Ganz gewöhnliche Monster – Dunkle Talente - J. M. Miro - E-Book
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Ganz gewöhnliche Monster – Dunkle Talente E-Book

J M Miro

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Beschreibung

England am Ende des 19. Jahrhunderts: Es ist Nacht, eine junge Dienstmagd ist auf der Flucht vor der Rache ihres Herrn. Mit allerletzter Kraft schafft sie es, sich in den Waggon eines Güterzugs zu retten – nur um dort eine Entdeckung zu machen, die ihr Leben für immer verändern wird: ein Baby, dessen Haut in einem blauen Schimmer leuchtet. Damit beginnt ein Abenteuer, das von England in den Wilden Westen bis nach Tokio und an die Grenzen des Vorstellbaren führt. Ein Abenteuer voll Magie, Wunder und tödlicher Geheimnisse ...

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Seitenzahl: 1055

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Das Buch

»Das Leuchten war zuerst sehr sanft und blau, es schien, als wäre es die Luft selbst, die so glühte. Dann wurde es immer heller. Jetzt wurde klar, dass es aus der Haut des Jungen strömte. Er saß vollkommen regungslos da, seinen linken Arm in der rechten Hand, die blau strahlte und knisterte, die Dunkelheit im Rest des Zelts begann zu brummen. Alice konnte den Blick nicht abwenden …«

Wir schreiben das Jahr 1882. Im Norden Schottlands liegt an einem abgeschiedenen See das Cairndale-Institut, ein halb verfallenes Gebäude, in dem der Wissenschaftler Henry Berghast Kinder mit magischen Begabungen beherbergt. Kinder wie den achtjährigen Marlowe, dessen Haut blau schimmert und dessen Berührung Menschen heilen oder töten kann. Wie den sechzehnjährigen Amerikaner Charlie, der unverwundbar ist. Wie die Japanerin Komako, die den Staub tanzen lässt. Oder wie die Irin Ribs, die sich unsichtbar machen kann.

Sie alle brauchen Schutz. Schutz vor Jacob Marber, einem geheimnisvollen Mann aus Asche und Rauch, der es auf die jungen Talente abgesehen hat. Doch auch in Cairndale geht es nicht mit rechten Dingen zu. Die düsteren Gänge des jahrhundertealten Gemäuers wispern von Geheimnissen und Gefahren. Und je tiefer Marlowe und seine Freunde in diese Geheimnisse eindringen, desto klarer wird ihnen, dass Cairndale kein sicherer Zufluchtsort ist, sondern das Tor zu einer anderen Welt. Einer Welt, deren Pforten auf keinen Fall geöffnet werden dürfen.

Der Autor

J. M. MIRO lebt im Pazifischen Nordwesten der USA. Mit seinem phantastischen Roman Ganz gewöhnliche Monster hat er die Kritik begeistert und in kürzester Zeit eine riesige Fangemeinde erobert.

»Ganz gewöhnliche Monster ist eine wahrlich faszinierende Lektüre.«

The Guardian

»Der Roman ist so fantasievoll und atmosphärisch, dass man J. M. Miros brillanten Stil und die genial gebaute Handlung vor lauter Spannung fast übersieht.«

Daily Mail

»J. M. Miros Erzählkunst lässt dieses Abenteuer um eine Gruppe magisch begabter Kinder beinahe real erscheinen.«

Financial Times

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetztvon Thomas Salter

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

ORDINARY MONSTERS

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Deutsche Erstausgabe 10/2022

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2022 by The Ides of March Creative Inc.

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabeund der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,unter Verwendung des Motivs von Forrest Meget / Shutterstock

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-29041-2V002

www.heyne.de

Für Dave Balchin,

der in der sechsten Klasse einem Jungen das Leben rettete

»Und die Weiber empfingen und gebaren Riesen, deren Länge dreihundert Ellen betrug. Diese verschlangen allen Erwerb der Menschen, bis es unmöglich wurde, sie zu ernähren. Da wandten sie sich gegen Menschen, um sie zu essen.«

– Buch Henoch

Das Ding auf der gepflasterten Treppe

1874

1

Verlorene Kinder

Als Eliza Grey das Baby zum ersten Mal sah, zuckelte sie gerade im Dämmerlicht in einem Güterwaggon über eine verregnete Strecke drei Meilen westlich von Bury St Edmunds, in Suffolk, England. Sie war sechzehn Jahre alt, unbelesen, weltfremd, ihre Augen so dunkel wie der Regen. Sie war hungrig, da sie seit vorletzter Nacht nicht gegessen hatte, und sie trug weder Mantel noch Hut, weil sie im Dunkeln geflüchtet war – ohne zu wissen, wohin, oder was sie als Nächstes tun sollte. An ihrem Hals waren immer noch die Daumenabdrücke ihres Arbeitgebers sichtbar, auf ihren Rippen die blauen Flecken, die seine Stiefel hinterlassen hatten. In ihrem Bauch wuchs sein Baby heran, doch das wusste sie noch nicht. Sie hatte ihn dem Tod überlassen, in seinem Nachthemd, eine Haarnadel in seinem Auge.

Seitdem war sie auf der Flucht. Als sie aus dem Schutz der Bäume gestolpert war und über das Feld hinweg in der Dämmerung den nahenden Güterzug gesehen hatte, dachte sie zunächst nicht, dass sie ihn rechtzeitig erreichen würde. Aber irgendwie schaffte sie es, über den Zaun zu klettern und durch das überflutete Feld zu waten, während der eiskalte Regen seitlich auf sie einprügelte. Und als sie auf dem Bahndamm stürzte und wieder runterrutschte und der ölige Schlamm ihre Röcke schwer und glitschig machte, gelang es ihr irgendwie trotzdem, sich mit Händen und Füßen wieder hochzukrallen.

Dann hörte sie die Hunde. Sie sah Reiter aus dem Wald auftauchen, dunkle Gestalten, erst eine, dann noch eine, dann noch eine, ordentlich hinter dem Zaun aufgereiht. Die schwarzen Hunde waren schon von der Leine, preschten mit lautem Gebell voraus. Sie sah, wie die Reiter ihre Pferde mit Fußtritten in den Galopp zwangen, und als sie den Griff eines Güterwaggons zu fassen bekam und sich mit letzter Kraft erst hoch und dann in den Wagen schwang, hörte sie einen Gewehrschuss, irgendetwas blitzte pfeifend an ihrem Gesicht vorbei. Sie drehte sich um und sah den Reiter mit dem Zylinderhut, den Furcht einflößenden Vater des toten Mannes, der in seinen Steigbügeln stand und erneut die Flinte ansetzte und zielte. Sie rollte sich verzweifelt weg von der Tür und in das Stroh, wo sie keuchend liegen blieb, während der Zug in der Dunkelheit Geschwindigkeit aufnahm.

Sie musste eingeschlafen sein. Als sie wieder zu Bewusstsein kam, klebte ihr Haar an ihrem Hals, der Boden des Güterwagens ratterte und wummerte unter ihr, Regen wehte durch die offene Seitentür herein. Sie konnte in der Dunkelheit gerade so die aufgetürmten Kisten ausmachen, versehen mit dem Logo der Greene-King-Brauerei, und eine Holzpalette, die verkehrt herum im Stroh lag.

Und da war noch etwas. Irgendein Licht, sie konnte nicht sehen, woher es kam. Ein Licht, schwach und kalt und blau wie das entfernte Leuchten eines Flächenblitzes. Aber als sie näher herankroch, sah sie, dass es gar kein Licht war. Es war ein Baby, ein kleiner Junge, der im Stroh leuchtete.

Sie würde sich ihr Leben lang an diesen Moment erinnern. Wie das Gesicht des Babys flimmerte, ein durchsichtiges Blau, als würde unter seiner Haut eine Laterne brennen. Wie die Venen auf Wangen und Armen und Hals eine Art Landkarte zeichneten.

Sie kroch näher heran.

Neben dem Baby lag seine schwarzhaarige Mutter, tot.

Was bestimmt den Lauf eines Lebens, wenn nicht der Zufall?

Eliza beobachtete, wie das Leuchten unter der Haut des winzigen Wesens langsam verblasste und schließlich verschwand. In diesem Moment erschien ihr ihr eigenes Leben wie eine lange, durchgehende Linie. Alles, was sie gewesen war, lag hinter ihr. Alles, was sie noch werden würde, erstreckte sich vor ihr. Sie kauerte auf Händen und Knien im Stroh, schwankte mit dem Güterwagen hin und her, fühlte, wie ihr Herzschlag langsamer wurde. Und fast dachte sie, sie hätte es nur geträumt, dieses blaue Leuchten. Fast dachte sie, das Nachleuchten in ihren Augenlidern sei nur die Folge von Erschöpfung und Furcht, nur ein Symptom des schmerzlichen Gedankens an das Leben auf der Flucht, das vor ihr lag. Fast.

