Mörderisch malerisches Malcesine - Marta Donato - E-Book

Mörderisch malerisches Malcesine E-Book

Marta Donato

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Beschreibung

"Er beobachtete die deutsche Anwältin in ihrem roten Kleid, die mit Ausdauer und sichtlicher Ergriffenheit vor dem Klimt-Gemälde stand – als wolle sie es für alle Ewigkeit in Erinnerung behalten, bevor es von jemandem ersteigert und vielleicht für immer in einem privaten Anwesen verschwinden würde." - Gustav Klimts verloren geglaubtes Bild "Malcesine am Gardasee" taucht bei einer Auktion in Malcesine auf. Die Anwältin Monika Bacher will eine Versteigerung verhindern, denn die jüdische Familie, der das Bild von den Nazis entzogen worden ist, erhebt Ansprüche. Als die Anwältin Opfer eines Giftanschlags wird, bricht nicht nur bei den international tätigen Kunstagenten hektische Betriebsamkeit aus.

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Seitenzahl: 488

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Die Handlung und alle handelnden Personen in diesem Kriminalroman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zu Geschehnissen mit Bezug auf reale Personen oder Unternehmen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder Institutionen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Umschlag- und Innengestaltung unter Verwendung folgender Abbildungen: Malcesine (lesia/stock.adobe.com), Stack of color artist paint brushes (BillionPhotos.com/stock.adobe.com), Gustav Klimt: Malcesine am Gardasee (Archiv des Verlags), Vignetten (Archiv des Verlags/Thomas Endl)

Italienisches Lektorat: Maria Volo

E-Book-Konvertierung: Open Publishing, München

ISBN 978-3-944936-78-9

Der Titel ist auch als Paperback erhältlich.

© edition tingeltangel, München 2024, 2. Auflage

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist in all seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags nicht zulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und digitale Verarbeitung.

Malcesine am Gardasee (Gustav Klimt)

»Nach anderthalb Jahren hatte ich genug. Denn Qualität und Geschmack spielen in einem Auktionshaus keine Rolle. Man verkauft alles, was echt ist. (...) Im Auktionshaus lernt man letzten Endes mehr über Menschen als über Kunst. Man entwickelt ein Gespür dafür, mit welcher Absicht und welchem Vorwissen einem die Kunstwerke präsentiert werden.«

Kunsthändler Walter Feilchenfeldt,ehemals Angestellter im Auktionshaus Sotheby’s

(Interview in Du – Zeitschrift der Kultur, Juni 2015, Ausgabe 857, S. 23)

Inhalt

1 Dienstag, 11.09.2018: Malcesine, 10.15 Uhr

2 Verona, 1 Stunde und 45 Minuten zuvor

3 Verona, 13.00 Uhr

4 Verona, 14.30 Uhr

5 Traunstein, 15.30 Uhr

6 Traunstein, 16.30 Uhr

7 Verona, 18.00 Uhr

8 Verona, 20.00 Uhr

9 Chieming, 20.00 Uhr

10 Verona, 21.00 Uhr

11 Verona, 21.00 Uhr

12 Verona, 23.00 Uhr

13 Verona, Mitternacht

14 Mittwoch, 12.09.2018: Verona, 9.00 Uhr

15 Verona, 9.30 Uhr

16 Verona, 10.30 Uhr

17 Verona, 11.15 Uhr

18 Verona, 11.30 Uhr

19 Traunstein, 12.00 Uhr

20 Mantua, 13.00 Uhr

21 Traunstein, 14.00 Uhr

22 Mantua, 15.00 Uhr

23 Chieming, 16.00 Uhr

24 Mantua, 16.00 Uhr

25 Traunstein, 17.00 Uhr

26 Verona, 18.00 Uhr

27 Verona, 18.00 Uhr

28 Donnerstag, 13.09.2018: Verona, 2.30 Uhr

29 Mantua, 8.00 Uhr

30 Verona, 8.00 Uhr

31 Verona, 9.30 Uhr

32 Verona, 9.30 Uhr

33 Torri del Benaco, 10.30 Uhr

34 Verona, 10.30 Uhr

35 Verona, 12.00 Uhr

36 Torri del Benaco, 12.30 Uhr

37 Garda, 14.00 Uhr

38 Torri del Benaco, 15.00 Uhr

39 Verona, 16.30 Uhr

40 Verona, 18.30 Uhr

41 Verona, 20.00 Uhr

42 Verona, 20.00 Uhr

43 Mantua, 21.00 Uhr

44 Freitag, 14.09.2018: Malcesine, 8.00 Uhr

45 Malcesine, 10.30 Uhr

46 Malcesine, 10.55 Uhr

47 Verona, 14.00 Uhr

48 Mantua, 16.00 Uhr

49 Verona, 19.00 Uhr

50 Gut drei Monate später: Rom

Nachwort

Literaturverzeichnis – eine Auswahl

1

Dienstag, 11.09.2018

Malcesine, 10.15 Uhr

»Ich schlage vor, wir ändern unsere Pläne, Dottoressa, und treffen uns um 11 Uhr in Malcesine.«

Monika Bacher hatte den Rechtsanwalt Michele Vivani vor lauter Hintergrundgeräuschen nur mit Mühe verstanden. Mehr noch: Sein völlig unerwarteter Telefonanruf beunruhigte sie zutiefst, zumal Vivani ihr keine Möglichkeit ließ, etwas zu erwidern. In ihren Augen gab es keinen sinnvollen Grund, die ursprüngliche Abmachung, sich auf der Piazza Brà in der Altstadt von Verona auf einen Espresso zu treffen, zu ändern.

Gezwungenermaßen fuhr sie nun die Gardesana entlang und fragte sich, weshalb der Anwalt plötzlich genau diesen Treffpunkt vorschlug. Die östliche Uferstraße des Gardasees war wie immer gut frequentiert. Die vielen Ortsdurchfahrten, die aufeinander folgten, sorgten für Staus und Verkehrsbehinderungen. So hatte sie Zeit, sich das eigenartige Telefonat ins Gedächtnis zu rufen.

»Ich erwarte Sie unter einem der Arkadenbögen der Caffè Bar Tre Corone. Da sind wir ungestört. Ich werde pünktlich sein!«

Dann war die sehr mäßige Verbindung endgültig abgebrochen. Bis Monika Bacher richtig begriffen hatte, was Vivani von ihr wollte, hatte er auch schon aufgelegt. Seine Mails waren immer extrem höflich gewesen. Ja, geradezu charmant. Sie hatte sich auf das Treffen mit ihm gefreut, darauf vertraut und gehofft, in ihm einen kompetenten Kollegen zu treffen, der ihr helfen konnte, das Problem ihres Mandanten zu lösen. Das Telefonat dagegen hatte sie schwer verunsichert. Aber sie hatte keine Wahl. Vivani war im Moment ihre einzige Chance.

Inzwischen hatte sie die Ortseinfahrt von Malcesine erreicht und parkte den Leihwagen oberhalb des Zentrums auf dem Parkplatz vor dem Municipio. Sie zog den Zündschlüssel und lehnte sich in die Polster zurück. Noch hatte sie Zeit. Wozu sollte diese kurzfristige Planänderung dienen? Sie kannte Avvocato Michele Vivani erst seit wenigen Tagen. Den Kontakt verdankte sie ihrer ehemaligen Kommilitonin Dorothea Schaller, inzwischen Ermittlungsrichterin in Traunstein. Der Fall von Monikas Mandanten hatte sich plötzlich so zugespitzt, dass sie handeln musste, um weiteren, sehr großen Schaden von ihm abzuwenden. Und Dorothea hatte auch gleich diesen Tipp für sie.

Monika sperrte den Leihwagen ab und ging hinein in die Altstadt des Ferienorts. Als Studentin war sie öfter mit ihrem jetzigen Mann hierhergereist, um an verlängerten Wochenenden zu surfen oder mit dem Mountainbike die Berge zu erobern. Sie wusste den Weg noch zum Hafen und zur Bar Tre Corone. Das Schöne am Gardasee und seinen Ortschaften war, dass sie eine unglaubliche Beständigkeit aufwiesen. Die Zeit schien hier stillzustehen. Monika ging an Geschäften vorbei, die sie sofort wiedererkannte: eine Eisdiele, die jetzt auch vegane Sorten führte, ein Laden für Murano-Glas und das Lederwarengeschäft, in dem sie gern Handtaschen und einmal einen Rucksack gekauft hatte.

Der Ort war im Zentrum überschaubar und unverändert, während er sich ins Hinterland und entlang der Ufer in nördlicher und südlicher Richtung immer weiter ausbreitete. Bevor sie nach links in die Häuserschlucht einbog, die direkt zum Hafen führte, kam sie an einem Schreibwarengeschäft vorbei, das einen Zeitungsständer vor der Tür aufgestellt hatte. Die Schlagzeilen und Fotos auf den Frontseiten der Zeitungen zeigten immer noch die eingestürzte Autobahnbrücke bei Genua, obwohl Wochen seit dem Unglück verstrichen waren. Eine unglaubliche Katastrophe, die die Gespräche der Menschen in ganz Italien bestimmte. Der Einsturz der Brücke erhitzte die Gemüter. 43 Menschen waren dabei umgekommen und die einhellige Meinung vieler war, dass diese Opfer hätten vermieden werden können. Jahrelanger Schlendrian der Autobahngesellschaft, die die Brücken wartete, beziehungsweise dies unterließ, war schnell als Ursache des Unglücks ausgemacht. Am heutigen Tag kam noch die Erinnerung an den Anschlag auf die Twin Towers in New York hinzu, der sich zum siebzehnten Mal jährte.

