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Eine Doppelmagnum-Flasche Spumante dominiert die kleine Theke. Dahinter, auf dem Fliesenboden, liegt die Winzerin. Unter ihren Locken breitet sich eine Blutlache aus. Wie hat sich Kommissar Georg Breitwieser aus Traunstein auf den Besuch der internationalen Fachmesse "Vinitaly" gefreut! Doch als er die Tote entdeckt, wird er selber verdächtigt. Und tatsächlich ist Georg tiefer in den Fall verstrickt, als es gut für ihn ist. Hinter der glanzvollen Kulisse von Verkostungspartys verstecken sich Kämpfe um Biozertifikate, tückische Pestizide und die Gunst zwielichtiger Großproduzenten aus China. Georg und sein Kollege Antonio Fontanaro müssen fast zu viele Spuren verfolgen – auf Weingütern im Soave, beim Olivenhain in Bardolino und am Ufer des Chiemsees.
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Seitenzahl: 447
Die Story
Eine Doppelmagnum-Flasche Spumante dominiert die kleine Theke. Dahinter, auf dem Fliesenboden, liegt die Winzerin. Unter ihren Locken breitet sich eine Blutlache aus. Wie hat sich Kommissar Georg Breitwieser aus Traunstein auf den Besuch der internationalen Fachmesse Vinitaly gefreut! Doch als er die Tote entdeckt, wird er selber verdächtigt. Und tatsächlich ist Georg tiefer in den Fall verstrickt, als es gut für ihn ist.
Hinter der glanzvollen Kulisse von Verkostungspartys verstecken sich Kämpfe um Biozertifikate, tückische Pestizide und die Gunst zwielichtiger Großproduzenten aus China. Georg und sein Kollege Antonio Fontanaro müssen fast zu viele Spuren verfolgen – auf Weingütern im Soave, beim Olivenhain in Bardolino und am Ufer des Chiemsees.
Marta Donatos fünfter Fall der Kommissare Fontanaro und Breitwieser.
Die Autorin
Marta Donato ist Germanistin und Kunsthistorikerin. Sie wurde in München geboren, wo sie heute in einem Medienunternehmen arbeitet. Ihre zweite Heimat ist der Chiemgau. Und ihren Urlaub verbringt sie mit ihrer Familie fast ausschließlich in Italien, einem Land, das wie kein anderes reich ist an Schauplätzen für spannende Romane voller Atmosphäre.
Dass es die Autorin versteht, Flair und Thrill meisterlich zu verbinden, wissen auch die deutschen TV-Zuschauer, seit das ZDF ihren (unter dem Pseudonym Cristina Camera erschienenen) Italien-Krimi Die Gärten der Villa Sabrini für das Hauptabendprogramm verfilmte.
Marta Donato
Gardasee-Gold
Fontanaros & Breitwiesers fünfter Fall
Ein Italien- & Bayern-Krimi
Für Elke,
meine unvergessene Freundin
1
Sonntag, 09.04.2017
Verona, 8.00 Uhr
»Hast du noch einmal darüber nachgedacht?«, fragte Elisabetta di Castello ihre Cousine. Doch Stefania schwieg, sah nicht mal von ihrer Arbeit auf. Sie schnitt ein Baguette in Scheiben und schichtete diese auf ein Tablett. Daneben hatte sie griffbereit eine Schüssel mit Lachscreme stehen. Sie und ihre Cousine waren gemeinsam in der kleinen Teeküche des Messestands, den sie für ihr Weingut Castello del Belvedere angemietet hatten, mit letzten Vorbereitungen beschäftigt.
»Warum sollte ich?«, fragte Stefania schließlich zurück, sah auf ihre Armbanduhr und signalisierte damit, dass sie sich beeilen musste, wenn sie die Brötchen und die anderen antipasti für die Weinproben bis zur Eröffnung der Vinitaly, der größten Weinmesse Europas, fertig haben wollte. »Ja, dein Bruder ist ein Ass am Computer! Sein Werbekonzept auf Instagram für unser Weingut lässt keine Wünsche offen. Das kann er wirklich ganz hervorragend. Dafür wird er bezahlt. Aber arbeiten im Weinberg kommt für ihn nicht in Frage. Da hat der Herr Ökonom zwei linke Hände. Schließlich will er sich seine sensiblen Finger, die hurtig über die Tastatur seines PCs tanzen, nicht mit popeliger Erde beschmutzen. Die heiße August- oder Septembersonne, die bei der Ernte auf seine polierte Glatze brennt, kann er nicht vertragen. Und ein Kundengespräch am Messestand ist entschieden unter seiner Würde.« Energisch schmierte Stefania die Lachscreme auf die Weißbrotscheiben, als könnten diese etwas für die Besonderheiten von Francesco di Castello. Wie oft hatten sie und ihre Cousine in letzter Zeit diese Diskussion geführt? Sie war es leid. Es gab keinen Grund, Francesco neben den Honoraren auch noch ein Gehalt zu bezahlen.
Das Weingut Castello del Belvedere war ein Familienbetrieb, seit drei Generationen in der Hand der di Castellos. Jede und jeder wurde gebraucht. Ausnahmslos! Es ging nicht, dass sich ein Familienmitglied zu schade für die grobe Arbeit war. Wo kämen sie denn da hin? Die Weinlese am PC digital zu lösen, das ging zumindest bis jetzt noch nicht.
»Außerdem ist Francesco zwischenmenschlich eine Null! Das muss ich dir, seiner Schwester, doch nicht erklären.« Endlich sah Stefania auf und blickte kritisch zu ihrer Cousine. Beide Hände in die Taschen der Jeans geschoben, reckte Elisabetta die rechte Hüfte linkisch nach vorne. Stefania fragte sich, ob sie es noch erleben würde, dass ihre Cousine mehr Rückgrat bekam, lernte, sich gegen ihren Egomanen von Bruder durchzusetzen. Oder ob sie irgendwann in der Lage sein würde, auch Repräsentationspflichten für das Weingut zu übernehmen. Sie hoffte es sehr, denn die Cousine würde bald noch mehr Aufgaben erledigen müssen. Elisabetta war im Gegensatz zu ihrem Bruder ein Arbeitstier, ohne Scheu vor Dreck und Schinderei. Aber auf ihr Äußeres achtete sie kaum. Das war ihr nicht wichtig. Doch darauf kam es natürlich auch an!
Stefania hatte insgeheim gehofft, der Messeeinsatz, zu dem sie die Cousine mühsam überredet hatte, würde diese dazu bewegen, endlich einmal ein Kostüm oder ein Kleid anzuziehen. Stefania konnte unmöglich alle wichtigen Kundengespräche, die hoffentlich ab neun Uhr für den Rest des Tages ihr Programm bestimmen würden, selbst führen. Da hatte sie auf die Unterstützung der Cousine gehofft. Denn Francesco war auch in dieser Hinsicht ein Totalausfall.
Der Umbau des Messestands hatte Unsummen verschlungen. Die Vinitaly bot nur einmal im Jahr die Chance, die Weine von Castello del Belvedere auch international bekannter zu machen. Und da war bella figura angesagt! Nur mit schönen Worten und einem guten Produkt machte man keine erfolgreichen Geschäfte. Es war nötig, sich selbst ins beste Licht zu rücken. Aber ihre Cousine erschien unverbesserlich in Cowboy-Stiefeln, Jeans und einer immerhin weißen Bluse. Auf ihre karierten Baumwollhemdchen hatte sie gottlob verzichtet. Stefania schraubte ein großes Glas mit schwarzen Oliven auf, kippte die Marinade in ein kleines Edelstahl-Spülbecken und die Früchte schließlich in eine Kristallschale. Dabei beobachtete sie aus dem Augenwinkel ihre Cousine. Elisabetta öffnete einen großen Weinkarton, der zwölf Doppelmagnum-Flaschen des Spumante Millesimato enthielt. Die 3-Liter-Flasche des Jahrgangssekts war 80 Euro wert und damit eines der teuersten Produkte des Weinguts. Nur der Recioto von 2013 hatte einen noch höheren Preis. Über neun Monate im Barriquefass ausgebaut, kostete der halbe Liter davon 35 Euro. Stefania hoffte, die wenigen Flaschen dieses einzigartigen Dessertweins, eine Spezialität der Soave-Region, an die Geschwister Wong aus der Provinz Shandong verkaufen zu können. Sie erwartete die Chinesen am nächsten Abend zur großen Tasting-Party auf dem Weingut. Bis dahin lag noch eine Menge Arbeit vor ihr. Nur gut, dass ihre Tante Renata, die Mutter von Elisabetta und Francesco, eine hervorragende Köchin war und ihr das kalte Buffet für dieses Ereignis abnahm. Wieder beobachtete sie die Cousine, die nun mit jeder Hand eine der großen Doppelmagnums am Flaschenhals festhielt.