»Oh, was bist du denn für ein kleines Ding?«, murmelte sie. »Wo kommst du denn her?«

Sie selbst war nichts Besonderes, war nicht clever. Sie war klein wie ein Vogel, ihr Gesicht verkniffen und schmal, die Augen zu groß, ihr Haar braun und grob wie trockenes Stroh. Sie wusste, dass sie nicht wichtig war – man hatte es ihr immer wieder gesagt, schon seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Vielleicht gehörte ihre Seele in der nächsten Welt Jesus, in dieser Welt gehörte ihr Fleisch dem Erstbesten, der ihr Essen, Kleidung und Obdach anbot. So war diese Welt nun mal. Aber während der kalte Regen auf das Dach prasselte und an der offenen Wagentür vorbeiströmte und sie das Baby ganz fest an sich klammerte, während sich die Erschöpfung vor ihr aufbaute wie eine Tür in die Dunkelheit, war sie überrascht von dem Gefühl, das sie ergriff. Überrascht, wie plötzlich es einfach da war. Wie unkompliziert und leidenschaftlich dieses Gefühl war. Es fühlte sich an wie Wut, auch genauso aufsässig, aber es war keine. Sie hatte in ihrem Leben noch nie etwas in ihren Armen gehalten, das derart hilflos war, so wenig bereit für die Welt. Sie fing an zu weinen. Sie weinte für das Baby, und sie weinte für sich selbst. Und sie weinte wegen der Dinge, die sie nicht mehr ungeschehen machen konnte. Und nach einer Weile, als sie sich ausgeweint hatte, starrte sie einfach in den Regen und hielt das Baby.

Eliza Mackenzie Grey. Das war ihr Name, flüsterte sie dem Baby zu, immer wieder, als wäre es ein Geheimnis. Sie fügte nicht hinzu: Mackenzie nach meinem Vater, ein guter Mann, den der Herr zu früh genommen hat. Sie sagte nicht: Grey nach dem Mann, den meine Mutter danach heiratete, ein Kerl so groß wie mein Da, gut aussehend wie der Teufel mit einer Geige, der süß daherreden konnte auf eine Art, die meine Mutter zu mögen glaubte. Ein Kerl, der aber nicht so war wie seine Worte. Der Alkohol hatte den Charme dieses Mannes schon wenige Wochen nach der Hochzeit weggespült, bis der Boden ihrer jämmerlichen Behausung oben im Norden in Leicester von Flaschen übersät war und er begann, Eliza morgens grob anzufassen – auf eine Weise, die sie, noch ein Mädchen, noch nicht verstand, die ihr wehtat und sie beschämte. Als sie im Alter von dreizehn Jahren als Bedienstete verkauft wurde, war es ihre Mutter, die den Verkauf abwickelte. Es war ihre Mutter, trockene Augen, Lippen weiß wie der Tod, die sie zur Agentur schickte. Was auch immer zu tun war, um sie vor diesem Mann in Sicherheit zu bringen.

Und jetzt dieser andere Mann. Ihr Arbeitgeber, Sprössling einer Zuckerfabrikantenfamilie, mit seinen feinen Westen und seinen Taschenuhren und dem gepflegten Backenbart, der sie zu sich in sein Arbeitszimmer gerufen und sie nach ihrem Namen gefragt hatte – obwohl sie da schon zwei Jahre im Haus gearbeitet hatte. Und der vor zwei Nächten sanft an ihrer Zimmertür geklopft hatte, in der Hand einen Kerzenhalter. Der sanft den Raum betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatte, bevor sie aus dem Bett steigen konnte. Bevor sie auch nur fragen konnte, was los war. Jetzt lag er tot auf dem Boden ihres Zimmers, Meilen entfernt, in einer Sauerei aus schwarzem, geronnenem Blut.

Tot durch ihre Hände.

Im Osten wurde der Himmel blasser. Als das Baby begann, vor Hunger zu weinen, nahm Eliza das einzige Essen, das sie hatte, eine in ein Taschentuch gewickelte Brotkruste, zerkaute ein Stückchen und gab die Pampe dann dem Baby. Es nuckelte hungrig daran, die Augen weit geöffnet und auf ihre gerichtet. Seine Haut war so blass, sie konnte die blauen Venen darunter erkennen. Dann kroch sie hinüber zur toten Mutter und fand in deren Unterrock ein schmales Bündel Geldscheine und eine kleine Börse mit Münzen. Mühsam öffnete sie das Gewand der Mutter und rollte sie dann zur Seite, um sie aus der Kleidung zu befreien. An ihrem Hals hing eine lederne Kordel mit zwei schweren, schwarzen Schlüsseln. Diese ignorierte Eliza. Die hellen lilafarbenen Röcke waren lang, und sie musste die Taille umschlagen, damit sie ihr passten. Als sie fertig war, murmelte sie ein Totengebet. Die tote Frau war weich und üppig und hatte dickes schwarzes Haar. Sie war alles, was Eliza nicht war. Aber ihre Brüste und Rippen waren mit Narben bedeckt: Furchen aus Brandblasen, aber keine normalen Brandnarben oder Pockennarben. Eher, als sei das Fleisch geschmolzen und dann gefroren. Eliza wollte sich nicht vorstellen, was diese Narben verursacht hatte.

Die neue Kleidung war weicher als ihre eigene, feiner. Im Licht des frühen Tages, als der Frachtzug dazu übergegangen war, an kleinen Kreuzungen sein Tempo zu drosseln, sprang sie mit dem Baby in ihren Armen ab und ging an den Schienen entlang zurück zum letzten Bahnhof. Es war ein Dorf namens Marlowe, und weil der Name so gut wie jeder andere war, nannte sie auch das Baby Marlowe. Dann nahm sie sich in der einzigen Pension – eine Unterkunft neben der alten Raststätte – ein Zimmer und legte sich, ohne auch nur ihre Stiefel auszuziehen, in die sauberen Laken, das Baby warm und weich auf ihrer Brust, und zusammen schliefen und schliefen sie.

Am Morgen kaufte sie einen Fahrschein dritter Klasse nach Cambridge, von dort reisten sie und das Baby weiter nach Süden, bis nach King’s Cross und dann tief hinein in das dunkle und verrauchte London.

Das Geld, das sie gestohlen hatte, reichte nicht lange. Im Stadtteil Rotherhithe erzählte sie rum, dass ihr junger Ehemann bei einem Kutschenunfall umgekommen sei und sie nun eine Anstellung suchte. In der Church Street fand sie in einem Pub für Binnenschiffer Arbeit und eine Unterkunft beim Besitzer und seiner Ehefrau, und für eine Weile war sie glücklich. Die schwere Arbeit störte sie nicht, sie schrubbte Böden, stapelte Gläser, siebte Mehl und Zucker aus den Fässern und wog es. Sie fand sogar heraus, dass sie ganz gut im Rechnen war. Und jeden Sonntag nahm sie das Baby und machte sich auf den langen Weg durch Bermondsey bis zum Battersea Park, wo das Gras hoch stand und die Themse im Smog geradeso noch zu erkennen war. Zusammen planschten sie dann barfuß in den Pfützen und warfen Steine nach den Gänsen, während auf den vernebelten Pfaden die Landstreicher vorbeizogen wie flackernde Kerzen. Zu diesem Zeitpunkt konnte man schon fast die leichte Wölbung ihres Bauchs sehen, und sie machte sich ständig Sorgen, denn sie wusste, dass sie das Kind ihres alten Arbeitgebers in sich trug. Aber dann, eines Morgens, als sie in der Hocke über dem Nachttopf kauerte, ergriff sie ein heftiger Krampf, und etwas Rotes und Glitschiges kam raus. Und damit, so sehr es sie auch schmerzte, war die Sache erledigt.

Dann, in einer trüben Nacht im Juni, wurde sie auf der Straße von einer Frau aufgehalten. Der Gestank der Themse hing schwer in der Luft. Eliza arbeitete inzwischen als Wäscherin in Wapping, verdiente damit kaum genug, um zu essen, und sie und das Baby schliefen unter einem Viadukt. Ihr Umschlagtuch war schäbig und abgenutzt, ihre feingliedrigen Hände verquollen und mit roten Schwielen bedeckt. Die Frau, die sie auf der Straße aufhielt, war gigantisch, fast ein Riese, mit den Schultern eines Ringers und dickem silbernen Haar, das zu einem Zopf geflochten ihren Rücken herabhing. Die Augen der Frau waren klein und schwarz, wie die polierten Knöpfe eines gepflegten Paar Stiefels. Ihr Name, sagte sie, sei Brynt. Sie sprach mit einem breiten amerikanischen Akzent. Ihr sei bewusst, sagte die Frau, dass sie mit ihrer Größe eine ziemlich überwältigende Erscheinung abgebe, aber Eliza und das Baby sollten nicht besorgt sein: Wer unter ihnen habe nicht irgendeine Eigenschaft, die sie von anderen unterscheide, sei dieser Unterschied auch noch so versteckt und klein? Und offenbare sich nicht eben darin das Wunder der Schöpfung, der Wille Gottes in der Welt? Sie selbst war über Jahre in Schaubuden bei Abnormitätenschauen aufgetreten, erzählte sie, sie wusste, welche Wirkung sie auf Menschen haben konnte. Aber jetzt folge sie dem guten Reverend Walker am Turk’s Head Theatre – und man möge ihr ihre Direktheit verzeihen, aber war Elizas Seele schon gerettet worden?

