging einmal ganz leise rundherum und entdeckte nichts als Blätter, leicht vergoldet von einem Licht, das – wie er vermutete – auf dem kleinen Tisch im Garten stand, an dem er zu rauchen pflegte, wenn er den Abend bei Thérèse verbrachte. Also wurde im Garten geraucht? Oder Tee getrunken, was auch zuweilen vorkam?

Thérèse hatte Laurent angekündigt, sie erwarte eine ganze Familie aus der Provinz, doch er konnte nur das geheimnisvolle Flüstern zweier Stimmen ausmachen, von denen ihm die eine die von Thérèse zu sein schien. Die andere sprach ganz tief: war es die Stimme eines Mannes?

Laurent lauschte und lauschte, dass ihm die Ohren sausten, bis er zuletzt Thérèse die folgenden Worte sagen hörte oder zu hören meinte: »Was bedeutet mir das alles schon? Ich liebe auf der Welt nur noch einen Menschen, und das sind Sie!«

Hals über Kopf stürzte Laurent aus der kleinen ruhigen Seitenstraße auf die belebten Champs-Élysées und sagte zu sich selbst: ›Nun kann ich völlig unbesorgt sein. Sie hat einen Liebhaber! Im Grunde war sie nicht verpflichtet, mir das anzuvertrauen! … Nur hätte sie nicht bei jeder Gelegenheit so reden dürfen, dass sie mich glauben machte, sie gehöre keinem und wolle keinem gehören. Sie ist eine Frau wie alle anderen auch: Lügen geht ihr über alles. Was macht mir das schon aus? Und doch hätte ich es nicht gedacht. Und irgendwie muss sie mir sogar ein bisschen den Kopf verdreht haben, ohne dass ich es mir eingestehen wollte, denn ich habe dort auf der Lauer gestanden und mich höchst schändlich, wenn nicht gar wie ein Eifersüchtiger aufgeführt! Aber eigentlich brauche ich es nicht zu bereuen, denn das bewahrt mich vor einem großen Unglück und einer großen Torheit: nämlich eine Frau zu begehren, die nicht begehrenswerter ist als jede andere auch, ja noch nicht einmal aufrichtig!‹

Laurent hielt eine vorbeifahrende leere Droschke an und begab sich nach Montmorency. Er nahm sich fest vor, eine Woche dort zu bleiben und frühestens in vierzehn Tagen wieder zu Thérèse zu gehen. Er blieb jedoch nur achtundvierzig Stunden auf dem Land und stand am dritten Abend vor Thérèses Türe, genau im gleichen Augenblick wie Herr Richard Palmer.

»Oh!«, meinte der Amerikaner und reichte ihm die Hand. »Ich bin froh, Sie hier zu sehen!«

Laurent musste ihm wohl oder übel auch die Hand geben, doch konnte er es sich nicht verkneifen, Herrn Palmer zu fragen, warum er denn so froh sei, ihn zu treffen.

Der Fremde überhörte den reichlich unverschämten Ton des Malers.

»Ich bin froh, weil ich mag Sie«, erwiderte er mit entwaffnender Herzlichkeit, »und ich mag Sie, weil ich bewundere Sie sehr!«

»Was! Sie hier?«, sagte Thérèse erstaunt zu Laurent. »Heute Abend habe ich nicht mehr mit Ihnen gerechnet.«

Und der junge Mann meinte aus diesen einfachen Worten einen ungewohnt kühlen Ton herauszuhören.

»Ach!«, antwortete er ihr ganz leise, »Sie hätten sich schnell damit abgefunden, und ich glaube, ich störe hier ein reizendes Tête-à-Tête.«

»Umso grausamer von Ihnen«, erwiderte sie im gleichen scherzhaften Ton, »zumal Sie mir ja ganz offenbar dazu verhelfen wollten.«

»Sie haben sich darauf verlassen, da Sie doch nicht abgesagt haben! Soll ich wieder gehen?«

»Nein, bleiben Sie. Ich nehme es auf mich, Sie zu ertragen.«

Nachdem der Amerikaner Thérèse begrüßt hatte, öffnete er seine Brieftasche und entnahm ihr einen Brief, den er Thérèse überbringen sollte. Mit undurchdringlicher Miene überflog Thérèse das Geschriebene, ohne die geringste Bemerkung zu machen.

