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"Ganz nebenbei" ist Woody Allens weitgespannter Rückblick auf das eigene Leben und Werk. Er zeichnet die Stationen einer Karriere auf der Bühne, vor und hinter der Kamera und als Autor nach und gibt Auskunft über seine Jugend, über Familie und Freunde wie über die Lieben seines Lebens.
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Seitenzahl: 620
Woody Allen
Ganz nebenbei
Autobiographie
Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs, Hainer Kober, Andrea O'Brien und Jan Schönherr
«Ganz nebenbei» ist Woody Allens weitgespannter Rückblick auf das eigene Leben und Werk. Er zeichnet die Stationen seiner Karriere auf der Bühne, vor und hinter der Kamera und als Autor nach und gibt Auskunft über seine Jugend, über Familie und Freunde wie über die Lieben seines Lebens.
Woody Allen ist Autor, Regisseur und Schauspieler. Bekannt wurde er als Stand-up-Comedian. Allen lebt mit seiner Frau Soon-Yi und den beiden Töchtern Manzie und Bechet auf der Upper East Side von Manhattan. Er ist glühender Sportfan und Liebhaber des klassischen Jazz.
Für Soon-Yi, die Beste.
Sie fraß mir aus der Hand,
und plötzlich fehlte mir der Arm.
Wie Holden aus dem Fänger im Roggen habe ich eigentlich keine große Lust auf den ganzen David-Copperfield-Mist, aber in meinem Fall sind ein, zwei Dinge über meine Eltern vielleicht interessanter, als gleich mit mir anzufangen. Über meinen Vater, zum Beispiel: geboren in Brooklyn, als es da noch überall Farmen gab, Balljunge für die frühen Brooklyn Dodgers, Billard-Hai, Buchmacher, ein kleiner, aber tougher Jude in schnieken Hemden und mit zurückgegelter Lackfrisur wie in so einem klassischen Gangsterfilm. Keine Highschool, mit sechzehn in die Navy, Teil eines Erschießungskommandos in Frankreich, sie legten einen amerikanischen Matrosen um, der ein Mädchen aus dem Ort vergewaltigt hatte. Ein preisgekrönter Schütze, der den Finger immer gern am Abzug hatte und eine Waffe trug, bis er im Alter von hundert Jahren starb, mit einem vollen Silberschopf und Augen wie ein Adler. Eines Nachts im Ersten Weltkrieg wurde sein Kahn irgendwo vor der europäischen Küste von einer Granate getroffen und sank. Alle ertranken, außer dreien, die es schafften, kilometerweit durchs eisige Wasser bis zur Küste zu schwimmen. Er war einer der drei, die es mit dem Atlantik aufnehmen konnten. Um ein Haar wäre ich also nie geboren worden. Dann war der Krieg vorbei. Sein zu etwas Geld gekommener Vater verwöhnte ihn nach Strich und Faden, zog ihn schamlos seinen beiden unterbelichteten Geschwistern vor. Und mit unterbelichtet meine ich auch unterbelichtet. Als ich noch klein war, erinnerte seine Schwester mich immer an einen trotteligen Zirkusclown. Sein Bruder – weich, bleich, debiler Ausdruck – schlurfte durch die Straßen von Flatbush und verkaufte Zeitungen, bis er sich am Ende auflöste wie eine blässliche Oblate. Weiß, weißer, weg.
Dads Dad kauft seinem Lieblingsmatrosen also einen schicken Wagen, in dem mein Vater durchs Nachkriegseuropa düst. Als er nach Hause kommt, hat der Alte, mein Großvater, sich ein paar Nullen an den Kontostand gehängt und pafft Double Coronas. Er ist der einzige jüdische Handelsvertreter eines großen Kaffeeunternehmens, und mein Vater geht ihm hier und da zur Hand. Als Dad eines Tages ein paar Kaffeesäcke durch die Straße schleppt, kommt er just in dem Moment am Gerichtshof vorbei, als Kid Dropper die Vortreppe herabspaziert, ein bekannter Gangster seinerzeit. Dropper steigt in einen Wagen, und so ein Niemand namens Louis Cohen springt aufs Trittbrett und ballert vier Kugeln durchs Fenster, während mein Vater mit hängender Kinnlade danebensteht. Die Story hat er mir oft zum Einschlafen erzählt, und das war eindeutig spannender als Häschengeschichten von Beatrix Potter.
Derweil kauft mein Großvater, der vorhat, ein Ein-Mann-Konzern zu werden, eine Taxiflotte und ein paar Kinos, das Midwood Theater inklusive, wo ich dann große Teile meiner Kindheit damit verbringen sollte, vor der Wirklichkeit zu fliehen, aber dazu später. Erst mal musste ich geboren werden. Vor diesem Sonntagsschuss von kosmischem Ausmaß investierte Dads Dad allerdings wie im Rausch immer mehr Geld an der Wall Street. Und es ist wohl klar, wie das ausging. An einem wohlbekannten Donnerstag ging die Börse in den Sturzflug, und mein Großvater, der bisher in Saus und Braus gelebt hatte, war auf einmal bettelarm. Taxis weg, Kinos weg, die Kaffeebosse springen aus den Fenstern. Mein Vater, plötzlich selbst für seine Kalorienzufuhr zuständig, muss sehen, wo er bleibt; er fährt Taxi, leitet eine Billardhalle, fällt mit diversen krummen Geschäften auf die Nase und nimmt Wetten an. Sommers kriegt er Geld dafür, sich für den Mafioso Albert Anastasia um dubiose Pferderenngeschichten in Saratoga zu kümmern. Auch aus diesen Sommern in Upstate New York wurden später Gutenachtgeschichten. Mein Vater liebte dieses Leben. Schicke Klamotten, dicker Tagessatz, sexy Frauen, bis er irgendwie meiner Mutter über den Weg läuft. Rums, aus. Wie er je mit Nettie zusammenkommen konnte, ist so rätselhaft wie dunkle Materie. Die beiden passten zusammen wie Hannah Arendt und ein Gangsterboss. Sie waren uneins über alles außer Hitler und meine Schulzeugnisse. Aber trotz aller Wortgemetzel blieben sie siebzig Jahre lang verheiratet – um den anderen zu ärgern, vermute ich. Na ja, auf ihre Weise haben sie sich bestimmt geliebt, auf eine Weise, die sonst wohl nur ein paar Kopfjägern im Urwald von Borneo zugänglich ist.
Zu Moms Verteidigung muss ich festhalten, dass Nettie Cherry eine wundervolle Frau war: klug, fleißig, aufopferungsvoll. Eine treue, liebevolle, anständige Seele, wenn auch von, sagen wir, nicht gerade einnehmendem Äußeren. Wenn ich später manchmal sagte, meine Mutter sehe aus wie Groucho Marx, hielten alle das für einen Witz. In ihren letzten Jahren, bevor sie mit sechsundneunzig starb, litt sie an Demenz. Doch so umnachtet sie auch war, sie verlor nie ihr Talent fürs Nörgeln, das sie zu einer Kunstform erhoben hatte.
Dad blieb rüstig bis in seine Neunziger, niemals störte irgendeine Sorge seinen Schlaf. Oder ein ernsthafter Gedanke seinen Tag. Sein Motto war: «Lieber arm und gesund als reich und krank» – tiefsinniger als die gesamte Philosophie des Abendlands, kurz und prägnant wie ein Glückskeksspruch. Und er blieb gesund. «Ich hab nie was», prahlte er gern. «Ja, weil du zu dumm dafür bist», erklärte meine Mutter daraufhin jedes Mal. Mom hatte fünf Schwestern, eine unansehnlicher als die andere, wobei Mom die Unansehnlichste des Schwarms gewesen sein dürfte. Kurz gesagt: Freuds Ödipus-Theorie, laut der wir Männer alle unbewusst unsere Väter ermorden und unsere Mütter heiraten wollen, fährt, was meine Mutter betrifft, krachend an die Wand.
Es ist traurig, aber obwohl sie der viel bessere, verantwortungsvollere, ehrlichere, reifere Elternteil war als mein weniger moralischer, notorisch untreuer Vater, liebte ich ihn mehr. Das ging allen so. Vermutlich, weil Dad so ein liebenswerter Kerl war, warmherzig und offen, während sie keine Gefangenen machte. Sie allein hielt die Familie über Wasser, mit ihrem Büro-Job in einem Blumenladen. Sie führte den Haushalt, kochte das Essen, zahlte die Rechnungen, sorgte dafür, dass immer frischer Käse in den Mausefallen lag, während mein Vater Zwanziger abzwackte, die anderswo gebraucht wurden, und sie mir in die Taschen steckte, während ich schlief.
Die wenigen Male, bei denen er in all den Jahren mal keine Niete zog, wurden wir alle großzügig beteiligt. Ob Regen, ob Sonnenschein, Dad spielte täglich in der illegalen Lotterie, das war für ihn fast eine Art Gottesdienst. Egal, ob er mit einem Dollar oder mit hundert aus dem Haus ging, wenn er wiederkam, hatte er immer alles ausgegeben. Und wofür? Na, für Klamotten und andere Lebensnotwendigkeiten, schief rollende Trickgolfbälle zum Beispiel, mit denen er seine Kumpels bescheißen konnte. Aber er gab es auch für mich und meine Schwester Letty aus. Er verwöhnte uns so maßlos, wie sein Vater ihn verwöhnt hatte. Ein Beispiel: Eine Zeitlang kellnerte Dad abends in der Bowery, ohne Gehalt, nur gegen Trinkgeld. Trotzdem lagen jeden Morgen, wenn ich aufwachte – ich ging damals auf die Highschool –, fünf Dollar auf meinem Nachttisch. All meine Freunde bekamen ein wöchentliches Taschengeld von fünfzig Cent oder vielleicht einem Dollar. Ich kriegte fünf Dollar pro Tag! Und was habe ich damit gemacht? Ich ging essen, kaufte Zaubertricks und finanzierte meine Karten- oder Würfelspiele.