Warum sollte man sich überhaupt eine Zeitung kaufen, fragte sich Monika. Katastrophen, Mord und Totschlag, nichts anderes füllte die Seiten. Sie hatte diesbezüglich kein Informationsbedürfnis, auch wenn ihr Italienisch gut genug war, um das Wichtigste der Meldungen zu verstehen. Dennoch griff Monika zur l’Arena. Dies war das mit Vivani vereinbarte Erkennungsmerkmal. Schließlich wussten sie voneinander nicht, wie sie aussahen. Sowohl der Anwalt aus Rom als auch sie selbst vermieden es nicht ohne Grund, in den sozialen Medien oder im Internet mit Fotos auf sich aufmerksam zu machen. Vivani war nicht zu recherchieren gewesen, Diskretion oberstes Gebot. Die Zeitung würde sie schmal zusammengefaltet auf den Tisch legen. Sie hatte keine Ahnung, wie alt Vivani war. Dem Sprachstil seiner Mails nach erwartete sie einen ungefähr vierzigjährigen Mann. Das Telefonat hingegen gab ihr keine weiteren Hinweise. Wenn es Monika recht bedachte, hätte es auch eine Frau mit sehr tiefer Stimme sein können, mit der sie gesprochen hatte. Die Verbindung war so schlecht gewesen und der Lärm im Hintergrund so dominant, dass sie hoffte, alles richtig verstanden zu haben. Zumal ihr aktiver Wortschatz über die Jahre verkümmert und sie nicht mehr so gut in der Lage war, in so einem knappen Gespräch richtig zu reagieren. Sie hatte einfach keine Zeit mehr, um in Urlaub zu fahren. Nicht einmal mehr zu einem verlängerten Wochenende.

Die Häuserflucht öffnete sich und Monika stand unvermittelt am Hafenbecken von Malcesine. Ein leichter Wind hatte sich gehoben und kräuselte weiter draußen sacht die hellgrün schimmernde Wasserfläche. Direkt vor ihr, im Hafenbecken, wo die Ausflugsboote dicht nebeneinander im Wasser vor sich hindümpelten, schimmerte es tiefgrün, fast schwarz. Den Himmel überzog ein milchig weißer Wolkenschleier. Noch hatte sich das Wetter nicht entschieden, wie es sich den Tag über entwickeln wollte. Und so unsicher wie das Wetter fühlte sich auch Monika Bacher, die sich jetzt fragte, ob sie ihre Mission zu einem guten Ende bringen konnte. Sie traute sich keine Prognose mehr zu. Wochen und Monate waren ins Land gegangen, in denen sie mit dem Mandanten in den USA verhandelt, recherchiert und schließlich die gemeinsamen Ziele hinterfragt und auf Machbarkeit abgeklopft hatte. Sehr viel hing von dem Gespräch ab, das sie nun mit dem Anwaltskollegen aus Rom führen wollte. Ihre Kommilitonin Dorothea hatte sie auf die Frage, ob sie zufällig einen Kollegen in Italien kannte, der wie sie selbst im Kunstrecht tätig war, auf den Hauptkommissar der Mordkommission Traunstein, Georg Breitwieser, verwiesen. Dabei hatte Monika eigentlich wenig Hoffnung gehabt, zu speziell war das Fachgebiet, das sie für ihren Fall benötigte. Doch der Kommissar hatte bereitwillig geholfen und ihr berichtet, dass Vivani eigentlich als Ermittler für eine Einheit der Carabinieri arbeitete, die für die Belange der Kunst- und Kulturgüter Italiens verantwortlich war. Das war für Monika Bacher ein Volltreffer gewesen. Genau so einen Kollegen brauchte sie.

In einer Mail hatte sie Avvocato Michele Vivani so viel, wie ihr nötig schien, und so wenig, wie sie gegenüber ihrem Mandanten vertreten konnte, berichtet und um ein Gespräch gebeten. Sehr überraschend hatte sich Vivani mit den wenigen Fakten zufriedengegeben, die sie ihm mitteilte. Sie blieb im Vagen, nannte keine Namen, machte nur Andeutungen und nannte historisch belegte Fakten, die in diesem speziellen Fall von Interesse waren. Zumindest soweit befanden sie sich auf sicherem Terrain. Über Mandanten gab sie nichts Persönliches preis. Das verstand der Kollege in Rom und er respektierte ihre Zurückhaltung. Sie deutete lediglich an, dass es sich um ein in den 40er-Jahren des vorigen Jahrhunderts geraubtes Gemälde handelte, weswegen sie ihn sprechen und um Rat fragen wollte. So bereitwillig er sein Kommen für diesen Vormittag angekündigt hatte, so unerwartet hatte er den ursprünglichen Treffpunkt von der Piazza Brà nach Malcesine verlegt. Wie kam er ausgerechnet auf Malcesine? Sie hatte den Ort, der für ihren Fall von entscheidender Bedeutung war, mit keinem Wort erwähnt. Das hieß wohl, dass Vivani die wenigen Hinweise, die sie ihm gegeben hatte, genügten, um eine erste Recherche durchzuführen, um bereits richtige Schlüsse zu ziehen. Eigentlich sollte sie das begeistern und nicht befremden. Doch genau das fühlte sie in diesem Moment: Befremden und eine vage Beklemmung. Denn letztlich war es doch völlig ausgeschlossen, mit dem Wenigen, was sie ihm genannt hatte, den Bezug zu Malcesine herzustellen. Wer war Vivani und weshalb kam er so bereitwillig von Rom angereist? Hätte sie da nicht stutzig werden sollen? Doch Breitwieser hatte von dem Anwalt in den höchsten Tönen geschwärmt, ihr versichert, dass er ein sehr umgänglicher Mensch sei, ein hervorragender Ermittler und sicherlich auch ein großartiger Anwalt. Da hatte der Bayer gar keinen Zweifel aufkommen lassen.

Monikas Blick fiel auf einen Hobbymaler, der wenige Schritte von ihr entfernt seine Staffelei aufgestellt hatte und an einem kleinen Ölbild arbeitete. Sie trat näher heran. Der Künstler fing mit sehr geübter Hand den Blick vom Hafenbecken auf den See und die gegenüberliegenden Berge ein. Der Platz so nah an der Anlegestelle der Ausflugsboote und der Linienschiffe, die die Orte rund um den ganzen See abfuhren, war natürlich sehr gut gewählt. Horden von Touristen kamen stündlich an ihm vorbei und der eine oder die andere wurde schwach und nahm sich ein Ölbildchen für wenige Euros mit nach Hause. Auf einem quadratischen Tisch, den der Maler mit schwarzem Samttuch belegt hatte, lagen schon fertige Werke, die auf Käufer warteten. Für zwanzig oder dreißig Euro, je nach Format und Rahmung, konnte man sich den Lago di Garda ins Wohnzimmer holen. Eine Ansicht stach Monika dabei besonders ins Auge. Malcesine vom See aus betrachtet, gemalt vermutlich weiter draußen von einem Ruder- oder Tretboot aus. Er hatte die Ansicht geschickt eingefangen und den Ort, der aus den Wassern des Gardasees mit schmalen Uferstreifen herauswuchs, umspült vom steten Nass des Sees, gut getroffen. Die Häuser waren gestaffelt hintereinander aufgereiht, ihre bunten Fassaden mit nicht zu grellen Farben wiedergegeben. Gut erkennbar waren die Häuserfronten: der Palazzo dei Capitani, die kleinen Häuschen bunt übereinander gereiht dahinter, direkt gefolgt von den ersten Bergen im Hintergrund und dem Turm der Scaliger-Burg, die, auf einem gewaltigen Felsen errichtet, den Ort an der linken Seite überragte. Wie an zahlreichen weiteren Orten entlang des Ostufers hatten die Scaliger, die noblen Herren von Verona, den See im Mittelalter bewacht und wenig uneigennützig vor Räubern und Schmugglern beschützt. Bekamen sie deren Beute doch auf dem Silbertablett präsentiert.

Die Perspektive stimmte, die Farben zeugten von einem sicheren Gefühl für Komposition, Spannung und Atmosphäre. Der Künstler war kein Dilettant. Er verstand sein Handwerk.

»Allora, bella Signora, was darf ’s sein?«, fragte er sie lächelnd. Treffsicher hatte er die Deutsche in ihr erkannt. Er war ihrem Blick gefolgt, stand von seinem Hocker auf und griff nach der Ansicht. »Sie haben einen sehr guten Geschmack, Signora. Ist eines meiner besten dipinti!«

Monika musste grinsen. Er wusste, wie man eine Touristin um den Finger wickelte. Aber er hatte auch recht. Das Ölbild war wirklich äußerst gelungen. Allerdings konnte er nicht wissen, warum genau diese Ansicht von Malcesine bei ihr ins Schwarze traf. Ohne groß mit dem Maler zu feilschen, gab sie ihm die gewünschten dreißig Euro und verabschiedete sich mit einem fröhlichen »Ciao e grazie!«

»Grazie a lei, Signora, e una buona giornata!«

Mit diesen guten Wünschen für den Tag versehen, schob sie das erstandene Ölbild in ihre voluminöse Handtasche, wandte sich den goldgelb gestrichenen Arkaden auf der rechten Seite des Hafenbeckens zu und betrat den kühlen, überwölbten Gang. Der Tipp von Vivani, einen Tisch unter den Arkaden zu suchen, war gut. Dort würde es am längsten angenehm frisch bleiben und die Sonne, wenn sie denn demnächst hinter dem Wolkenschleier hervorkäme, nicht so gnadenlos herunterbrennen. Unter dem dritten Arkadenbogen fand Monika einen Tisch für zwei und setzte sich mit Blick auf das Hafenbecken. Wie gewünscht faltete sie die Zeitung schmal zusammen und legte sie vor sich auf das weiße Tischtuch. Sie war bereit. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass Vivani in spätestens zehn Minuten zu ihr stoßen würde.

