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Thomas Manns Essay über eine der erfolgreichsten deutschen Schriftstellerinnen ihrer Zeit, Gabriele Reuter, entstand als Auftragsarbeit und wurde in zwei Teilen am 14. und 17. Februar 1904 in der überregionalen Berliner Zeitung ›Der Tag‹ abgedruckt. Wenn Mann im ersten Satz das »Künstlerschicksal« beklagt, »Autor eines erfolgreichen Erstlingswerkes« zu sein, geht es ihm nicht nur um Leben und Werk der Autorin, als ebenso um den Künstler im Allgemeinen und damit um ihn selbst. Der im Zentrum des Aufsatzes stehende sentimentale Roman ›Liselotte von Reckling‹ gehört wohl zu den schwächsten Arbeiten der Autorin, wird von Mann hingegen als »ein geistiges Kunstwerk von [...] stiller Überlegenheit« verklärt. Seine Auseinandersetzung mit dem weiblichen Kunstideal aus dem vorherigen Essay ›Das Ewig-Weibliche‹ werden am Beispiel der Autorin fortgeführt: Reuter habe »vor allen übrigen die Sendung des weiblichen Genies in der modernen Literatur erkannt«.
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Seitenzahl: 21
Thomas Mann
Gabriele Reuter
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
Es gibt ein trauriges Künstlerschicksal, vor dem jeder sich fürchten muß, dem es auch nur von weitem droht: nämlich bis zum Tode und in die Unsterblichkeit hinein der Autor eines erfolgreichen Erstlingswerkes zu bleiben. Vielleicht war es ein Werk, das in erster Frische und Naivität, in völliger Verborgenheit, Unberühmtheit und Ungestörtheit entstand, eine ehrliche und rücksichtslose Arbeit, die, ohne den leisesten Gedanken an einen Erfolg bei der Menge, in gelassener Erwartung vielmehr einer ruhigen Würdigung von seiten der Freunde und Kenner, in die Welt gesetzt wurde, das aber, von irgendeiner Zeitströmung ergriffen, als Ausdruck irgendeines Masseninteresses mißdeutet, in das Geschrei der Leute kam und zur Sensation, zum Modewunder, zum großen Treffer ward. Sei es denn, daß der verblüffte Künstler sich von Glück überwältigen, vom Erfolge einhüllen läßt, daß er sich mit Geld und Ruhm inmitten des Volkes, das ihn verehrt, behaglich einrichtet, zufrieden, gewöhnlich und dumm wird; sei es, daß die Analyse seines Erfolges ihn allzu bewußt macht und sein Talent in die Lage jenes Tausendfußes bringt, der, als er einmal nachzudenken begonnen hatte, mit welchem seiner tausend Füße er antreten solle, überhaupt nicht mehr von der Stelle kam und verderben mußte …, sei es, daß er nicht Geist und Verachtung genug besitzt, um der ungeheuren Suggestion des Massenbeifalls zu widerstehen, die ihn lehrt, sein Werk mit den Augen der Leute zu sehen und alle Makel und Schwächen zu vergessen, die ihm bei der Arbeit so große Schmerzen bereiteten, daß der Genieschauder ihn entkräftet, oder die Vorstellung, als sei sein Werk größer als er selbst, seine Hand bei neuen Arbeiten zittern macht, sei es auch nur, daß er selbst sich {62}zwar unentwegt auf der Höhe seines erfolgreichen Werkes erhält, daß aber Publikum und Kritik ihn ihre eigene Überschätzung seines Wertes entgelten lassen und alle seine späteren Leistungen mit Enttäuschung ablehnen: er bleibt der Mann dieses einen Werkes, bleibt, welche inneren Entwicklungsstrecken er noch durchmessen möge, der Öffentlichkeit doch nur bis zu dem Punkte bekannt, an welchem er jenes Werk hervorbrachte, und muß es erleben, daß sein Name in der allgemeinen Vorstellung einfach gleichbedeutend mit dem Titel dieses einen Werkes wird.