»Wo willst du denn mit dem Spumante hin?«
Elisabetta beugte sich über den Tresen nah zu ihr und sagte spitz: »Was glaubst du wohl?«
2
Verona, 9.00 Uhr
Ein laues Lüftchen wehte durch die Altstadt von Verona und verbreitete Frühlingsgefühle. Georg Breitwieser stand neben dem Eingang des Hotels Europa, unweit der Piazza Brà. Er hielt sein Gesicht in die Sonne und freute sich über die unverhoffte Wärme auf seiner Haut. Am Brenner hatte es am Nachmittag zuvor noch geschneit. Es grenzte fast an ein Wunder, dass Italien immer wieder mit schönem Wetter seine Besucher begrüßte. Georg hatte sich ein Taxi bestellt und wartete nun schon einige Minuten darauf. Und so hatte er erneut Zeit, über seine Entscheidung nachzugrübeln. Gleichzeitig fragte er sich, warum er nicht unbeschwert das machen konnte, wonach ihm der Sinn stand. Warum fühlte er sich zusehends unwohl in seiner Haut? Zu Hause, in Chieming am Chiemsee, hatte sich das alles gut und richtig angefühlt. Vor allem deshalb, weil seine Mama, Katharina Breitwieser, so sichtbar gegen seine Reise gewesen war.
Gesagt hatte sie nichts. Ihn stattdessen nur angesehen aus ihren wissenden, blauen Augen, als er mit seinem Trolley in der Diele stand, um sich von ihr zu verabschieden. Ihr Blick hatte Bände gesprochen, war deutlicher ausgefallen als jeder geäußerte Widerspruch. Sie unterstellte, dass er seinen Kurzurlaub in Verona und den Besuch der Vinitaly dazu nutzen wollte, seine alte Liebe Stefania di Castello zu treffen. Die junge Frau verkörperte für seine Mutter eine Gefahr! Nichts weniger befürchtete Katharina Breitwieser, als dass die Winzerin ihr den Sohn nach Italien verschleppte.
Eine dunkle Wolke schob sich vor die Frühlingssonne und mit einem Mal war die laue Luft wie weggeblasen. Georg fröstelte in seinem neuen Leinensakko, das er sich rasch auf der Anreise in Bozen gekauft hatte. Wo blieb nur das verdammte Taxi? Auch sein Schuhwerk, neue Schnürer aus Wildleder, erstanden bei seinem Lieblingsschuster in den Laubengängen der Südtiroler Provinzstadt, waren eher für sommerliche Temperaturen geeignet. Seine freudige Urlaubslaune, die er noch vor wenigen Minuten in sich gespürt hatte, drohte zu schwinden. Und vor allem, das gestand er sich ein, beschäftigten ihn Zweifel am wahren Zweck seiner Reise und die dabei alles entscheidende Frage, ob er Stefania di Castello auf der Vinitaly an ihrem Stand treffen sollte. Vor seiner Mutter hätte er diese Bedenken niemals zugegeben. Aber jetzt holten sie ihn mit Macht ein. Endlich hielt das Taxi neben ihm am Straßenrand.
»Zur Fiera bitte!«
Der Fahrer nickte und gab Gas, um nur wenige Augenblicke später im Stau zu stehen. Nicht nur Georg wollte zum Messegelände. Hunderte andere ebenso. Ihm schwante Übles. Er würde in den Messehallen nicht allein sein, so viel stand fest. Der Blick aus dem Autofenster genügte, um seiner Vorfreude einen weiteren Dämpfer zu verpassen. Eine regelrechte Blechlawine – in drei Spuren – wickelte sich um die Porta Nuova. Der Platz mit dem Tor aus dem 16. Jahrhundert war ein Verkehrsknotenpunkt. Es stand strategisch wenig günstig zwischen der Altstadt und der Ausfallstraße Richtung Verona Sud, der Auffahrt zur Autobahn, die nach Venedig oder zum Brenner führte. Autodächer, soweit das Auge reichte. Alle wollten zum Messegelände, das an dieser meistbefahrenen Straße der Stadt lag.
Georg schloss die Augen. Aus dem gemütlichen Schlendern durch die Messehallen würde nichts werden. Und die Idee, Stefania mit einer netten Plauderei, einem kurzen Hallo von Kundengesprächen abzuhalten, war eine Schnapsidee von ihm, die er am besten gleich begrub. Er wusste aus leidvoller Erfahrung, dass Kunden immer Vorrang bei ihr hatten. Das Geschäft war für sie das Wichtigste. So wie für ihn die Toten. Das hatte sie ihm auch vorgeworfen, dem Hauptkommissar der Mordkommission Traunstein. Ihre Beziehung war nicht ohne Höhen und Tiefen gewesen. Eine grundlegende Meinungsverschiedenheit hatten sie heftig ausgetragen und schließlich hatte seine Freundin ihn einfach in der Pasticceria Flego sitzen lassen und war davongestürmt. Seither hatten sie sich nicht mehr gesehen oder gesprochen. Eineinhalb Jahre war das nun her. Warum also die alte Geschichte wieder aufwärmen? Das hatte doch keinen Sinn! Er schlug die Augen auf und schaute auf die Hausfassaden, die im Schritttempo vorbeizogen. Abbröckelnder Putz und blinde oder eingeschlagene Fensterscheiben einer alten Fabrikanlage waren kein Renommee für die reiche Stadt Verona. Es gab gerade im Messeviertel noch viele Schandflecke, die man als Tourist, wenn man von der Autobahn Richtung Altstadt fuhr, am besten ausblendete.
Georg wollte die fünf Tage, die er sich Urlaub genommen hatte, nach Strich und Faden genießen und allein, unabhängig und frei unterwegs sein. Nicht einmal seinem Spezl, Commissario Antonio Fontanaro von der Mordkommission hier in der Stadt, hatte er Bescheid gegeben. Er war als Privatmann unterwegs, hatte keine Lust auf Verbrechen und Mörder, auf Ermittlungen, die ihn Tage und Nächte beschäftigten, und schon gar nicht auf neugierige Fragen. Toni und er hatten schon einige Mordfälle gemeinsam gelöst. Doch jetzt wollte er keine Pläne machen, sondern sich Zeit für sich selbst nehmen. Wann hätte er sich jemals einen solchen Luxus gegönnt?
Das Taxi hielt vor dem Eingangsportal zu den Messehallen. Trauben von Besuchern stauten sich vor den Glastüren. Georg waren Menschenmassen zuwider und deshalb wäre er am liebsten umgekehrt. Er seufzte, drückte dem Taxifahrer einen 20-Euroschein in die Hand und stieg aus. Eine undurchdringliche Wand aus Körpern, angetan mit dunklen Anzügen und Kostümen, baute sich vor ihm auf. Seine Erfahrungen als Skifahrer am Lift konnte er sich jetzt zu Nutze machen. Er ging ganz nach rechts außen und überholte einen Teil der Menge seitlich. Die meisten waren bereits in Gespräche vertieft und achteten nicht darauf, ob sich jemand an ihnen vorbeischob. Georg wollte das Manöver nicht übertreiben und blieb stehen, als er zwischen zwei Rücken die Einlasstüren wenige Meter vor sich sehen konnte.
Einen Lageplan des Messegeländes hatte er sich bereits im Internet gesucht und ausgedruckt. Diesen zog er jetzt aus der Innentasche des Jacketts hervor. Der Messestand des Weinguts Castello del Belvedere lag im rechten hinteren Drittel der Messehallen ganz außen. Vermutlich gab es für Aussteller einen eigenen Eingang, der über eine Seitenstraße zu erreichen war. Ihm aber blieb nichts anderes übrig als zu warten, bis sich die Tore öffneten. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es in wenigen Minuten soweit sein würde. Er starrte seine Schuhspitzen an und gab es auf, sich weiter mit Fragen herumzuplagen, die er schon in Chieming vor der Abreise für sich beantwortet hatte.
Er brauchte sich doch nichts vorzumachen. Das Treffen mit Stefania war der Dreh- und Angelpunkt seines Messebesuchs, aber er sollte es rasch hinter sich bringen, wollte er nicht seinen Urlaub mit unnötigem Hinauszögern ruinieren. Wer wusste schon, wie es verlief? Anschließend würde er den Kopf frei haben und könnte sich unbeschwert den Genüssen der Messe hingeben.