Direkt vor ihrem Tisch lag der Zweimaster Siora Veronica aus dem Jahr 1926 im Wasser. Frisch lackiert, poliert und aufgehübscht wartete er auf Gäste, die an einer Panoramatour über den See teilnehmen wollten. Das Tourismusbüro von Malcesine gab sich alle Mühe, die Gäste mit vielen Attraktionen zu unterhalten. Doch auf einen solchen Ausflug verzichtete Monika sehr bereitwillig. Ihre Gedanken waren bei ihrem Fall und ihrem Mandanten. Nur ganz nebenbei nahm sie das geschäftige Treiben rund um den Hafen wahr, die Cafés, deren Tische entlang der Promenade sich füllten, und die Flaneure, die Urlaub und Zeit hatten, die nichts antrieb als ihre Sehnsucht nach Cappuccino, Spritz und italianità, deretwegen sie die stundenlange Fahrt über den Brenner in Kauf nahmen und gekonnt die vielen Gleichgesinnten, die sich vor, neben, und hinter ihnen drängten, ausblendeten.

Ein Kellner kam schließlich an ihren Tisch und sie bestellte sich einen Amarena-Eisbecher. Wer wusste schon, ob sie überhaupt zum Mittagessen käme? Hunger verspürte sie keinen, dazu war sie viel zu nervös. Aber ein kühles Vanilleeis mit den von ihr sehr geschätzten dunklen Kirschen, die man in einen herbsüßen Sirup einlegte, war jetzt genau nach ihrem Geschmack.

Erneut galt ihr Blick ihrer kleinen Armbanduhr. Avvocato Michele Vivani musste nun jeden Augenblick auftauchen. Was sollte sie tun, wenn er nicht kam? Was in Gottes Namen sollte sie ihrem Mandanten erzählen, der in den USA saß und mit Sicherheit sehnlichst ihren Anruf erwartete, wissen wollte, ob sie ihre Mission erfüllt hatte?

Obwohl vom See immer noch eine angenehme Brise hereinwehte, merkte sie, wie die Temperatur unaufhaltsam anstieg. Bald war es Mittag und dann würde sie froh sein, dass sie im schattigen Inneren der Arkaden saß. Für Vivani blieb nur der Stuhl gegenüber und dieser lag inzwischen voll in der Sonne. Ein römischer Anwalt sollte damit zurechtkommen, dachte sie nicht ohne eine gewisse Schadenfreude. Auf der Piazza Brà in Verona hätten sie es unter den großen und breiten Markisen der Straßencafés deutlich kühler und bequemer gehabt. Ihr Hotel lag nur wenige Schritte von der Arena entfernt. In fünf Minuten hätte sie die Liston Bar erreicht, die sie zunächst als Treffpunkt vereinbart hatten. Nun denn, jetzt saß sie in Malcesine und wartete mit steigender Ungeduld und einem mulmigen Gefühl im Magen.

Der Kellner stellte den Amarena-Eisbecher auf dem Tisch ab und verschwand sofort wieder in den Tiefen des Cafés. Das Lokal verfügte über verschiedene Räume und Sitzmöglichkeiten. Direkt im Anschluss an die Arkaden folgte eine schmale Terrasse unter freiem Himmel entlang des Hafenbeckens. Außerdem war ein großzügiger Gastraum mit vielen Tischen entlang des Seeufers gebaut. An windigen Herbsttagen ließ sich der Blick durch Glasscheiben auf den See genießen. Das Café konnte sich nicht über Besuchermangel beklagen. Monika griff sich den langstieligen Chromlöffel, tauchte ihn in die Sahnehaube und versuchte, die erste Kirsche, die durch das beschlagene Glas sichtbar war, herauszufischen. Schließlich glänzte die Frucht animierend auf dem Löffel und Monika schob sich die süße Köstlichkeit mit Genuss in den Mund. Auch das Vanilleeis schmeckte angenehm kühl und zerging auf der Zunge. Nach einigen Löffeln fühlte Monika bereits eine gewisse Sättigung, legte das Besteck beiseite, griff in ihre Handtasche und holte eine großformatige, kartonierte Broschüre heraus, die sie sich auf den Schoß legte.

Ihre Finger zitterten ein wenig, als sie darin zu blätterten begann, bis sie die Reproduktion von Malcesine am Gardasee, gemalt vor über 100 Jahren von Gustav Klimt, vor sich hatte. Ihre Nervosität war inzwischen so groß, dass sich ihr empfindlicher Magen meldete. Das kalte Eis hatte ihr nicht gutgetan. Eine ganze Doppelseite war dem Gemälde gewidmet und zeigte den Ort, wie es schien, vom Wasser aus. Damit ähnelte es motivisch dem Ölbildchen, das Monika erstanden hatte. Klimt hatte ebenfalls mit Ölfarben gearbeitet, gedeckte Farben gewählt, falls die Reproduktion dem Original nahekam. Auch hier dominierten die dicht an dicht gebauten Häuser, die gestaffelt nach hinten und oben gemalt waren, die Komposition. Sogar das Heck des Zweimasters, der wenige Meter vor ihr im Hafenbecken lag und angeblich aus dem Jahr 1926 stammte, hatte Klimt schon 1913 eingefangen. Dennoch schien der Bildausschnitt ein anderer zu sein als der des Hobbymalers. Monika griff nochmals in die Handtasche, holte ihre Neuerwerbung hervor und hielt sie neben die Klimt-Reproduktion. Die Standpunkte der beiden Maler waren unterschiedlich gewählt. Aber das war nicht weiter verwunderlich. Weshalb sollte der Hobbykünstler es darauf anlegen, die Klimt-Perspektive einzunehmen? Beide Ansichten zeigten Malcesine und trotzdem würde nie ein Bild dem anderen gleichen, auch wenn es sich immer wieder um dasselbe Motiv handelte. Dennoch fand sie die Gegenüberstellung der beiden Bilder interessant. Ihre Begeisterung für Kunst und Gemälde gewann mal wieder die Oberhand. Entschlossen schob sie das kleine Gemälde in ihre Handtasche zurück. Was sollte Vivani von ihr denken, wenn er sie mit einem solchen Souvenir zweifelhafter Qualität entdeckte?

Die Kirchturmuhr schlug die volle Stunde. Nun konnte es sich nur noch um Minuten handeln, bis der Kollege kam. Dann würden sich ihre Sorgen und die Nervosität mit Sicherheit in Luft auflösen. Sie nahm erneut den Eislöffel zur Hand und rührte in der inzwischen zerlaufenen Eismasse gedankenverloren herum. Der Kirschsirup hatte sich mit dem Vanilleeis vermengt und sah in seiner schlierigen Konsistenz nur noch halb so appetitlich aus. Sie fand am Grund des Glaspokals eine letzte Amarenakirsche, die sie langsam mit dem Löffel an der Glaswand hochzog, als sie unvermittelt einen spitzen Schmerz seitlich am Hals spürte. Erschrocken schrie sie auf, warf den Löffel auf den Tisch und begann mit den Händen wild um sich zu schlagen. Ganz gewiss hatte sie eine Wespe oder Biene in den Hals gestochen, angelockt durch den süßen Geruch der Amarena-Kirschen. Sie befühlte die Stelle und spürte, wie diese rasch anschwoll. Gleichzeitig fing ihr Puls heftig und immer schneller zu schlagen an, das Atmen fiel ihr zunehmend schwer und sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Der Hals war plötzlich wie zugeschnürt. Noch nie hatte sie allergisch auf Insektenstiche reagiert. Schweiß trat ihr auf die Stirn und sie zerrte an der Bluse im verzweifelten Versuch, mehr Luft und Abkühlung auf die heiße Haut zu bekommen. Doch schließlich wurde ihr schwarz vor Augen. Die Broschüre rutschte ihr vom Schoß und fiel mit einem Platsch auf den Terrassenboden. Monika Bacher verlor den Halt und kippte vom Stuhl, vornüber auf den Boden zu, wo sie endlich leblos und nahe der Wasserkante auf dem warmen Steinboden zu liegen kam.

2

Verona, 1 Stunde und 45 Minuten zuvor

Im dritten Stock des Hotel Merano, in Sichtweite zur Arena di Verona und genau über Monika Bachers Zimmer 215, saß Pierre Regnier am Schreibtisch und sah auf den Bildschirm seines Laptops. Ihm war wohl bewusst, wer unter ihm logierte, und er fragte sich, ob sein Handeln irgendetwas am Verlauf der Auktion ändern würde, deretwegen er angereist war. Ob er überhaupt handeln konnte? Und vor allem wie?