Ich war nämlich Amateur-Zauberer und ganz besessen von der Zauberei. Damals stürzte ich mich auf alles, was man allein tun konnte – Taschenspielertricks üben, Instrumente spielen oder schreiben –, weil ich so drum herumkam, mich mit anderen Menschen abgeben zu müssen, die ich ohne jeden erklärbaren Grund alle nicht leiden konnte und denen ich nicht traute. Ich sage «ohne jeden Grund», weil ich aus einer großen, liebevollen Familie kam, in der alle nett zu mir waren. Offenbar war ich eine Kellerassel. So saß ich also einsam zu Hause, übte Karten- und Münztricks, Kartenzinken, Falschmischen, Falschgeben, Kartentauschen und -verstecken. Für eine Assel wie mich war es kein weiter Weg vom Kaninchen aus dem Hut zum Erfolg beim Falschspielen. Mit der Betrüger-DNA meines Vaters in den Adern zockte ich bald alle beim Pokern ab, seifte meine nichtsahnenden Opfer ein, schüttelte Asse aus dem Ärmel und kassierte reihum das Taschengeld.
Aber genug von mir und meinen zwielichtigen Anfängen. Ich sprach von meinen Eltern und war noch gar nicht an dem Punkt, an dem Mom ihren kleinen Tunichtgut zur Welt brachte. Mein Vater stand auf der Sonnenseite des Lebens, und meine Mutter – an der alle Probleme des Daseinskampfes hängenblieben – war immer ernst und weder unterhaltsam noch interessant. Sie war intelligent, aber nicht gebildet, stolz auf ihren «gesunden Menschenverstand», wie sie oft selbst sagte. Ich fand sie zu streng und fordernd, aber sie wollte eben, dass aus mir «mal was wird». Sie hatte das Ergebnis eines IQ-Tests gesehen, den ich mit fünf oder sechs Jahren abgelegt hatte. Ich will hier keine Zahlen nennen, aber meine Mutter war beeindruckt. Man riet ihr, mich auf das Hunter College zu schicken, speziell für hochbegabte Kinder, doch die lange tägliche Zugfahrt von Brooklyn nach Manhattan war zu beschwerlich für meine Mutter und meine Tante, die mich abwechselnd in der U-Bahn begleiteten. Also steckten sie mich wieder in die Public School 99, eine Schule für minderbegabte Lehrer. Ich konnte Schulen generell nicht leiden und hätte höchstwahrscheinlich auch von Hunter nichts gehabt. Meine Mutter setzte mich jedenfalls ständig unter Druck; ich hätte doch so einen hohen IQ, wie konnte ich da so ein Blindgänger in der Schule sein? Ein Beispiel für mein schulisches Blindgängertum: Als ich an der New York University mein Studium anfing, mogelte ich mich in Spanisch in den Anfängerkurs, so als hätte ich es nicht jahrelang in der Schule gehabt. Und ich bin durchgefallen.
Wie dem auch sei, die Intelligenz meiner Mutter erstreckte sich nicht auf Kultur, und weder sie noch mein Vater, der in Sachen Bildung nie über Baseball, Kartenspielen und Cowboy-Filme hinauskam, gingen je mit mir in ein Theater oder ein Museum. Meine erste Broadway-Show sah ich mit siebzehn, Malerei entdeckte ich für mich, als ich beim Schuleschwänzen ein warmes Plätzchen brauchte, denn die Museen waren damals fast oder ganz umsonst. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass meine Eltern nie ein Theaterstück gesehen, eine Galerie besucht oder ein Buch gelesen haben. Mein Vater besaß überhaupt nur ein Buch: Die Gangs von New York. Es war das einzige Buch, in dem ich als Kind öfter mal blätterte, und es weckte in mir eine gewisse Faszination für Gangster, Kriminelle und Verbrechen. Mit Gangstern kannte ich mich aus wie die anderen Jungs mit Baseballspielern. Letztere kannte ich zwar auch, aber nicht so gut wie Gyp the Blood, Greasy Thumb Jake Guzik und Tick-Tock Tannenbaum. Oh, und außerdem kannte ich noch Filmstars, dank meiner Cousine Rita, die ihre Wände mit Farbfotos aus der Modern Screen tapezierte. Über sie zu schreiben spare ich mir aber noch ein bisschen auf, denn Rita war ein echter Lichtblick meiner Jugend und verdient ein wenig mehr Raum. Jedenfalls kannte ich Bogart und Betty Grable und wusste, wie oft Cy Young gewonnen, wie viele RBIs Hack Wilson in einer einzigen Saison erzielt und wer für Cincinnati zwei No-Hitter in Folge gepitcht hatte; aber ich wusste eben auch, dass Abe Reles zwar singen, jedoch nicht fliegen konnte, wie es mit Owney Madden zu Ende gegangen war und wieso Pittsburgh Phil Strauss am liebsten mit dem Eispickel mordete.
Neben den Gangs von New York bestand meine ganze Bibliothek aus Comic-Heften. Als Kind und Jugendlicher las ich nichts anderes. Meine literarischen Helden waren nicht Julien Sorel, Raskolnikow oder die Landeier von Yoknapatawpha County; es waren Batman, Superman, The Flash, der Sub-Mariner und Hawkman. Ach, und natürlich Donald Duck, Bugs Bunny und Archie. Leute, das hier ist die Autobiographie eines misanthropischen, ungebildeten Gangster-Fans; eines kulturlosen Eigenbrötlers, der vor dem Spiegel übt, unbemerkt ein Pik-Ass im Ärmel verschwinden zu lassen, um seine Freunde auszunehmen. Klar, irgendwann hauten mich auch Cézannes fleischige Äpfel und Pissarros verregnete Pariser Boulevards von den Socken, aber eben nur, weil ich die Schule schwänzte und an verschneiten Wintervormittagen ins Warme wollte. Mit fünfzehn hatten sie mich dann aber am Haken, Matisse und Chagall, Nolde, Kirchner und Schmidt-Rotluff, «Guernica» und der wilde, wandbreite Jackson Pollock, Beckmanns Triptychon und Louise Nevelsons schwarze Skulptur. Danach Mittagessen in der MoMA-Cafeteria und hinterher einen Filmklassiker unten im Vorführraum. Carole Lombard, William Powell, Spencer Tracy. Klingt doch lustiger, als sich von der unerträglich miesepetrigen Miss Schwab über den Stamp Act oder die Hauptstadt von Wyoming ausfragen zu lassen, oder? Es folgten die Lügen zu Hause, die Ausreden in der Schule tags darauf, die Mauscheleien, der Eiertanz, die gefälschten Entschuldigungen, das Auffliegen (mal wieder) und der Frust meiner Eltern. «Dabei hast du so einen hohen IQ.» So hoch ist der übrigens gar nicht, auch wenn die Stoßseufzer meiner Mutter einen glauben ließen, ich könnte die String-Theorie erklären. Man merkt es ja an meinen Filmen: Ein paar sind ganz unterhaltsam, aber bisher hat noch keiner meiner Geistesblitze eine neue Religion begründet.
Außerdem – und ich schäme mich nicht, das zuzugeben – las ich nicht gern. Im Gegensatz zu meiner Schwester war ich ein Faulpelz, hatte ich keinen Spaß an Büchern. Wieso auch? Radio und Kino waren doch viel spannender. Weniger anstrengend und viel lebendiger. In der Schule wurde einem Spaß am Lesen nicht gerade nähergebracht. Die Bücher und Geschichten waren langweilig, geistlos, steril. Niemand in diesen für Kinder handverlesenen Erzählungen konnte es mit Captain Marvel oder Plastic Man aufnehmen. Wie sollte ein lüsternes Bürschchen wie ich (Freuds Latenzphase habe ich ebenso ausgelassen wie den Ödipus-Komplex), das auf Gangsterfilme mit Bogart, Cagney und heißen Blondinen abfuhr, je für Das Geschenk der Weisen brennen? Schön, verkauft die Frau also ihr Haar, um ihrem Mann eine Kette für seine Taschenuhr zu schenken, und er verscherbelt die Uhr, um ihr schöne Kämme zu kaufen. Gelernt habe ich daraus nur, dass bei Geschenken Bargeld immer die bessere Option ist. Ich mochte Comics, trotz ihrer spärlichen Prosa, und als die Schule später mit Shakespeare ankam, trichterten sie uns den auf eine Weise ein, dass man sein Lebtag nichts mehr von Nachtigallen, Lerchen oder Dänemark hören wollte.