Unmerklich begann sich die Menschenmenge vor ihm zu bewegen. Sie schob ihn mit sich und durch die Glastüren in die große Vorhalle. Aufmerksames Messepersonal stand an den Drehkreuzen und wartete auf die Besucher. Sein Fachbesucher-Ticket, das auf den Namen ›Fabio Barone‹ ausgestellt war, wurde registriert und entwertet. Dann spülten die Besucher Georg mit sich in den rechten breiten Messegang. Er hastete an den ersten Messeaufbauten entlang. Regale mit Wein- und Sektflaschen säumten den Weg. Vitrinen mit Destillaten in Glasflaschen verschiedenster Formen und Größen luden zum Verweilen ein. Doch Georg nahm sich keine Zeit für diese Köstlichkeiten. Die hob er sich für später auf. Vorsichtshalber blieb er kurz stehen, konsultierte seinen Lageplan und sah sich um. Der Stand von Castello del Belvedere lag wenige Meter vor ihm. Einen Moment wollte er verschnaufen und seinen Puls, so gut es ging, unter Kontrolle bringen. Die Stände, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befanden, gehörten alle zum Weinanbaugebiet Soave. Klangvolle Namen von Winzern wie Coffele, Gini oder Pieropan prangten gut lesbar an den Wänden und den Tresen, die die Messeboxen voneinander trennten. Am Stand des Weinguts Castello del Belvedere sprach eine Frau eindringlich auf einen Mann im dunklen Anzug ein. Sie hatten bereits vier Gläser vor sich stehen und diskutierten angeregt, vermutlich über die Qualität der grünlich bis strohgelb schimmernden Flüssigkeiten und über deren Preise.
In der Frau erkannte Breitwieser Elisabetta di Castello, die Cousine von Stefania. Er hatte sie einmal bei einem gemeinsamen Barbesuch kennengelernt. Ganz sicher würde ihn Elisabetta nicht wiedererkennen. Das Zusammentreffen lag Jahre zurück. Zögernd näherte er sich dem Stand. Die Vorderwand rechts neben dem Tresen bestand aus einem von oben bis unten gut gefüllten Regal aus hochwertigem Pinienholz. Die Regalböden waren jeweils mit ein und derselben Weinsorte bestückt: Soave Classico, Soave Classico Superiore und Recioto. Im unteren Drittel fiel eine Reihe mit dunkelgrünen Olivenölflaschen auf. Ein elfenbeinfarbiges Etikett mit Olivenzweig und Goldschrift ließ keinen Zweifel daran, dass der Inhalt exklusiv und hochpreisig war. Stefania besaß neben den Weinbergen auch einen größeren Olivenhain in Bardolino am See, wenn Georg sich richtig erinnerte. Uralte Bäume standen dort, seit Generationen gepflegt und gehegt. Das olio extravergine vom Gardasee galt allgemein als besonders hochwertig und gesund. Die Region besaß in Cisano eine eigene Olivenmühle mit Museum und machte damit erfolgreich Werbung. Die Touristen pilgerten in Scharen dorthin und kauften in Urlaubslaune fleißig ein.
Die unterste Regalreihe, die Georg jetzt in Augenschein nahm, war dem Spumante vorbehalten. Schwere Glasflaschen in dunklem Braun enthielten den italienischen Sekt, den Georg besonders als Aperitif schätzte. Er griff gerade nach einem der Exemplare, als ihn jemand ansprach.
»Ciao, Giorgio, welche Überraschung!« Elisabetta war neben ihn getreten und reichte ihm ganz selbstverständlich ihre rechte Wange zum Gruß. Völlig überrumpelt küsste er sie.
»Ciao, Elisabetta. Wie geht es dir?«
»Die Vorbereitungen waren stressig. Aber doch, es geht mir gut! Wir freuen uns alle auf die Messe und dass es endlich losgeht!« Sie wandte sich ihrem Stand zu und breitete die Arme weit aus. »Was sagst du zu unserer Präsentation? Gefällt sie dir? Stefania hat viel Zeit aufgewandt. Wir haben in diesem Jahr fünf Quadratmeter mehr. Die Messebauer haben uns bei der neuen Konzeption sehr unterstützt. Wir hoffen, dass wir die Kosten hereinbekommen.«
Es sprudelte nur so aus ihr heraus. Elisabetta hatte mit ihm damals keine zwei Sätze gewechselt. Georg war verblüfft über den Redeschwall. Bisher hatte er sie nur als sehr zurückhaltend erlebt. Und sie schien nicht überrascht, ihn auf der Messe zu sehen. Ganz im Gegenteil: Nichts anderes schien sie erwartet zu haben.
»Du willst sicher Stefania begrüßen!« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Sie wird sich freuen!«
Georg war sich da nicht so sicher.
»Du findest sie in unserer neuen Teeküche. Auf diesen kleinen Luxus sind wir besonders stolz. Endlich können wir die antipasti für die Weinproben und espressi für unsere Kunden problemlos zubereiten. Stefania richtet gerade die restlichen Sachen für unser kleines Buffet her. Vielleicht kann sie noch eine Hand gebrauchen.« Sie wies mit dem rechten Arm in die Tiefe des Messestands, wo Georg eine schmale Tür entdeckte.
»Du entschuldigst mich bitte. Mein Kunde wartet!«
»Na, klar.« Georg bemühte sich um Abgeklärtheit, obwohl ihm der Blutdruck stieg. Nun konnte er keinen Rückzieher mehr machen. Er musste in die Teeküche gehen und Stefania begrüßen. Alles andere hätte mehr als seltsam ausgesehen. Mit wenigen Schritten hatte er die Tür erreicht und drückte sie auf. Im ersten Moment sah er nur eine Theke, auf der Platten mit belegten Weißbrotscheiben und mehrere Schalen mit Oliven standen. Dazwischen überragte eine ungeöffnete Doppelmagnum Spumante das Arrangement. Von Stefania war nichts zu sehen. Georg näherte sich der Theke und beugte sich über ihren Rand. Ungläubig und fassungslos zugleich blickte er zu Boden. Ihm wurde übel und das Atmen fiel ihm plötzlich schwer. Schon oft hatte er in seinem Berufsleben ein solches Bild vor Augen gehabt. Aber noch nie hatte es eine Person betroffen, die ihm nahestand. Doch jetzt war genau das eingetreten. Auf dem Fliesenboden lag Stefania in einer unnatürlich verrenkten Körperhaltung. Sie trug eine dunkelgraue, elegante Stoffhose, kombiniert mit hochhackigen, schwarzen Pumps und einer hellgrau-weiß-gestreiften Seidenbluse, die am Hals geöffnet war. Der Kragen schien beschmutzt, Stefanias Kinn aufgeschlagen und unter dem Kopf und den rötlich-braunen Locken breitete sich eine Blutlache aus. Sein erster Impuls war, zu ihr zu stürzen und zu sehen, ob er ihr helfen konnte. Doch seine berufliche Erfahrung hielt ihn davon ab. Ihr starrer Blick aus leblosen Augen und die große Menge Blut, die auf den Fliesen glänzte, ließen keinen anderen Schluss zu: Stefania di Castello war tot.
3
Verona, 9.30 Uhr
Scott Giuliano saß in seinem Büro und studierte die Mail, die ihm Professor Marco Poiano geschrieben hatte. Dieser war Agrarökonom und Önologe. Er lehrte an der Universität Padua und brachte den Studenten wissenschaftlich fundiert bei, was man als moderner Winzer alles beherrschen musste: vom Anbau der Reben über deren Pflege im Jahresverlauf bis hin zur Vermarktung des Endprodukts Wein. Poiano besaß vielfältige Beziehungen zur Agrarwirtschaft und zu Agrarkonzernen. Er galt als Koryphäe auf dem umfangreichen Forschungsgebiet genveränderter Agrarprodukte. Ganz oben auf der Liste seiner Forschungen standen Sojabohnen, Mais, Olivenbäume und seit Neuestem auch Weinstöcke. Letztere hatten sich bislang allerdings erfolgreich allen Versuchen widersetzt, sie gegen Fäulnis, Mehltau und andere Pilze, die als Hauptursache für Ernteausfälle galten, mit verändertem Genmaterial resistenter und robuster zu machen. Dagegen gelangen Poiano Neuzüchtungen von Olivensorten, die von Agrarkonzernen zu Tausenden sehr gewinnbringend an Bauern verkauft wurden. Scott Giuliano verlor mehr und mehr das Interesse an den Ausführungen des Wissenschaftlers, denn er war nicht in der Lage, diesen in allen Punkten geistig zu folgen. Seine Fähigkeiten lagen auf anderen Gebieten.
Giuliano war Key-Accounter eines Agrarkonzerns mit Hauptsitz in Los Angeles. Montegrano, sein Arbeitgeber, machte extensive Geschäfte mit europäischen Ländern. Und Italien gehörte mit seinen großen Agrarflächen und mit den vielen klein- und mittelständischen bäuerlichen Betrieben, die über das ganze Land verstreut lagen, zu den vielversprechenden Abnehmern von Samen, Düngemitteln, Pestiziden, Herbiziden und weiterentwickelten Kulturpflanzen. So zumindest stellte es sich der an Expansionsgelüsten nicht gerade bescheidene amerikanische Mutterkonzern vor.