Seit Wochen stand er in direktem Mailaustausch mit Abdul, einem Sekretär des Scheichs von Abu Dhabi. Ob Abdul wirklich so hieß, ob er wirklich zum inneren Zirkel des Scheichs gehörte oder nur irgendein Günstling und Zuträger der Herrscherfamilie des Emirats war, wusste Pierre nicht. Und es spielte für ihn auch keine große Rolle. Was jedoch eine enorme Rolle für ihn spielte, war sein Auftrag. Einen Auftrag von dieser Dimension hatte er noch nie erhalten. Als Kunstagent in Paris tätig, hatte er immer mit potenten Kunden zu tun, hatte er sich an zweistellige Millionenbeträge gewöhnt. Seine Kundschaft saß in den Chefetagen großer Konzerne, in den Schlössern europäischer Adels- und Königshäuser oder in Villen von Privatiers und Oligarchen an der Côte d’Azur, die nicht wussten, wohin mit ihren Millionen, die sie geerbt, auf dem Börsenparkett mit Erfolg spekuliert oder auf illegalen Wegen ergaunert hatten. Wie die einzelnen Kunden zu ihrem Geld gekommen waren, war Pierre herzlich egal. Er arbeitete für jeden, der es sich leisten konnte, bei den großen, internationalen Auktionen mitzubieten und ihm anschließend ein stolzes Honorar zu bezahlen. Er ging bei Christie’s und Sotheby’s so regelmäßig ein und aus wie andere beim Supermarkt um die Ecke. London und New York kannte er ebenso gut wie die Rue de Rivoli nahe den Tuilerien in Paris. Dort, im Haus Nummer 208, über einer Arkade mit belebten Geschäften, hatte er sein Büro. Die für ihn wichtigsten Museen der Stadt konnte er bequem fußläufig erreichen: das Musée du Louvre selbstverständlich, wo er sich stundenlang aufhalten konnte, das Musée d’Orsay, wo ihn die französischen Impressionisten immer wieder aufs Neue begeisterten, oder das Musée des Arts décoratifs, wo eine permanente Ausstellung von Jugendstilmöbeln an grauen, regnerischen Tagen die beste Medizin gegen Depressionen war. Seine Kunstleidenschaft hatte selbst für ihn manches Mal fast etwas Manisches.

Pierre Regnier schob den Stuhl zurück und stand auf. Er war nervös wie selten. Einige wenige Schritte trennten ihn von der Balkontür, vor die er den schweren Samtvorhang gezogen hatte. Nicht nur die Hitze sollte draußen bleiben, sondern auch diese provinzielle Kleinstadt, die sich auf ihre Arena und ihre Geschichte so viel einbildete. Das Museum der Stadt konnte man schlicht vergessen. Es war schon schauerlich, was Generationen von Museumsleuten für einen belanglosen Schrott eingekauft und gesammelt hatten. Mit steifem Zeigefinger schob er den Stoff ein Stück beiseite und linste auf das römische Gebäude und die Via Mazzini, die einzig wahre Einkaufsstraße von Verona, hinunter.

Sein Besuch stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Eine Buchung im Hotel Excelsior an der Piazza Brà war nicht möglich. Alles ausgebucht. Was er als persönliche Niederlage betrachtete, Es blieb ihm nichts anderes übrig, als im zweitklassigen Hotel Merano zu nächtigen. Aber die Casa d’Aste und ihre Auktionatorin, die er am Abend zuvor auf einer mittelmäßigen Vorbesichtigung, der sogenannten Preview, zum ersten Mal gesehen hatte, setzte allem die Krone auf. Eine spindeldürre Person – angetan mit einem schwarzen Hosenanzug und mit riesiger, schwarz gerahmter Brille auf der Nase –, die sich auf ihr Geschäft und die kleine Auktion in Malcesine mords was einbildete. Verona war schon ein Nest. Aber Malcesine!

Der Ort, direkt am Gardasee gelegen, hatte ihm am gestrigen Abend regelrecht einen Kulturschock versetzt. Mit solchen Menschenmassen in schlechter Kleidung, die sich durch die engen, dunklen Gassen schoben, hatte er nicht gerechnet. Er kannte die Erzählungen von Kollegen und Kunden, die von den pittoresken Städtchen in Italien schwärmten, von Orten in der Toskana, in Umbrien oder an der Amalfi-Küste, und ihm immer wieder einredeten, dass er etwas versäumte, dass er dort unbedingt einmal Urlaub machen sollte. Na, danke schön, dachte er jetzt erneut angewidert. Sogar die Ortschaften in Frankreich, irgendwo im Burgund oder in der Normandie, mit ihren niedrigen grauen Steinhäusern mied er schon aus Prinzip. Er war an Metropolen gewöhnt, an Kunstgalerien und Museen, die diesen Namen auch verdienten. Allenfalls die Biennale in Venedig ließ er gelten. Da war er natürlich jedes Jahr. Aber alles andere von Bella Italia konnte ihm gestohlen bleiben. Selbst Rom lockte ihn nicht mehr. Die römischen Altertümer, genau solche, wie er es sich gerade durch das Hotelfenster ansehen konnte, waren nicht nach seinem Geschmack. Durch hunderte von Kirchen zu pilgern, die viele hunderte von Jahren alt waren, überließ er dem deutschen Bildungsbürgertum, das in geschlossenen Gruppen durch die vatikanischen Museen trampelte und in Ergriffenheit erstarrte. Diese Art von Kunst ließ er gern links liegen. Das war nicht seine Welt. Kunst begann bei ihm Ende des 19. Jahrhunderts. Das Beste, was es auf diesem Sektor gab, was sich verkaufen ließ wie warme Semmeln, stammte aus den Jahren von 1880 bis in die 1960er. Das war ein genügend großer Zeitraum, um lohnenswerte Geschäfte abzuwickeln. Allerdings manche alten Meister waren durchaus auch noch lukrativ.

Die Preview, zu der die Casa d’Aste Colombo im Palazzo dei Capitani am gestrigen Abend eingeladen hatte, war dagegen ein Witz gewesen. Ganze fünf Gemälde wurden dem handverlesenen, internationalen Publikum präsentiert. Neben drei Barockschinken von ihm völlig unbekannten Malern gab es noch eine Mariendarstellung von einem Schüler Guido Renis, der ihn absolut nicht interessierte. Mal abgesehen von einem Zeitgenossen Gustav Klimts, dem Veroneser Künstler Guido Trentini, dessen Namen Pierre sich durchaus merken wollte, drehte sich alles um das Gemälde Malcesine am Gardasee des österreichischen Malers, dessentwegen sie alle angereist waren. Kredenzt wurde ein handelsüblicher Prosecco, begleitet von Grissini-Stangen, die in Pokalen aus Muranoglas steckten, immerhin – er musste die Marinelli fragen, wo es diese Glaspokale zu kaufen gab. Keiner der Gäste hätte diese Preview gebraucht. Schließlich hatten sie neben der schriftlichen Einladung auch den Auktionskatalog erhalten. Doch jeder hatte angenommen, dass es zumindest exquisite Häppchen geben würde und Champagner in großzügiger Menge. Aber da hielt sich das Auktionshaus sehr dezent zurück.

Dennoch, dies alles hätte Pierre Regnier noch weggesteckt, denn einen Klimt bei einer Versteigerung anzubieten, bedeutete für das Auktionshaus eine Sensation und für ihn selbst die einmalige Chance, einen Klimt zu ersteigern, die sich in seinem Leben nicht wiederholen würde. Aber dann hatte ihn ein Mann, Alessandro Bonaventura, angesprochen und ihn verschwörerisch beiseite genommen.

»Ich habe mich über Sie schlau gemacht, Monsieur Regnier.«

Das war ein durchaus vielversprechender Anfang eines denkwürdigen Gesprächs gewesen. Bonaventura sprach hervorragend Französisch. Diese Tatsache allein genügte, um sich von dem Mann einnehmen zu lassen. Er imponierte Pierre noch aus anderen Gründen: Er trug eine Lässigkeit zur Schau, die Pierre beneidenswert fand, vor allem deshalb, weil er nicht in der Lage war, es ihm gleichzutun. Dazu fehlten ihm die Statur und die Haarpracht. Bonaventura trug völlig salopp, als hätte er Jeans und Poloshirt für den Abend gewählt, einen schwarzen Seidenanzug, ergänzt durch ein weißes Seidenhemd, das er nur nachlässig in den Hosenbund geschoben hatte. Er schenkte diesem edlen Stoff keine besondere Aufmerksamkeit. Jedes Mal, wenn er die Hand in die rechte Hosentasche schob, bauschte sich das Hemd deutlich über dem schwarzen Gürtel aus Krokodilleder und hing schließlich komplett aus dem Hosenbund heraus. Es schien ihn nicht zu stören, er schien es nicht einmal zu bemerken. Bonaventura mochte um die fünfzig Jahre alt sein, vielleicht auch ein wenig älter. Er war schwer zu schätzen. Denn sein gewelltes Haar zeigte nur vereinzelte graue Fäden und es reichte ihm bis über den Hemdkragen. Von Natur aus mit getönter Gesichtsfarbe gesegnet, wirkte der Mann gesund und entspannt. Sein Bariton war einschmeichelnd, dabei aber gut verständlich. Er stellte sich als freischaffender Kunstgutachter vor, der hin und wieder auch für das Auktionshaus Casa d’Aste Colombo tätig wurde. Nonchalant hielt er Pierre seine Visitenkarte hin, die dieser, ohne einen Blick darauf zu werfen, in seine Sakkotasche schob. Farblich zumindest konnte er mit dem Gutachter mithalten. Aus Prinzip war Pierre immer in Schwarz gekleidet. Und so trug er auch an diesem Abend einen schwarzen Anzug, kombiniert mit einem schwarzen, langärmeligen Hemd, das am Kragen offenblieb. Wie neunzig Prozent der anderen Gäste glaubte auch er, dass Schwarz die adäquate Farbe kunstsinnig Kreativer war, auch wenn sie für Außenstehende vermutlich eher einer Beerdigungsgesellschaft glichen.

»Signora Marinelli und ich sind der Meinung, dass Sie der Käufer sind, der den Klimt für einen sehr hohen Preis ersteigern wird.«

»Halten Sie mich für dumm?«

Bonaventura lachte ein dunkles Lachen und schüttelte dabei leicht den Kopf. Er wollte nicht missverstanden werden.

