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Henry ist nicht mehr bereit, sein Liebesleben dem Zufall zu überlassen. Nach einer exakten Eingrenzung seiner Liebeszielgruppe spuckt eine Dating-App die ideale Frau für ihn aus. Doch auch erprobte Algorithmen können sich täuschen und womit niemand gerechnet hatte, ist, dass ihm ausgerechnet der Bruder dieser Traumfrau vor die Füße fällt. Ein Kerl, der exakt dem entspricht, was Henry nicht wollte. Kieran kann beim besten Willen nicht verstehen, wieso seine Schwester jemanden über eine Dating-App kennenlernen will. Der einzige Grund für ihn, bei einem derartigen Treffen aufzukreuzen, ist, seine Schwester vor Betrügern aus dem Internet zu beschützen. Er selbst braucht keine Beziehung und schon gar keine zu einem verkniffenen Anzugträger. Trotz anfänglicher Abneigung kreuzen sich Henrys und Kierans Wege immer wieder, bis sie so etwas wie Sympathie füreinander entdecken. Doch reicht es für eine Beziehung, wenn sich Vorurteile ausräumen lassen und die Gefühle füreinander immer stärker werden? Oder müssen in der Liebe wirklich alle Parameter stimmen?
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Geborgenheit
sucht
Reisepartner
Rainbow Romance Roman
Impressum
Lili B. Wilms
c/o Blutvoll Media Agentur UG (Haftungsbeschränkt)
Wildenrother Str. 26
81245 München
Pakete können nicht angenommen werden.
E-Mail: [email protected]
Text: © Lili B. Wilms
Coverdesign: pbartandsoul
Lektorat: Julia Fränkle
Buchsatz: Annette Juretzki/Tanja Rast
Copyright © Lili B. Wilms
Alle Rechte vorbehalten. Dies ist ein Werk der Fiction. Namen, Darsteller, Orte und Handlungen entspringen entweder der Fantasie der Autorin oder werden fiktiv eingesetzt. Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen Vorkommnissen, Schauplätzen oder Personen, lebend oder verstorben, ist rein zufällig. Dieses Buch darf ohne die ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin weder in seiner Gesamtheit noch in Auszügen auf keinerlei Art mithilfe elektronischer oder mechanischer Mittel vervielfältigt oder weitergegeben werden. Ausgenommen hiervon sind kurze Zitate in Buchrezensionen. Markennamen sowie Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum der rechtmäßigen Eigentümer.
FÜR SELWYN
Kapitel Eins – Henry
»Nein.«
»Nein.«
»Gott, nein!«
Mit einem gackernden Lachen stieß Fiona Ben mit ihrem Ellbogen in den Bauch. »Warum der nicht? Der ist doch lustig!«
»Genau! Lustig! Ich glaube nicht, dass lustig das ist, was Henry sucht.«
»Ach komm! Das ist doch nur Spaß! Nicht wahr Henry?« Mit strahlenden Augen sah Fiona Henry an.
Dieser seufzte und beobachtete seine beiden besten Freunde. »Es freut mich, dass euch mein Liebesleben erheitert. Aber: nein! Es ist nicht als Spaß gedacht.«
Aus Fionas Gesicht verschwanden die Lachfältchen und ihr Mund öffnete sich leicht. Sie holte Luft, setzte an, etwas zu sagen. Sah zu Ben. Zurück zu Henry. Sie hielt das Telefon, dessen Display irgendeinen Kandidaten, der auf der Dating-Plattform registriert war, zeigte, in seine Richtung.