Giuliano hatte auch nach dem Studium des Anhangs so viel Ahnung von mehltauresistenten Weinreben wie vor Beginn der Lektüre. Nämlich null Komma null, wie er sich selbst frustriert eingestand. Sein Betriebswirtschaftsstudium half ihm nur begrenzt. Für Chemie und Botanik war er nicht geschaffen. Für Formeln und lateinische Begriffe fehlte ihm jedes Verständnis. In allererster Linie war er ein Vertriebsmann. Sein Auftrag lautete: Kunden an Land ziehen und Produkte verkaufen, was das Zeug hielt. Dazu musste er nicht verstehen, was er da im Einzelnen an den Mann oder die Frau brachte. Allerdings sollte er wissen, wofür die Präparate, die er zu vertreiben hatte, am besten geeignet waren. Doch die Informationen, die ihm Poiano zukommen ließ, waren einfach nur verkopft. Damit konnte man keine Marketingstrategie und auch kein Verkaufsgespräch entwickeln, um Kunden zu ködern. Scott Giuliano klappte den Laptop zu und starrte die kahle Betonwand vor sich an.
Das winzige Büro, dessen Einrichtung aus einem alten Schreibtisch und einem klapprigen Drehstuhl bestand, die er beide auf dem Trödelmarkt erstanden hatte, war wenig repräsentativ. Den einzigen Luxus stellte das elektronische Equipment dar, ohne das eine ordentliche Geschäftsabwicklung in digitalen Zeiten nicht mehr denkbar war. Kunden lud er entweder in eines der schicken Restaurants oder in angesagte Bars von Verona ein oder er traf sich vor Ort mit ihnen, in deren Weinbergen und Olivenhainen. Mit seinem kleinen Ableger von Montegrano war wahrlich kein Staat zu machen. Der Raum von knapp zehn Quadratmetern Fläche gehörte zu einem größeren Bürokomplex im Industriegebiet von Verona Sud. Eine Gemeinschaft von kleineren Unternehmen fand dort ihre Bleibe. Giuliano konnte bei Bedarf Damen des Schreibpools stundenweise mieten. Auch die Benutzung von Toilette und Kaffeeautomat am Gang waren großzügig im Mietpreis inbegriffen. Bislang hatte Giuliano keine Schreibarbeiten zu vergeben. Und der Kaffee war so grottenschlecht, dass sich Giuliano lieber auf Mineralwasser beschränkte, das er vom nahegelegenen Supermarkt alle paar Tage anschleppte.
Bald jedoch würde er Ergebnisse und vor allem Umsätze präsentieren müssen, wenn er seinen Job im schönen Veneto behalten wollte. In diese nicht gerade aussichtsreichen Gedanken hinein vibrierte sein Handy, das er auf dem Schreibtisch abgelegt hatte. Das Display zeigte eine amerikanische Nummer und der Name darauf lautete schlicht ›Bob‹. Sein Chef im fernen L.A. Der hatte ihm gerade noch gefehlt.
»Hi, Bob! Alles klar bei euch?« Munter und forsch wollte Scott Giuliano klingen, um keinen Preis zugeben, dass seine kleine Hütte am Brennen war.
»Klar doch, Scott, alles bestens! Wie schaut es bei dir aus? Bin gerade im Bordeaux und dachte mir, ich frag mal nach.«
Natürlich war Bob im Bordeaux! Wo auch sonst? Sicherlich machte er dort rasend gute Geschäfte. Diese Nachricht baute gar keinen Druck auf! Bob war einfach der Beste!
»Hast du deine Kontakte schon in die Mangel genommen?«
Von welchen Kontakten sprach der Typ, fragte sich Giuliano.
»Wir warten auf Zahlen und Bestelllisten!« Bob Muller lachte in den Hörer, um dann sehr laut und brutal nachzuhaken: »Du kannst dir nicht ewig Zeit lassen, Bursche! Du bist doch wohl heute den ganzen Tag auf der Messe, oder?«
Sicher, dachte Scott Giuliano zusehends erbost. Was sollte er auch sonst vorhaben an diesem Tag?
»Oder bist du etwa schon dort? Störe ich womöglich deine eifrigen Verhandlungen?« Wieder kam das harte Lachen, dass es Giuliano kalt über den Rücken lief. Bob Muller hatte eine unverhohlene Art, Stress zu machen. Scott war ihm nur einmal persönlich begegnet. Da hatte ihn der Amerikaner mit deutschen Wurzeln in München zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Muller war der Meinung gewesen, ein Key-Accounter müsse für Bayern und das Veneto reichen. Nein, vielmehr hatte er ihm diese Kombination als besonders nützlich und finanziell hochinteressant verkauft. Nicht nur e i n Gebiet sollte er für Montegrano abgrasen. Nein, z w e i verheißungsvolle Agrarregionen sollte er für den Multi aus USA erschließen. Tirol, das nicht minder interessante bäuerliche Bundesland, das dazwischen lag und zu Österreich gehörte, war bereits an einen Kollegen vergeben, der ganz ausgezeichnete Umsätze generierte. Bob Muller hatte mit Zahlen jongliert, dass es Giuliano schummerig geworden war. Dieses Vorstellungsgespräch lag nun über ein halbes Jahr zurück. Die Schonfrist war vorüber. Er musste liefern.
»Also, Scott, was gibt es Neues? Und komm nicht wieder mit Ausreden. Von deinen schwierigen Gesprächen hab’ ich schon genug gehört. Das ist dein Job, aus schwierigen erfolgreiche Gespräche zu machen. Das hast du schon verstanden, oder?«
»Ich spreche morgen Abend mit den di Castellos auf dem Tasting-Event. Da werde ich auch die Chinesen treffen.« Irgendeinen lukrativen Brocken musste er dem gierigen Amerikaner schon hinwerfen. Damit er wenigstens für einige Tage stillhielt.
»Da bin ich mal neugierig, ob du den Geschwistern Wong eine gehörige Menge von unserem Wunderpflanzenschutzmittel Sanograno andrehen kannst. Nur nicht zimperlich sein. Die Wongs sind steinreich! Aber das weißt du ja sicherlich auch. Und vergiss die Tomasellis nicht. Alvaro hat das Sagen im Soave. Aber wem erzähle ich das?« Erneut schallte das Lachen an Scotts Ohr, dass er zusammenzuckte. »Bye, bye und melde dich umgehend, wenn du Abschlüsse gemacht hast.«
Giuliano warf sein Handy zurück auf den Schreibtisch und stierte die Betonwand an. Er hatte sich auf das Wein-Tasting gefreut. Ein schöner Abend sollte das werden. Mit feinen Weinen, vorzüglichem Essen und attraktiven Frauen. Er war nicht ausgesprochen zurückhaltend, wenn es um Frauenbekanntschaften ging, sofern es sich geschäftlich lohnte. Doch er hatte eine andere Vorgehensweise als Muller. Er fiel nicht mit der Tür ins Haus. Solche Anbahnungen brauchten Zeit, mussten langsam wachsen. Eine Vertrauensbasis zum Kunden musste hergestellt werden. Dann konnte man fast alles verkaufen. Er musste sich vor allem hinter Francesco di Castello klemmen. Der verstand von Önologie so wenig wie er selbst. Stefania dagegen zeigte ihm seit Neuestem die kalte Schulter. Sollte sie. Es war ihm egal. Er war wahrlich nicht auf sie angewiesen. Francesco hingegen würde er alles verkaufen können, was Montegrano im Portfolio hatte. Und wenn er sich noch mit Alvaro Tomaselli einig wurde, hatte er das Soll, das ihm die Amerikaner vorgaben, übererfüllt. Dann hatte er erst einmal ausgesorgt. So schwierig konnte das doch nicht sein!
Scott Giuliano stand vom Stuhl auf, schob das Handy in die Gesäßtasche seiner Jeans und verließ das Büro. Er beschloss, in die Stadt zu fahren und auf der Piazza Brà einen Espresso zu trinken. Zuerst brauchte er frische Luft und einen klaren Kopf. Dann würde er entscheiden, wie er an diesem Tag weiter vorgehen wollte. So einfach, wie Muller sich das vorstellte, war es nicht. Zumal auf dem Weingut unter den di Castellos Krieg herrschte.
Und er fragte sich außerdem, ob er David Wong, den Chinesen mit dem riesigen Weingut in der Provinz Shandong, noch für ein Gegengeschäft gewinnen konnte. Im Sinne von ›eine Hand wäscht die andere‹. Der Einsatz von Chemie für maximalen Ertrag war Wong nicht fremd. Die Geschäfte mit ihm waren schon angelaufen. Davon hatte Bob in L.A. keine Ahnung und dabei sollte es auch bleiben.