»Keineswegs! Wir denken, dass Sie im Auftrag eines sehr potenten Kunden nach Malcesine gereist sind, der den Klimt unter allen Umständen seiner Sammlung zuführen will. Signora Marinelli hat Sie auf Empfehlung von einem Londoner Auktionshaus eingeladen.«

Da schau her, dachte Pierre überrascht. Wie kam er zu der Ehre?

»Kommen Sie!« Alessandro Bonaventura fasste ihn unvermittelt am Unterarm und führte ihn in einen Nebenraum des Palazzo, der von einem großen, offenen Kamin dominiert wurde und von einer bemalten Holzdecke überspannt war.

»Hier ist es nicht ganz so laut.«

Pierre konnte nicht umhin, die Decke zu bewundern. Die Räume des Piano nobile, dem am besten und edelsten ausgestalteten Geschoss in einem historischen, italienischen Palazzo, waren alle mit Terrazzoböden belegt, durch Wandfresken geschmückt und mit sehr alten, bemalten Holzdecken ausgestattet. Er nahm an, dass die Innenausgestaltung aus dem 16. oder 17. Jahrhundert stammte. Das Gebäude selbst war wohl bedeutend älter. Beeindruckend auf gewisse Weise, aber insgesamt wirkte der Bau schmucklos und sehr einfach. Französische Adelige hätten es zweifelsohne abgelehnt, in solchen Gemäuern zu hausen.

»Signora Marinelli und ich gehen davon aus, dass Sie für russische Oligarchen oder Kunden aus dem arabischen Raum beauftragt werden.« Bedeutungsvoll sah Bonaventura in das Gesicht von Pierre Regnier.

Dieser tat alles, um seine Überraschung zu verbergen. »Und wenn es so wäre?«, fragte er möglichst unbeteiligt nach. »Sie haben übrigens meine guten Kontakte zu japanischen Millionären vergessen!«

»Ein interessanter Hinweis.« Alessandro Bonaventura verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Wir haben Befürchtungen, dass die Auktion kurzfristig abgesagt werden muss!«

Dieses Mal schaffte es Pierre Regnier nicht, unbeteiligt aus der Wäsche zu schauen. Erschrocken starrte er den Kunstgutachter an.

»Wie kommen Sie auf diese Idee?«

»Signora Marinelli wird bedroht! Man hat ihr anonyme Briefe geschickt. Sollte sie die Auktion wie angekündigt durchführen und vor allem den Klimt zur Versteigerung aufrufen, würde ihr oder dem Gemälde großer Schaden zugefügt werden.« Bedeutungsvoll blickte Bonaventura zur offenstehenden Tür, die in den großen Ballsaal des Piano nobile führte, wo auf Staffeleien die fünf Gemälde in gebührlichem Abstand voneinander aufgestellt waren. So konnten die Besucher mehr oder weniger ungestört die Exponate begutachten.

»Sehen Sie die schlanke Dame im roten Etuikleid? Patrizia und ich nehmen an, dass diese Dame hinter den Briefen steckt.«

Pierre folgte dem Blick des Gutachters. Ihm kam diese Anschuldigung ziemlich abstrus vor. Die Dame wirkte komplett ungefährlich, um nicht zu sagen, sie wirkte unauffällig, selbst in ihrem roten Kleid zwischen all den schwarz Gewandeten. Ein gedecktes Bordeaux, darüber hatte sie – immerhin – einen schwarzen Spitzenschal geschlungen. Bisher hatte Pierre von ihr überhaupt keine Notiz genommen. Mit ihren aschblonden Haaren und den flachen Ballerinas hatte sie nichts an sich, was ihn als Mann besonders interessierte.

»Wie kommen Sie denn auf diese Idee?«

»Lassen Sie sich nicht vom Äußeren täuschen. Die Deutsche verfolgt ganz eigene Ziele – die uns allen nicht gefallen würden, könnte sie sie zu einem Ende bringen.«

»Wie wäre es, wenn Sie sich deutlicher ausdrücken würden?« Pierre verlor immer mehr die Geduld. Hielt ihn Bonaventura für einfältig genug, diesen Andeutungen Glauben zu schenken?

»Deutlicher kann ich nicht werden, denn außer der Drohung, die ich Ihnen gerade geschildert habe und die wir sehr ernst nehmen, liegt uns noch nichts vor. Wir hoffen, die Dame noch irgendwie vom Besuch der Auktion abhalten zu können. Verstehen Sie?«

Nein, Pierre Regnier verstand überhaupt nicht. Was erwartete der Typ von ihm?

»Signora Marinelli erwägt, das Bild im Vorfeld zu verkaufen. Unter der Hand! Für einen angemessenen Preis.« Erwartungsvoll blickte Alessandro Bonaventura dem Kunstagenten ins Gesicht.

Daher also wehte der Wind, dachte Pierre mit einer gewissen Genugtuung. Offenbar war sich das Auktionshaus nicht sicher, den Klimt für eine gehörige Stange Geld unter die Leute zu bringen, und hoffte nun auf einen Dummen, der im Vorfeld ein Sümmchen auf den Tisch legte, von dem die beiden annahmen, dass es über dem Preis lag, den die Auktion einbringen würde.

»Was halten Sie denn für einen angemessenen Preis?«

Wie aus der Pistole geschossen folgte die Antwort: »Achtzig Millionen Euro!«

Nun war es Pierre Regnier, der lauthals lachte.

»Nicht mit mir, mein Lieber! Suchen Sie sich einen anderen Dummen.« Er tippte sich an die linke Schläfe zum kurzen Gruß und schritt entschlossen auf den Ballsaal zu. Bonaventura unternahm keinen Versuch, ihm zu folgen.

Pierre hatte für den Rest des nicht mehr langen Abends die Deutsche in ihrem roten Kleid beobachtet, die mit Ausdauer und sichtlicher Ergriffenheit die meiste Zeit vor dem Klimt-Gemälde stand, als wollte sie es in sich aufsaugen, für alle Ewigkeit in Erinnerung behalten, bevor es von jemandem ersteigert und vielleicht für immer in einem privaten Anwesen verschwinden würde – erneut verloren für die Allgemeinheit. Als sie den Palazzo dei Capitani schließlich verließ, folgte er ihr bis zum Parkplatz vor dem Municipio. Sein gemieteter Porsche stand nur wenige Meter von ihrem Auto entfernt. An der Einfahrt zur Tiefgarage ins Hotel trafen sie erneut aufeinander.

Pierre Regnier ging zur Minibar und holte sich ein kaltes Tonic Water. Er trank direkt aus der Flasche. Zum wiederholten Male setzte er sich gedanklich mit dem Abend und seinen Begleitumständen auseinander. Weshalb die Casa d’Aste Colombo die vermutlich einträglichste Auktion ihrer Firmengeschichte nicht am Hauptsitz der Firma in Mailand durchführte, war ihm ein absolutes Rätsel. Hatte allein der Titel des Bildes Malcesine am Gardasee Patrizia Marinelli dazu bewogen, die Auktion am Entstehungsort des Gemäldes stattfinden zu lassen? Und dieser Frau und ihrem mittelmäßigen Auktionshaus, von dem er zuvor noch nie gehört hatte, und das wollte etwas heißen, sollte er demnächst dreißig, vierzig oder, wie vor wenigen Stunden dreist vorgeschlagen, vielleicht sogar achtzig Millionen Euro in den Rachen schmeißen? Er hatte keine Ahnung, wie hoch die Bieter gehen würden, wer überhaupt alles von den potenten Käufern, Museen und Auktionshäusern eingeladen worden war. Die Personen des gestrigen Abends waren ihm bis auf Kenneth O’Connor aus London, der für Soho Fine Art Auction arbeitete und vermutlich Pierres Namen an das Haus in Mailand verraten hatte, nicht bekannt vorgekommen. Und ganz gewiss würden deutlich mehr Bieter am Freitag zur Auktion erscheinen, als am gestrigen Abend im Palazzo dei Capitani anwesend waren. Zudem hatte er kaum Sicherheitsmaßnahmen erkennen können. Personal einer Security-Firma stand mehr oder weniger gelangweilt in der Gegend herum und blickte desinteressiert die Besucher an. Aber Kameras hatte er nirgendwo entdeckt. War es möglich, dass man ein Gemälde dieses Wertes und dieser Bedeutung einfach so in den Ballsaal des Palazzo stellte? Gab es so viel Naivität oder hatte er Kartoffeln auf den Augen gehabt? Oder hatte man gar nicht vor, den Klimt aufzurufen? Allein ihn auf der Preview auszustellen, war ein enormes Risiko gewesen. Regnier hatte keinen Zweifel, dass es sich um das Original gehandelt hatte.

Patrizia Marinelli hatte sich bei ihrem gemeinsamen Cocktail in der Excelsior-Bar sehr bedeckt gehalten. Sie hatte ihm die Namen der geladenen Gäste nicht verraten, sondern nur ihren tiefroten Mund zu einem schiefen Lächeln verschoben und gemeint: »Lassen Sie sich überraschen, Signore!«

Überraschungen waren das Letzte, was er leiden konnte, und als Signore tituliert zu werden, war entschieden unter seinem Niveau. Monsieur hätte es besser getroffen. Er war Pariser durch und durch und Spross einer angesehenen Familie. Bonaventura hatte das stilsicher erkannt. Die meisten Leute, mit denen er zu tun hatte, verfügten über genügend Menschenkenntnis, um den Stallgeruch, den er verbreitete, richtig einordnen zu können. Pierre Regnier trank das Tonic Water aus und legte sich aufs Bett. Eine kleine Nachttischlampe erhellte den Raum nur wenig, was ihn nicht störte. Ganz im Gegenteil. Die Zimmerausstattung im Italo-Barock-Stil empfand er als absolute Beleidigung seiner geschulten Augen, die sich nur mit den exquisitesten Möbeln und Kunstwerken zufriedengaben. Mittelmäßigkeit war ihm ein Gräuel. Und Verona war für ihn der Inbegriff der Mittelmäßigkeit. Auch die Deutsche im roten Kleid gehörte in diese Kategorie. Seine Erfahrung sagte ihm, dass von dort keine Gefahr drohte. Aber er konnte sich irren.