»Das«, sie schwenkte das Telefon leicht hin und her, sah Henry nun ernst an, »ist doch ein Spaß?«
Henry erhob sich kurz von dem Sessel den beiden Chaoten gegenüber, nahm ihr das Handy aus der Hand und setzte sich sogleich wieder. Nachdenklich sah er sich David, 29, an und wischte ihn weg. Zu jung. Das Bild einer hübschen Frau erschien. Henry sah auf in Bens und Fionas fragende Gesichter. Möglichst gelassen zuckte er mit den Schultern. »Ich will einen Partner. Oder eine Partnerin. Eine Beziehung. Ich bin 35 und ganz ehrlich … ich bin es leid.« Er hielt das Telefon hoch, aus dem Julia, 32, immer noch heraus strahlte. »Und wieso sollte es nicht möglich sein, darüber jemanden zu finden, der es ernst meint?«
Fiona rutschte ans vordere Ende der Couchkissen und streckte ihre Hand aus. Sacht zog sie an seinem Hosenbein. »Ich verstehe dich ja, aber auf diesen Apps … Die Leute sind doch nur auf schnelle Abenteuer aus.«
Henry presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Das sind doch Vorurteile. Natürlich gibt’s das. Aber das vermerken die schon. Meine Auswahl betrifft nur Menschen, die auf der Suche nach einer festen Beziehung sind. Und es gibt genügend Leute, die sich über eine App kennengelernt haben und glücklich sind. Zusammen. Verheiratet. Wie auch immer.«
Während Ben ihn mit leicht geneigtem Kopf beobachtete, hatte Fiona die Hand zum Mund genommen und kaute an ihrem Daumennagel. »Du hast recht. Entschuldige.« Sie atmete schwer aus. »Aber bist du dir sicher, dass das das Richtige für dich ist?«
»Ich werde es wohl nie herausfinden, wenn ich es nicht ausprobiere, oder? Meine analogen Versuche verliefen ja auch nicht gerade glorios. Ich habe nichts zu verlieren. Es ist auch praktisch. Ich kann alles Relevante über mich ins Profil schreiben. So werden bereits die Idioten aussortiert, die was dagegen haben, dass ich bi bin.«
Ben nickte und strich Fiona über den Rücken. Henry beobachtete die kleinen Gesten zwischen den beiden. Wie ein Gespräch, das keine Worte benötigte. Sie verstanden sich nur anhand ihrer Körpersprache. Das war es, was er wollte. Nicht Fiona oder Ben. So sehr er beide liebte, wie die Geschwister, die er nie gehabt hatte, so sehr würden ihn beide in den Wahnsinn treiben. Nein, er wollte etwas ganz Eigenes. Jemanden, zu dem er heimkommen konnte. Der ihn verstand. Für ihn da war. Ein Feuer, das zwischen ihnen brannte, ohne sie zu zerstören. Aber trotzdem voller Leidenschaft. Das sollte doch nicht zu viel verlangt sein.
Fiona sprang auf und ließ sich neben ihm auf der Sessellehne nieder. »Okay, dann zeig mal her. Mit wem hast du dich schon getroffen? Mit wem willst du dich treffen?«
Henry musste schmunzeln. Wieso hatte er nur auf den Signalton der App reagiert? Wieso hatte er nicht gewartet, bis die beiden verschwunden waren? Er hatte sich das hier selbst zuzuschreiben. Er öffnete den mittlerweile schwarzen Bildschirm und hielt ihn vor sich, sodass Fiona sehen konnte, was er tat. »Bisher noch gar nicht. Ich bin unentschlossen.«
»Sag bloß«, kam es von der gegenüberliegenden Couch und Ben hob entschuldigend die Hand. »Sorry, macht weiter.«
»Ken.«
»Der ist doch süß!«, unterbrach ihn Fiona.
»Vielleicht. Aber nein.«
»Warum?«, protestierte sie neben ihm.
Henry seufzte und deutete auf das Display. »Er ist Sänger.«
Aus dem Augenwinkel sah Henry, wie sich Fiona zu ihm drehte und ihn aus zusammengekniffenen Augen ansah. »Und? Was hast du gegen Sänger? Er könnte dir ein Schlafliedchen trällern.«
»Keine kreativen Menschen«, stellte Henry bestimmt fest und wischte Ken in die Datenwüste. »Ich werde nicht die zweite Geige hinter irgendeiner Passion spielen oder mich irgendwelchen schöpferischen Launen aussetzen.« Er konnte spüren, wie sich die Blicke seiner Freunde in ihn bohrten. Umso erstaunter war er, dass Fiona sagte: »Schauen wir mal weiter.«
»Stefan, 39, Steuerberater. Sieht nett aus …« Bevor er noch weiterreden konnte, hatte Fiona mit einem eleganten Fingerstrich Stefan weggeschoben.