»Wenn Sie antworten wollen«, sagte Palmer, »ich habe eine Postgelegenheit nach Havanna.«

»Danke«, antwortete Thérèse und öffnete die Schublade einer kleinen Kommode, neben der sie gerade stand. »Ich werde nicht antworten.«

Aufmerksam verfolgte Laurent alle ihre Bewegungen und sah, wie sie diesen Brief zu vielen anderen legte, von denen einer durch die Form und die Unterschrift ihm sozusagen in die Augen sprang. Es war der Brief, den er zwei Tage zuvor an Thérèse geschrieben hatte. Ich weiß nicht, warum er zutiefst betroffen war, seinen Brief mit dem zusammenliegen zu sehen, den Herr Palmer ihr übergeben hatte.

›Sie legt mich dort in buntem Durcheinander mit ihren ausgedienten Liebhabern ab. Ich habe aber keinen Anspruch auf solche Ehre. Über Liebe habe ich mit ihr nie gesprochen.

Thérèse fing an, über das Porträt von Herrn Palmer zu reden. Laurent ließ sich sehr bitten und beobachtete genau die geringfügigsten Blicke und die leisesten Schwankungen in den Stimmen seiner Gesprächspartner; jeden Augenblick meinte er, bei ihnen eine heimliche Angst zu entdecken, er könne nachgeben; doch ihr Drängen war so aufrichtig, dass er sich beruhigte und sich über seinen Argwohn ärgerte. Wenn Thérèse, eine Frau, die so frei und selbstständig lebte, keinem etwas schuldig zu sein schien und sich auch niemals darum kümmerte, was über sie geredet werden könnte, nun wirklich Beziehungen zu diesem Ausländer hatte, dann brauchte sie wohl nicht den Vorwand eines Porträts, um das Objekt ihrer Liebe oder ihrer Träume oft und lange bei sich zu empfangen?

Sobald sich Laurent beruhigt fühlte, hielt ihn kein Schamgefühl mehr davon ab, seine Neugier offen kundzutun.

»Sie sind also Amerikanerin?«, sagte er zu Thérèse, die hin und wieder Herrn Palmer die Antworten, die er nicht ganz verstand, ins Englische übersetzte.

»Ich?«, antwortete Thérèse, »habe ich Ihnen denn nicht gesagt, dass ich die Ehre habe, eine Landsmännin von Ihnen zu sein?«

»Ja, nur weil Sie so gut Englisch sprechen.«

»Sie können nicht beurteilen, ob ich es gut spreche, da Sie es gar nicht verstehen. Aber ich merke schon, worauf Sie hinauswollen, denn ich weiß, dass Sie neugierig sind. Sie möchten wissen, ob ich Dick Palmer seit gestern oder schon seit Langem kenne. Na schön, fragen Sie ihn doch selbst.«

Palmer wartete die Frage, die Laurent ihm von sich aus nicht gern gestellt hätte, gar nicht erst ab. Er antwortete, es sei nicht das erste Mal, dass er nach Frankreich komme, und er habe Thérèse schon bei ihren Eltern gekannt, als sie noch sehr jung war. Wer die Eltern waren, wurde nicht gesagt. Thérèse pflegte zu erzählen, sie habe weder ihren Vater noch ihre Mutter gekannt.

George Sand, gezeichnet von Alfred de Musset

Die Vergangenheit von Fräulein Jacques war ein undurchdringliches Geheimnis für die Leute der Gesellschaft, die sich von ihr malen ließen, und für die kleine Zahl von Künstlern, die sie privat bei sich zu Hause empfing. Sie war nach Paris gekommen, keiner wusste woher, wann und mit wem. Man kannte sie erst seit zwei oder drei Jahren, nachdem ein von ihr gemaltes Porträt bei Kunstkennern große Beachtung gefunden hatte und überraschend zum Meisterwerk erklärt worden war. So kam es, dass mit einem Mal aus ihrer eher bescheidenen Existenz und etwas obskuren Kundschaft ein sehr guter Ruf als Malerin und ein wohlhabendes Leben wurden; doch an ihren stillen Neigungen, ihrem Hang zur Unabhängigkeit und an der heiteren Strenge ihrer Lebensweise änderte sich nichts. Sie spielte sich nie auf und sprach von sich selbst immer nur, um ihre Ansichten und Gefühle mit großer Offenheit und viel Mut zu äußern. Was ihre eigenen Lebensumstände betraf, so hatte sie eine ganz bestimmte Art, Fragen zu umgehen und ihnen auszuweichen, die ihr jede Antwort ersparte. Wenn es jemandem gelang, darauf zu beharren, so pflegte sie stets nach einigen undeutlichen Worten zu sagen:

»Es geht hier nicht um mich. Ich habe nichts Interessantes von mir zu berichten, und wenn ich Kummer und Gram erlebt habe, so erinnere ich mich nicht mehr daran, weil mir die Zeit fehlt, darüber nachzudenken. Ich bin jetzt sehr glücklich, ich habe meine Arbeit, und diese Arbeit liebe ich über alles.«

Durch einen reinen Zufall, dank der Beziehungen, die Künstler des gleichen Fachs untereinander pflegen, hatte Laurent die Bekanntschaft von Fräulein Jacques gemacht. Herr de Fauvel war als Mann von Adel und hervorragender Künstler in eine doppelbödige Gesellschaft eingeführt worden, und mit seinen vierundzwanzig Jahren waren ihm Lebenserfahrungen vertraut, die so mancher mit vierzig noch nicht erworben hat. Mal bildete er sich etwas darauf ein, und dann wieder war er betrübt darüber, doch besaß er keineswegs die nötige Herzensbildung, die sich im Laster und in der Ausschweifung nicht erlernen lässt. Aufgrund seiner Skepsis, die er nie verhehlte, stand für ihn zunächst fest, dass alle diejenigen, die Thérèse als Freunde behandelte, auch ihre Liebhaber sein mussten. Erst als sie samt und sonders die Lauterkeit ihrer Beziehungen zu ihr betont und bewiesen hatten, kam er zu dem Schluss, Thérèse sei eine Frau, die vielleicht leidenschaftliche Liebe erlebt, aber keine Liebeleien gehabt haben konnte.

Von nun an brannte er vor Neugier, den Hintergrund dieses ungewöhnlichen Falls zu erkunden: eine junge, schöne, intelligente, völlig unabhängige Frau, die aus freiem Willen allein lebte. Er besuchte sie immer häufiger und mit der Zeit fast täglich, zunächst noch unter allerlei Vorwänden, bis er sich schließlich als unwichtigen Freund ausgab, der zu sehr Lebemann war, als dass er es nötig gehabt hätte, einer ernsthaften Frau etwas vorzugaukeln, der aber trotz allem noch zu idealistisch war, als dass er nicht der Zuneigung bedurft und den Wert selbstloser Freundschaft zu schätzen gewusst hätte.

Eigentlich entsprach das grundsätzlich der Wahrheit; doch die Liebe hatte sich in das Herz des jungen Mannes eingeschlichen, und wir haben gesehen, dass Laurent sich gegen die Macht eines Gefühls sträubte, das er vor Thérèse und vor sich selbst noch verborgen halten wollte, umso mehr, als er es zum ersten Mal in seinem Leben empfand.

»Und trotzdem«, sagte er, nachdem er Herrn Palmer versprochen hatte, sich an seinem Porträt zu versuchen, »warum zum Teufel bestehen Sie so hartnäckig auf einer Sache, die womöglich gar nicht gut wird, obwohl Sie Fräulein Jacques kennen, die das bestimmt nicht ablehnen und ganz gewiss etwas Ausgezeichnetes daraus machen würde?«

»Sie schlägt es mir ab«, sagte Palmer völlig unbefangen, »und ich weiß nicht warum. Meiner Mutter, die eine Schwäche für mich hat und mich für schön hält, habe ich ein Porträt von Meisterhand versprochen, und wenn es zu wirklichkeitsnah ist, wird sie niemals finden, es sei gut getroffen. Und aus diesem Grunde habe ich mich an Sie gewandt als an einen idealistischen Meister. Wenn Sie ablehnen, dann bleibt mir der Kummer, meiner Mutter keine Freude bereiten zu können, oder aber die Mühe, weiter suchen zu müssen.«

»Da brauchen Sie nicht lange zu suchen; es gibt so viele, die befähigter sind als ich! …«.