Pierre stand vom Bett auf, holte seinen Laptop aus dem Schlafmodus und las die Mail, die ihm Abdul wenige Stunden vor der Preview geschrieben hatte, nochmals gründlich durch.

»Cher Pierre«, schrieb Abdul, »der Scheich von Abu Dhabi, der gütige Vater unseres Volkes und aller Untertanen in den Arabischen Ländern unserer Freunde, wünschen dir Glück, Erfolg und gute Geschäfte. Der Louvre Abu Dhabi wartet auf sein wunderbarstes Gemälde, das dort in einem eigens dafür gestalteten Raum seinen Platz für die Ewigkeit erhalten soll, mit großer Sehnsucht.

Allah möge dir die Weisheit und die Tüchtigkeit verleihen, damit das Gemälde bald die Sonne Arabiens fühlen kann und alle unsere Untertanen und Völker es mit eigenen Augen bewundern können.

Der Scheich von Abu Dhabi ist überzeugt davon, dass du in seinem Sinne auf die Kosten achten und keinen Preis bezahlen wirst, der dem Kunstwerk nicht angemessen ist. Eine Überforderung der Staatskasse von Abu Dhabi würde er persönlich übelnehmen und dich dafür verantwortlich machen.

Allah sei mit dir! Abdul«

Pierre Regnier begann zum wiederholten Mal eine Antwortmail zu schreiben und ließ es dann erneut bleiben. Der letzte Absatz war eine deutliche Drohung, die er nicht gewillt war zu akzeptieren. Und er hielt sie für um vieles gefährlicher als die Deutsche in ihrem roten Kleid. So oder so! Er musste handeln. Einschüchterungen, von wem und von welcher Seite auch immer, ließ er sich nicht bieten. Er hatte immer noch Mittel und Wege gefunden, sich zu wehren. Wie um sich zu versichern, stand er erneut vom Stuhl auf, öffnete den Kleiderschrank und den kleinen Safe, der sich darin befand. In dem wenig geräumigen Fach hatte seine Beretta FS 92, die er vor Jahren auf dem Schwarzmarkt zu seiner persönlichen Sicherheit angeschafft hatte, gerade genügend Platz. Nichts würde ihn aufhalten, den Klimt zu erwerben. Auf welche Weise auch immer. Dass der Scheich im Zweifelsfall ihm die Schuld für ein Versagen geben würde, war mehr als gewiss. Es war todsicher. Er musste den Zuschlag für den Klimt bekommen. Koste es, was es wolle! Inschallah fügte er gedanklich hinzu – so Gott will!

Seinem geschulten Ohr entging nicht, dass im Zimmer unter ihm ein eben erst begonnenes Telefonat lauter wurde. Die Frauenstimme versuchte, dem Anrufer etwas mitzuteilen, die laute Stimme verriet ihre Erregung. Wenig später fiel die Zimmertür ins Schloss.

Pierre griff sich die Waffe, schob sie in den Hosenbund seiner schwarzen Armani-Jeans, schlüpfte in sein schwarzes Anzugsakko, nahm die Wagenschlüssel, die auf dem Nachtkästchen lagen, und eilte zum Lift. Wenn er die Stockwerkanzeige richtig interpretierte, dann fuhr die Deutsche gerade Richtung Tiefgarage. Er wandte sich der Treppe zu und eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, ebenfalls hinunter. Er wollte ihr zumindest folgen. Mal sehen, was sie vorhatte.

3

Verona, 13.00 Uhr

Antonio Fontanaro saß im Büro in der Questura und las seinen Bericht am PC nochmals durch. Staatsanwalt Vincenzo Mauro scharrte schon mit den Hufen und wollte endlich den Abschlussbericht zum Mordfall Spadolini erhalten. Was, in Gottes Namen, sollte Antonio zu diesem völlig unspektakulären Mordfall schreiben? Nicht, dass es spektakulärer Mordfälle bedurfte, um Antonio für seinen Beruf zu begeistern. Beileibe nicht! Doch Angelo Spadolini war eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Ein Küchenmesser steckte in seiner Brust. Seine Frau Maddalena rief nach einer schlaflosen Nacht und am Ende mit den Nerven die Polizei und gestand ohne Umschweife die Tat. Ende der Geschichte. Eine Familientragödie! Gewiss. Aber weshalb sollte dieser Bericht im Eiltempo den Staatsanwalt erreichen? Eine Pressekonferenz würde er deshalb ja wohl nicht abhalten wollen. Doch was wusste man schon? Dottor Vincenzo Mauro tat nichts lieber, als sich selbst ins Rampenlicht zu rücken. Antonio sah auf die Anzeige seines Handys. »13.00« leuchtete dort auf. Es war Mittagszeit. Der Bericht musste warten. Erleichtert schob Antonio seinen Schreibtischstuhl nach hinten, damit er bequem aufstehen konnte, als es an seiner Bürotür klopfte. Wer hielt ihn vom Mittagessen ab? Keine gute Zeit, ihn zu stören.

»Avanti!«

Die Tür wurde geöffnet und auf der Schwelle erschien eine Antonio Fontanaro sehr bekannte Person.

Freudig ging er seinem Besucher entgegen. Von ihm ließ er sich doch gerne stören.

»Dottore! Welche Freude Sie zu sehen! Wie geht es Ihnen? Was verschafft mir die Ehre Ihres unerwarteten Besuchs?«

Die Herren schüttelten sich die Hände.

»Buongiorno, Commissario! Darf ich Sie zum Mittagessen entführen? Bruno hält uns einen Tisch frei!«

»Großartig! Welch wunderbare Idee, Dottore. Haben Sie etwas zu feiern? Wurden Sie gar vom lauten Rom hierher nach Verona versetzt und wollen nun mit mir auf diese Beförderung anstoßen?«

Erheitert lachte Avvocato Michele Vivani auf. »Leider nein! So viel Glück habe ich nicht!«

Nahezu im Laufschritt bahnten sich die beiden durch Scharen von Touristen den Weg zum Ristorante Da Bruno, das Antonio fast so gut kannte wie die Küche seiner Frau Marissa. Auf dem kurzen Weg von der Questura in die Altstadt von Verona und schließlich ins Restaurant tauschten sie Belanglosigkeiten aus. Kurze Zeit später begrüßte Bruno seine Gäste überschwänglich und hatte schon zwei Gläser Spumante bereitgestellt.

»Ich freu mich sehr, Sie wiederzusehen, Dottore. Sie sehen gut aus!« Zu Antonio gewandt meinte er: »Ich kümmere mich um euer Menü. Es ist schon spät und die Auswahl nicht mehr üppig. Lasst euch überraschen!«

Antonio war damit gerne einverstanden. Noch nie hatte ihn die Küche von Bruno enttäuscht. Er prostete Michele Vivani zu und sagte dann, ernst geworden: »Allora, Dottore, ich mag mir ja einbilden, dass Sie eigens hierhergereist sind, um mit mir in Ruhe zu speisen. Doch allein mir fehlt der Glaube daran. Was führt Sie so überraschend nach Verona?«

Auch Avvocato Dottor Michele Vivani war ernst geworden. Er nickte zustimmend und strich gedankenverloren mit der rechten Hand über das feine weiße Tischtuch aus Damast. Dann blickte er auf und sagte: »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Commissario, dafür, dass ich Sie so unerwartet mit meinem Besuch behellige.«

Antonio schwieg und sah aufmerksam ins Gesicht des nicht mehr ganz so jungen Anwalts. Wenn er richtig rechnete, musste Vivani inzwischen auch die vierzig überschritten haben. Vor drei Jahren hatten sie gemeinsam einen Fall gelöst1. Die Zusammenarbeit mit ihm, der für die Carabinieri in Rom bei einer Sondereinheit tätig war, zuständig für Kunst- und Kulturdelikte, hatte er in bester Erinnerung. Vivani war ein schlauer Kopf, ein akribischer und nimmermüder Ermittler, der seine Stärken vor allem auch als Undercover-Spezialist hatte. Außerdem gehörte er zu der Sorte Italiener, die noch wussten, was bella figura bedeutete. Immer mehr junge Leute schienen das Gefühl für angemessene Kleidung inzwischen verloren und gegen ausgebeulte Jogginghosen und grellfarbige Achselshirts eingetauscht zu haben. Auch jetzt saß ihm Vivani in perfekt geschnittenem Anzug gegenüber. Das Wollgewebe war in dezentem Aschgrau gearbeitet und von feinen, dunkelblauen Streifen durchzogen. Dazu trug Vivani ein dunkelblaues, langärmeliges Hemd. Antonio bekam schon beim Anblick einen Schweißausbruch. An diesem Septembertag waren es in Verona zur Mittagszeit nahezu dreißig Grad. Aber der gebürtige Neapolitaner kam mit solchen Temperaturen offenbar sehr gut zurecht. Fontanaro selbst trug ein dünnes, apricotfarbiges Polohemd und eine dünne, dunkelblaue Chinohose. Auch er wusste, was er sich und seinem Berufsstand schuldig war. Das dunkelblaue Sommerjackett hatte er ob der Mittagshitze lieber in der Questura zurückgelassen.