»Nein! Du suchst einen Partner, keinen Kollegen!«
Dies ließ er besser unkommentiert und ging weiter zu Johanna. »Bibliothekarin«, murmelte er nachdenklich. »Sie ist süß. Und auch 35. Sie will ein ruhiges Leben zu zweit. Hm … keine Haustiere.« So als ob sie verstanden hätte, dass ihr Herrchen gerade eine sie betreffende Entscheidung getroffen hatte, hob Max den Kopf und sah ihn aus ihren dunklen Kulleraugen an. Er lächelte. Keine Sorge, keine Johanna auf dieser Welt kann es mit dir aufnehmen. Max stupste ihn mit ihrer Schnauze an. Auch keine Worte erforderlich. Er brauchte überhaupt niemanden, solange er seine Hündin hatte.
»Jörg, 37, Prokurist, internationaler Motorradhandel. Oh, der sieht gut aus.« Fiona hatte Henry das Smartphone aus der Hand genommen und hielt es sich vor die Augen.
Ohne ihn gesehen zu haben, hatte Henry bereits eine Entscheidung getroffen, Jörg betreffend. »Nein, kein internationales Irgendwas. Kein Reisen. Kein …«
»Henry!« Sowohl er als auch Fiona sahen auf. Scheinbar zufrieden, dass er ihre Aufmerksamkeit hatte, fuhr Ben fort. »Nicht jeder Betriebswirt ist wie Simone, nicht jede Künstlerin ist wie Ansgar. Und so sehr es mich schmerzt es zu sagen: nicht jede Yogalehrerin ist wie Tom. Du willst das doch wirklich? Das Online-Dating-Dings? Dann leg deine Vorurteile ab.«
»Das sind keine Vorurteile, das sind Erfahrungswerte, die ich ein Leben lang gesammelt habe. Und über die kann ich nicht einfach hinwegsehen.«
»Du würdest dir also lieber die Liebe des Lebens durch die Finger gleiten lassen, als auf eines deiner«, Ben gestikulierte mit seiner Hand wild in der Luft herum, »als auf eine deiner Bedingungen zu verzichten?«
»Nein, so funktioniert das nicht. Wenn ich die Leute doch vorher nicht kennenlerne, muss ich mich auf eine Vorauswahl verlassen. Ich kann mich nicht mit fünfzigtausend Menschen treffen, um meine große Liebe zu suchen. Ich muss selektieren. Und wenn mich jemand an eine ambitionierte Managerin erinnert, die für die nächste Beförderung in der Welt herumreist, oder an einen Künstler, dem ich doch nur im Weg bin zu seinem Ziel der hohen Künste und als Muse auch nicht tauge, dann verzichte ich darauf, diese Leute zu treffen.« Henry sah Ben eindringlich an. Sein Freund hatte Glück gehabt. Verdammtes Glück, so wie die ersten Treffen zwischen Fiona und Ben verlaufen waren, war es nicht sicher gewesen, dass die beiden so harmonieren würden.
»Ich brauche eine ruhige, verlässliche Beziehung. Ich bin Mitte dreißig. Ich weiß, was ich will. Ich habe experimentiert und war abenteuerlich. Visionäre sind spannend. Aber nicht, wenn du zum wiederholten Mal allein bei eurem Date auftauchst. Wieder allein schlafen gehst. Verständnis dafür haben sollst, wenn dein Partner Inspiration im Bett eines anderen sucht. Und du selbst aber gut genug dafür bist, auf die Vernissagen mitzukommen und einen ordentlichen Batzen Geld für diverse Projekte hinlegen sollst, da du ja die große Liebe dieser Person bist.«
Ben sah ihn jetzt fast mitleidig an. Verdammt. Genau das hatte er nicht gewollt. Er hatte doch lediglich versucht, seinen Freunden klar zu machen, was er in einem Partner suchte und wieso.