»Das kann ich nicht finden; doch selbst wenn dem so wäre, so ist damit noch nicht gesagt, dass jemand sofort Zeit dafür hat, und ich habe Eile, das Porträt loszuschicken. Es ist für meinen Geburtstag in vier Monaten gedacht, und der Transport allein dauert ungefähr zwei Monate.«

»Das heißt also, Laurent«, fügte Thérèse hinzu, »dass Sie dieses Porträt spätestens in sechs Wochen fertig haben müssen, und da ich weiß, wie lange Sie brauchen, sollten Sie morgen damit anfangen. Wohlan! Abgemacht, versprochen, nicht wahr?«

Herr Palmer reichte Laurent die Hand und sagte:

»Damit ist der Vertrag geschlossen. Über Geld rede ich nicht. Die Bedingungen setzt Fräulein Jacques fest; ich mische mich da nicht ein. Wann passt es Ihnen morgen?«

Nachdem die Uhrzeit vereinbart war, nahm Palmer seinen Hut, und aus Rücksicht auf Thérèse hielt sich Laurent für verpflichtet, das Gleiche zu tun; doch Palmer beachtete ihn gar nicht, er verabschiedete sich von Fräulein Jacques, indem er ihr die Hand schüttelte, ohne sie jedoch zu küssen.

»Soll ich nicht auch gehen?«, sagte Laurent.

»Das ist nicht notwendig«, antwortete sie; »alle Leute, die mich abends besuchen, kennen mich gut. Aber heute verlassen Sie mich um zehn Uhr, denn in letzter Zeit habe ich mich dazu verleiten lassen, mit Ihnen bis kurz vor Mitternacht zu plaudern, und da ich nicht länger als bis fünf Uhr morgens schlafen kann, habe ich mich am andern Tag stets sehr zerschlagen gefühlt.«

»Und Sie haben mich nicht hinausgeworfen?«

»Nein, daran habe ich nicht gedacht.«

»Wenn ich eingebildet wäre, könnte ich ganz schön stolz darauf sein!«

»Aber Sie sind nicht eingebildet, Gott sei Dank! Das überlassen Sie denen, die dumm sind. Im Ernst, trotz des Kompliments, Meister Laurent, muss ich mit Ihnen schimpfen. Wie ich höre, arbeiten Sie nicht.«

»Und um mich zum Arbeiten zu zwingen, haben Sie mir also das Porträt von Palmer wie eine Pistole auf die Brust gesetzt?«

»Na schön, warum auch nicht?«

»Thérèse, Sie sind gütig, das weiß ich; Sie wollen mich gegen meinen Willen dazu bringen, dass ich mir meinen Lebensunterhalt verdiene.«

»Um Ihr Einkommen kümmere ich mich nicht, dazu habe ich kein Recht. Ich habe nicht das Glück … oder das Unglück, Ihre Mutter zu sein; aber ich bin Ihre Schwester … ›in Apoll‹, wie unser Klassiker Bernard sagt, und es ist mir unmöglich, mir über Ihre Anwandlungen von Faulheit keine Sorgen zu machen.«

»Aber was kann Ihnen das schon bedeuten«, rief Laurent in einer Mischung von Freude und Verärgerung aus, die Thérèse spürte und die sie dazu bewog, ihm in aller Offenheit zu antworten.

»Hören Sie, mein lieber Laurent«, sagte sie zu ihm, »wir wollen offen miteinander sprechen. Ich empfinde große Freundschaft für Sie.«

»Darauf bin ich sehr stolz, aber ich weiß nicht warum! … Ich tauge nicht einmal zum guten Freund, Thérèse! An die Freundschaft glaube ich so wenig wie an die Liebe zwischen einer Frau und einem Mann.«

»Das haben Sie mir schon gesagt, und es ist mir höchst gleichgültig, woran Sie nicht glauben. Ich aber glaube an das, was ich fühle, und ich empfinde für Sie Anteilnahme und Zuneigung. So bin ich nun einmal; ich kann es nicht ertragen, in meiner Nähe irgendeinen Menschen zu wissen, ohne mich ihm verbunden zu fühlen und mir zu wünschen, dass er glücklich ist. Dafür pflege ich mein Möglichstes zu tun, und ich kümmere mich nicht darum, ob man es mir dankt. Nun sind Sie auch nicht irgendjemand; Sie sind ein Mann von Genie, und was noch mehr ist, ich hoffe, Sie sind ein Mann mit Herz.«