Jedenfalls fing ich mit dem Lesen erst am Ende der Highschool an, als meine Hormone richtig in Schwung kamen und mir zum ersten Mal die jungen Frauen mit dem langen, glatten Haar auffielen, die wenig Lippenstift und keine Schminke auflegten, schwarze Rollis, Röcke und Strumpfhosen trugen und in großen Ledertaschen ihre Ausgabe der Verwandlung mitschleppten, am Rand versehen mit Anmerkungen wie «Sehr wahr!» oder «Vgl. Kierkegaard». Aus irgendeiner fleischlichen Veranlagung heraus verlor ich mein Herz ausgerechnet an diesen Typ Frau, und wenn ich anrief, um eine um ein Date zu bitten, und fragte, ob sie ins Kino oder zum Baseball gehen wollte, und sie meinte, sie würde lieber Segovia hören oder das Stück von Ionesco sehen, gab es immer eine lange, peinliche Pause, bevor ich erst versprach zurückzurufen und dann hastig nachschlug, wer Segovia und Ionesco waren. Man darf wohl annehmen, dass diese Frauen eher nicht gespannt auf die nächste Ausgabe von Captain America warteten und auch nicht auf den neuen Mickey Spillane, den einzigen Dichter, den ich zitieren konnte.
Als ich dann endlich mit einer dieser reizenden Boheme-Kumquats ausging, war es für uns beide grauenhaft. Für sie, weil sie schnell merkte, dass sie mit einem ungebildeten Klotz festsaß, der offenkundig keine Ahnung hatte, auf welcher Position Stephen Dedalus spielte, und für mich, weil mir aufging, dass ich tatsächlich ein Kretin war, der sich, wenn er je diese ungeschminkten Lippen küssen oder diese Frau auch nur noch einmal wiedersehen wollte, literarisch mehr draufschaffen musste als das Rattennest. Anekdoten über Gangster und Baseballspieler genügten nicht. Ich würde doch mal einen Blick in Balzac, Tolstoi und Eliot werfen müssen, um mit den jungen Damen ins Plaudern zu kommen und sie nicht immer nur heimbringen zu müssen, weil sie urplötzlich Gelbfieber bekamen. In der Zwischenzeit hing ich in Dubrow’s Cafeteria rum, wo die Samstagabend-Rohrkrepierer sich gegenseitig bemitleideten.
Aber diese Fiaskos waren noch Zukunftsmusik. Jetzt, wo Sie einen kleinen Eindruck von meinen Eltern haben, will ich von meiner einzigen Schwester erzählen. Dann springe ich zurück und komme auf die Welt, damit die Geschichte richtig losgehen kann.
Letty ist acht Jahre jünger als ich. Kurz vor ihrer Geburt bereiteten meine Eltern mich selbstverständlich auf die falschestmögliche Weise auf das Ereignis vor: «Wenn deine Schwester erst mal da ist, dreht sich die Welt nicht mehr um dich. Die Geschenke kriegst dann nicht mehr du. Wir müssen uns um sie und ihre Bedürfnisse kümmern, glaub ja nicht, dass du je wieder im Mittelpunkt stehen wirst.» Einen anderen Achtjährigen hätte die Aussicht, zugunsten des Neuankömmlings aufs Abstellgleis geschoben zu werden, vielleicht erschreckt. Ich wusste aber, dass meine Eltern, so lieb ich sie auch hatte, absolute Pädagogik-Nieten waren, und ihre düsteren Prognosen erwiesen sich, wie erwartet, als Quatsch. Wahrscheinlich spricht es für die beiden und ihre selbstverständliche Liebe für mich, dass ich selbst bei diesem Kassandra-Auftritt genau wusste, dass sie mich und ihre Sorge um mein Glück und Wohlergehen niemals aufgeben würden. Und so war es auch.
Schon das erste Mal, als ich meine Schwester in ihrer Wiege sah, war ich hin und weg. Ich hatte sie lieb, zog sie mit groß, schützte sie vor den Reibereien zwischen meinen Eltern, die wegen Nichtigkeiten blitzschnell eskalieren konnten. Wer würde schon erwarten, dass aus einer Meinungsverschiedenheit über Gefilte Fisch eine Schlacht von homerischem Ausmaß wird? Ich spielte mit Letty, nahm sie oft mit, wenn ich meine Freunde traf. Die anderen fanden sie süß und schlau, und wir zwei haben uns immer blendend verstanden. Das erinnert mich an einen Briefwechsel mit Groucho Marx, mit dem ich mich dank Dick Cavett angefreundet hatte, von dem ich später noch erzählen werde. Ich schrieb Groucho nach Harpos Tod, und er schrieb mir zurück, Harpo und er hätten ihr Leben lang keinen ernsten Streit gehabt oder einander schlimme Wörter an den Kopf geworfen, und genau so war es auch bei mir und meiner Schwester, die heute meine Filme produziert.
Jetzt bin ich aber bereit für meine Geburt. Endlich komme ich auf die Welt. Auf eine Welt, in der ich mich nie wohlfühlen, die ich nie verstehen, nie für gut befinden und der ich nie verzeihen werde. Allan Stewart Konigsberg, geboren am 1. Dezember 1935. Eigentlich wurde ich am 30. November geboren, kurz vor Mitternacht, aber meine Eltern haben das Datum leicht verschoben, damit ich mit dem ersten Tag des Monats anfangen konnte. Genützt hat mir das nie was – ein riesiges Treuhandvermögen wäre mir schon lieber gewesen. Ich erwähne es auch nur, weil meine Schwester aufgrund einer vollkommen bedeutungslosen Ironie des Schicksals acht Jahre danach an exakt dem gleichen Datum auf die Welt kam. Von diesem erstaunlichen Zufall und zwei Dollar können Sie sich jetzt ein Eis kaufen. Obwohl meine Eltern in Brooklyn lebten, wurde ich in einer Klinik in der Bronx entbunden. Keine Ahnung, wieso meine Mutter sich so weit geschleppt hat, nur um mich zur Welt zu bringen. Vielleicht gab’s in der Klinik was umsonst. Jedenfalls schleppte sie sich nicht so bald zurück, sondern ist in der Klinik fast gestorben. Ein paar Wochen stand es Spitz auf Knopf, aber sie hat es geschafft – weil sie immer ausreichend getrunken hat, so ihre eigene Erklärung. Mein Vater als einziger Erziehungsberechtigter, das wäre eine schöne Bescherung gewesen. Wahrscheinlich hätte ich heute ein Vorstrafenregister, so lang wie die Tora. Dafür, dass ich zwei liebende Eltern hatte, wurde ich dann allerdings erstaunlich neurotisch. Warum, weiß ich auch nicht.
Ich war der Augapfel der fünf Schwestern meiner Mutter, der Stammhalter, der Liebling dieser süßen Klatschtanten. Ich musste nie auf eine Mahlzeit verzichten, hatte immer genug anzuziehen und ein Dach über dem Kopf, litt nie an einer ernsten Krankheit wie der Kinderlähmung, die damals grassierte. Ich hatte kein Down-Syndrom wie dieses Kind in meiner Klasse und war auch nicht bucklig wie die kleine Jenny oder von Haarausfall geplagt wie das Kind von den Schwartzens. Ich war gesund, beliebt, sehr sportlich, wurde immer als Erster in die Mannschaft gewählt, spielte Ball, war Läufer, und doch entwickelte ich mich irgendwie zu einem ängstlichen, nervösen emotionalen Wrack, das gerade so den Kopf über Wasser hält, menschenfeindlich, klaustrophob, abgeschottet, verbittert und pessimistisch bis in die Haarspitzen. Für manche Leute ist das Glas halb leer, für andere halb voll. Für mich war stets der Sarg halb voll. Von den tausend Stößen, die laut Hamlet unsers Fleisches Erbteil sind, konnte ich fast allen ausweichen, nur nicht Nummer sechshundertzweiundachtzig: fehlender Verdrängungsmechanismus. Meiner Mutter war das ein Rätsel. Bis zum fünften Lebensjahr wäre ich doch so ein netter, lieber, fröhlicher Junge gewesen, meinte sie, dann wurde ich plötzlich mürrisch, gemein, missmutig und niederträchtig.
Dabei gab es keinerlei Trauma, kein schreckliches Ereignis, das mich von einem sommersprossigen Strahlemann mit Angelrute und Pluderhose in einen chronisch unzufriedenen Rüpel verwandelt hätte. Meine persönliche Theorie baut darauf auf, dass mir mit ungefähr fünf Jahren die Endlichkeit allen Seins bewusst wurde und ich mir dachte, hoppla, so war das aber nicht ausgemacht. Ich hatte meiner Sterblichkeit nie zugestimmt. Da wollte ich doch lieber mein Geld zurück. Mit den Jahren wurde mir dann immer klarer, dass das Leben nicht bloß kurz ist, sondern obendrein auch sinnlos. Ich stieß auf dieselbe Frage wie der Ex-Prinz von Dänemark: Warum die Pfeil’ und Schleudern erdulden, wenn ich mir genauso gut die Nase anfeuchten und in eine Steckdose stecken kann und für immer verschont bleibe von Ängsten, Herzschmerz und dem gekochten Hühnchen meiner Mutter? Hamlet entschied sich dagegen, aus Angst vor Konsequenzen im Jenseits, aber ich glaubte an kein Jenseits, also warum sollte ich trotz meiner trostlosen Einschätzung der conditio humana und ihrer schmerzlichen Absurdität noch weitermachen? Ein logischer Grund fiel mir nicht ein, weshalb ich zu dem Schluss kam, dass wir Menschen einfach programmiert sind, uns gegen den Tod zu sträuben. Blut sticht Hirn. Gut, gibt es eben keinen logischen Grund, sich ans Leben zu klammern, aber wen interessiert schon, was der Kopf sagt? Das Herz sagt: Hast du Lola in dem Minirock gesehen? Wie sehr wir auch heulen, jammern und – oft ziemlich überzeugend – darauf bestehen, dass das Leben ein sinnloser Albtraum aus Leid und Tränen sei, wenn plötzlich ein Messermörder durch die Tür käme, würden wir nicht lange fackeln. Wir würden bis ans Ende unserer Kräfte mit ihm ums Überleben kämpfen. (Oder weglaufen, das wäre meine Option.) Es liegt ganz einfach in unseren Molekülen. Und wer bis hier gelesen hat, dem dürfte wohl klar sein, dass ich nicht nur kein Intellektueller bin, sondern auch eine Spaßbremse auf jeder Party.