»Aber Milena war doch all das nicht. Sie war verlässlich. Wäre für dich die perfekte Gattin und Partnerin geworden, wenn du das gewollt hättest. Sie hatte einen verlässlichen Job und war wirklich mehr als bemüht um dich.«
Ja … das war die Krux der Sache. Immer, wenn er diesem Idealbild des oder der perfekten Lebensgefährtin nahekam, fisselte dieser erste Funken aus. Und übrig blieb … nichts. Ein bisschen Freundschaft. Aber keine Leidenschaft. Kein Kribbeln. Keine Sehnsucht. Es musste doch möglich sein, dies zu kombinieren. Er wollte keine halben Sachen mehr. Kein vielleicht. Er wollte alles. Das volle Herzrasen, nicht nur das leichte Flattern in der Magengrube. Jemanden, der zu ihm stand und nicht bereits mit einem Bein aus der Beziehung ausgestiegen war. Und er wusste, dass es dieses Ideal gab. Die Ehe seiner Eltern war Beispiel dafür. Seine Mutter hatte so viel aufgegeben, um mit seinem Vater zusammen zu sein. Sie war keinen faulen Kompromiss eingegangen und hatte immer uneingeschränkt zu ihm gestanden. Die beiden hatten sich so sehr geliebt. Nach ihrem Tod hatte sein Vater nie wieder eine neue Beziehung geführt. Henry wollte glauben, dass es daran lag, dass sein Vater die perfekte Frau für sich gefunden hatte. Dies einmal erlebt, hielt keiner Kopie stand. Und auch er würde sich nicht mit einem Abdruck zufriedengeben. Er wollte die Blaupause. Jemanden, der in seiner Seele war, ohne ihn zu zerstören, indem er sich skrupellos an ihm bediente. Denn waren einmal die Tore zu seinem Innersten geöffnet, wäre er wehrlos. Er war sich sicher. Er würde alles geben für seine Person. Seine zweite Hälfte. Seinen Menschen. Daher musste er vorsichtig sein. Und diese Vorsicht begann mit der richtigen Vorauswahl.
»Ja, du hast recht. Sie war perfekt. Aber ich konnte ihre Gefühle nicht erwidern. Das macht mich nicht zu einem schlechten Menschen. Dennoch bin ich sicher, dass auch ein einfacher, zuverlässiger Mensch dieses Kribbeln, dieses Sprühen zwischen uns auslösen kann. Und diesen werde ich finden.«
Er sah zurück zu seinem Telefon und wischte energisch darüber. »Ailis, 34, Lehrerin. Sie sucht einen Partner, mit dem sie abends im gemeinsamen Zuhause kuscheln kann, nachdem sie tagsüber gemeinsame Abenteuer mit ihm bestanden hat. Zum Beispiel beim Wandern in der Eifel. Perfekt.« Er bestätigte sein Interesse und schickte eine kurze Nachricht in den wenigen möglichen Zeichen hinterher. »Sobald sie antwortet, werde ich mich mit ihr treffen. Und mein Gefühl sagt mir, das führt mich genau zu dem, was ich suche.«
Kapitel Zwei – Kieran
»Honey, I’m home!«
In Leggings und einem weiten Pulli kam Ailis aus ihrem Schlafzimmer und ging mit hochgezogener Augenbraue auf Kieran zu. »Es ist sieben Uhr morgens. Wo warst du die ganze Nacht?«
»Ich hab gearbeitet natürlich!«
Zu der einen Augenbraue gesellte sich die zweite. »Die ganze Nacht? Du Armer. Wenn du nicht so nach Sex stinken würdest, hätte ich vielleicht sogar Mitleid mit dir.«
Kieran trottete seiner Schwester hinterher, die in ihre gemeinsame Küche stiefelte. Diese elendigen Morgenmenschen waren eine suspekte Spezies. Möglichst unauffällig sah er an sich herab und versuchte, sich zu riechen. Hm. Er hatte keine Wechselwäsche dabeigehabt und es konnte sein, dass ein bisschen Sex-Rest an ihm war. Geruchsweise oder in Form von Flecken. Das alles gemischt mit Marmorstaub – den würde er aber ohnehin nie richtig loswerden. Er zog seinen Haargummi aus den Strähnen, um seine langen Wellen zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammen zu binden. Vermutlich sah er wirklich verlottert aus. »Ich kann beides haben, weißt du? Sex und Arbeit. Dass Matts mir den bestellten Stein liefern würde, wusste ich nicht. Er hat mir tatsächlich meinen ganzen Plan durcheinandergebracht. Aber was sollte ich tun? Er hatte Feierabend und ich Lust. Bis wir das nächste Mal beide Zeit für einen Fick haben, vergeht sicher wieder eine Ewigkeit.«
Ailis drehte sich um und sah ihn mit verzogenem Mund an. Ihre dunklen Locken wippten um ihren Kopf. Seine Schwester war wirklich eine dunkelhaarige, kleinere, feinere Version von ihm selbst. »Musst du so krude daherreden?« Eine Version mit etwas anderen Moralvorstellungen.