Und als Eliza nicht antwortete, sondern nur stumm nach oben starrte, schlug diese riesige Frau, Brynt, die Haube zurück, um das Gesicht des Babys zu sehen. Und Eliza fürchtete plötzlich, Marlowe könnte vielleicht nicht er selbst sein, vielleicht nicht ganz in Ordnung, und sie zog ihn weg. Aber unter der Haube war nur das Baby, das verschlafen lächelte. In diesem Moment entdeckte Eliza die Tätowierungen, die die Hände der großen Frau bedeckten und unter ihren Ärmeln verschwanden, wie bei einem Matrosen, der frisch aus den ostindischen Überseegebieten zurückgekehrt war. Verschlungene Kreaturen, monströse Gesichter. Auch auf dem Hals der Frau war Tinte zu sehen, als wäre ihr ganzer Körper angemalt.

»Hab keine Angst«, sagte Brynt.

Aber Eliza hatte keine Angst; sie hatte Derartiges nur noch nie zuvor gesehen.

Brynt führte sie im Nebel durch eine Gasse und über einen regennassen Hof zu einem heruntergekommenen Theater, das sich schief über den schlammigen Fluss dahinter neigte. Drinnen war alles verraucht und unterbelichtet. Das Zimmer war kaum größer als ein Eisenbahnwaggon. Sie sah den guten ehrwürdigen Reverend Walker, der in Hemd und Weste die kleine Bühne auf und ab stakste und dem Publikum aus Ma­trosen und Straßenmädchen von der kommenden Apokalypse predigte, das Gesicht umspielt von Kerzenlicht. Und sobald er seinen Sermon beendet hatte, eilte er in die Menge, um sein Angebot an Elixieren, Salben und Tropfen anzupreisen und zu verkaufen. Danach brachte Brynt Eliza und das Baby zu ihm. Er saß hinter einem Vorhang und trocknete sich mit einem Handtuch Stirn und Hals. Ein dünner Mann, in Wahrheit kaum größer als ein Junge, aber sein Haar war schon grau, die Augen waren uralt und brannten wie Feuer, und seine weichen Finger zitterten, während er den Deckel seines Laudanum-Fläschchens aufschraubte.

»Es gibt nur das eine Buch Christi«, sagte er sanft. Er blickte auf, seine Augen trüb und blutunterlaufen. »Aber es gibt so viele verschiedene Arten von Christen, wie es jemals Menschen gab, die über diese Erde wanderten.«

Er ballte seine Hand zuerst zur Faust und spreizte dann die Finger.

»Die Vielen aus dem Einen«, flüsterte er.

»Die Vielen aus dem Einen«, wiederholte Brynt wie ein Gebet. »Diese zwei haben nirgends, wo sie bleiben können, Reverend.«

Der Reverend machte nur ein grummelndes Geräusch, seine Augen wurden glasig. Als wäre er allein, als hätte er Eliza vollkommen vergessen. Seine Lippen bewegten sich still.

Brynt nahm Eliza am Ellbogen und führte sie weg. »Er ist nur müde, das ist alles«, sagte sie. »Aber er mag dich, Süße. Dich und das Baby. Du suchst ein Plätzchen zum Schlafen?«

Sie blieben. Zuerst nur über Nacht, dann doch den ganzen nächsten Tag, schließlich bis zur nächsten Woche. Sie mochte die Art, wie Brynt mit dem Baby umging. Und es stellte sich heraus, dass es doch nur Brynt und der Reverend waren, die hier wohnten. Brynt erledigte alles, was so an irdischer, pro­faner Arbeit anfiel, während der Reverend in dem vor Alter knarzen­den Theater seine Elixiere mischte und mit Gott durch eine verschlossene Tür hindurch stritt, wie Brynt zu sagen pflegte.

Eliza hielt Brynt und den Reverend zunächst für ein Liebespaar. Aber bald verstand sie, dass der Reverend kein Interesse an Frauen hatte – und als sie dies erkannte, spürte sie sofort eine enorme Erleichterung. Sie schrubbte und schleppte und half sogar beim Kochen, auch wenn Brynt jeden Abend beim Geruch, der aus dem Topf aufstieg, die Nase rümpfte. Eliza fegte auch den Saal aus, half bei der Pflege der Kerzen auf der Bühne und baute täglich aus Ziegelsteinen und Brettern die Sitzbänke.

Es war Oktober, als sich zwei Gestalten in das Theater drängelten und sich die Regentropfen von ihren Chesterfield-Mänteln bürsteten. Der größere von beiden strich mit einer Hand durch seinen tropfenden Bart, die Augen waren von der Hutkrempe verdeckt. Aber Eliza erkannte ihn nichtsdestotrotz. Es war der Mann, der sie mit Hunden gejagt hatte, damals in Suffolk. Es war der Vater ihres toten Arbeitgebers.

Sie versteckte sich hinter dem Vorhang und machte sich ganz klein, als könne sie sich in nichts verwandeln. Aber sie konnte die Augen nicht von ihm abwenden, obwohl sie sich diesen Moment schon so oft vorgestellt hatte, schon so oft davon geträumt hatte und Nacht für Nacht schweißgebadet aufgewacht war. Völlig gelähmt beobachtete sie, wie er die Menge umkreiste, die Gesichter musterte – sie fühlte sich, als würde sie nur darauf warten, dass er sie findet. Aber er blickte nicht in ihre Richtung. Zurück am Eingangsbereich des Theaters stieß er wieder zu seinem Begleiter, knöpfte seinen Chesterfield-Mantel auf und zog eine goldene Uhr an einer Kette hervor – als habe er die Sorge, zu spät zu einem Termin zu sein. Dann drängelten sich die beiden wieder hinaus in das düstere Wapping, und Eliza, unbeschadet, traute sich wieder zu atmen.

»Wer war das, mein Kind?«, fragte Brynt später mit ihrer tiefen, grollenden Stimme, das flackernde Licht der Lampe tanzte über die tätowierten Knöchel ihrer Hände. »Was haben sie dir getan?«

Aber Eliza konnte es ihr nicht verraten, konnte ihr nicht gestehen, dass sie es war, die ihnen etwas getan hatte. Sie konnte nur das Baby fest an sich klammern und zittern. Sie wusste, dass sein Auftauchen kein Zufall war. Sie wusste in dem Moment, dass er sie immer noch jagte – sie immer jagen würde. Und das ganze gute Gefühl, das sie hier gehabt hatte, hier bei dem Reverend und Brynt, war weg. Sie konnte nicht bleiben, nicht bei ihnen. Es wäre nicht richtig.

Aber sie ging nicht, zumindest nicht sofort. Und dann, eines grauen Morgens, als sie den Wäscheeimer über Runyan’s Court schleppte, traf sie auf Brynt, die aus ihren riesigen Röcken ein gefaltetes Stück Papier zog und ihr gab. Im Dreck schlief ein Betrunkener. Kleidung hing von einer Wäscheleine. Eliza faltete das Papier auf und blickte in ihr eigenes Gesicht.

Es war ein Steckbrief, den Brynt als Anzeige in einer Zeitung entdeckt hatte. Darin wurde demjenigen eine Belohnung versprochen, der bei der Erfassung dieser Mörderin behilflich war.

Eliza, die nicht lesen konnte, fragte nur: »Ist das mein Name da drauf?«

»Oh, Süße«, sagte Brynt sanft.

Und dann erzählte Eliza es ihr, erzählte ihr alles, dort in diesem düsteren Hof. Zuerst stockend, dann mit einer schrecklichen Eile. Und während sie sprach, fühlte sie Erleichterung: Sie hatte bis dahin nicht begriffen, wie belastend es gewesen war, dieses Geheimnis zu hüten. Sie erzählte von dem Mann in seinem Nachthemd, wie das Kerzenfeuer in seinen Augen geflackert hatte, der Hunger in seinem Blick. Wie es wehgetan hatte und nicht aufgehört hatte wehzutun, bis er fertig war. Und wie seine Hand nach Lotion gerochen hatte, wie sie unter Schmerzen auf dem Nachttisch neben ihrem Bett gewühlt und getastet hatte, bis sie … etwas in die Finger bekam, etwas Scharfes. Und wie sie ihn damit geschlagen hatte, und erst sah, was sie angestellt hatte, als sie ihn von sich runter­stieß. Sie erzählte auch vom Güterwagen und der Laterne, die keine Laterne war; und wie das Baby sie in dieser ersten Nacht angesehen hatte. Und sie erzählte sogar, wie sie der toten Mutter das Geld abgenommen hatte und der erstarrenden Leiche dann die feinen Kleider vom Leib gestohlen hatte. Und als sie fertig erzählt hatte, beobachtete sie Brynt, die ihre Wangen aufblähte und sich mit Wucht auf einen umgedrehten Waschtopf setzte, ihre riesigen Knie auf Schulterhöhe, den Bauch nach vorne gewölbt, die Augen zusammengepresst.

»Brynt?«, fragte sie, plötzlich ängstlich. »Ist es ne sehr hohe Belohnung, was die anbieten?«

Darauf hob Brynt ratlos ihre tätowierten Hände und blickte von der einen zur anderen, als sei dort die Lösung eines Rätsels zu finden. »Ich konnte es in dir sehen«, sagte sie leise. »Am ersten Tag, als ich dich da sah, auf der Straße. Ich konnte sehen, dass da irgendwas war.«

»Ist es ne sehr hohe Belohnung, Brynt?«, fragte sie erneut.