Es ist übrigens wirklich erstaunlich, wie oft ich als «Intellektueller» bezeichnet werde. Das ist genauso großer Humbug wie das Ungeheuer von Loch Ness; in meinem Kopf gibt es kein einziges intellektuelles Neuron. Ungebildet und allem Bildungsbürgerlichen gegenüber gleichgültig, wuchs ich zum Prototyp des Taugenichts heran, der vor dem Fernseher lümmelt, ein Bier in der Hand, das Football-Spiel auf voller Lautstärke, ein Playboy-Centerfold mit Tesa an die Wand geklebt. Ich bin ein Barbar im ellbogenflickigen Tweedsakko eines Oxford-Dozenten. Ich habe keine Einsichten, keine hochfliegenden Gedanken, verstehe kaum ein Gedicht, das nicht mit «Rosen sind rot, Veilchen sind blau» anfängt. Allerdings habe ich eine schwarze Hornbrille, und ich behaupte: Diese Brille und mein Talent, mir Bildungsbröckchen anzueignen, die mir zwar zu hoch sind, die ich aber in meiner Arbeit unterbringen kann, um mich klüger wirken zu lassen, als ich bin, die halten dieses Märchen lebendig.
Gut, ich wuchs also in einer Blase auf, umsorgt von mehreren in mich vernarrten Frauen, Mom, meinen Tanten und vier liebenden Großeltern. Jetzt nur nicht den Überblick verlieren: Dads Dad, ehemals reich, ein Mann, der mit dem Schiff über den Atlantik fuhr, um in London ein Pferderennen zu sehen, und eine eigene Loge in der Oper besaß, ist inzwischen verarmt und kommt weiß Gott wie über die Runden. Seine Frau, ebenfalls Einwanderin, hat er geheiratet, damit sie beide ins Land konnten. Sie floh vor Pogromen aus Russland, er vor dem Militärdienst. Sie war ein hutzeliges Weiblein mit Diabetes, lebte mit Mann und Kindern in einer geschmacklosen Bruchbude, in der ein Klavier stand, auf dem nie jemand spielte. Aber sie liebte mich, steckte mir – arm, aber großzügig, wie sie nun einmal war – heimlich Zaster oder Zuckerstückchen aus der gelben Domino-Schachtel zu und verlangte dafür nur, dass ich sie ab und zu besuchte.
Auch meine Großeltern mütterlicherseits hatten mich lieb. Moms Mom, fett und taub, saß jeden Tag von früh bis spät am Fenster (rein optisch gehörte sie eher auf ein Seerosenblatt). Grandpa, aktiv, kraftstrotzend, eifriger Synagogengänger – und seine Freundlichkeit habe ich Assel ihm wie folgt gelohnt: Meine Freunde und ich hatten irgendwo ein gefälschtes Fünf-Cent-Stück aufgetrieben. Reinstes Blei. Aus Angst vor dem Knast trauten wir uns nicht, damit im Süßigkeitenladen um die Ecke zu bezahlen, also erklärte ich mich bereit, es meinem alten Grandpa unterzujubeln, der niemals etwas merken würde. Tat er auch nicht. Ich tauschte die Münze gegen fünf Pennys aus seinem Schnappgeldbeutel, und es war überhaupt nicht wie im Kino, wo der Alte kichert und genau weiß, was gespielt wird, aber dem Kind verschmitzt grinsend den Gefallen tut. Nein. Er wurde einfach übers Ohr gehauen. Ich zog ihm die fünf Pennys ab, ließ ihn auf der Bleimünze sitzen und kaufte mir Schokonüsse.
Fehlt noch der strahlende Regenbogen meiner Kindheit, meine Cousine Rita. Fünf Jahre älter als ich, blond, üppig und der vielleicht wichtigste Einfluss auf mein Leben. Rita Wishnick, ebenfalls Tochter eines aus Russland geflüchteten Juden namens Vishnetski, anglisiert zu Wishnick. Sie war hübsch, hatte der Polio ein leichtes Humpeln zu verdanken und mochte mich, sie nahm mich überall mit hin: ins Kino, an den Strand, in chinesische Restaurants, zum Minigolf, zum Pizzaessen. Sie spielte mit mir Karten und Monopoly. Sie stellte mich all ihren Freunden vor, Jungen wie Mädchen, allesamt älter als ich, und sofern ich irgendwie frühreif war, fanden sie das gut. Ich hing also mit ihnen rum, wurde ziemlich weltgewandt für so einen Knirps, und meine Kindheit machte einen großen Schritt voran.
Zwar hatte ich auch Freunde in meinem Alter, doch ich verbrachte viel Zeit mit Rita und ihrer Clique. Ihre Freundinnen und Freunde waren kluge, jüdische Mittelschichtskinder, aus denen später einmal Lehrer, Journalisten, Professoren, Ärzte und Anwälte werden sollten.
Aber zurück zum Kino, Ritas großer Leidenschaft. Nicht vergessen, ich bin fünf, sie ist zehn. Abgesehen davon, dass sie ihre Wände mit Farbfotos sämtlicher Stars und Sternchen Hollywoods tapezierte, ging sie regelmäßig ins Kino, was bedeutete: jeden Samstagmittag Double Feature, meistens im Midwood, mit ihren Freunden – und mit mir. Ich sah alles, was Hollywood hervorbrachte. Jeden Kassenschlager, jedes B-Movie. Ich wusste, wer mitspielte, erkannte die Gesichter, lernte die Neben- und Charakterdarsteller kennen, erkannte auch die Musik, zumal ich mit den aktuellen Hits sehr gut vertraut war, weil Rita und ich wahnsinnig viel Radio hörten. Wir hörten Make Believe Ballroom und Your Hit Parade. Damals lief das Radio überall, vom Aufstehen bis zum Einschlafen. Musik, Nachrichten … und was für Musik!
Popmusik hieß damals Cole Porter, Rodgers and Hart, Irving Berlin, Jerome Kern, George Gershwin, Benny Goodman, Billie Holiday, Artie Shaw und Tommy Dorsey. Da war ich also, überschwemmt von herrlicher Musik und Kinofilmen. Anfangs ein Double Feature pro Woche, dann, im Lauf der Jahre, immer mehr. Aufregend war das, am Samstagvormittag das Midwood zu betreten, wenn das Licht noch brannte und die wenigen Gäste sich Naschkram kauften und ihre Plätze einnahmen, während irgendeine Platte lief, um die Leute vom Meutern abzuhalten, bis es dunkel wurde. Harry James, «I’ll Get By». Die Lampenschirme waren rot, die Leuchten aus goldenem Messing, der Teppichboden auch rot. Endlich geht das Licht aus, der Vorhang teilt sich, und auf der Leinwand erscheint das Logo, bei dem, um ein etwas schiefes Bild zu verwenden, dem Herz in pawlowscher Vorfreude das Wasser im Mund zusammenläuft. Ich habe sie alle gesehen, jede Komödie, jeden Cowboy-Streifen, sämtliche Love-Storys, Piratenabenteuer und Kriegsfilme. Als ich viele Jahrzehnte später mit Dick Cavett in einer Straße vor dem leeren Grundstück stand, auf dem sich mal ein großartiges Kino befunden hatte, starrten wir beide ins Leere und dachten daran, wie wir dort früher gesessen hatten und in ferne Städte voller Ränke und Intrigen reisten, in von romantischen Beduinen umzingelte Wüsten, auf Schiffe, in Schützengräben, in Paläste und Indianerreservate. Bald würde hier ein Wohnblock stehen, und Rick’s Café war sowieso längst abgerissen.
Als Junge sah ich am liebsten Filme, die ich Champagner-Komödien nenne. Ich liebte Geschichten, die in Penthouses mit Privataufzug spielten, in denen Korken knallten und charmante Männer in geschliffenen Dialogen wunderschöne Frauen umgarnten, die wie dahingegossen auf dem Sofa lagen, in Garderobe, wie man sie heute für eine Hochzeit im Buckingham Palace anziehen würde.
Die Wohnungen waren groß, meist Maisonettes, und luftig eingerichtet. Beim Eintreten ging man fast immer gleich zu einer kleinen, praktischen Hausbar, um sich oder seinem Gast aus einer Karaffe einzuschenken. Alle pichelten ununterbrochen, aber kotzen musste nie einer. Niemand hatte Krebs, es regnete nie durchs Penthouse-Dach, und wenn mitten in der Nacht das Telefon klingelte, mussten die Leute hoch über der Fifth Avenue sich nicht wie meine Mutter aus dem Bett quälen und sich auf der Suche nach dem schwarzen Apparillo in der Dunkelheit die Knie anstoßen, nur um womöglich zu erfahren, dass irgendein Verwandter den Löffel abgegeben hat. Nichts da. Hepburn, Tracy, Cary Grant und Myrna Loy griffen einfach zu dem – meistens weißen – Telefon auf ihrem Nachttisch, und bei dem Anruf ging es nie um Metastasen oder Koronarthrombosen aufgrund jahrelangen Verzehrs von Räucherfleisch, sondern um überwindbarere Schwierigkeiten wie: «Bitte? Was soll das heißen, wir sind offiziell gar nicht verheiratet?»