»Schwesterchen, ein besseres Wort habe ich nicht dafür. Matts will nichts Ernstes, ist so gelenkig wie du, hat einen unfassbaren Schwanz, wir werden sicher nie Liebe machen.« Die letzten Worte hatte er bewusst sarkastisch betont. Ihrem Blick begegnete er mit einem dramatischen Wimpernklimpern.
»Redest du mit deinen Studenten auch so?« Sie drehte ihm bei der Frage den Rücken zu und machte sich daran, ihren Kaffee aufzusetzen.
»Ob du’s glaubst oder nicht: Mit meinen Studenten rede ich anders. Auch mit dem Dekan. Und mit Kunden und Auftraggebern.«
Ailis schüttelte den Kopf. Sie drehte sich um und streckte ihm eine dampfende Tasse entgegen. Vorsichtig nahm Kieran sie in die Hand, um sie schnell mit der anderen am Griff zu fassen. Der Kaffeeduft stieg ihm in die Nase und ein Wohlgefühl erfasste ihn. »Du bist die Beste!«
Ailis nickte nur mit einem schiefen Lächeln. »Musst du heute nicht an die Uni?«
Doch Kieran verneinte mit einem erleichterten Schnaufer. »Nein. Sonst hätte ich das gestern Nacht auch nicht durchgezogen. Aber ich musste die Drähte fertig schweißen, sonst kann ich am Wochenende nicht weiterarbeiten. Und die Zeit drängt. Das Ding muss fertig werden.« Nachdenklich setzte er hinterher: »Ich könnte nächste Woche mit den Studenten eine Exkursion in die Werkstatt machen.«
Lachend hob Ailis den Kopf. »Musst du mit denen nicht irgendeinen Pflichtstoff durchnehmen? Es kann doch nicht sein, dass du in deinen Vorlesungen mit den Studenten durch die Stadt ziehst, wie es dir gerade passt.«
Kieran winkte ab. »Das Wichtigste am Kunststudium ist die Praxis.«
»Du bist unverbesserlich.«
»Ich bin vor allem leicht in Verzug. Ich muss schlafen, damit ich heute noch weiterarbeiten kann.«
»Fällt es dir denn leicht, den Fisch ziehen zu lassen?«
»Es ist kein Fisch. Es ist eine … Gottheit … aus Südamerika. Hat er in seinem Patagonien-Urlaub gesehen – auf Feuerland. Was weiß ich denn. Alle meine Vorschläge hat der Herr ausgeschlagen. Und er will die Skulptur nächste Woche haben. Es soll aussehen wie auf dem Bild. Mir ist es egal.« In ihm stieg wieder dieser Unwille auf. Die Leute gaben Skulpturen bei ihm, dem aufstrebenden Künstler, in Auftrag, um ihm dann Vorschriften zu machen, wie seine Kunstwerke aussehen sollten. Normalerweise verbat er sich eine derartige Haltung. Aber er hatte seinem Kollegen an der Uni einen Gefallen versprochen. Nie wieder. Keine Gefallen mehr. Obwohl er das Geld aus diesem Gefallen gut brauchen konnte. Die paar Stunden als Privatdozent an der Uni sorgten für regelmäßiges Einkommen. Sie spielten aber auch mit seinem Workflow. Nur, dass bei diesem Werk überhaupt nichts floss – außer Geld. Sein Herz hing auch nicht daran. Eine reine Auftragsarbeit. Um seiner Schwester eine Antwort zu geben, murmelte er vor sich hin: »Ja. Kann von Dannen ziehen. Bin froh, wenn ich den Fisch los bin. Aber der Stein. Du müsstest den Stein sehen. Er ist genau, wie ich gehofft hatte. Die Oberfläche, die Farbe … Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich gefreut habe. Mit ihm zu arbeiten wird orgasmisch.«
Ailis sah ihn mit amüsiertem Blick an. »Matts scheint ja schon eine Kostprobe davon erhalten zu haben, wie orgasmisch du dich gefreut hast.«
»Nur kein Neid!«
»Ich bin bedient«, versicherte Ailis und schnappte sich ein Messer. Damit setzte sie sich an den Küchentisch und begann, einen Apfel zu massakrieren. Kieran sparte es sich, etwas zu sagen. Sie wollte Äpfel nur ohne Schale in Kleinstteilen essen. Er hatte auch seine Macken.