4
Verona, 9.30 Uhr
Georg merkte, dass er sich krampfhaft an der Kante der Küchentheke festhielt, als könnte sie ihm in dieser furchtbaren Situation Halt bieten. Sein Blick war immer noch starr auf die tote Stefania gerichtet. Wie lange er schon wie festgenagelt dastand, wusste er nicht. Geräusche von der Messehalle drangen nur sehr gedämpft an seine Ohren, als hätte er Watte hineingestopft. Energisch schüttelte er den Kopf, damit er wieder zu sich kam. Er konnte hier doch nicht einfach tatenlos herumstehen! Entschlossen löste er sich von der Theke und ging um sie herum.
So vorsichtig wie möglich näherte er sich Stefania, ohne ihre Kleidung anzufassen oder in die Blutlache zu treten. Er wollte es der Spurensicherung nicht schwerer als nötig machen. Dann berührte er ihren Hals, suchte nach einem Pulsschlag in der Hoffnung auf ein noch schwaches Lebenszeichen. Vergeblich! Nur einen Moment lang kam ihm die eigene so absurde wie gefährliche Situation in den Sinn. Er fand eine Leiche. Niemand sonst war da! Außer … Elisabetta. Doch weshalb sollte die Cousine Stefania töten? Warum sollte sie ihn in die Teeküche schicken, damit er diesen grauenhaften Fund machte? Sie hätte ohne Weiteres sagen können, dass Stefania noch nicht auf dem Messegelände eingetroffen war. Das wäre überhaupt nichts Besonderes gewesen. Aber was wusste er schon von den di Castellos? Nichts!
Was wusste er über Stefania? Nicht viel. Sie hatten Spaß miteinander gehabt, weil die Winzerin einen wunderbaren Humor und ein kristallklares, mitreißendes Lachen gehabt hatte. Und die Nächte, die er mit ihr hatte verbringen dürfen, würde er nicht vergessen. Oft lag er zu Hause nachts wach und die Sehnsucht nach ihr holte ihn ein. Seinen Körper konnte er nicht belügen. Dieser hatte nie Zweifel daran angemeldet, dass die Beziehung zu ihr richtig gewesen war. Er wünschte sich immer nur eins: dass sie sei bei ihm sei. Sie sollte sich an ihn drängen und er würde ihre Wärme und weiche Haut spüren, ihr nach Ingwer und Zitrone duftendes Parfum riechen, das Georg auch an diesem schrecklichen Ort wahrnahm.
Ihm graute schon jetzt vor den kommenden Nächten. Neue Bilder würden die alten verdrängen und ihm Alpträume bescheren.
Georg fasste sich an die Stirn. Sie fühlte sich feucht und kalt an. Hatte er den Verstand verloren? Hier in Tagträumen zu verharren, die zu nichts führten? Die seit zwei Jahren schon nicht mehr angebracht waren? Stefania und er hatten sich nicht ohne Grund getrennt. Jetzt hatte er nur noch eine Aufgabe, die er ihr schuldig war: diesen sinnlosen Mordfall zu lösen!
Georg riss sich am Riemen und überlegte, wer für diesen Mord verantwortlich sein könnte. Er fürchtete, dass im Laufe der Ermittlungen viele Personen in Frage kämen. Stefania hatte eine große Familie und sie leitete ein Weingut. Sie hatte Kunden, Bekannte, Freunde und sicherlich auch Neider. Er musste seine fünf Sinne beieinanderhaben und durfte nicht kopflos oder emotional reagieren. Diesen Mord musste er aufklären. Koste es, was es wolle! Mit nichts anderem würde er sich in der verbleibenden Zeit in Verona beschäftigen.
Er versperrte die Tür zum Messestand, damit niemand mehr die Teeküche betreten konnte. Diese verließ er durch eine rückwärtige Tür und gelangte über einen Abstellraum zu einem der Hinterausgänge der Messehalle. Dort türmten sich leere Weinkartons und Abfalltüten. Georg zog sein Handy aus der Hosentasche, um seinen Freund Antonio Fontanaro anzurufen. Nun musste er doch Farbe bekennen und ihm erzählen, dass er sich heimlich, still und leise zur Vinitaly aufgemacht hatte. Aber das war unter den gegebenen Umständen seine kleinste Sorge. Georg suchte in seinen Kontakten die Telefonnummer von Antonio und merkte, wie sehr seine Hände zitterten. Er hatte alle Mühe, das kleine Telefon nicht fallen zu lassen. Als sich Antonio Fontanaro meldete, brachte Georg zunächst keinen Ton heraus.
»Pronto!« Dann nochmals: »Pronto! Giorgio, bist du das?« Natürlich, der Freund erkannte die Nummer. Las seinen Namen auf dem Display.
»Sì! Antonio! Ich bin’s.«
»Was ist los? So hast du dich doch noch nie gemeldet!«
Das stimmte. Meistens begrüßte er Antonio mit »Alter Schwede« und freundschaftlichem »Toni«.
»Stefania ist tot!«
»Was ...?« Es dauerte einen Moment, bis Antonio weiter nachfragte. »Wo bist du? Woher weißt du, dass Stefania tot ist? Bist du auf der Messe?«
»Genau. Ich bin am Messestand. Jemand hat Stefania vermutlich erschlagen. So zumindest sieht es für mich aus.«
»Bleib, wo du bist! Wir kommen so schnell wie möglich.«
Georg beendete das Gespräch und ließ sich einfach zu Boden sinken. Er lehnte sich an die Wand und starrte auf die Kartonagen, die sich vor ihm stapelten. Über die Wangen liefen ihm Tränen, die er mit dem Handrücken unwirsch wegwischte. Er sollte Elisabetta vom Tod der Cousine informieren, ging es ihm durch den Kopf. Aber dazu fehlte ihm die Kraft. Wenn Antonio mit seinen Leuten eintraf, war immer noch Zeit. Einen Moment nur wollte er sich ausruhen, bevor es hier von den Kollegen der polizia nur so wimmelte.
Keine halbe Stunde später betrat Commissario Fontanaro mit Vice Fausto Castillio und Ispettore Enrico Brandino den Messestand des Weinguts Castello del Belvedere. Ihnen auf dem Fuß folgten der Kriminaltechniker Silvano Petrelli, beladen mit zwei schweren Alu-Koffern, die Gerichtsmedizinerin Flavia Di Silva, die ihre Doktortasche bei sich hatte, so wie drei weitere, junge Kollegen zur Unterstützung. Ispettrice Lavinia Strano hielt solange allein in der Questura die Stellung, wartete auf die ersten Rechercheaufgaben. Antonio Fontanaro hatte nichts dem Zufall überlassen und das ganz große Besteck mitgebracht. Stefanias Tod hatte ihn und seine Leute aufgeschreckt. Sie alle kannten die sympathische Winzerin. Jeder würde auf seine Weise dazu beitragen wollen, den Mord an ihr aufzuklären. Einzig Staatsanwalt Vincenzo Mauro fehlte in der Gruppe von Fontanaros Experten, die bei jedem Mordfall über kurz oder lang zum Einsatz kamen und am Tatort erschienen.
»Non è vero!«, hatte auch Mauro fassungslos reagiert, als ihn Antonio vom Auto aus im Gericht erreichte. »Das ist nicht wahr, Commissario! Was ist denn das für eine Sauerei?« Der Staatsanwalt war wie üblich wenig zimperlich in seiner Ausdrucksweise. »Ich komme, so schnell ich kann! Doch jetzt habe ich einen unaufschiebbaren Termin. Gehen Sie davon aus, dass Sie alle Beschlüsse bekommen, die Sie für die Klärung des Falls benötigen. Schonen Sie niemanden, capisce?«
Das waren ja ganz neue Töne, dachte Antonio. Sonst war der Dottore sehr bedacht darauf, der Prominenz Veronas nicht unnötig auf die Zehen zu steigen. Und der Staatsanwalt fügte sogar noch hinzu: »Das sind wir Signora di Castello schuldig! … Ich fasse es nicht!« Dann hatte Mauro die Verbindung beendet.
Am Messestand schien alles ruhig, als sich Antonio mit seinen Leuten im Schlepptau näherte. Er führte den Trupp von Ermittlern an. Elisabetta schob gebrauchte Gläser auf einer Ecke des Tresens zusammen und wischte die Ablagefläche mit einem Tuch ab. Kunden hatte sie keine. Als sie Antonio erkannte, machte sie große Augen und kam auf ihn zu.