Stellen Sie sich einen glühend heißen Tag in Flatbush vor. Das Thermometer steht bei fünfunddreißig, es ist drückend schwül. Klimaanlagen gibt es nicht oder eben nur im Kinosaal. Morgens löffelt man in einer winzigen Küche mit Linoleumboden und Wachstuch auf dem Tisch weichgekochte Eier aus einer Kaffeetasse. Im Radio läuft «Milkman Keep Those Bottles Quiet» oder «Tess’s Torch Song». Mom und Dad führen mal wieder eine ihrer dämlichen «Diskussionen», wie sie meine Mutter immer nannte, die regelmäßig kurz vor einer Schießerei endeten. Mal hatte sie saure Sahne auf sein neues Hemd gekleckert, mal hatte er sie blamiert, indem er seine Droschke vor dem Haus parkte. Gott verhüte, dass die Nachbarn rausfanden, dass sie einen Taxifahrer geheiratet hatte und keinen Obersten Bundesrichter! Mein Vater konnte mir nicht oft genug erzählen, dass er mal Babe Ruth kutschiert hatte. «Lausiges Trinkgeld», mehr fiel ihm zu der Baseball-Legende nicht mehr ein. Ich musste daran Jahre später wieder denken, als ich im Blue Angel als Komiker arbeitete und Sonny, der Türsteher, mich wissen ließ, was er von Billy Rose hielt, dem Broadway-Bonzen, der gern den dicken Max markierte. «Ein Vierteldollar-Typ», höhnte Sonny, der gelernt hatte, die Menschen nach der Höhe ihrer Trinkgelder einzuordnen. Ich witzle über meine Eltern, aber ich habe von beiden Dinge gelernt, die mir im Laufe der Jahrzehnte ausgesprochen nützlich waren. Von meinem Vater: Wenn du am Kiosk eine Zeitung kaufst, nimm nie die oberste. Von meiner Mutter: Das Etikett gehört nach hinten.
Jedenfalls, es ist ein heißer Sommertag, und man vertreibt sich den Vormittag damit, Pfandflaschen zurückzubringen, um zwei Cent pro Flasche zu verdienen, damit man später eine Karte im Midwood, dem Vogue oder dem Elm kaufen kann, den drei nächstgelegenen Kinos. Fünftausend Kilometer weiter, in Europa, werden unterdessen Juden ohne jeden Grund erschossen und vergast, von ganz normalen Deutschen, die das genüsslich tun und auf dem ganzen Kontinent dabei mühelos willige Helfer finden. Schwitzend schleppt man sich über die Coney Island Avenue, eine hässliche Straße voller Gebrauchtwagenhändler, Bestatter und Eisenwarenläden, bis die verheißungsvolle Schrifttafel vor einem auftaucht. Die Sonne steht jetzt hoch und gnadenlos am Himmel. Die Straßenbahn rattert, Autos hupen, zwei Männer vollführen den idiotischen Tanz von Aggression im Straßenverkehr, schreien sich an und heben die Fäuste. Der kleinere, schwächere läuft los, um sein Radkreuz zu holen. Man kauft eine Karte, tritt ein, und plötzlich sind Sonne und Hitze verschwunden, man befindet sich ein einer kühlen, dunklen Parallelwelt. Schön, sind es eben nur Bilder – aber was für welche! Die Besitzerin, eine ältere Dame in Weiß, führt einen mit der Taschenlampe zum Platz. Den letzten Nickel hat man für köstliches Zuckerwerk mit so herrlichen Markennamen wie Jujubes oder Chuckles verjuxt. Jetzt blickt man zur Leinwand auf, und zu Cole Porters oder Irving Berlins unaussprechlich schönen Melodien erscheint die Skyline von Manhattan. Und ich weiß, ich bin in guten Händen. Das wird keine Story über Farmburschen in Overalls, die früh aufstehen, um Kühe zu melken, und deren Lebensziel darin besteht, eine Auszeichnung auf der Viehausstellung zu gewinnen oder ihrem Pferdchen beizubringen, diverse Pferdeplackereien durchzustehen, um beim Gemeinde-Trabrennen zu siegen. Und zum Glück wird auch kein Hund irgendwen retten, keine Figur mit Südstaatenakzent einen Krug umklammern, um den letzten Tropfen rauszulutschen, und keine Schnur um den Zeh von irgendeinem Jungen gebunden, während er am Fischteich döst.
So ist es bis heute: Wird in der ersten Einstellung ein Fähnchen umgeklappt, bleibe ich im Kino sitzen, sofern das Fähnchen zu einem Taxameter gehört. Gehört es zu einem Briefkasten, bin ich weg. Nein, wenn meine Figuren aufwachen, gleitet der Vorhang im Schlafzimmer zur Seite und gibt den Blick frei auf New York mit seinen Hochhäusern und all den aufregenden Möglichkeiten. Gefrühstückt wird entweder im Bett, von einem Tablett mit Halter für die Morgenzeitung, oder an einem Tisch mit weißer Tischdecke und Tafelsilber, und das Frühstücksei wird im Eierbecher serviert, sodass man nur auf die Schale klopfen muss, um an das Eigelb zu kommen. Auf den Titelseiten findet sich kein Wort über Konzentrationslager, höchstens das Foto irgendeiner heißen Braut mit einem anderen Mann, was Fred Astaire völlig auf die Palme bringt, weil er in sie verliebt ist. Und wenn ein Ehepaar am Frühstückstisch sitzt, lieben die zwei sich auch nach all den Jahren noch – sie reitet nicht auf seinen Misserfolgen rum, er nennt sie nicht dumme Kuh. Auf den ersten Film folgt dann ein Thriller, in dem ein hartgesottener Privatschnüffler jedes Problem mit einem rechten Haken löst und zum Schluss mit einer Sahneschnitte abzieht, wie es sie auf keiner der Schulen, Hochzeiten, Beerdigungen und Bar Mitzwas gab, die ich jemals besucht habe. Übrigens war ich nie auf einer Beerdigung: Von der Wirklichkeit wurde ich sorgsam abgeschirmt. Die erste und einzige Leiche, die ich je zu Gesicht bekam, war die von Thelonious Monk, als ich auf dem Weg zum Abendessen bei Elaine’s einen Abstecher zu dem Bestattungsinstitut an der Third Avenue machte, wo er aufgebahrt lag. Ich wollte ihm die letzte Ehre erweisen, Mia Farrow war auch dabei, es war eins unserer ersten Dates. Sie war höflich, aber bestürzt, und sie hätte wohl da schon erkennen müssen, dass sie sich mit dem falschen Träumer einließ. Aber zu diesem ganzen Schlamassel kommen wir später.
Das Double Feature ist inzwischen vorbei, und ich verlasse die bequeme dunkle Zauberwelt des Kinos – zurück zu Coney Island Avenue, Sonne, Verkehr und der armseligen Wohnung in der Avenue K. Zurück in die Klauen meiner Erzfeindin, der Wirklichkeit. In meinem Film Der Schläfer gibt es eine Szene, in der ich mich – infolge einer fehlgeschlagenen Gehirnwäsche – für Blanche DuBois aus Endstation Sehnsucht halte. Ich spreche mit femininem Südstaatenakzent, und das soll möglichst lustig wirken, während Diane Keaton perfekt Marlon Brando imitiert. Keaton ist so eine, die immer erst jammert, sie könne «das doch gar nicht». Wie die Mädchen in der Schule, die ständig davon reden, wie schlecht der Test gelaufen ist, und dann kriegen sie doch immer nur Einsen. Natürlich war ihr Brando viel besser als meine Blanche, aber der Punkt ist, im wahren Leben bin ich Blanche. Blanche sagt: «Ich will nicht die Wahrheit, ich will Magie.» Und auch ich habe die Wirklichkeit immer verachtet und mich nach Magie gesehnt. Ich habe mich als Zauberer versucht, aber leider konnte ich nur Kartenspiele manipulieren, nicht das Universum.
Dank Cousine Rita lernte ich also das Kino kennen, die Filmstars und Hollywood mit seinem patriotischen Getue und seinen erstaunlichen Happy Ends, und während ich mich gegen alles wehrte, was die anderen mir beibringen wollten, von meinen Eltern bis zu meinen Spanischlehrern, als ich schon zwei Jahre Spanisch gehabt hatte, blieb Hollywood hängen. Modern Screen. Photoplay. Bogart, Cagney, Edward G. Robinson, Rita Hayworth – ihre Zelluloidwelt ging mir in Fleisch und Blut über. Das Überlebensgroße, das Oberflächliche, der falsche Glanz, von dem ich nicht ein einziges Bild bereue. Wer sich fragt, welche Figur aus meinen Filmen mir am ähnlichsten ist, muss sich nur Cecilia aus Purple Rose of Cairo ansehen.