»Bist du auf dem Weg zum Training?« Seine Schwester tanzte beim Staatsballett als Demi-Solistin und Kieran platzte bei dem Gedanken daran schier vor Stolz.
»Ja, ich bin quasi schon weg. Heute Abend bin ich noch eine Stunde in der Ballettschule. Nächtigst du wieder auswärts?«
»Meine Werkstatt ist ja nicht auswärts. Nur nicht hier. Weiß noch nicht. Hoffe nicht.«
Neben seiner Schwester leuchtete ihr Handy auf und sie warf einen verstohlenen Blick darauf, ohne es in die Hand zu nehmen. Kieran beobachtete, wie sie betont gleichgültig an ihrem Apfel weiterschnitzte. Als das Telefon ein weiteres Mal aufleuchtete, ließ er seinen Arm über den Tisch schnellen und schnappte es sich.
»Hey«, rief Ailis empört auf. »Gib mir das wieder!«
»Wer schreibt dir Nachrichten, die du nur aus dem Augenwinkel anschaust?«
»Niemand.«
»Ailis, wenn ich auf dieses Display schaue und den Namen Gerald sehe, werde ich dieses Telefon verbrennen.« Trotz seiner Müdigkeit stieg die Wut in ihm hoch. Dieser Arsch hatte seine Schwester behandelt wie den letzten Dreck. Warum, warum nur, gab sie ihm eine neue Chance nach der nächsten?
Sie sprang auf und funkelte ihn wütend an. »Das ist nicht Gerald.«
»Was soll dann diese Heimlichtuerei? Wieso willst du nicht, dass ich sehe, wer dir schreibt?«
»Weil es, entgegen deiner Annahme, nun mal nicht deine Sache ist, wer mir schreibt, und jetzt gib mir mein Handy!«
Statt der Aufforderung nachzukommen, drehte er sich um und lief, wie vor fünfundzwanzig Jahren, mit seiner Beute aus der Küche, um sie wie der kleine Junge in sich, den er offensichtlich nie ablegen konnte, in seinem Zimmer zu verstecken. Gerade als er durch seine Schlafzimmertür preschen wollte, landete ein schweres Gewicht auf seinem Rücken. Seine Schwester hatte ihn – wie immer – erwischt. Der kleine Spurt hatte die üble Laune fast gänzlich vertrieben. Lachend versuchte er sie über seinem Bett abzuschmeißen, doch sie hielt sich mit ihren starken Beinen um ihn geklammert wie ein Schraubstock. Langsam wurde der Druck schmerzhaft und die Luftzufuhr in seine Lungen wurde deutlich schwerer.
»Jetzt lass mich los, du brichst mir noch die Rippen«, jammerte er.
»Wäre deine eigene Schuld. Her mit meinem Telefon!«
»Ist ja gut! Ich ergebe mich!« Er warf das Handy auf sein Bett und Ailis sprang wie ein Panther hinterher. Immer noch lachend streckte er sich und dehnte seine gequetschten Seiten.
Mit einem unverkennbaren Ausdruck von Stolz im Gesicht hielt Ailis das Telefon hoch. »Du hast so einen ausgewachsenen Peter-Pan-Komplex, echt.«
Grinsend konnte er ihr nur zustimmen. Doch die Sorge um sie kehrte schnell zurück. »Es ist sicher nicht Gerald?«
Versöhnlich sah Ailis zu ihm auf. »Nein. Ich bin nicht so blöd, mich noch mal auf ihn einzulassen.«
Deutlich erleichtert setzte er sich neben sie. »Eigentlich weiß ich das ja. Aber was soll dann die Heimlichtuerei?«
Mit nachdenklichem Blick beobachtete sie ihn. »Seit Geralds Obsession mit mir, hast du eine sehr lästige übervorsorgliche Ader entwickelt. Ich wollte dich einfach nicht beunruhigen. Und ich wollte meine Ruhe von dir.« Breit grinste sie ihn bei den letzten Worten an.