»Einerseits hoffe ich, Sie nicht umsonst aufgesucht und belästigt zu haben«, sprach Michele Vivani nun in Antonios Gedanken hinein, »andererseits hoffe ich genau das!«

Antonio nahm einen Schluck Spumante und wartete ab.

»Ich hatte heute um elf Uhr eine Verabredung mit einer deutschen Anwaltskollegin. Wir wollten uns auf der Piazza Brà in der Liston Bar treffen, doch sie ist nicht aufgetaucht. Ich habe über eine Stunde gewartet, schließlich versucht, sie telefonisch zu erreichen, aber vergebens. Ich bin in Sorge um die Avvocatessa, wenn ich ehrlich bin. Sehr in Sorge sogar. Ich weiß, dass Sie nicht für die Vermisstenstelle arbeiten, Commissario, und ich weiß, dass es viel zu früh ist, um Nachforschungen anzustellen, aber genau das erhoffe ich mir von Ihnen.«

Antonio setzte zu einer Antwort an, doch Vivani brachte ihn mit einer Geste seiner rechten Hand zum Innehalten.

»Ich weiß genau, was Sie sagen wollen. Es ist zu früh. Es gibt für diese Verspätung oder das Nichterscheinen eine plausible Erklärung. All das habe ich mir auch eingeredet und dann habe ich mich doch dazu entschlossen, Sie aufzusuchen, weil ich nicht glaube, dass die Avvocatessa ohne triftigen Grund unsere Verabredung versäumt hätte.«

»Sie vermuten, es ist ihr etwas zugestoßen?«

»Genauso ist es!«

»Sollten wir dann nicht auf das Mittagessen verzichten und rasch Nachforschungen anstellen?« Antonio machte diesen Vorschlag allerdings nicht ohne Vorbehalt, denn ihm krachte der Magen.

Anstelle einer Antwort sprang Avvocato Michele Vivani von seinem Stuhl auf und drückte dem überrascht dreinschauenden Bruno einen Geldschein in die Hand. »Nehmen Sie es uns nicht übel, Bruno, wenn wir schon wieder aufbrechen.«

»Non c’è problema, Dottore!« Wenn der Wirt brüskiert war, ließ er es sich zumindest nicht anmerken.

Fontanaro schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter und sagte: »Keine Sorge, Bruno, wir kommen wieder!«

»Certo!«, sagte der lachend und räumte die Sektkelche ab.

Wenig später stand Fontanaro neben Vivani auf der Straße und sah ihn erwartungsvoll an. »Wo sollen wir beginnen? Was schlagen Sie vor?«

»Ich weiß, in welchem Hotel Avvocatessa Bacher abgestiegen ist. Wir sollten uns ihr Zimmer im Hotel Merano ansehen. Vielleicht treffen wir sie dort an.«

»Haben Sie es denn dort noch nicht versucht?«

»Doch, ich habe mit der Rezeption telefoniert. Man sagte mir, dass Signora Bacher nicht im Haus sei. Ich denke, man kennt Sie hier, Commissario! Vielleicht bekommen wir Zutritt zum Zimmer.«

Antonio war sich da nicht so sicher und Michele Vivani vermutlich auch nicht. Um über Staatsanwalt Vincenzo Mauro einen richterlichen Beschluss für die offizielle Durchsuchung des Zimmers zu erwirken, war es zu früh. Sie hatten nichts in der Hand als das vage Bauchgefühl Vivanis, der glaubte, seine Kollegin hätte ihn nicht einfach nur versetzt.

»Sie müssen einen triftigen Grund gehabt haben, von Rom anzureisen und sich mit der Deutschen zu treffen. Um welchen Fall oder welche Angelegenheit hätte sich ihr Treffen denn drehen sollen?«

»Wenn ich das so genau wüsste, wäre ich deutlich klüger und vielleicht auch beruhigter.«

Antonio hielt mitten im Schritt inne. »Sie wollen mir aber nicht erzählen, dass Sie erst hier in Verona erfahren hätten, weshalb die Avvocatessa Sie sprechen wollte?«

»Nein, ganz so schlimm ist es nicht mit meiner Ahnungslosigkeit. Aber warten Sie ab. Wenn wir im Hotelzimmer auf Ungereimtheiten stoßen, erzähle ich Ihnen das Wenige, was ich weiß. Im anderen Fall setze ich mich in den nächsten Flieger und werde Sie nicht mit Belanglosigkeiten belästigen und Ihnen Ihre kostbare Zeit stehlen.«

Sie waren vor dem Portal des Hotel Merano angelangt, als Antonios Handy in der Hosentasche läutete. Er zog es heraus und hatte seinen Vice Capo, Fausto Castillio, in der Leitung.

»Sag mal, Tonio, wo steckst du? Wir suchen die ganze Questura nach dir ab.«

»Ich hab’ noch zu tun!«, äußerte sich Antonio vage. »Was gibt es denn?«

»Eine Tote in Malcesine. Ich fahre gleich zusammen mit Enrico und Dottoressa Di Silva dorthin, zur Caffè Bar Tre Corone. Wenn ich mehr weiß, melde ich mich.«

Malcesine war so ziemlich der nördlichste Ort am Gardasee, der noch zum Einzugsbereich der Mordkommission von Verona gehörte. Antonio konnte sich nicht erinnern, dort schon einmal in einem Mordfall ermittelt zu haben. Auch war er bestimmt zehn Jahre nicht mehr in dem Touristenort gewesen.

»Gibt es schon Hinweise auf die Identität der Toten?«

»No! Ich melde mich, sobald ich mehr weiß.« Fausto legte auf.

»Eine Tote?«, fragte Michele Vivani besorgt nach.

»Ja, in Malcesine.«

Erschrocken zog Vivani beide Augenbrauen in die Stirn. Aber er fragte nicht weiter nach.

An der Rezeption des Hotels wurde Antonio tatsächlich freudig begrüßt. Soweit war das Kalkül des Ermittlers aus Rom aufgegangen.

»Commissario, welche Überraschung.« Die junge Dame hinter dem Tresen reichte ihm die Hand. Dann schien sie zu überlegen und zu dem Schluss zu kommen, dass der Besuch eines Kommissars im Hotel vielleicht kein gutes Omen war. »Haben wir hier im Haus ein Problem?«, fragte sie vorsichtig.

Antonio schüttelte sofort den Kopf. »No, no! Ich denke nicht. Allerdings würden wir uns gern rasch vergewissern, dass im Zimmer von Signora Bacher alles in Ordnung ist.«

»Naturalmente!« Die junge Frau sah bereitwillig in ihrem Computersystem nach, welche Zimmernummer Frau Bacher hatte, und reichte Antonio ohne zu zögern eine Chipkarte.

»Mit dieser Karte können Sie alle Zimmer öffnen, Commissario.« Sie griff sich einen Notizzettel und schrieb die Nummer 215 auf. »Dies ist die Nummer von Frau Bacher. Bitte bringen Sie mir die Chipkarte persönlich später wieder zurück. Eigentlich darf ich die Karte nicht aus der Hand geben. Aber im Moment bin ich allein an der Rezeption. Sie verstehen?«

Antonio verstand, bedankte sich und stieg dann mit Vivani über den Treppenaufgang nach oben ins zweite Geschoss des Hotels. Vor der Tür von Zimmer 215 blieben sie kurz stehen und lauschten, ob sie Geräusche wahrnehmen konnten. Doch alles war ruhig. Antonio schob die Chipkarte in den Schlitz, ein grünes Lämpchen leuchtete auf und die Tür ließ sich mit einem leisen Klack öffnen. Antonio drückte sie nach innen und stand unvermittelt in einem kleinen, engen Flur. Vor ihm befand sich eine weitere geschlossene Tür. Ganz automatisch griff seine Hand nach hinten, doch er hatte nicht nur das Jackett, sondern auch das Holster in der Questura zurückgelassen. Mit einem fragenden Blick drehte er sich zu Vivani um, der seinerseits die Hand bereits unter sein teures Sakko geschoben hatte und ihm zunickte. Antonio trat beiseite und ließ Vivani den Vortritt. Sicher war sicher! Der Avvocato öffnete nahezu geräuschlos und ohne Hast die nächste Tür. Mit geübten, sehr raschen Bewegungen, die entsicherte Waffe in beiden Händen vor sich haltend, begann er professionell zu prüfen, ob sich im Zimmer jemand aufhielt. Nach einem Blick ins Bad sicherte er die Waffe und ließ sie wieder unter dem Sakko verschwinden. Antonio trat neben ihn und betrachtete das Chaos, das irgendjemand veranstaltet hatte. Der Kleiderschrank war ausgeräumt worden. Die wenigen Stücke, die Monika Bacher mitgebracht hatte, lagen auf dem Boden verstreut. Die Schublade des Nachtkästchens war weit aufgezogen und leer. Ebenfalls leer präsentierte sich die Oberfläche des Schreibtisches, eines typischen Möbelstücks in den gängigen Business-Hotels. Der Stuhl, der dazugehörte, ein klassischer Vertreter des »Italo Barocks« mit geschnörkelter, runder Rückenlehne und rot-gold-gestreiftem Sitzpolster, war umgestoßen worden und lag hinderlich mitten im Raum auf dem Steinboden. Die Balkontür stand offen und der leichte Baumwoll-Voile wehte sacht im Septemberwind. Antonio trat an die schmale Balkonbrüstung und sah in die Tiefe. Von hier aus konnte nur ein sehr geübter Sportler flüchten. Es war nicht anzunehmen, dass der Eindringling diesen Fluchtweg gewählt hatte. Frau Bacher hatte vermutlich vergessen, die Tür zu schließen und das Zimmer so vor der nachmittäglichen Hitze, die unmittelbar bevorstand, zu schützen.