Aber wo war ich stehengeblieben? Ach ja, bei meiner Geburt. Ich war definitiv geboren worden, und das drücke ich so aus, weil es mich dreimal um ein Haar gar nicht gegeben hätte. Das erste Mal war, als mein Vater es als einer von nur drei Männern ans Ufer schaffte, damals bei dem Schiffsuntergang. Das zweite hatte auch mit ihm zu tun, war aber weniger heroisch. Er war mit meiner Mutter, seiner Verlobten, bei einer Familienfeier. Ihre Familie. Ein Haufen anständiger, wenn auch etwas lauter Juden, bei denen alles immer irgendwie provisorisch wirkte. Ein Beispiel: Wir hatten einen Verwandten namens Phil Wasserman, auf den ich später noch zu sprechen kommen werde, weil er viel zu meiner Karriere beigetragen hat. Es gab aber noch ein zweites, ebenso wichtiges Familienmitglied mit genau demselben Namen, das für alle nur «der andere Phil Wasserman» war. Wann immer man von einem der beiden sprach, musste man klären, wen man meinte, und sagte beispielsweise: «Gestern hab ich in Manhattan zufällig den anderen Phil Wasserman getroffen.» Oder: «Ich brauch noch ein Geschenk für den anderen Phil Wasserman.» Als Kind fragte ich mich, ob er sich am Telefon wohl mit «Hi, hier ist der andere Phil Wasserman» meldete. Oder ob seine Frau sagte: «Das ist mein Mann, der andere Phil Wasserman.» Oder ob auf seinem Grabstein stehen würde: «Hier ruht der andere Phil Wasserman.» Aber so behelfsmäßig die Lösung auch war, sie funktionierte.
Jedenfalls, die Party: Eine Cousine prahlt mit ihrem neuen Diamantring. Viel Oh und Ah über Größe und Schönheit des Klunkers, auch wenn er ziemlich sicher nicht an den Hope-Diamanten herankam. Dann, eine Stunde später, ist das Ding verschwunden, Panik bricht aus. Das kostbare Juwel ist nirgendwo zu finden. Ich weiß nicht, wie der Fall genau gelöst wurde, aber jedenfalls wurde mein Vater als der Dieb entlarvt. Man kann sich die Fassungslosigkeit vorstellen. Augen wurden aufgerissen, Hände im Stil eines jiddischen Theaterstücks an die Köpfe geschlagen, und es ertönte ein kollektives «Oy vey», während man Gläser voll süßem Wein abstellte und mitten im Abnagen von Hühnerschenkeln erstarrte. Meine Mutter kippte natürlich aus den Latschen, und am selben Abend wurde die Hochzeit abgesagt. Erneut stand meine Geburt auf dem Spiel. Allein der Charme und die Eloquenz von Dads Vater, der sich mit Moms Vater zusammensetzte, konnten die Krise doch noch beilegen. Er versprach, dass sein bekloppter Schmalspurganovensohn so etwas nie wieder tun und auch alle sonstigen Betrügereien und Mafia-Wettgeschäfte an den Nagel hängen würde. Zu diesem Zweck half er meinem Vater, einen vor sich hin dümpelnden Lebensmittelladen in der Flatbush Avenue zu kaufen, und mit sorgfältiger Planung und viel harter Arbeit gelang es Dad, dessen Verluste in Rekordzeit zu verdoppeln. Inzwischen dürfte klar geworden sein, dass Dad nicht gerade ein großer «Ernährer» war, was über die Jahre immer wieder Gegenstand angeregter Unterhaltungen wurde, nach denen mein Vater wütend all seine Sachen in einen Koffer schmiss, nur um sie dann umgehend wieder auszupacken und zurück ins Bett zu kriechen.
Mein dritter Beinahezusammenstoß mit dem Nichtexistieren kam kurz nach meiner Geburt. Zumindest war ich jetzt schon mal da. Meine Mutter, die wie gesagt immer arbeiten gehen musste, um die vielen unrentablen Projekte meines Vaters aufzustocken, war gezwungen, mich Kindermädchen zu überlassen – fremde junge Frauen, oft täglich eine andere, je nachdem, wen die Agentur eben schickte. Meine Mutter erklärte ihnen, wo der Lebertran war, dass ich ausschließlich Kakao trank und dass sie mir kleinem Mistkerl bloß nicht über den Weg trauen sollten, egal wie süß ich aussah. Ich saß in einem Hochstuhl, heulte meistens, wenn sie ging, auch wenn ich bis heute nicht weiß, weshalb, wo sie doch so eine Spaßbremse war, nicht halb so lustig wie die Mütter in den Filmen. Jeden Tag mit einer Fremden allein zu bleiben, konnte jedenfalls ins Auge gehen, und tatsächlich wickelte eine von ihnen mich einmal in eine Decke ein und erklärte mir, wie leicht sie mich darin ersticken und samt Decke in den Müll werfen könnte. In der Decke wurde es ziemlich warm und stickig. Zu meinem Glück war sie eine Irre von der Sorte, die vor allem eine große Klappe haben, und keine von denen, die man, wenn sie ihre Medikation vergessen haben, später auf der Seite «Aus aller Welt» in Sträflingskleidung abgebildet findet.
Wie gesagt, ich hatte Glück, und dieses Glück ist mir mein ganzes Leben treu geblieben. Seine Macht lässt sich nicht hoch genug schätzen. Die Leute sprechen über meine Karriere und sagen, nur Glück könne das wohl kaum gewesen sein, aber sie haben keine Ahnung, wie oft ich definitiv bloß mehr Glück als Verstand hatte.
So gefährdet und gefährlich mein Debüt und meine erste Zeit auf Erden also waren, ich schaffte es lebendig in die Fourteenth Street, gleich an der Avenue J in Brooklyn. Viel weiß ich nicht mehr von diesen frühen Jahren, außer, dass ich mal ein Glas direkt aus einem Kuheuter gequetschter Milch trank (was ich prima finden sollte, aber nur warm und eklig war) und mich einmal bei einem Disney-Film von meiner Mutter losriss, um nach vorn zu laufen und die Leinwand anzufassen. Sonst gibt es keine weiteren öden Anekdoten zu berichten. Ach doch, offenbar kam ich schon mit Verfolgungswahn zur Welt. Ich erinnere mich noch an mein erstes Zuhause, eine Wohnung, die meine Eltern sich mit Onkel Abe und Tante Ceil, einer Schwester meiner Mutter, teilten. Ich glaubte damals, alle außer mir, einschließlich meiner Eltern, meiner Tante und meines Onkels, seien Außerirdische, die irgendwann die Masken abnehmen, ihre ekligen Gesichter offenbaren und mich in Stücke hacken würden. Wo dieses fürchterliche Hirngespinst herkam, weiß ich nicht. Meine Eltern, meine Tanten und mein Onkel waren, wie gesagt, alle immer gut zu mir.
Anfangs wohnten wir in einem herrlichen Viertel, dass ich aber erst schätzen lernte, als es nicht mehr existierte. Avenue J war eine Einkaufsstraße – damals war das nichts Besonderes, heute kommt es mir paradiesisch vor. Es gab tolle Süßigkeitenläden, Delis mit köstlichem Aufschnitt. Spielzeuggeschäfte, einen Eisenwarenladen, leckere China-Restaurants, einen Billardsalon und eine Bibliothek. Unzählige kleine Geschäfte verkauften Kleider, frischgebackenes Brot und Kuchen, und natürlich gab es da auch die Sauerkonservenverkäuferin, ein furchtsames Geschöpf, das wie der Minotaurus neben einem großen Fass mit Essiggurken thronte. Sie war sehr dick und trug wie eine Zwiebel Pullover über Pullover. Für fünf Cent griff sie in ihr Fass und holte eine Fünf-Cent-Gurke hervor, und nachdem sie jahrzehntelang unablässig ihre Hand in die Brühe getaucht hatte, war auch die schön sauer eingelegt. Als Kind fragte ich mich oft, wie viel Creme man wohl bräuchte, damit die Hand wieder normal würde. Außerdem gab es das Midwood, das Kino, das praktisch mein zweites Zuhause wurde. Wie schön das damals war, dass in meinem schäbigen kleinen Viertel so unzählige Kinos fußläufig erreichbar waren, und alle zeigten Double Features. Die ärmlicheren zeigten zwei Spielfilme, fünf Cartoons, eine wöchentliche Serie wie Batman und einen lustigen Kurzfilm, sofern er mit Robert Benchley war und nicht mit Joe McDoakes.
Leider lief ab und zu auch mal ein Reisebericht, in dem Mister Fitzgerald uns nach Ceylon oder Java, das von der Zeit vergessene Land, mitnahm, ob wir nun wollten oder nicht. Und manchmal wurde auch ein Preis verlost, zum Beispiel eine Papppistole, die laut knallte, wenn man sie auslöste. Aber der eigentliche Knaller war: All das bekam man für zwölf Cent. Ich war damals zwar noch klein, aber nicht zu klein fürs Kino. Die schickeren Kinos kosteten zwanzig Cent, dann fünfundzwanzig, schließlich fünfunddreißig. Als der Preis auf fünfundfünfzig Cent stieg, gab es im Viertel einen Aufstand wie auf der Potemkin. Irgendwer hat mir erzählt, inzwischen koste eine Karte manchmal zwanzig Dollar. Dafür hätte ich ganz schön viele Pfandflaschen zurückbringen müssen.
Es gab Kinos an jeder Ecke, und es verging kein Tag, an dem nicht irgendwo was Gutes lief – sofern man mit Crime Doctor oder Der Whistler leben konnte. Ich liebte sie alle. Und dann, eines Tages, änderte sich mein ganzes Leben, als mein Vater mich nach Manhattan mitnahm – für etwas «Vater-Sohn-Zeit», wie man heute sagen würde, wobei er wahrscheinlich nur in die Stadt musste, um ein paar Buchmacher auszuzahlen. Ich war da etwa sieben Jahre alt und kannte bisher nur Brooklyn.