»Obsession? So wollen wir das nennen? Das war mehr als grenzwertig, wie der mit dir umgegangen ist. Und nur, falls du denkst, das sei der Fall, deine Worte beruhigen mich gerade überhaupt nicht.«
Ailis nahm seine Hand in die ihre und schüttelte sie leicht. »Die Sache mit dem Arsch ist nun wirklich lange genug abgehakt.«
»Und…?« So leicht würde Kieran nicht lockerlassen.
»Und was?« Unschuldig sah ihn Ailis an.
»Und was ist nun so Wichtiges auf deinem Telefon, das mich beunruhigen könnte? So leicht lenkst du mich nicht ab. Ailis wirklich, du hast gerade in der Küche reagiert, wie wenn Gerald wieder mal auf der Matte stand und du wusstest, dass das nicht gut endet.«
Seufzend ließ sie seine Hand los. »Okay. Aber hör mir jetzt mal richtig zu. Deine Sorge verstehe ich, aber sie rechtfertigt nicht, dass du übergriffig wirst. Alles klar? Schaffst du es, das zu trennen?«
Kieran biss seine Kiefer zusammen. Seine Schwester hatte recht, in allem, was sie sagte. Nach dem Trost, den er ihr nach dem Gerald-Chaos gespendet hatte, war er in eine Art Beschützerrolle geschlüpft und langsam, aber sicher hatte sich seine geschwisterliche Sorge in eine Art Übervorsorge gewandelt, die vermutlich nur einen Schritt von der Bevormundung entfernt war. »Ich… verspreche mich zu bemühen. Und ich beherrsche mich. Ich versuch’s zumindest.«
Ailis verdrehte die Augen. »Mehr kann ich von einem Kind im Körper eines Mittdreißigers vermutlich nicht erwarten.«
Erwartungsvoll neigte er sich ihr leicht entgegen.
»Ich treffe mich mit H.M.«
Sein Gesichtsausdruck musste genauso verwirrt gewesen sein, wie er sich fühlte, denn Kieran hatte keine Ahnung, wer oder was H.M. sein sollte.
Mit dramatischem Augenrollen fuhr Ailis fort: »Heute Nachmittag werde ich mich mit Henry, das steht für H., im Schlossbiergarten treffen.«
Das hörte sich zu einfach an. »Und woher kennst du diesen Henry?«
Nun war Ailis zu ihrem betont gelassenen Gesichtsausdruck zurückgekehrt. Sie drückte ihr Handy an sich und Kieran konnte kaum verstehen, was sie sagte: »Online.«
»Online?«
»Wir haben uns online kennengelernt. Über eine App.«
»Über eine App?«
»Über Scroll for Love«. Sie funkelte ihn herausfordernd an. Die Warnsignale sprangen ihr schier aus den Augen.
Kieran überlegte schnell. Er wollte auf keinen Fall das soeben schwer erarbeitete Vertrauen wieder verlieren. Aber er musste wissen, wer oder was sich hinter Henry verbarg. Er versuchte, die größtmögliche Gelassenheit, die er meistern konnte, in seine Mimik zu legen. »Und? Was macht er so? Dürfte ich bitte sein Profil sehen?«
Ailis machte den Eindruck, als wollte sie das fette Grinsen, das sich über ihr Gesicht spannte, unterdrücken, indem sie ihre Lippen zusammenpresste. Es gelang ihr jedoch nicht. »Du platzt schier, oder?«
»Jetzt lass mich doch nicht betteln und zeig schon her!« Er wusste, dass sein Gejammere ihn keinen Zentimeter weiterbringen würde und er Henry nur zu Gesicht bekam, wenn Ailis ihre Errungenschaft mit ihm teilen wollte. Der Glanz in ihren Augen ließ ihn hoffen.
»Aber beherrsch dich.« Schnell wischte sie über das Telefon und hielt es ihm schließlich unter die Nase.
Kieran versuchte es. Er versuchte es wirklich. Er wollte sich beherrschen. Ihm war durchaus bewusst, dass ein Wutausbruch, weder ihm noch seiner Schwester irgendetwas bringen würde. Aber was er da vor sich sah, war Schwachsinn. Die Frage war nur, wie er das, was er sagen wollte, verpacken konnte, damit ihm seine Schwester nicht sogleich wieder ihr Telefon entriss.