»Was denken Sie, Dottore?«

Der Anwalt hob resigniert beide Schultern. »Wir sind zu spät, Commissario. Hier war jemand deutlich schneller. Nur, was hat er oder sie gesucht?«

»Laptop, PC?«

»Gut möglich. Können Sie die übliche Untersuchung veranlassen?«

Antonio zückte sein Handy, um den Staatsanwalt zu kontaktieren, kam aber nicht weit damit, denn in diesem Moment läutete es. Auf dem Display erkannte er den Anrufer. Fausto meldete sich bereits erneut.

»Ciao, Tonio. Allora, wir haben eine 42-jährige Deutsche mit Namen Monika Bacher tot aufgefunden.«

Antonio stieß einen Seufzer aus und Michele Vivani schlug frustriert mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. Fontanaros Blick sagte ihm alles.

»Todesursache?«

»Tja, die Dottoressa ist sich ziemlich sicher, dass die Deutsche einen Stich mit einer dünnen Nadel in die Halsschlagader abbekommen hat. Der Gesichtsausdruck der Toten ist verkrampft, als hätte sie unter starken Schmerzen oder Luftknappheit gelitten. Doch das sind alles nur Spekulationen, wir müssen die Dottoressa erst einmal arbeiten lassen.«

Antonio brummte unwirsch, wusste aber, dass Fausto natürlich recht hatte.

»Wir haben schon den Leichenwagen bestellt. In einer Stunde wird er in der Questura sein. Petrelli nimmt alle Gegenstände mit, die wir bei der Toten sicherstellen konnten, und führt dann die ersten Ermittlungen durch.«

»Gibt es Zeugen?«

»Wissen wir noch nicht. Enrico klappert gerade alle Gäste ab und will anschließend noch das Bedienungspersonal befragen.«

»Habt ihr bei der Toten einen Laptop oder ein Handy sicherstellen können?«

»Keinen Laptop, aber ein Handy, eine Handtasche und einen Auktionskatalog.«

»Einen Auktionskatalog?« Fragend blickte Antonio zu Vivani.

Dieser nickte. Der Anwalt schob die Hände in seine Anzughose, trat zur Balkontür, schob den Vorhang erneut beiseite und blickte hinaus auf die Piazza Brà und die Arena. Antonio beobachtete ihn und fragte sich, was wohl im Kopf des Anwalts vor sich ging. Wie nahm er es auf, die schlimmste Vermutung als Tatsache begreifen zu müssen? Ganz sicher fragte Vivani sich, ob er den Tod der Deutschen hätte verhindern können.

1Flucht über den Brenner, 3. Fall der Krimireihe

4

Verona, 14.30 Uhr

Nachdem Vincenzo Mauro den Durchsuchungsbeschluss ins Hotel gefaxt und ein Team von Petrelli die gründliche Ermittlung im Zimmer 215 begonnen hatte, begab sich Antonio Fontanaro mit einem sehr schweigsamen Avvocato wieder auf die Piazza Brà und suchte mit ihm die Liston Bar auf. Jene Bar, in der sich Vivani mit Monika Bacher Stunden zuvor hatte treffen wollen. Zu dieser frühen Nachmittagszeit waren nur wenige Tische besetzt, das Mittagessen war vorbei und die ausgiebige passeggiata auf der Piazza mit anschließendem aperitivo noch nicht im Gange. Antonio steuerte einen Tisch im mittleren Bereich der breiten Terrasse an. Dort würden sie die nächste Stunde sicher unbehelligt sprechen und die ersten Details austauschen können. Inzwischen war er sehr neugierig auf den Bericht des Spezialermittlers. Die Erwähnung eines Auktionskatalogs, den die Tote bei sich hatte, ließ keinen Zweifel daran, dass Michele Vivani wieder in Sachen Kunst unterwegs war. Ob undercover oder ganz offen als Tenente der Sondereinheit der Carabinieri in Rom, das würde er gleich von ihm erfahren.

Übereinstimmend bestellten sie ein großes, stilles Wasser und zwei espressi. Fragend blickte Antonio sein Gegenüber an.

»Nun, Dottore, was hat es mit Monika Bacher auf sich?«

»Das ist nicht in zwei Sätzen gesagt.«

»Das habe ich mir schon gedacht!«

Der Kellner rückte erneut an, stellte zwei caffè und Wassergläser unwirsch auf den Tisch, denn die zu erwartende Rechnung und das Trinkgeld würden kaum üppig ausfallen, kippte ein wenig von der Flüssigkeit in die Tumbler und verschwand wortlos.

»Vor ungefähr zwei Wochen bekam ich eine Mail von Avvocatessa Bacher. Sie hatte meine Kontaktdaten von Ihrem Freund und Kollegen Georg Breitwieser bekommen.«

Antonio warf den Kopf in den Nacken und lachte laut auf. »Ich glaub’ es einfach nicht. Giorgio steckt hinter Ihrem Besuch?« Da taten sich ja ungeahnte Perspektiven auf. Sollte er neben Vivani auch noch mit Breitwieser ermitteln dürfen? Würden sie wieder zu dritt an einem Fall arbeiten? Das wäre zu schön, um wahr zu sein. War der Bayer auch manches Mal in seinen Methoden für eine Überraschung gut und hielt er sich nicht immer präzise an Vorschriften, der Erfolg ihrer Zusammenarbeit hatte ihnen bisher immer noch recht gegeben. Vivani konnte die Begeisterung zumindest in diesem Moment nicht mit ihm teilen. Zu sehr war er bereits damit beschäftigt, einen möglichst kurzen und präzisen Bericht zu liefern, der Antonio zumindest annähernd den Wissenstand vermittelte, den er selbst hatte.

»Signora Bacher war in ihren Mitteilungen sehr sparsam gewesen. Sie brauchte meine Hilfe für einen Mandanten, der in New York City lebt. Dieser Mandant wollte verhindern, dass ein Gemälde bei der Auktion am Freitag zum Aufruf kommt. Sie hat mir nicht verraten, um welches Gemälde es sich handelt. Und sie hat mir auch nicht verraten, weshalb ihr Mandant sie mit so einem drastischen Schritt beauftragte. Es ginge, so sagte Signora Bacher, um einen Raub, der in den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts verübt wurde. Allein diese Information über den Zeitraum, in dem der Raub stattgefunden hat, hätte mir ausgereicht, um mich in den nächsten Flieger zu setzen. Ihr Mandant, so führte Signora Bacher weiter aus, hegte die Hoffnung, dass er mit ihrer Hilfe und durch die Maßnahme, die Auktion zu stoppen, das Kunstwerk, das eigentlich ihm gehöre, irgendwann zurückerhalten würde.«

»Ist eine Rückgabe denn so einfach möglich?«

»Kaum! Ein Raub, der so viele Jahre zurückliegt, ist in der Regel verjährt. Das wusste auch die Avvocatessa, deshalb hat sie mich kontaktiert. Denn wenn ich das betreffende Kunstwerk in unserer Datenbank in Rom finden würde, könnten wir zumindest einen Fund notieren, wüssten wir, dass es nicht zerstört wurde, wenn wir es vielleicht auch nicht an den ursprünglichen Besitzer zurückgeben könnten. Gemälde zum Beispiel, die in dieser Zeit gestohlen wurden oder als verschollen gelten, finden sich auch im Verzeichnis der Lost Art-Datenbank, die man auf der ganzen Welt im Internet einsehen kann.«

»Sie gehen von einem Raub oder einer Konfiszierung durch die Nationalsozialisten aus?«

Michele Vivani nickte. »Das Ansinnen des Mannes aus New York ist absolut nachvollziehbar, aber vergleichsweise aussichtlos. Immer dann nämlich, wenn es neue, eindeutige Eigentumsverhältnisse gibt, durch rechtmäßigen Ankauf nach dem Grundsatz von Treu und Glauben oder anschließend durch Vererbung innerhalb der neuen Eigentümerfamilie, ist eine Herausgabe kaum möglich. Erschwert wird dies auch durch den Sachverhalt der Verjährung, die zehn Jahre nach dem Raub in Kraft tritt. Damit erlöschen alle Ansprüche ursprünglicher Eigentümer. Es kann gelingen, aber es müssen schon sehr triftige Gründe vorliegen, damit ein Staatsanwalt oder ein Gericht einer Rückgabe zustimmt. Außer man hat Glück und der neue Eigentümer hat ein Gewissen. Nicht jedem ist es möglich, Beutekunst der Nazis in den eigenen vier Wänden mit Genuss anzusehen.«

»Da bekommt Vincenzo Mauro ja ein lohnendes Betätigungsfeld. Haben Sie denn Unterlagen von der deutschen Anwältin bekommen, um gegebenenfalls Ihrerseits den Wünschen des Mandanten zu entsprechen?«

»Nein, nichts dergleichen. Ich hoffe, dass Avvocatessa Bacher für eine größere Kanzlei gearbeitet hat, die uns jetzt, wo die Kollegin tot ist, weiterhelfen kann. Vor allem auch mit konkreten Informationen zur Konfiszierung, zu den Eigentumsverhältnissen, zum Kunstwerk und zum Mandanten.«

»Sie haben doch sicherlich bereits recherchiert? Es hat Ihnen doch bestimmt keine Ruhe gelassen, dass sie Ihnen nicht gesagt hat, um welches Gemälde es sich handelt?«