Wir fuhren mit der U-Bahn bis zum Times Square, erklommen die Treppen und kamen an der Ecke Broadway und Forty-Second Street heraus. Ich war platt. Hier die Kinderperspektive: eine Million Menschen, viele davon Soldaten und Matrosen. Unzählige Kinos entlang des ganzen Broadways und zu beiden Seiten der Forty-Second Street. Tanzlokale. Elegante Frauen – fand ich jedenfalls. Straßenmusiker. Das große Schild der Kleiderfirma Bond, das Camel-Schild mit dem Kerl, der die riesigen Rauchringe bläst. Vertrocknete Gestalten, die ihre Zuhörer anschrien, am Donnerstag würde die Welt untergehen (wussten die mehr als ich?). Und wie konnten diese Papierpuppen ganz ohne Fäden durch die Luft tanzen? In der Forty-Second Street stand das Laugh Movie, mit den Zerrspiegeln vor der Tür, die ich nicht mal mit sieben lustig fand, und Hubert’s Flea Museum, in dem man offenbar einen Hermaphroditen bestaunen konnte, was immer das sein mochte. Wir schauten nur kurz rein, damit mein Vater mit dem Luftgewehr die Kerzen ausschießen konnte, wofür er etwa fünf Dollar springen ließ.
Mein Vater liebte alle Schusswaffen. An Schießbuden, die seinerzeit noch richtige Gewehre und Munition hatten, konnte er nicht vorbeigehen. Später besorgte er sich einen Waffenschein, das war angeblich notwendig, weil er Wertsachen bei sich trug. Damals vertickte er Schmuck und kam immer spät nach Hause, weil er abends noch kellnerte. Er brauchte keine Waffe und hat die Pistole nur zweimal gezogen: Einmal vertrieb er damit einen Unruhestifter aus einem Linienbus, und einmal gab er, als ihm um drei Uhr morgens allein in der U-Bahn-Station vier junge Männer entgegentraten, einen Schuss in den schwarzen Tunnel ab. Die Männer machten kehrt und liefen weg. Nicht, dass sie ihn angegriffen hätten, aber er spürte, dass sie es vorhatten. Na ja, vielleicht waren sie ja auch ein Barbershop-Quartett – dann hätte er sie natürlich vollkommen zu Recht verscheucht.
So spazierten wir den Broadway lang, vorbei an einem Kino nach dem anderen und an den Restaurants: McGinnis, Roth’s, Jack Dempsey’s, The Turf und Lindy’s. Wir gingen in die Spielhallen, aßen Würstchen, tranken Pina Coladas, sahen uns vielleicht noch einen Film an. Ich war so klein, dass ich eigentlich nur noch weiß, wie heftig meine Leidenschaft für Manhattan entbrannte. In den folgenden Jahren fuhr ich hin, wann immer ich konnte. Es gehört zu meinen glücklichsten Erinnerungen, wie ich oft die Schule schwänzte, an der Avenue J in Brooklyn in die Bahn stieg, in die Stadt fuhr, eine Zeitung kaufte, im Automaten-Café am Times Square Kaffee und Kirschkuchen futterte und Jimmy Cannons Sportartikel las. Dann machte das Paramount auf, und ich sah mir den Film und die Bühnenshow an, die Komiker fand ich jedes Mal phantastisch. Einmal ging ich ins Roxy, als Duke Ellingtons Band dort spielte, und wie der Film zu Ende war und das Orchester aufstand, um «Take the A-Train» anzustimmen, haute mich das völlig aus den Socken. Von da an war ich jedem Film verfallen, der in New York City spielte. Wie oft saß ich gebannt im Kinosessel und sah zu, wie ein langbeiniges Schnuckelchen von einer «Nachtklub in Manhattan»-Montage nach Hause kam, mit einem sündhaft teuren Pelz über der Schulter eine Lobby in der Fifth Avenue betrat und mit dem Fahrstuhl rauf in ihr Apartment fuhr, wo sie erst ins Bett ging, als zu den sanften Klängen von «Out of Nowhere» langsam der Morgen anbrach?
Zurück in Brooklyn, träumte ich von einem Leben in der Stadt jenseits des Flusses. Ich sehnte den Tag herbei, an dem ich in Manhattan eine Bar betreten und «das Übliche» bestellen konnte. Jahre später hatte Mort Sahl den genialen Einfall, wir sollten gemeinschaftlich das Kino verklagen, weil es unser aller Leben ruiniert hat. Aber ich schweife ab.
In unserer Geschichte bin ich noch immer in der Avenue J in Brooklyn, trage Strampelanzüge und wechsle endlich aus der Wiege in ein richtiges Bett. Ich erinnere mich tatsächlich noch an diesen kleinen Schritt hin zum Erwachsensein. Ich war ein dermaßen ängstliches Kind, dass ich schon in der ersten Nacht im neuen Bett meine «Schlafhaltung» entwickelte, bei der ich so auf der rechten Seite lag, dass ich blitzschnell aufspringen und reagieren konnte, falls aus meinem Schrank ein Werwolf kam. Aber wie hätte ich dann eigentlich reagiert? Gute Frage. Jiu-Jitsu war in jenen Kriegsjahren ziemlich beliebt, aber da musste der Werwolf einem erst mal die Hand geben, ehe man ihn über die Schulter werfen konnte. Wie dem auch sei, mit dem Alter kam die Reife: Heute weiß ich, wie albern das alles war und wie viel klüger es ist, einfach einen Baseballschläger griffbereit neben dem Bett zu haben.
Passend zu meinen realitätsflüchtigen Träumen vom feinen Leben in Manhattan, identifizierte ich mich im Kino – im Gegensatz zu anderen Jungs, die gern John Wayne, Gary Cooper oder Alan Ladd sein wollten – mit Reginald Gardiner, Clifton Webb und den eher verweichlichten Figuren. Oh, und ganz besonders mit Bob Hope; ich verpasste keinen seiner Filme oder Radioauftritte. Überhaupt liebte ich das Radio. Schön war auch, krank zu sein oder so zu tun, als ob, und nicht in die Schule zu müssen. Simulieren war allerdings nicht so einfach. Solange ich kein Fieber hatte, musste ich in die Schule, und da meine Mutter immer bei mir sitzen blieb, nachdem sie mir das Thermometer in den Mund gesteckt hatte, konnte ich es unmöglich an einer Heizung oder Glühbirne anwärmen, ohne eine Tracht Prügel zu kassieren. Aber krank zu Hause, wie war das schön: gemütlich liegen bleiben, das Radio neben dem Bett. Der Breakfast Club, Helen Trent, Luncheon at Sardi’s, Queen for a Day, Lorenzo Jones und seine Frau Belle, und ja, André Baruch war mit Bea Wain verheiratet. Dann, am späten Nachmittag, Hop Harrigan, Tom Mix, Captain Midnight und später am Abend The Answer Man, Baby Snooks und The Lone Ranger. Essen im Bett. Mein Vater, der von der Arbeit heimkam und zehn neue Comic-Hefte mitbrachte, alle für einen Dollar. Radio spielte damals im Alltag eine große Rolle, und rückblickend finde ich interessant, dass mein Vater, der alte Raufbold, am liebsten die Comedy-Sendungen hörte und keine Folge von Jack Benny, Charlie McCarthy und später Groucho verpasste.
Ich verschlang sie alle, durfte aber auf Anweisung unseres Hausarztes niemals Inner Sanctum oder andere vermeintlich zu gruselige Sachen hören. Dr. Cohen riet meiner Mutter, mir keine Filme mit Frankenstein oder Dracula zu erlauben, weil ich so nervös war und davon nur Albträume bekäme. Meine Mutter bezog sämtliche Erziehungsratschläge von ihm, während er mein Herz abhörte, mir auf die Brust klopfte, mit einem Gummihammer auf mein Knie schlug, Moms Klagen über ihren missratenen Sohn lauschte, mich psychoanalysierte, mir Hustensaft und Senfwickel verschrieb, und all das im Rahmen eines praktischen Hausbesuchs für zwei Dollar. Meine Mutter nahm seine Diagnosen so ernst, als kämen sie von Avicenna. Sie suchte medizinischen Rat – sowohl in körperlichen wie in seelischen Dingen – bei jedem, der nur das geringste bisschen mit der Welt der Medizin zu tun hatte. Bei dem Zahnarzt über der Bäckerei zum Beispiel, und nicht nur in Sachen Zahnfleisch und Backenzähne. Und beim Apotheker. Wer immer ein Rezept ausstellen oder Hühneraugenpflaster verkaufen durfte, hätte sie auch am offenen Hirn operieren dürfen. Wer ein echter Mediziner war, war in ihren Augen Gott. Der Name eines Arzts wurde so ehrfürchtig ausgesprochen wie der eines Rabbis.