»Ciao, Elisabetta!« Er küsste sie auf die Wangen zur Begrüßung.
»Was ist los, Tonio? Ist etwas passiert?«
»Wir hätten gern Stefania gesprochen«, entgegnete er vorsichtig und gleichzeitig gespannt auf ihre Reaktion.
Elisabetta lächelte und flüsterte ihm dann ins Ohr: »Das ist jetzt ganz schlecht. Giorgio aus Bayern ist zu Besuch.« Sie deutete mit dem Arm nach hinten in Richtung Teeküche. »Die beiden haben sich eingeschlossen, wollen wohl ganz ungestört ihr Wiedersehen feiern. Seit fast einer Stunde habe ich nichts mehr gehört. Es wurde aber auch Zeit, dass sich dein Freund endlich wieder einmal sehen lässt.«
Antonio griff sich in die Haare und überlegte, wie er diesem Missverständnis begegnen sollte. »Stefania hat aber nicht wirklich auf ihn gewartet, oder? Sie hat doch jede Menge neuer Bekanntschaften und Liebschaften geschlossen.«
»Du kennst sie ja. Sie ist kein Kind von Traurigkeit. Aber sie hat Giorgio schon sehr gern!«
Antonio hatte nie mit dem Freund über die Trennung gesprochen. Es war offenkundig gewesen, dass der Bayer nicht darüber reden wollte. Und nun hatte Stefania, die das Leben in vollen Zügen genoss und sich holte, was es zu bieten hatte, ein jähes, brutales Ende gefunden. So richtig begriff er es noch nicht. Und er konnte sich nicht durchringen, Elisabetta mit der Wahrheit zu konfrontieren.
»Kann man die Teeküche über einen Hintereingang auch erreichen?«, fragte er stattdessen.
»Ja, natürlich, über den großen Abstellraum, den wir alle für Kartonagen und Müll benutzen. Dort erreicht man auch den Hintereingang der Halle, der für die Winzer, die in diesem Bereich der Messe ihre Stände haben, offensteht.«
»Du musst also nicht durch den Haupteingang marschieren, wenn du deinen Stand erreichen willst?«
Sie sah ihn erstaunt an.
Antonio begriff, dass sie sich fragte, was er mit seinen Fragen bezweckte.
»Nein, natürlich nicht. Während der ganzen Aufbauphase haben wir nur die hinteren Eingänge benutzt. Dort gibt es auch Parkplätze für die Messebauer und großzügige Be- und Entladezonen.« Sie zögerte einen Moment und sagte dann: »Das fragst du mich doch nicht alles aus Interesse am Messegeschehen. Was ist los, Tonio?«
Antonio fasste Elisabetta vorsichtig an der rechten Schulter und dirigierte sie zu einer kleinen Sitzgruppe. Auf dem Tisch, umgeben von vier Stühlen, lagen Bestellformulare und Prospekte in Stapeln für die Kundschaft bereit. In einem Wasserglas steckten unzählige Kugelschreiber in olivgrün und mit Goldprägeschrift, passend zu den Etiketten auf den Olivenölflaschen, die Antonio nur zu gut kannte. Das extra vergine von Stefania und Elisabetta war erstklassig. Seine Frau Marissa verwendete kein anderes Öl mehr für Salate. Alles am Messestand war durchgestylt und vorbereitet für die Kunden, auf die Stefania und ihre Familie hofften.
»Komm, lass uns mal einen Augenblick hinsetzen.« Alle anderen blieben vor dem Messestand stehen. Antonio sah noch, wie Petrelli begann, ein Absperrband um den Stand zu spannen. Enrico verhinderte inzwischen, dass neugierige Messebesucher die Box betraten. So dezent sie auch agieren mochten, bemerkte Elisabetta die Aktivitäten der Polizei und Kriminaltechnik dennoch. Urplötzlich fasste sie Antonio am Revers seines Jacketts und zog ihn ganz nah an sich heran.
»Du sagst mir jetzt augenblicklich, was los ist.« Dann wurde ihre Stimme laut und schrill. »Rede mit mir!«
Energisch drückte er sie auf einen der Sessel und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.
»Giorgio hat in der Questura angerufen. Er hat Stefania in eurer Teeküche gefunden. Sie ist …« Er kam ins Stocken. »Sie ist tot, Elisabetta! Es tut mir unendlich leid!« Und als sie ihn nur stumm ansah und nicht reagierte, fügte er hinzu: »Wir sind gekommen, um die Ermittlungen aufzunehmen.«
Elisabettas Augen weiteten sich. »No, ... no«, hauchte sie tonlos, kaum hörbar. Sie presste ihre Hände auf den Mund. Entsetzt starrte sie ihn an. Doch dann, plötzlich, schnellte sie hoch, sichtlich in der Absicht, zur Teeküche zu stürzen. Dottoressa Di Silva, die die Szene aus wenigen Metern Entfernung beobachtet hatte, eilte herbei, fing sie ab und nötigte sie, wieder auf ihrem Sessel Platz zu nehmen.
»Bleiben Sie bitte hier, Signora, und lassen Sie uns unsere Arbeit machen«, sagte die Dottoressa ruhig. »Wir nehmen jetzt den Hintereingang zur Teeküche und kümmern uns um alles.«
Was sie damit meinte, behielt sie für sich. Antonio war ihr für das resolute Eingreifen dankbar. Elisabetta schwieg zwar dazu, aber man sah ihr an, dass sie mit dieser Lösung nicht einverstanden war. Vorwurfsvoll und verunsichert zugleich musterte sie Antonio. So als wollte sie prüfen, ob sie ihr auch die Wahrheit sagten, ob Stefania wirklich tot war. Sie gab keinen Laut von sich, während langsam Tränen über ihre Wangen liefen, was Antonio beunruhigt beobachtete. Er konnte nicht einschätzen, ob ein Gefühlsausbruch bevorstand oder ob sie ihm ohnmächtig vom Stuhl kippte. Eigentlich wollte er sofort den Tatort besichtigen. Gleichzeitig traute er sich nicht, Elisabetta allein zu lassen.
Petrelli hatte inzwischen die Lage erkundet und deutete Di Silva mit Handzeichen, ihm zu folgen. Die Gerichtsmedizinerin ließ Antonio mit Elisabetta zurück und verschwand hinter der großen Regalwand. Wenige Augenblicke später wurde ein Schlüssel in der Teeküchen-Tür gedreht und sie war vom Messestand aus wieder zugänglich. Elisabetta entging dies nicht und sie sprang erneut auf. Doch Antonio hielt sie auf. Keinesfalls durfte sie den Tatort betreten.
»Du bleibst besser hier!«, sagte er eindringlich. Sie gehörte ohne jeden Zweifel zum Kreis der Verdächtigen. Im Moment war sie vielleicht die Letzte, die Stefania lebend gesehen hatte. Oder war es womöglich Giorgio gewesen? Sofort verdrängte er den Gedanken, so gut es ging.
»Ispettore Brandino«, er winkte Enrico heran, »wird sich um dich kümmern, Elisabetta! Die anderen Kollegen sorgen dafür, dass niemand euren Stand betritt und irgendetwas anfasst.«
»Was soll das heißen, Tonio?« Elisabetta di Castello schien sich zu fassen. »Du kannst mir doch den Stand nicht absperren! Wir haben nur vier Tage, um unsere Weine zu präsentieren und zu verkaufen. Das sind die wichtigsten Tage im Jahr!«
»Du willst mir doch nicht ernsthaft einreden, dass du jetzt Verkaufsgespräche führen willst und kannst?« Fragend starrte er sie an.
Wie ertappt fuhr sie sich verlegen mit der Hand über die Stirn. »Weißt du, was uns der Umbau des Messestandes gekostet hat? Hast du eine Ahnung, wie viele Flaschen Wein wir verkaufen müssen, um die Kosten und die Standgebühr zu bezahlen?«, fuhr sie ihn an. »Ungefähr 80.000 Euro muss ich verdienen, um alle Unkosten zu decken! Wenn du weißt, dass wir einen durchschnittlichen Flaschenpreis von 10 Euro berechnen, kannst du dir ausrechnen, wie viel Wein ich unter die Leute bringen muss, um ohne Defizit abzuschließen. Dabei darf ich für mich und meine Leute keinen Lohn ansetzen. Stefania würde ausrasten, wenn wir hier aufhörten zu arbeiten. Ich bin es ihr schuldig weiterzumachen. Jetzt erst recht!«
Antonio fand es interessant, dass sich Elisabetta ähnlich äußerte wie Mauro. Stefania di Castello war eine bemerkenswerte Person gewesen. Selbst Giorgio, sein unbestechlicher und sehr bodenständiger Freund aus Bayern, lange Zeit ein überzeugter Single, der nur selten ins Schwärmen geriet und kaum je den Sinn für die Realität verlor, hatte sich in Stefania verliebt, obwohl die Beziehung über die große Entfernung alles andere als einfach gewesen war. Giorgio – ja, ihn würde er noch ganz gezielt ausfragen, weshalb er nach Verona gereist war und weshalb ihn sein erster Weg auf die Messe und an den Stand des Weingutes Castello del Belvedere geführt hatte. Ausgerechnet er war es, der die Tote fand. Erneut drängte sich der Bayer in Antonios Gedanken. Er hatte in seinem Beruf gelernt, auch Freundschaften zu hinterfragen. Aber es konnte doch nicht sein, dass Georg selbst hinter dem Verbrechen steckte! Das musste er ausschließen, sonst konnte er in seinem Leben niemandem mehr über den Weg trauen. Dennoch, Fragen würde er ihm stellen. Das ganz gewiss.