»Ich, ein Mann mit Herz? Ja doch, wenn Sie das so meinen, wie alle Welt es versteht. Ich kann mich im Duell schlagen, weiß meine Schulden zu bezahlen und werde stets die Frau verteidigen, der ich gerade den Arm reiche, wer sie auch sein mag! Doch wenn Sie glauben, ich hätte ein empfindsames, liebevolles, naives Herz …«

»Ich weiß, Sie bilden sich etwas darauf ein, alt, verbraucht und verderbt zu sein. Aber was Sie sich einbilden, macht auf mich überhaupt keinen Eindruck. Heutzutage ist das eine weitverbreitete Mode. Bei Ihnen jedoch ist es eine echte und schmerzvolle Krankheit, die aber vorübergehen wird, sobald Sie nur selbst wollen. Sie sind ein Mann mit Herz; und zwar genau deshalb, weil Sie an der Leere Ihres Herzens leiden; es wird eine Frau kommen, die es erfüllt und ausfüllt, wenn sie sich darauf versteht und Sie sie gewähren lassen. Aber das gehört nicht zu meinem Thema: Ich spreche zu dem Künstler; der Mensch in Ihnen ist nur deshalb unglücklich, weil der Künstler mit sich selbst nicht zufrieden ist.«

»Gut und schön, aber Sie täuschen sich, Thérèse«, antwortete Laurent heftig. »Das Gegenteil von dem, was Sie sagen, trifft zu! Der Mensch leidet an dem Künstler und erstickt ihn. Ich weiß nichts mit mir anzufangen, verstehen Sie? Langeweile und Sehnsucht bringen mich um. Sehnsucht wonach?, werden Sie fragen. Sehnsucht nach allem! Ich bringe es nicht fertig, aufmerksam und ruhig sechs Stunden lang zu arbeiten, wie Sie dann einen Gang durch den Garten zu machen und den Spatzen Brotkrumen hinzustreuen, abermals vier Stunden zu arbeiten und schließlich am Abend zwei oder drei Störenfrieden zuzulächeln, wie ich zum Beispiel einer bin, bis es Schlafenszeit ist. Was meinen Schlaf angeht, so ist er schlecht, meine Spaziergänge sind ruhelos, meine Arbeit ist fieberhaft. Der schöpferische Einfall verwirrt mich und lässt mich erzittern; während der Ausführung, die mir stets viel zu lange dauert, habe ich entsetzliches Herzklopfen; ich weine und unterdrücke mein Schreien, wenn ich eine Idee ausbrüte, die mich trunken macht; doch schon am nächsten Morgen schäme ich mich ihrer, und sie langweilt mich zu Tode. Ändere ich sie ab, so wird es noch schlimmer, sie verlässt mich; es ist besser, ich vergesse sie und warte auf eine andere; aber diese andere erreicht mich so verworren und so gewaltsam, dass ich armes Geschöpf sie nicht zu fassen vermag. Sie bedrängt und quält mich, bis sie durchführbare Dimensionen angenommen hat, und nun beginnt die neue Qual, die Qual nämlich, dieser Idee Gestalt zu verleihen, ein echtes körperliches Leiden, das ich nicht näher zu beschreiben vermag. Und so bringe ich mein Leben zu, wenn ich mich von diesem Riesendämon Künstler beherrschen lasse, der in mir steckt und dem der arme Mann, der hier mit Ihnen spricht, mit der Geburtszange seines Willens Stück für Stück halbtote Mäuse entreißt! Thérèse, also ist es doch viel besser, ich lebe das Leben so, wie ich es mir vorgestellt und eingerichtet habe, gebe mich einfach allen möglichen Ausschweifungen hin und töte diesen bohrenden Wurm in mir ab, den andere bescheiden ihre Eingebung nennen und der für mich ganz einfach mein Gebrechen ist.«

»Dann ist es also beschlossene Sache«, sagte Thérèse lächelnd, »dass Sie am Selbstmord Ihres Verstandes arbeiten? Na gut, ich glaube nicht ein Wort von alledem. Böte man Ihnen morgen an, Sie sollten Prinz D*** oder Graf S*** sein, mitsamt den Millionen des einen und den schönen Reitpferden des anderen, Sie würden nach Ihrer armen, ach so verachteten Palette verlangen und sagen: ›Gebt mir meinen Liebling wieder.‹«