Aber gut, ich blieb also gern krank im Bett, mit Radio, Comics und Hühnersuppe. Ich sollte anmerken, dass achtunddreißig Grad Fieber auch aus einem schon erwähnten Grund ein Glücksfall waren: Ich hasste, verabscheute, verachtete die Schule. Über die Public School 99 und ihre dummen, rückständigen Lehrer mit all ihren Vorurteilen gibt es nichts Gutes zu sagen. Ich spreche hier vom Anfang der Vierziger. Nach dem Krieg kamen ein paar bessere Lehrkräfte. Zu meiner Zeit aber waren die Lehrerinnen, gelinde gesagt, blauhaarige Irinnen, wie gemacht für einen Film über sadistische Nonnen, die ihre Schüler misshandeln. Einmal hat Miss Reid, die stellvertretende Schulleiterin, mich am Ohr eine Treppe raufgeschleift. Möge sie in der «Helle» schmoren. So hat sie das zu meinem Unbehagen wirklich ausgesprochen: «Du kommst in die Helle!» Das heißt Hölle, du fette Kuh, wollte ich rufen und sie dann postwendend dorthin schicken.
Die wenigen männlichen Lehrer waren liberale Juden und deutlich entspannter. Einer der besten wurde gefeuert, weil er etwas zu liberal war. Für das sogenannte «Singen», bei dem jede Klasse einen Song aussuchen und in der Aula vortragen musste, wählte er eine Jahrhundertwende-Nummer namens «Boomps-a-Daisy» mit dem Refrain: «Hands» (Tänzer klatschen gegenseitig in die Hände), «Knees» (Tänzer schlagen sich auf die Knie) und «Boomps-a-Daisy» (je zwei Tänzer drehen sich um und stoßen den Po aneinander). Den alten Jungfern fielen die Kinnladen runter, als hätte er vor der versammelten Schule einen Gangbang inszeniert. Das war nicht die übliche sterile Interpretation von «You’re a Grand Old Flag» oder «Bicycle Built for Two». In den Augen dieser verknöcherten Antisemitinnen war es die reinste Unzucht. Heute hat die Moralpolizei dafür die Vokabel «problematisch». Selbstverständlich saß der fehlgeleitete Hebräer-Pädagoge im Handumdrehen auf der Straße. Dass er auch noch linkslastige politische Meinungen geäußert hatte, machte ihn der Schulleiterin Miss Fletcher und ihren finsteren Lakaien nicht gerade sympathischer.
Aber das Problem war nicht nur der Hexenzirkel im Lehrerzimmer, sondern die gesamte elende Routine, die verhindern sollte, dass jemals einer etwas lernte. Man musste pünktlich da sein und in Reihen im Keller antreten oder, bei gutem Wetter, auf dem Hof. Dabei durfte kein Wort gesprochen werden – was für ein Blödsinn! Dann Abmarsch ins Klassenzimmer. Dort setzte man sich hin, «Füße flach auf den Boden, Augen gradeaus», und wehe, einer quatschte, machte einen Witz, gab ein Briefchen weiter oder tat sonst etwas, durch das die Tristesse menschlichen Daseins erträglich wurde. Lernen hieß auswendig lernen, und das wiederum hieß gar nichts lernen. Einmal die Woche war Schulversammlung. Erst kam der Fahneneid, mit der Hand auf dem Herzen, um sicherzugehen, dass wir uns nicht heimlich auf die Seite der Achsenmächte schlugen. Dann ein bescheuertes Gebet, das niemals erhört wurde. Nicht mal ein «Ich denke drüber nach» gab es zur Antwort. Gott schweigt, sagte ich immer, jetzt müssten nur noch unsere Lehrer die Klappe halten.
Dann kam die Musik, die langweiligste, die sich finden ließ. All der Cole Porter und Rodgers and Hart im Radio, all die schönen Gershwin-Nummern! Songs mit hübschen Melodien und aufregenden Rhythmen. «Anything Goes», «Lady Be Good», «Mountain Greenery», so viel, mit dem man hätte Spaß haben und echte Freude an Musik hätte lernen können. Aber nein, wir durften erst mal ein Trauerlied über die Gefallenen im Ersten Weltkrieg singen, wahrscheinlich, um uns so richtig in Stimmung zu bringen. Dann ging es mit Kirchenliedern weiter, «Recessional» oder «Abide With Me». An diesem Punkt überlegte ich, ob ich wohl nach Hause durfte, wenn ich einen epileptischen Anfall vortäuschte. Ich wollte einfach nur weg. Das Thermometer an die Heizung halten, schwänzen, nach Manhattan fahren, Muscheln bei McGinnis mampfen und Esther Williams beim Rückenschwimmen in Mexiko zugucken. Mir läuft es immer noch kalt den Rücken runter, wenn ich daran denke, wie wir bei Regen oder Schnee im Keller antreten mussten, wie unsere durchnässten Wollpullis mieften oder wie sofort die Mutter einbestellt wurde, wenn man mal einem Freund was zugeflüstert oder in der Garderobe heimlich ein Mädchen geküsst hat.
«Immer flirtet er mit den Mädchen», beklagte sich eine der keimfreien Drohnen bei meiner Mutter. Stimmt, ich mochte die Mädchen. Was sollte ich denn sonst mögen, Kopfrechnen? Euer seelenraubendes Geschwafel über das Thanksgiving der Pilgerväter? Kreidestaub aus Tafelschwämmen schlagen? Ein paar der transusigeren Kinder waren tatsächlich scharf auf dieses Vergnügen. Ich mochte die Mädchen. Schon im Kindergarten hatte ich keine Lust auf «Backe, backe Kuchen» oder «Reise nach Jerusalem». Ich wollte mit Barbara Westlake in der U-Bahn nach Manhattan fahren, sie mit rauf in mein Penthouse in der Fifth Avenue nehmen, trockene Martinis trinken (was immer das auch war) und sie im Mondschein auf meiner Terrasse küssen. Man kann sich denken, dass diese Idee weder beim Lehrkörper der Public School 99 gut ankam noch bei meiner Mutter und auch nicht bei Barbara Westlake, die sechs Jahre alt war, mit trockenen Martinis nichts anfangen konnte und heulte wie ein Schlosshund, als Bambis Mutter draufging. Egal, wie oft ich vorschlug, in die Astor Bar zu gehen, es wurde nie was draus. Natürlich spuckte ich nur große Töne. Zwar wusste ich, wie der Hase läuft, aber ich hätte niemals allein nach Manhattan fahren, die Astor Bar finden, durch die Tür gelassen werden und irgendetwas Härteres als einen Schoko-Shake bekommen können. Außerdem hätte ich kaum die fünf Cent für die U-Bahn zusammengekriegt, ganz zu schweigen von zehn für mich und die Dame.
Meine Mutter wurde so oft in die Schule bestellt, dass sie dort bald ein bekanntes Gesicht war. Die Kinder von damals grüßten sie noch auf der Straße, als sie längst erwachsen und verheiratet waren. Sie kannten sie von dem fürchterlichen Ritual, wenn wir gerade mal wieder irgendwelchen sinnlosen Quatsch lernten und sie auf einmal in der Tür stand. Der Unterricht wurde fünf Minuten unterbrochen, während die blauköpfige Spinatwachtel meiner Mutter auf dem Gang erzählte, wie ihr unbelehrbarer Herr Sohn mal wieder Judy Dors per Liebesbriefchen vorgeschlagen habe, auf einen Cocktail auszugehen. «Irgendwas stimmt nicht mit ihm», sagte meine Mutter dann, die immer sofort die Partei von jedem ergriff, der mich nicht leiden konnte. Richtig, mit mir stimmte etwas nicht. Ich mochte Mädchen. Ich mochte alles an ihnen. Ich verbrachte gern Zeit mit ihnen, ich hörte sie gern lachen, ich mochte ihre Anatomie, und ich wollte mit ihnen in den Stork Club gehen, statt im Werkunterricht zu sitzen, wo der Höhlenmännernachwuchs unseres Viertels wacklige Krawattenhalter bastelte.
Manche Lehrerinnen ließen uns nachmittags nachsitzen, aber immer nur die jüdischen Kinder. Wieso? Weil wir verschlagene kleine Wucherer waren, und wenn sie uns länger dabehielten, schafften wir es nicht mehr pünktlich zur Tora-Stunde. Die ahnten ja nicht, dass diese Strafe für mich, auf gut Jiddisch gesagt, eine Mitzwa war. Ich fand die Tora-Stunde genauso schrecklich wie die normale Schule, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens habe ich dieses Religionsding nie geschluckt. Alles Schmu, fand ich. Ich habe nie an einen Gott geglaubt und auch nicht, dass er praktischerweise die Juden am liebsten hatte. Ich liebte Schweinefleisch und hasste Bärte. Hebräisch klang mir viel zu kehlig. Und dann schrieb man es auch noch rückwärts, musste das denn sein? In der Schule, wo von links nach rechts geschrieben wurde, hatte ich es doch schon schwer genug. Und warum sollte ich für meine Sünden fasten? Für welche überhaupt? Barbara Westlake zu küssen, statt meine Jacke aufzuhängen? Meinem Grandpa einen gefälschten Nickel anzudrehen? Dieser Gott sollte sich mal nicht so anstellen, es gab schließlich Schlimmeres. Die Nazis steckten uns in Öfen. Sollte er sich doch zuerst mal darum kümmern. Aber wie gesagt, ich glaubte sowieso nicht an Gott. Und wieso mussten die Frauen in der Synagoge oben sitzen, obwohl sie hübscher und schlauer waren als die Männer? Diese haarigen Eiferer, die unten in Gebetsschals eingewickelt vor sich hin nickten wie Wackeldackel und sich bei einer imaginären Macht einschmeichelten, die ihnen, sofern es sie denn gab, all das Betteln und Geschleime mit Diabetes und Sodbrennen dankte.