Brynt nickte.

»Was willst du tun? Erzählst du’s dem Reverend?«

Brynt sah auf. Sie schüttelte langsam ihren riesigen Kopf. »Diese Welt ist groß, Süße. Manche glauben, wenn du weit genug läufst, kannst du allem davonlaufen. Sogar deinen Fehlern.«

»Glaubst … glaubst du das auch?«

»Ach, ich laufe schon seit achtzehn Jahren. Du kannst dir selbst nicht davonlaufen.«

Eliza rieb sich die Augen, wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Ich wollte es nicht«, flüsterte sie.

Brynt deutete mit einem Kopfnicken auf den Zettel in Elizas Hand. Sie ging los, dann blieb sie stehen.

»Manchmal verdienen es die Bastarde einfach«, sagte sie wütend.

Marlowe wurde größer. Seine Haut behielt ihre gruselige Blässe – eine kalte, ungesunde Farbe, als sei er noch nie Sonnenlicht ausgesetzt gewesen. Trotzdem wuchs er zu einem süßen Kleinkind heran, lebhaft, mit schwarzen Haaren und einem Lächeln, das Geldbörsen öffnen konnte, und Augen so blau wie der Himmel von Suffolk. Aber manchmal blitzte noch etwas anderes in ihm auf, ein Temperament. Und als er älter wurde, bemerkte Eliza manchmal, wie er vor Zorn das Gesicht verzerrte und mit dem Fuß aufstampfte, wenn er nicht durfte, wie er wollte. Und sie wunderte sich, was für ein Teufel in ihm steckte. In solchen Momenten schrie er und plärrte und packte das Erstbeste in seiner Nähe – einen Kohleklumpen, ein Tintenfass, egal, was – und zerschmetterte es. Brynt versuchte ihr zu erklären, dass das bei Kindern normal sei, dass Zweijährige alle diese Phase durchmachten, dass nichts daran sonderbar war. Aber Eliza war sich nicht so sicher.

Denn da war diese eine Nacht in St Georges Street, als er irgendwas haben wollte – was war es noch, eine Lakritzstange aus einem Schaufenster? –, und Eliza, müde vielleicht, oder nur abgelenkt, hatte Nein gesagt, bestimmt und deutlich, und ihn an der Hand durch die Menge gezerrt. Sie zerrte ihn eine gepflasterte Treppe hinab, die zur Bolt Alley führte. »Ich will es haben! Ich will es haben«, schrie er. Der Blick, mit dem er sie fixierte, war so voll Dunkelheit und Gift. Sie spürte, wie sich Hitze in ihrer Handfläche ausbreitete, an der Stelle, wo sie seine Hand hielt. Sie blieb auf der Mitte der gepflasterten Treppe stehen, im fahlen gelben Licht der Gaslaterne über ihnen, und sah dasselbe blaue Leuchten in ihm wie damals – und ein grauenhafter Schmerz breitete sich in ihrer Hand aus. Marlowe blickte sie wutentbrannt an und sah zu, wie sich ihr Gesicht vor Schmerz verzog. Sie schrie und stieß ihn weg. Am unteren Ende der gepflasterten Treppe war eine Gestalt in einem Umhang, diese drehte sich um und starrte zu ihnen hoch, ruhig und regungslos wie eine dunkle Säule. Aber die Gestalt hatte kein Gesicht, nur Rauch, und Eliza erschauderte bei ihrem Anblick …

Aber dann war Marlowes Zorn verpufft, das blaue Leuchten war weg. Er saß im Dreck und blickte verwirrt zu ihr hoch, dann verzerrte Furcht sein blasses kleines Gesicht, und er fing an zu weinen. Sie presste ihre schmerzende Hand gegen die Brust und wickelte sie in ihr Halstuch. Mit der unverletzten Hand zog sie das Kind nah zu sich, säuselte sanft, fühlte sowohl Scham als auch Furcht und sah um sich. Aber die Gestalt am unteren Ende der Treppe war fort.

Dann war Marlowe sechs, sie hatten das Theater in Wapping wegen der hohen Miete aufgegeben und lebten alle in einem jämmerlichen Zimmer an der Ecke von Flower und Dean Street, in Spitalfields. Es kam Eliza zunehmend vor, als hätte sich Brynt vielleicht geirrt: Vielleicht war es doch möglich, den eigenen Fehlern davonzulaufen. Es war zwei Jahre her, seit die letzte Anzeige mit ihrem Steckbrief in den Zeitungen erschienen war. Eliza schleppte sich jeden Tag von Spitalfields bis runter zur Themse, um dort bei Ebbe im klebrigen Schleim des Flussbetts nach Wertvollem zu suchen – Brynt war dafür zu schwer, Marlowe immer noch viel zu jung. Aber er lief in den nebligen Straßen neben den Kohlekutschen her, sammelte kleine Kohlestücke vom Boden auf, wuselte dafür zwischen den Beinen der Pferde hindurch und wich den stahlverstärkten Rädern aus, während Brynt hinter den Straßenpollern wartete und ihm mit besorgtem Blick dabei zusah. Eliza mochte sehr wenig an Spitalfields, es war ein dunkler und gemeiner Stadtteil. Aber es gefiel ihr, wie Marlowe die Gegend überlebte, wie zäh er wurde, wie er lernte, aufmerksam zu sein, die großen Augen dunkel vor Lebenserfahrung. Und manchmal kletterte er nachts noch immer neben sie auf die verwanzte Matratze, und sie lauschte seinem rasenden Herzschlag, und es war wie früher, als er ein Baby gewesen war: unkompliziert und süß und gut.

Aber nicht immer. Im Frühling desselben Jahres ertappte sie ihn dabei, wie er in einer vermüllten Gasse kauerte, die von der Thrawl Street abging, und sein linkes Handgelenk in der rechten Hand hielt und dieses Leuchten sich von seinen Händen über seinen Hals und sein Gesicht ausbreitete, genau wie vor all den Jahren. Das Leuchten war blau und färbte den Nebel um ihn herum. Als er seine Hände voneinander löste, sah sie, dass seine Haut Blasen warf und triefte. Dann wurde sie wieder glatt und normal. Eliza konnte sich einen Schrei nicht verkneifen, Marlowe drehte sich schuldbewusst weg und zog seinen Ärmel runter. Und damit war das Leuchten weg.

»Mama …?«, fragte er.

Sie waren allein in der Gasse, aber sie konnte das Knarzen der Seidenkutschen hören, keine zehn Schritte entfernt im dichten Nebel der Straße. Sie hörte die Männer, die an ihren fahrbaren Verkaufsständen brüllten.

»Oh, mein Herz«, murmelte sie. Sie kniete sich neben ihn, unsicher, was sie sonst sagen sollte. Sie glaubte nicht, dass er sich an den Tag erinnerte, als er ihre Hand verbrannt hatte. Ob er wusste, was er getan hatte oder nicht, sie konnte sich nicht sicher sein. Aber sie wusste mit Sicherheit, dass es in dieser Welt nicht gut war, anders zu sein. Das versuchte sie ihm zu erklären. Sie sagte, Gott hat jedem Menschen zwei mögliche Schicksale gewährt – und es ist die Lebensaufgabe jedes Menschen, sich das eine oder das andere Schicksal auszu­suchen. Sie blickte in sein kleines Gesicht, sah seine vor Kälte weißen Wangen und das schwarze Haar, das über seine Ohren wuchs, und sie fühlte eine überwältigende Traurigkeit.

»Du hast immer eine Wahl, Marlowe«, sagte sie. »Verstehst du, was ich sage?«

Er nickte. Aber sie glaubte nicht im Geringsten, dass er sie verstand.

Als er sprach, war seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Ist es böse, Mama?«, fragte er.

»Oh, Schatz. Nein.«

Er dachte einen Moment nach. »Weil es von Gott kommt?«

Sie biss sich auf die Lippe. Nickte.

»Mama?«

»Ja?«

»Was, wenn ich nicht anders sein möchte?«

Sie sagte ihm, er solle niemals Angst davor haben, wer er ist. Aber er müsse es verstecken, dieses blaue Leuchten, was auch immer es war. Sogar vor dem Reverend? Ja. Sogar vor Brynt? Sogar vor Brynt. Sie sagte, was auch immer der Zweck des Leuchtens sei, irgendwann würde sich ihm dieser Zweck offenbaren. Aber bis dieser Tag käme, werde er Menschen begegnen, die es für ihre eigenen Zwecke missbrauchen wollen. Und vielen anderen, die sich davor fürchten würden.

Das war dasselbe Jahr, in dem der Reverend begann, beim Husten Blut zu spucken. Ein Bader in Whitechapel sagte, ein trockeneres Klima könne ihm vielleicht helfen, aber Brynt senkte einfach den Kopf und stürmte in den Nebel hinaus. Der Reverend war als Junge aus den amerikanischen Wüsten gekommen, erklärte sie später wütend. Und alles, was er wollte, war, jetzt in die Wüste zurückzukehren, um zu sterben. Wenn sie jetzt langsam durch die von Gaslampen erleuchteten Nächte irrten, sah sein Gesicht immer grauer aus, wurden seine Augen immer gelber. Schließlich hörte er auf, auch nur so zu tun, als würde er seine Elixiere selbst mischen, und verscherbelte einfach puren Whisky. Dabei erzählte er jedem, der zuhörte, dass ein heiliger Mann in den Schwarzen Bergen von Agrapur den Whisky gesegnet hätte – Eliza hatte nicht den Eindruck, dass es seinen Kunden wichtig war –, und sogar diese Lüge erzählte er lustlos und ohne Überzeugung, wie ein Mann, der nicht mehr an seine eigene Wahrheit glaubte. Oder an die der anderen, oder an irgendeine Wahrheit.