»Elisabetta, du willst doch auch, dass wir den Tod von Stefania aufklären!« Das Wort Mord vermied er ganz bewusst. »Wir beeilen uns mit den Ermittlungen. Sicherlich könnt ihr heute Nachmittag den Messebetrieb wieder aufnehmen, wenn du willst. Wer kann es denn übernehmen, dich zu vertreten? Ich bin mir sicher, dass du in einigen Stunden anders darüber denkst. Dass du nicht mehr selbst hier stehen und Wein verkaufen willst.«
»Mein Bruder Francesco hat keine Ambitionen zum Verkaufen. Der will nur Umsatz sehen und ansonsten lieber vor dem Computer sitzen und an seinen Marketingstrategien feilen, die dann kein Mensch gut genug umsetzen kann. Renata, unsere Mutter, kann das nicht machen. Das geht gar nicht. Und meine Freundin Cora kommt erst in zwei Stunden. Wir haben ja nicht damit gerechnet, dass wir früher Unterstützung brauchen. Stefania und ich hätten am Stand erst mal völlig ausgereicht.« Sie stockte. Auf einmal schien die Tragweite des Geschehens in ihr Bewusstsein zu sickern. Sie zog sich verkrampft auf ihrem Stuhl zusammen, machte sich ganz klein, senkte den Kopf und fing endlich richtig zu weinen an.
Antonio atmete erleichtert auf. Das sah schon sehr viel natürlicher aus als diese professionelle, unbewegte Miene, die sie bis vor wenigen Augenblicken gezeigt hatte. Aber es gab keine Regeln, wie jemand auf den Tod einer nahestehenden Person zu reagieren hatte. Er hatte schon viele unterschiedliche Reaktionen erlebt. Sobald die Dottoressa mit der Untersuchung von Stefania fertig war, sollte sie Elisabetta eine Beruhigungsspritze geben. Er würde sie gleich nachher darum bitten. Sicher war sicher.
Antonio winkte Enrico heran, der abwartend vor dem Tresen stand und sie beide beobachtet hatte. Der Wink war eindeutig. Der Ispettore wusste, was zu tun war. Fontanaro konnte nun endlich den Tatort Teeküche betreten.
In dem engen Raum standen sich alle gegenseitig im Weg. Petrelli nahm Fingerabdrücke, die sich zahlreich auf den Möbeloberflächen fanden. Die Dottoressa kniete neben der Leiche, nahm erste Untersuchungen vor und diktierte ihre Ergebnisse ins Handy. Ein Kollege der Kriminaltechnik machte Fotos. Nahe der hinteren Küchentür lehnte Georg Breitwieser an der Wand, neben ihm stand bullig und finster dreinblickend der Vice Castillio. Beide beobachteten stumm das Treiben der Ermittler. Schließlich ging Antonio auf Georg zu und schob ihn zur Tür hinaus in den Abstellraum.
»Was machst du hier?«
»Was soll die Frage, Antonio?«
»Sie ist doch ganz einfach! Allora …?« Antonio sah ihm ernst ins Gesicht. Die Zeiten, als er in seinem Beruf noch an Zufälle glaubte, waren lang vorbei. Was hatte der Bayer in Verona und auf der Fachmesse verloren?
»Ich besuche die Weinmesse. Oder was denkst du, was ich hier mache? Stefania erschlagen? Ist es das, was du wissen willst?«
Antonio ersparte sich eine Antwort, sondern sah seinen Freund und bayerischen Kollegen der Mordkommission Traunstein weiterhin nur an.
»Du bist beleidigt, weil ich nach Verona reise und du nichts davon weißt. Ist es das, was du eigentlich sagen willst?«
Fontanaro fühlte sich ertappt. Georg lag mit seiner Vermutung nicht ganz falsch. Das musste er zugeben. »Du wirst deine Gründe haben, weshalb du heimlich hierher fährst. Hattest du eine Verabredung mit Stefania? Wolltet ihr euch ungestört treffen? Euch endlich einmal aussprechen? Eurer Beziehung eine neue Chance geben?«
»Und wenn es so wäre? Gibst du dann Ruhe und kümmerst dich endlich und ausschließlich um die Ermittlung? Anstatt mir dumme, provokante Fragen zu stellen? Wir wollen doch beide nur eines: Wissen, wer hinter dieser feigen Tat steckt!«
»Weich mir doch nicht aus, Giorgio! Also, was führt dich auf die Fiera?«
»Das ist eine längere Geschichte und nicht in zwei Sätzen gesagt. Wenn du wieder zur Vernunft gekommen bist, erzähle ich dir alles bis ins Detail. Aber jetzt möchte ich schleunigst mit dir ins Soave fahren. Es ist absolut zwingend, dass wir dort nachsehen. Wir müssen wissen, ob sich jemand auf Stefanias Gut herumtreibt, der dort nicht hingehört. Es ist immerhin möglich, dass jemand herumspioniert, Unterlagen oder Wertsachen entwendet. Das Motiv der Tat ist doch völlig unklar. Oder sehe ich das falsch?«
Der Eifer des Freundes passte Fontanaro nicht. Eigentlich sollten sie hierbleiben und die Ermittlungsergebnisse abwarten. Aber Georg sah nicht so aus, als würde er sich von der Idee, sofort zum Weingut zu fahren, abbringen lassen.
Antonio schüttelte den Kopf. »Nein, in der Tat, ich habe keine Ahnung, warum Stefania sterben musste.« Er zögerte einen Moment, dann fügte er hinzu: »Genauso wenig wie du!« Prüfend sah er Breitwieser in die Augen.
Dieser lief rot an im Gesicht. Die nicht ausgesprochene Verdächtigung brachte den Bayern in Rage, aber er hielt den Mund.
»Schaffst du das?«, bohrte Antonio weiter. »Stefanias Haus und Wohnung aufzusuchen, zu ermitteln? Was du strenggenommen nicht darfst. Das ist dir schon klar, oder? Ich sollte dich nicht mitarbeiten lassen. Wenn jemand befangen ist, dann bist das du!«
»Vergiss es, Toni! Du wirst mich nicht los. Fährst du mit mir dorthin oder muss ich mir deinen Vice ausleihen?«
Antonio blieb skeptisch. Er fürchtete, dass er diese Entscheidung noch bereuen würde. Gleichzeitig wusste er natürlich, dass Georg ein hervorragender Ermittler und zudem Kenner der dortigen Verhältnisse war. »Hör zu, Giorgio! Unter einer Bedingung: Du begleitest mich lediglich als Beobachter. Und für alle zukünftigen Aktionen, die du dir vielleicht noch in den Kopf setzt: Du führst keine Zeugenbefragungen durch, du fasst nichts an und vor allen Dingen: Du lässt mich und meine Leute die Arbeit machen. Wenn mir irgendeine Eigenmächtigkeit in den folgenden Stunden und Tagen deinerseits zu Ohren kommt, bist du raus. Und zwar komplett. Endgültig. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«
Georg gab sich unbeeindruckt. »In Ordnung. Es reicht doch, wenn du deinen Dienstausweis zeigst. Niemand wird meinen verlangen. Sonst lass ich mir was einfallen.«
Widerwillig musste Antonio auflachen. Das glaubte er gern, dass sich der Bayer etwas einfallen ließ. »Kennt dich denn jemand auf dem Weingut? Wurdest du dort schon einmal in Begleitung von Stefania gesehen?«
»Nein. Nie. Stefania war sehr diskret. Sie organisierte unsere Treffen so, dass wir niemandem von der Familie begegneten.«
Das sah Stefania ähnlich, dachte Antonio. Sie wusste, wie sie ihre Liebhaber heimlich ins Haus schmuggelte. Vor allem ihre Tante Renata reagierte allergisch, wenn sie im Hausflur auf fremde Männer traf. Das hatte die Winzerin einmal bei einem gemeinsamen Abendessen bei Da Bruno zum Besten gegeben.