Eines Tages, während der Reverend in der Wentworth Road wild gestikulierend auf einer Kiste im Regen stand und Vorbeigehenden irgendwas von der Rettung ihrer Seelen hinterherrief, brach er zusammen, und Brynt trug ihn in ihren Armen zurück zu ihrem Nest. Der Regen tropfte an mehreren Stellen durchs Dach, und die Tapete hatte sich schon lange ab­geschält; Schimmel umwucherte das Fenster wie ein Pelz. In diesem Zimmer, am siebten Tag seines Wahns, hörten Eliza und Marlowe ein sanftes Klopfen an der Tür, und Eliza stand auf, um sie zu öffnen, im Glauben, es wäre Brynt. Stattdessen sah sie einen seltsamen Mann dastehen.

Das graue Licht vom Treppenabsatz dahinter bildete um seinen Bart und die Ränder seines Huts eine Art Heiligenschein. Seine Augen waren im Schatten versteckt, während er sprach.

»Miss Eliza Grey«, sagte er.

Es war keine unfreundliche Stimme, fast sanft. Sie klang, dachte Eliza, wie die eines Großvaters in einer Kindergeschichte.

»Ja«, sagte sie langsam.

»Ist das Brynt?«, rief Marlowe. »Mama? Ist es Brynt?«

Der Mann nahm seinen Hut ab und drehte den Kopf zur Seite, um an ihr vorbeizublicken – und dann erst sah sie sein Gesicht: die lange rote Narbe über dem einen Auge, die Gemeinheit in seinem Blick. Er trug eine weiße Blume im Knopfloch. Sie begann, die Tür zu schließen, aber er streckte eine große Hand aus und ließ sich – fast ohne jede Anstrengung – selbst in den Raum ein und schloss die Tür hinter sich.

»Wir haben noch nicht die Bekanntschaft gemacht, Miss Grey«, sagte er. »Ich bin mir sicher, dieser missliche Umstand wird noch behoben werden. Wen haben wir denn hier?«

Er sah Marlowe an, der in der Mitte des Zimmers stand und einen kleinen braunen Stoffbären an seine Brust klammerte. Dem Bären fehlte ein Auge, und aus einem Bein quoll bereits die Füllung, aber es war der einzige Schatz, den der Junge besaß. Er starrte den Fremden an, mit einem leeren Ausdruck in seinem blassen Gesicht. Kein Anzeichen von Furcht, noch nicht. Aber sie konnte sehen, dass er ahnte, dass irgendwas nicht stimmte.

»Alles gut, mein Schatz«, sagte sie. »Du kannst zurück zum Reverend. Es ist nur ein Gentleman, der etwas Geschäftliches mit mir besprechen möchte.«

»Ein Gentleman«, murmelte der Mann, als würde ihn die Idee belustigen. »Wer bist du denn, mein Sohn?«

»Marlowe«, sagte der Junge mit fester Stimme.

»Und wie alt bist du, Marlowe?«

»Sechs.«

»Und wer ist das auf der Matratze da hinten?«, fragte er und schwenkte seinen Hut in Richtung des Reverends, der mit dem Gesicht zur Wand lag, schwitzend, im Delirium.

»Reverend Walker«, sagte Marlowe. »Aber er ist krank.«

»Na los«, sagte Eliza schnell, spürte ihren Herzschlag bis hoch in die Kehle. »Geh und setz dich zum Reverend, los.«

»Bist du ein Polizist?«, fragte Marlowe.

»Marlowe«, sagte sie.

»In der Tat, mein Sohn, das bin ich.« Der Mann drehte seinen Hut zwischen den Fingern, musterte den Jungen, dann blickte er Eliza direkt in die Augen. Seine Augen waren hart und klein und sehr dunkel. »Wo ist die Frau?«, fragte er.

»Welche Frau?«

Er hob die Hand über den Kopf, um Brynts Größe anzudeuten. »Die Amerikanerin. Die Ringerin.«

»Wenn Sie wünschen, sie zu sprechen …«

»Das wünsche ich nicht«, sagte er. An der Wand stand ein krummer Stuhl, der Mann legte seinen Hut darauf ab und entdeckte dabei in dem trüben Fenster sein Spiegelbild, hielt kurz inne und strich sich über den Schnurrbart. Dann blickte er prüfend durchs Zimmer. Er trug einen grünkarierten Anzug, seine Finger waren voller Tinte, wie die eines Bankangestellten. Die weiße Blume in seinem Knopfloch, wie Eliza jetzt erst bemerkte, war verwelkt.

»Was wollen Sie dann?«, fragte sie, bemüht, sich ihre Furcht nicht anmerken zu lassen.

Darüber lächelte er. Er öffnete sein Jackett, und sie sah den Revolver an seiner Hüfte. »Miss Grey, es gibt da einen Gentleman von fragwürdiger Herkunft, der aktuell in Blackwell Court residiert. Und er fragt in ganz Spitalfields nach Ihnen. Er sagt, Sie hätten Anspruch auf ein Erbe, und er wünscht, Sie ausfindig zu machen.«

»Mich?«

Seine Augen funkelten. »Sie.«

»Das kann nicht sein. Ich hab nirgends Verwandte.«

»Natürlich haben Sie die nicht. Sie sind Eliza Mackenzie Grey, ursprünglich aus Bury St Edmunds, als gesetzesflüchtig gemeldet, wegen des Mordes an einem Mann – Ihrem Arbeitgeber –, oder etwa nicht?«

Eliza spürte, wie ihre Wangen rot wurden.

»Auf Sie ist eine beachtliche Belohnung ausgeschrieben. Aber von einem Kind wurde nichts erwähnt.« Er sah Marlowe an, sein Gesichtsausdruck lieferte keinerlei Anhaltspunkt, was er dabei dachte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Gentle­man auch ihn will. Ich kann ihm irgendwo eine geeignete Anstellung suchen. Als Gehilfe. Damit er nicht in ein Armenhaus muss. Es wäre um Längen besser als das hier, mit Ihrem sterbenden Reverend und seiner irren Amerikanerin.«

»Brynt ist nicht irre«, sagte Marlowe aus der Ecke.

»Schatz«, sagte Eliza verzweifelt, »geh bitte rüber zu Cowetts und frag nach Brynt, ja? Sag ihr, der Reverend will sie sehen.« Sie ging zur Tür, um ihn aus dem Zimmer zu bugsieren, da hörte sie ein stumpfes Klicken. Sie blieb regungslos stehen, wie festgefroren.

»Weg von der Tür, so ist’s brav.«

Der Mann hatte seinen Revolver gezückt, schwaches graues Licht fiel durchs Fenster. Er setzte seinen Hut wieder auf.

»Sie sehen nicht aus wie eine Mörderin«, sagte er. »Das muss ich Ihnen zugestehen.«

Er hatte mit der freien Hand ein Paar feingliedrige, vernickelte Handschellen aus seiner Westentasche gefischt, einen Moment später stand er direkt neben ihr. Er packte grob ihren Arm, ließ die Handschellen um ihr rechtes Handgelenk zuschnappen und griff nach ihrer linken Hand. Sie versuchte Wi­derstand zu leisten.

»Lassen Sie das …«, versuchte sie zu sagen.

Marlowe, am anderen Ende des Zimmers, stand auf. »Mama?«, fragte er. »Mama!«

Der Mann war dabei, Eliza zur Tür zu schieben, und ignorierte den Jungen, als Marlowe plötzlich auf ihn losging. Er sah so klein aus. Sie konnte es fast in Zeitlupe sehen, wie er hochfasste und das Handgelenk des Mannes mit beiden kleinen Händen packte, als wolle er ihn aufhalten. Der Mann drehte sich, und für einen Moment – Eliza kam es lang vor, aber es kann nicht mehr als Sekunden gedauert haben – starrte er den Jungen an, zuerst überrascht, dann verwirrt. Dann verzerrte sich sein Gesicht in einen Ausdruck des Schreckens. Marlowe leuchtete. Der Mann ließ den Revolver fallen und öffnete den Mund, als wollte er schreien. Aber er schrie nicht.

Im Gerangel war Eliza gegen die Wand gefallen. Marlowes Gesicht war von ihr abgewandt, sie konnte ihn nicht sehen. Aber sie konnte den Arm des Mannes erkennen, da, wo der Junge ihn gepackt hatte, konnte sehen, wie der Arm begonnen hatte, Blasen zu werfen und zu schmelzen wie heißes Wachs. Sein Hals verdrehte sich seltsam, die Beine gaben nach – und dann sah es aus, als würde er irgendwie an sich selbst herunterfließen, kalt, schwer, dick wie Melasse. Sein grüner Anzug beulte sich an eigenartigen Stellen, und innerhalb weniger Momente hatte sich dieser kräftige Mann in bestem Alter in einen unförmigen Klumpen Fleisch verwandelt, das Gesicht eine schmerzverzerrte Grimasse: Weit aufgerissene Augen starrten aus dem geschmolzenen Etwas, das mal sein Kopf gewesen war.

Im Raum war es vollkommen still, Marlowe ließ das Handgelenk los. Das blaue Leuchten verschwand. Der Arm des Mannes ragte steif aus dem erkalteten Fleischmatsch.

»Mama?«, fragte Marlowe. Er sah zu ihr hinüber und begann zu weinen.

Das schäbige Zimmer war sehr kalt, sehr feucht. Sie ging zu ihm und umarmte ihn, so gut es mit den Handschellen ging. Sie spürte, wie er vor Angst zitterte, auch sie zitterte. Er vergrub das Gesicht an ihrer Schulter. Und die Gefühle, die in ihr hochkochten, waren stärker als alles, was sie je gefühlt hatte – der Schrecken, das Mitleid, die Liebe.

Aber sie hatte keine Angst, nicht vor ihrem kleinen Jungen.

In der Westentasche des Mannes fand sie die Schlüssel für die Handschellen. Sie zündete den letzten Rest Kohle in der Kohlenschütte an, wickelte Marlowe in ihre gute Decke, setzte sich mit ihm neben das Bett des Reverends und wiegte den Jungen in den Schlaf – der ruinierte Körper des Kopfgeldjägers auf dem Boden neben dem Fenster. Der Junge, erschöpft, schlief schnell ein. Brynt war immer noch nicht da; vielleicht würde sie bis zum Morgen arbeiten. Als Marlowe eingeschlafen war, rollte Eliza den verformten Leichnam in ihre andere Decke, stopfte den Revolver dazu und zerrte ihn mit großer Anstrengung zur Tür und die knarzende Treppe hinunter. Seine Hacken machten auf jeder Holzstufe einen dumpfen Knall. Auf der Vortreppe das Gleiche. Bumm. Bumm. Bumm. Stufe für Stufe, während sie die Leiche hinunter in die dunkle Gasse schleifte.

Diese Männer, wer auch immer sie waren, würden nicht aufhören, sie zu jagen. In Wapping, in Spitalfields, egal, wo. Andere Gesichter, aber egal, welches Alter, egal, welche Waffen, das ausgeschriebene Kopfgeld würde immer so hoch bleiben, dass keiner widerstehen konnte.

Eliza ging nicht wieder hinein. Sie dachte an Marlowe, den sie liebte, und sie wusste mit plötzlicher Klarheit, dass er bei Brynt viel sicherer wäre. Brynt, die sich in dieser Welt auskannte, die nicht von Kopfgeldjägern gesucht wurde, die davon gesprochen hatte, eines Tages nach Amerika zurückzukehren. Es kam ihr vor wie ein Traum. In Blackwell Court, zwei Straßen weiter, wartete ein Mann mit einem Bierglas in seiner Faust und einer Waffe in seiner Tasche. Und er würde noch lange wach bleiben. Sie wickelte ihr verdrecktes Halstuch noch fester um sich. Dann verschränkte sie ihre Arme vor der Brust und fasste mit den Händen ihre Ellbogen. Sie ging die nassen Pflastersteine hinab durch den Nebel und dann in die Straße. Ihr Herz war dabei zu brechen, aber sie erlaubte sich nicht, langsamer zu werden oder zurückzublicken zu dem gesprungenen Fenster ihres gemieteten Zimmers. Aus Angst vor dem, was sie dort sehen würde: die Silhouette einer kleinen Gestalt, in eine Decke gewickelt, die blasse Hand gegen das Glas gepresst.

Eine Landkarte aus Staub

1882

2

Kleine Feuer

Es war, als würden kleine Feuer in seinem Fleisch brennen. Das war es, was er versuchte, den Leuten verständlich zu machen. Dass es wehtat.

Sein Name war Charlie Ovid, und er war etwa sechzehn Jahre alt, schätzte der Richter. Und trotz regelmäßiger Peitschenhiebe, Schläge und Gewalttaten jeder Art, die er im Laufe seines kurzen Lebens hatte erleiden müssen, war nirgends auf seinem Körper auch nur eine einzige Narbe zu sehen. Sechs Fuß war er schon groß und hatte damit seine erwachsene Kör­pergröße wahrscheinlich erreicht, aber sonst hatte er noch den schwachbrüstigen Körperbau eines Jungen, die Muskeln an seinen Armen bestenfalls drahtig. Er selbst wusste nicht, warum sein Körper sich derart selbst reparierte, aber er glaubte nicht, dass es irgendetwas mit Jesus zu tun hatte. Und er wusste genug über diese Welt, um zu wissen: Es war besser, diese sonderbare Fähigkeit für sich zu behalten. Seine Mama war schwarz gewesen, sein Daddy weiß, und er lebte in einer Welt, die in ihm ein Monster sah.

Er konnte dem Gericht keine Angabe zu seinem Alter machen, erst recht nicht zum Monat seiner Geburt, aber er war klüger, als sie dachten, und konnte sogar ein bisschen lesen und seinen eigenen Namen in zögerlichen Buchstaben schreiben, wenn sie ihm dafür Zeit ließen. Geboren war er in London, England, aber sein Vater hatte von Kalifornien geträumt, von einer besseren Welt für seine kleine Familie. Vielleicht hätte er diese bessere Welt sogar gefunden, hätte er lange genug gelebt, um dort anzukommen. Aber er war in ihrem Wagenzug durch Texas gestorben. Charlie und seine Mutter waren damit auf sich allein gestellt. Die Münzen, die sie besaßen, hätten nicht bis zur Westküste gereicht, also versuchten sie es wieder zurück Richtung Osten, schafften es noch durch Louisiana hindurch, aber in Mississippi war Schluss. Dort waren sie nur zwei weitere Vagabunden in einem Land, das voll von Leuten wie ihnen war. Und als seine Mutter fünf Jahre später krank wurde und starb, hinterließ sie ihm nichts außer ihrem Ehering. Dieser Ring war aus Silber und hatte ein Wappen aus zwei gekreuzten Hämmern vor einer brennenden Sonne. Charlie, damals noch nicht einmal zehn Jahre alt, hatte sich diesen Ring seitdem oft angeschaut, ihn zwischen seinen Fingern im Licht der Laterne gedreht, sich dabei an den Geruch seiner Mutter erinnert, über seinen Vater gegrübelt, der ihr diesen Ring aus Liebe geschenkt hatte, und hatte sich dabei vorgestellt, wer er wohl gewesen war. Charlie hatte den Ring immer noch, er trug ihn gut versteckt bei sich. Keiner würde ihn ihm jemals wegnehmen.

Seine Mutter hatte es gewusst, das mit seiner Fähigkeit, schnell zu heilen. Sie hatte ihn trotzdem geliebt. Aber vor allen anderen Menschen versuchte er, es so gut er konnte geheim zu halten. Und das – mindestens so sehr wie die Selbstheilung an sich – hatte ihn überleben lassen. Er hatte die Arbeit im Fluss überlebt, südlich von Natchez, Mississippi. Er hatte seine Zeit in den dunklen Behausungen überlebt, die in eben der Stadt aus dem Boden geschossen waren, weiter in Richtung der River Forks Road. Aber jetzt, da er angekettet in der Dunkelheit eines ehemaligen Pausenraums einer Lagerhalle stand, war er sich nicht sicher, dass er auch das überleben würde. Alles, was er in seinem kurzen Leben gekannt oder verloren oder erlitten hatte, lief auf dieselbe einsame Wahrheit hinaus: Alle verlassen dich irgendwann. In dieser Welt hast du nur dich selbst.

Er trug weder Schuhe noch eine Jacke, sein selbst genähtes Hemd war steif von seinem eigenen Blut, die Hose war zerfetzt. Sie hielten ihn in der Lagerhalle gefangen, nicht im Gefängnis, weil sich die Frau des Sheriffs vor ihm fürchtete. Er war sich sicher, dass das der Grund war. Seit zwei Wochen waren seine Fußgelenke zusammengekettet und seine Arme mit Handschellen vor dem Körper gefesselt. An manchen Tagen kam der Deputy-Marshal mit anderen weißen Männern vorbei, Schlagstöcke und Ketten in ihren Händen. Dann stellten sie die Laterne auf den Boden – und in den irren Schatten, die das flackernde Licht in das Zimmer warf, prügelten die Männer dann auf ihn ein. Einfach nur aus Spaß. Um sich zu amüsieren. Um jedes Mal begeistert zu lachen, wenn sich die Wunden wieder schlossen. Aber obwohl er heilte: Das Blut war echt. Der Schmerz, den er fühlte, war echt. Der Schrecken, der ihn erfüllte, während er in der Dunkelheit lag und weinte, war echt.