»Aber Elisabetta kennt dich?«
Georg nickte. »Ja, von einem Barbesuch. Das ist lange her.«
»Du wirst dein bestes Italienisch auspacken müssen, damit man auf dem Gut nicht merkt, wo du wirklich herkommst. Mach keine Dummheiten, Giorgio, sonst muss ich auf deine Unterstützung verzichten. Wird ohnehin schwierig werden, wenn der Staatsanwalt dahinterkommt, dass du uns bei den Ermittlungen unterstützt. Du hast die Leiche gefunden, vergiss das nicht!«
»Vincenzo Mauro ist meine geringste Sorge.«
Antonio schlug dem Freund auf die Schulter. »Alles andere hätte mich auch gewundert!« Er wandte sich zur Tür, drehte sich aber nochmals um und fügte hinzu: »Ich gebe Fausto Bescheid, dass er hier übernimmt. Dann fahren wir zwei ins Soave und bei der Gelegenheit erzählst du mir haarklein, wie du auf die Vinitaly kommst.«
5
Gut vier Wochen zuvor: Mittwoch, 08.03.2017
Chieming, 14.30 Uhr
»Bua, wir müssen los! Wo bleibstdenn so lang?« Katharina Breitwieser saß im Rollstuhl in der Diele ihres Hauses und wartete auf Georg. Sie musste zum Arzt nach Traunstein. Die jährliche Blutabnahme stand an und er wollte sie fahren.
»Ich bin ja schon da, Mama! Wir schaffen das locker.«
»Das sagst du immer, dann gibt’s einen Stau auf der Bundesstraße und die Zeit reicht nicht mehr.«
Georg wusste, dass sie es nicht ausstehen konnte, wenn man zu spät kam. Pünktlichkeit war eine Sache des Respekts, pflegte sie jedem zu sagen. Ob er es hören wollte oder nicht.
Wenige Minuten später saßen sie in seinem alten Audi Quattro. Im Fond hatte Maria, die polnische Pflegerin, Platz genommen. Sie war ihnen beiden unentbehrlich geworden und gehörte seit Jahren zur Familie. Sie durchfuhren den noch schläfrigen Ort Chieming, in dem Georg aufgewachsen war und in den er zurückkehrte, als seine Mutter nach einem Schlaganfall Hilfe benötigte. Inzwischen war das viele Jahre her. Anfangs kam er mit der dörflichen Lebensweise gar nicht mehr zurecht. Er hatte den Ort zum Studium verlassen, war in die bayerische Landeshauptstadt München gezogen und hatte sein Studentenleben genossen und später auch seine Freiheit bei der Polizei und auf dem Kommissariat sehr geschätzt. Doch dann hatte er seinen Lebensentwurf überdenken müssen und sich entschieden, wieder ins Dorf zurückzukehren. So schlecht war das Leben auf dem Land auch wieder nicht. Der Chiemsee lag von seinem Büro- und Wohnzimmer im ersten Stock des Elternhauses in Sichtweite. Er mochte den See ausgesprochen gern. Täglich und zu jeder Jahreszeit veränderte dieser sein Aussehen. Ausgedehnte Spaziergänge machte Georg eher selten. Dazu fehlte ihm meist die Zeit. Aber sonntags trieb es ihn schon auf die Uferpromenade hinaus oder hin und wieder auf einen der nahen Berge. An Tagen mit föhnigem Wetter gehörte der Blick hinüber zur Fraueninsel für ihn zum Schönsten, was der See zu bieten hatte. Manchmal nahm ihn ein Freund auf seinem Boot mit, dann segelten sie hinüber zur Herreninsel oder bis nach Gstadt, wo die Dampfer auf die Touristen warteten, um sie auf die begehrten Inseln zu bringen. Jährlich wurden es mehr Besucher. Was ihm Sorgen machte, denn so wichtig der Tourismus als Wirtschaftszweig auch war, zu viel davon half niemandem mehr. Wenn Schiffe, Lokale und Parkplätze unter den Busladungen aus dem In- und Ausland vor Leuten überquollen, konnte von Erholung und vernünftigem Betrieb mit ordentlichem Service keine Rede mehr sein. Beschauliche Ruhe am See sah anders aus.
»Was bist denn so schweigsam?«, fragte Katharina in seine Gedanken hinein. »Bist schon wieder mit der Arbeit beschäftigt?«
Er brummte nur und schwieg weiter. Was hätte es für einen Sinn gehabt, der Mutter seine abschweifenden Gedanken mitzuteilen? Eine unnötige Diskussion würde sich daraus ergeben. Denn mit ihm zu diskutieren, gehörte zu Katharinas bevorzugter Beschäftigung. Kurz vor Traunstein, Georg fuhr auf der Bundesstraße am Fluss Traun entlang, bevor er dann links abbiegen und ins Zentrum fahren musste, machte der Wagen komische Geräusche, dann gab es einen lauten Schlag, der Audi starb ab und rollte aus. Georgs Versuche, ihn neu zu starten, scheiterten. Im Bereich der Kühlerhaube stieg weißer Dampf auf.
»Verdammter Scheiß!«, entfuhr es Georg.
»Ja, was ist jetzt?«, fragte die Mutter überflüssigerweise.
»Ja, was wird schon sein? Der gibt keinen Muckser mehr von sich.«
»Ich sag’s allerweil: Ein neues Auto muss her! Du bist ein elender Geizkragen. Gönn dir halt auch einmal was, Schorsch. Arbeiten tätest, weiß Gott, mehr als genug.«
»Ist schon recht! Aber im Moment hilft uns dein Ratschlag auch nicht weiter. Ich ruf euch jetzt ein Taxi. Und dann lass ich den Wagen abschleppen.«
»Und wie kommen wir wieder heim? Auch mit dem Taxi? Das wird aber teuer, Bua! Zahlst du das dann?«
Georg stöhnte innerlich auf. Taxifahren war in den Augen seiner Mutter geradezu ein Frevel. Ein unnötiger, teurer Luxus, den man sich nicht leistete. Außer, so hatte sie ihm einmal erklärt, man ginge in die Oper. Wann wäre seine Mutter jemals in die Oper gegangen? Diese Idee von der Taxifahrt zur Oper hatte ihn vollends verblüfft. Aber auch zu dieser Bemerkung hatte er immer vorgezogen zu schweigen. Was half es, ihr zu erklären, dass Taxifahren im Prinzip billiger kam, als sich ein Auto zu leisten – zumindest in der Stadt, wo man es kaum irgendwo abstellen konnte. Außer man berappte ein kleines Vermögen für einen Tiefgaragenplatz. Ins Büro war er während seiner Dienstzeit in München mit der U-Bahn gefahren. Das Auto hatte er nur für die Fahrten zu seiner Mutter gebraucht. Ein heißes Eisen war der Quattro damals gewesen, natürlich! Und mit dem Allradantrieb im Winter, bei Eis und Schnee, die ideale Lösung. Jetzt war der Wagen in die Jahre gekommen. Georg schätzte, dass sein Gefährt inzwischen an die fünfundzwanzig Jahre auf dem Buckel hatte. Genau wusste er es gar nicht. Aber das spielte nun auch keine Rolle mehr. Vielleicht konnte ihm sein Spezl, der Hubert, nochmals mit einer Reparatur weiterhelfen.
Nachdem er seine Damen schließlich überredet und ein Taxi organisiert hatte, rief er bei Hubert Ortler an.
»Servus, Hubsi! Ich bin’s, der Schorsch!«
»Was gibt’s?«
Hubert Ortler besaß eine kleine Kfz-Werkstatt in Chieming am Ortsrand und war spezialisiert auf Autos, die von einer normalen Werkstätte gar nicht mehr angenommen wurden, weil Ersatzteile für das weit zurückliegende Baujahr kaum oder gar nicht mehr zu bekommen waren. Doch Hubert hatte gute Kontakte zu Schrotthändlern in der Gegend. Meistens bekam er dann schon noch ein Teil, das er einbauen konnte.
»Liegengeblieben bin ich. Kurz vor Traunstein.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Kannst mich abschleppen, … bitte?«
»Sicher! Dauert aber a bisserl. Eine gute Stunde musst schon warten. Ich hab grad den Kadett vom Doktor Löhlein auf der Hebebühne. Der Doktor wartet drauf! Reifenwechsel! Der Frühling kommt ja bald, meint er.« Hubert lachte verstohlen. In der Nacht hatte es wieder geschneit und auf den schattigen Wiesen glitzerte es morgens noch weiß. »Aber eines sage ich dir gleich, Schorsch: Richten tu ich dir deinen Audi nicht mehr! Kauf dir endlich ein ordentliches Auto. Verstehst?« Dann war die Verbindung unterbrochen.