Und wenn er dann die Prügel überstanden hatte, hatte er nichts, um sich abzulenken. Mit scheppernden Ketten tastete er sich in der fast vollständigen Finsternis von Wand zu Wand, vorsichtig bemüht, nicht den Eimer mit seinen nächtlichen Ausscheidungen umzustoßen. In seinem Fleisch brannten kleine Feuer, wo seine Wunden gewesen waren, das Gesicht war mit Tränen und Rotz zugekleistert. Seine Handgelenke waren so schmal, dass die Handschellen ständig abgefallen waren, bis der Sheriff ein vom Schmied maßgefertigtes Paar gebracht hatte. Die passten. Das einzige Möbelstück in dem Raum war eine Bank, die an verrosteten Ketten von der Wand hing. Wenn er dachte, dass es Nacht sein müsste, legte er sich manchmal darauf und versuchte zu schlafen.

Dort lag er auch an dem Tag, als er mehrere Stimmen von draußen auf der Straße hörte. Es war keine Essenszeit, so viel wusste er. Essen gab es nur zweimal am Tag, und dann war es immer der Deputy-Marshal, der es auf einem mit einem Tuch abgedeckten Tablett vorbeibrachte, direkt aus der Küche des Sheriffs, die Straße hoch. Der Deputy machte sich manchmal die Mühe, laut hörbar in das Essen zu spucken, bevor er es abstellte. Charlie hasste ihn. Er hasste und fürchtete ihn: seine beiläufige Grausamkeit, die Art, wie er Charlie einen Mischling nannte, sein raues Lachen. Aber am schlimmsten war sein Blick. Die Augen des Deputys machten Charlie Angst. Die Augen sagten, er, Charlie, sei nur ein Tier, er sei noch nicht mal ein Mensch.

Von draußen hörte er das Scheppern der Zylinderschlösser im großen Tor der Lagerhalle. Dann langsame, schwere Schritte von Stiefeln, Schritte, die immer näher kamen. Charlie stand auf, angespannt, ängstlich.

Er hatte einen Mann getötet. Einen weißen Mann. Zumindest erzählten sie ihm das. Es war dieser Mr. Jessup gewesen, der immer am Anlegeplatz des Flussdampfers herumstolzierte – von wo aus die Schiffe nach Süden Richtung New Orleans und nach Norden Richtung St. Louis ablegten – und seine Peitsche schwang, als wäre es immer noch 1860. Als hätte es den Bürgerkrieg nie gegeben, als wäre die Sklaverei nicht abgeschafft, als sei den Schwarzen nie die Freiheit versprochen worden. Der Mann, den er getötet hatte, hatte es verdient, davon war er überzeugt. Er fühlte keine Reue. Aber das Pro­blem war: Er konnte sich nicht daran erinnern, Mr. Jessup getötet zu haben. Er wusste, dass es passiert war, denn jeder bei der Anhörung hatte gesagt, dass er es getan hatte, sogar der alte Benji mit seinen traurigen Augen und zitternden Händen. Am helllichten Tag, ja, mein Herr. Auf der Holzplattform, ja, mein Herr. Charlie wurde damals gerade ausgepeitscht, wegen irgend­einer Lappalie, und es dauerte so lange, dass er spüren konnte, wie sich die ersten Schnitte schon wieder zu schließen be­gannen. Und als Mr. Jessup es auch sah und schimpfte und Charlie verfluchte, drehte sich Charlie panisch um, drehte sich zu schnell, so musste es gewesen sein, und stieß dabei mit Mr. Jessup zusammen, der Mann fiel auf den Steg und schlug dabei ungünstig mit dem Kopf auf, und das war’s. Aber als sie ihn dafür erschossen hatten, fing Charlie fast sofort einfach wieder an zu atmen. Die Patronen tropften aus seinem Körper, vor den Augen des Henkers. Und als sie ihn an einen Pfahl fesselten und ein zweites Mal abdrückten, konnten sie ihn trotzdem nicht totkriegen. Dann wussten sie nicht mehr, was sie mit ihm anstellen sollten.

Jetzt hatten die Schritte aufgehört. Charlie hörte das Kratzen und Klimpern der Schlüssel auf dem Schlüsselring, dann wackelte die schwere Tür mit ihren eisernen Schlössern. Ein Knüppel schlug gegen das Metall, der Knall hallte durch das Zimmer.

»Aufstehen!«, brüllte der Deputy-Marshal. »Du hast Besucher, Junge. Steh gerade.«

Charlie zuckte und drückte sich an die hintere Wand, spürte die kalten Ziegel in seinem Rücken. Er hielt sich die zitternden Hände vors Gesicht. Niemand besuchte ihn normalerweise. Nie.

Er atmete ein, hielt die Luft an, voller Furcht.

Die Tür schwang auf.

Alice Quicke, müde, raue Knöchel, müde von der Welt, stand im weißen Sonnenlicht vor der heruntergekommenen Lagerhalle in Natchez und stierte die steile Straße hinauf, während ihr Partner Coulton gemächlich auf sie zutrottete. Vier Nächte zuvor, in einer Gaststätte bei den Docks in New Orleans, hatte sie es für nötig befunden, die Nase eines Mannes mit der kupfernen Tresenkante bekannt zu machen, und nur Coultons Revolver und ein schneller Abgang hatten weiteres Blutvergießen verhindert. Manche Männer hatten wohl keinerlei Scheu, ihre Hände hinwandern zu lassen, wo auch immer diese hinwollten – etwa unter den Rock einer Frau. Alice hatte damit immer weniger Geduld, je älter sie wurde. Sie war jetzt über dreißig, hatte nie geheiratet und es auch nicht vor. Seit ihrer Kindheit hatte sie zum Leben nicht mehr gebraucht als ihren Verstand und ein bisschen Gewalt, und damit war sie zu­frieden. Hosen gefielen ihr besser als Tournüre und Korsagen, dazu trug sie einen langen Ölzeugmantel, wie ihn Nachtwäch­ter bevorzugten. Die langen Ärmel hatte sie über ihre Hand­gelenke zurückgerollt, an den breiten Schultern passte der Mantel wie angegossen. Er war mal schwarz gewesen, jetzt war er an vielen Stellen ausgeblichen und grau, die Silberknöpfe angelaufen. Ihr gelbes Haar war fettig und zottelig, sie hatte es selbst auf eine praktisch zu handhabende Länge geschnitten. Sie hätte fast hübsch sein können, mit ihrem herzförmigen Gesicht und den feinen Zügen, aber ihre Augen waren hart, und die Nase war vor Jahren gebrochen und schlecht gerichtet worden – außerdem lächelte sie nicht oft genug, um die Blicke der Männer einzuladen. Das passte ihr sehr gut. Sie war eine Detektivin, und es war schwer genug, ernst genommen zu werden, ohne dass ihr bei jeder Gelegenheit jemand die Hand küsste.

Coulton, immer noch ein Stück die Straße hoch, hatte keine Eile. Sie sah ihm zu, wie er lässig unter den dichten grünen Pappeln entlangspazierte und sich dabei mit seiner Melone Luft zufächelte, einen Daumen in die Weste gehakt. Alles um sie herum strahlte diese schäbige Stille aus, die für Städtchen am Fluss wie diese typisch war: Städte mit hübscher Architektur, alles erbaut auf den Rücken von Sklaven, schön wie eine giftige Blume. Coulton kam gerade vom Haus des Sheriffs, genauer gesagt, aus dem kleinen Gefängnisbau aus Ziegeln daneben.

Langsam fing sie an, diesen Job zu hassen.

Ihr erstes Waisenkind hatte sie letzten März in einem Wohnheim in der englischen Stadt Sheffield ausfindig gemacht. Das zweite verschwand von der Bildfläche, bevor sie es überhaupt nach Kapstadt, Südafrika, geschafft hatten. Alice fand stattdessen ein frisch ausgehobenes Grab: roter Kies, kein Gras, ein kleines Kreuz aus Holz. An einem Fieber verstorben, die Beisetzung hatte eine Frauenorganisation für Kriegsversehrte bezahlt. Coulton erzählte ihr von anderen Waisen, aus Oxford, Belfast, sogar Whitechapel. Im Juni waren sie und Coulton nach Baltimore gesegelt und hatten dort ein Mädchen aus einem Arbeitshaus abgeholt. Danach waren sie Richtung Süden gesegelt, nach New Orleans. Von dort hatten sie eine Fahrt auf einem Flussdampfer stromaufwärts gebucht. Und jetzt waren sie hier, in Mississippi, und suchten nach einem gewissen Charles Ovid, wer auch immer das war.

Mehr wusste sie über die Angelegenheit nicht. Man hatte ihr nichts außer dem Namen des Jungen mitgeteilt, dazu die Adresse des Gerichtsgebäudes von Natchez. So lief das. Sie stellte keine Fragen, sie legte einfach los. Manchmal gab man ihr nur einen Straßennamen oder eine Nachbarschaft, oder nur die Stadt. Es spielte keine Rolle. Sie fand die Waisen immer.

Coulton trug trotz der Hitze einen gelbkarierten Anzug, sein Backenbart stand ihm zerzaust vom Kiefer ab. Sein Kopf war oben fast kahl, aber das verbleibende Haar kämmte er immer über seine Glatze und musste deshalb ständig hinfassen, um es glattzustreichen. Er war der vielleicht verlässlichste Mann, den sie je gekannt hatte, beherzt und höflich, wie es ein guter Engländer aus der Mittelschicht zu sein hatte. Aber Alice hatte auch schon erlebt, wie er sich in Rage durch einen verrauchten Pub in Deptford mähte und dabei eine Schneise aus bewusstlosen Körpern zurückließ. Sie wusste: Sie sollte ihn nie unterschätzen.

»Er ist nicht hier«, sagte Coulton, während er sich näherte. »Sie halten ihn in einer Lagerhalle gefangen.« Er hielt seine Melone an ihrer Krempe und fächerte sich damit langsam Luft zu, tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Die Frau des Sheriffs wollte seinesgleichen nicht unter den anderen Gefangenen, wie es scheint.«

»Weil er schwarz ist?«

»Nein, nicht deswegen. Ich schätze mal, davon haben sie einige in ihrem Knast.«

Sie wartete.

»Ich werde mich mal mit dem hiesigen Richter zusammensetzen müssen, hören, was er zu sagen hat«, fuhr er fort. »Der Sheriff hat mir für abends ein Treffen angeleiert. Im juris­ti­schen Sinne ist der Bursche kein Eigentum, aber mein Eindruck ist, dass die Leute hier das etwas anders sehen. Soweit ich es verstehe, gehört er quasi der Bahnhofsgesellschaft.«

»Was hat er angestellt?«

»Einen Weißen getötet.«

Alice blickte auf.

»Aye. Irgendein Unfall auf der Werft, wo er gearbeitet hat. Ist mit einem Aufseher aneinandergeraten, der Mann fiel von der Plattform und stieß sich den Kopf. Tot, einfach so. Kein großer Verlust für die Welt, vielleicht. Sheriff glaubt nicht, dass es Absicht war. Aber er sagt auch, es ist ihm egal. Was passiert ist, ist passiert, aber es darf nicht wieder passieren. Und jetzt kommt’s. Der Bursche wurde schon vor Gericht gestellt und für schuldig befunden. Die Strafe wurde schon ausgeführt.«

»Ausgeführt …?«

Coulton breitete seine Hände aus. »Haben ihn erschossen. Vor sechs Tagen. Hat nicht gehalten.«

»Wie, nicht gehalten?«

Coulton blickte ruhig zurück in Richtung Knast, seine Augen verschwanden kurz im Schatten. »Na ja, der Bursche atmet noch. Schätz mal, das meinen sie damit. Die Frau vom Sheriff sagt, den Burschen kann man nicht verletzen.«

»Ich wette, das sieht er anders.«

»Aye.«

»Und deswegen haben sie ihn in eine Lagerhalle gesperrt. Weil sie nicht wollen, dass die guten Leutchen ganz aufgeregt werden.«

»Miss Quicke, sie wollen nicht mal, dass die guten Leutchen überhaupt davon wissen. Die offizielle Ansicht der Stadt Natchez ist, dass Charles Ovid schon vor sechs Tagen im Knast erschos­sen wurde. Der Bursche ist schon beerdigt.«

Kann man nicht verletzen. Alice blies ihre Wangen auf. Sie verachtete den kleingeistigen Aberglauben kleiner Städte, schon solange sie denken konnte. Sie wusste, diese Leute suchten nur eine Rechtfertigung, egal, welche, damit sie einen schwarzen Jungen weiter schlagen durften, der einen Weißen getötet hatte. Dieser Schwachsinn – von wegen keine Verletzungen – war dafür so gut geeignet wie jeder andere Quatsch.

»Und was wollen sie jetzt tun?«, fragte sie. »Ich meine, was würden sie tun, wenn wir hier nicht aufgetaucht wären mit dem Angebot, ihnen den Burschen abzunehmen?«

»Ich schätz mal, die würden ihn einfach beerdigen.«

Sie zögerte. »Aber wenn sie ihn nicht töten können …«

Coulton hielt schweigend ihren Blick.

Dann verstand sie. Sie würden ihn lebendig beerdigen. Sie ließ den Blick über seine Schulter hinwegwandern. »Dieses verfickte Kaff«, sagte sie.

»Aye.« Coulton folgte ihrem Blick mit zusammengekniffenen Augen, entdeckte nichts, blickte hoch in den wolkenlosen Himmel.

Zwei Männer kamen ihnen jetzt vom anderen Ende der Straße entgegen, in der sengenden Sonne nur als wabernde Silhouetten erkennbar. Sie waren zu Fuß, ohne Pferde, beide im Anzug, der größere hielt liebevoll eine Flinte vor der Brust, als wäre sie sein Baby. Der Sheriff und sein Deputy, schätzte sie. »Was würden Sie denen gern antun?«, fragte sie sanft.

Coulton setzte seine Melone wieder auf, drehte sich. »Genau dasselbe wie Sie, Miss Quicke«, sagte er. »Aber unsere Arbeitgeber würden das nicht gutheißen. Gerechtigkeit ist ein Eimer mit einem Loch im Boden, wie mein Vater früher sagte. Bereit?«

Alice rieb sich die Knöchel.

Sie hatte schon dreizehn Monate mit Frank Coulton zusam­mengearbeitet und war fast so weit, ihm zu vertrauen – zumindest in dem Maße, wie sie überhaupt einem anderen Menschen traute. Er hatte sie über eine Anzeige gefunden, die sie in der Times aufgegeben hatte. Er war die feuchten, schiefen Holzstufen ihrer Mietskaserne in Deptford hochgestiegen, die Hand mit der ausgeschnittenen Anzeige in der Tasche seines Chesterfield-Mantels, sein Atem dampfte in der Kälte wie Rauch. Er würde allzu gern, hatte er mit leiser Stimme erklärt, ein paar Nachfragen bezüglich ihres Leumunds anstellen. Ein gelber Nebel hatte sich damals draußen durch die verregnete Gasse gewälzt. Er habe Dinge gehört, fuhr er fort, habe gehört, dass sie von den Pinkertons in Chicago ausgebildet worden sei, dass sie in den East India Docks mit bloßen Fäusten einen Mann bewusstlos geprügelt hatte. Ob diese Berichte der Wahrheit entsprächen?

Wahrheit, hatte sie angewidert gedacht. Was sollte das Wort überhaupt bedeuten?

Wahrheit: Sie hatte sich in den Straßen von Chicago als Taschendiebin durchgekämpft, seit sie vierzehn war. Wahrheit: Ihre Mutter wurde in einem Irrenhaus für kriminelle Geistesgestörte gefangen gehalten, und sie hatte sie seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Sonst hatte sie keinerlei Familie. Sie war achtzehn gewesen, als sie in die falsche Tasche gegriffen hatte. Und die Hand, die dann ihren Arm packte, gehörte Allan Pinkerton, Privatdetektiv, Dienstleister der Eisenbahngesellschaften, Geheimagent im Dienste der Unionstruppen. Aber statt sie zur Polizei zu bringen, fand Pinkerton Gefallen an ihr und lud sie ein, mit zu seinen Büros zu kommen – und zu ihrer eigenen Überraschung ging sie hin. Er trainierte sie in der Kunst der verdeckten Ermittlung. Diese Kunst übte sie dann acht Jahre aus – und wer wissen wollte, ob sie gut darin war, der musste nur irgendeinen der zwei Dutzend Bastarde fragen, die irgendwo in einem Knast dahinvegetierten. Diese Mistkerle würden nur ausspucken und sich den Mund abwischen, aber schon der Hass in ihren Augen war ein unfreiwilliges Eingeständnis bezüglich der Qualität ihrer Arbeit. Aber als Pinkertons Söhne die Macht übernahmen, wurde Alice fallengelassen. Weil sie eine Frau war und damit zu gebrechlich und deshalb nicht geeignet für Detektivarbeit. Als William Pinkerton sie feuerte, schlug Alice mit ihrer Faust ein Loch in seine Bürowand.

»Deine verfickte Wand ist zu gebrechlich«, sagte sie zu ihm.

Aber danach bekam sie nur noch Aufträge von Rennbahnen an der Ostküste. Und als auch diese Jobs versiegten, kaufte sie sich ein Ticket für ein Schiff nach London, England – weil wohin sonst und warum nicht? Dort fand sie eine Stadt vor, in deren nebligen, gaslampenbeleuchteten Gassen es so vor Verbrechern, dunklen Gestalten und finsteren Halsabschneidern wimmelte, dass sogar die Dienste einer weiblichen Detektivin aus Chicago mit schwefelgelbem Haar und Fäusten wie Klopfhölzer auf eine hohe Nachfrage stießen.

Der Sheriff und sein Vize kamen die heiße Straße hinab, nickten höflich, als sie sich näherten. Der Vize pfiff vor sich hin, schlecht und schief.

»Mr. Coulton«, sagte der Sheriff. »Wir hätten gemeinsam herlaufen können. Und Sie müssen Mrs. …«

»Miss Quicke«, sagte Coulton und stellte sie vor. »Lassen Sie sich nicht von ihrem feinen Aussehen in die Irre führen, Gentle­men. Sie ist hier zu meinem Schutz.«

Das schien den Sheriff zu amüsieren. Der Vize, seine Flinte vor sich, musterte Alice wie ein fremdes Wesen, das der Fluss angeschwemmt hatte. Aber in seinem Blick lag keine Verachtung, keine Feindseligkeit. Er merkte, dass sie ihn beobachtete, und lächelte schüchtern.