»Diese … äh … Bilder.« Mit zusammengebissenen Zähnen betrachtete Kieran den Typ, der an seiner Schwester interessiert war. Das dunkle Haar an den Seiten kürzer und oben in einer Art Tolle auf dem Kopf drapiert. Es sah aus, als hätte er keinerlei Produkt im Haar – so als ob es natürlich so liegen würde. Schwachsinn. Das Lächeln wie das eines Models auf einem Plakat. Mit ein bisschen Zähnen; nicht zu viel. Die vollen Lippen ein wenig verzogen, durch die Spannung des Lächelns. Perfekt. Man konnte noch erkennen, wie weich sie sein mussten. Gerade richtig. Nein! Steril. Unwirklich. Die Klamotten so als ob sie für ihn maßgeschneidert worden wären.
Ailis legte den Kopf schräg, um besser auf den Bildschirm zu sehen. Ihr Ton hatte aber bereits etwas Tadelndes angenommen. »Was ist damit?«
Besänftigend hob Kieran die Hände. »Ich stelle lediglich in Frage … hm … Kommt es dir nicht komisch vor, dass der Kerl … hm … Er wirkt sehr künstlich. Gephotoshopt. Hast du schon mal in Wirklichkeit so einen Kerl gesehen? Und er hat auf jedem Bild einen Anzug an. Das ist doch seltsam.«
»Was soll daran seltsam sein? Er ist Steuerberater.«
»Ein Steuerberater.« Kieran sog die Lippen ein. »Ein Steuerberater, der aussieht wie ein Model. Arbeitet der im Fitnessstudio oder welche Art Steuerberater ist das?«
»Ich wusste, dass du dich nicht beherrschen kannst.«
Wie konnte er Ailis nur klarmachen, worauf er hinauswollte, ohne, dass sie sich wieder angegriffen fühlte. »Willst du mir sagen, dass das für dich alles wahr ist? Ein Steuerberater, 35. Der ist in Wahrheit 53 und ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie er in Wirklichkeit aussieht.«
»Pfft.« Mit einem genervten Grummeln wandte sich Ailis wieder von ihm ab. »Du sagst also, er lügt. Aber nur hinsichtlich seines Aussehens und seines Alters. Sein Name und sein Job stimmen aber?«
Kieran drehte sich zu ihr und suchte ihren Blick. »Du weißt doch, dass bei diesen Dating-Apps gelogen wird, dass sich die Balken biegen. Es ist doch nicht unwahrscheinlich, dass sich irgendein schmieriger Kerl eine kleine Ballerina angeln will.«
Bei seinen Worten hatte sich Ailis merklich angespannt und ihre Schultern gingen leicht in Richtung ihrer Ohren.
»Was?«, forderte Kieran. »Was ist? Ich will dir keine Angst machen. Ich will doch nur, dass du vorsichtig bist und nicht so leichtgläubig.«
»Das hat überhaupt nichts mit Leichtgläubigkeit zu tun. Die Leute auf dieser App sind auch nicht auf schnelle Abenteuer aus. Das ist nicht Grindr, Bruderherz.«
»Das sagst du«, konterte Kieran.
»Das sag nicht nur ich. Das ist so! Schau… er weiß nicht mal, dass ich Ballerina bin.«
»Na ja, gut. Man muss ja wohl nicht gleich am Anfang alle Karten auf den Tisch legen.«
»Hm …«
»Was hm, Ailis?«
»Das ist eine App, die wirklich geeignete Verbindungen für eine echte Partnerschaft sucht. Und ich habe festgestellt, dass viele Menschen, die hier registriert sind, eben seriösere Berufe haben und nicht mehr ganz so junge Partner suchen. Die Matches, die ich mit meinen tatsächlichen Daten erhalten habe, waren alle … total unpassend. Da musste ich eben ein bisschen an meinem Profil feilen.«
Kieran sah seine Schwester an, als spräche sie Swahili. »Du meinst, du belügst nicht nur eine App, sondern auch alle vermeintlich tollen Treffer, die besagte App überhaupt nicht mit deinen falschen Daten ermitteln kann?«
Mit wütend zusammengezogenen Augenbrauen riss ihm Ailis das Handy aus der Hand. »Ach, du hast doch keine Ahnung. Außerdem hab ich mich nur ein bisschen älter gemacht. Und ich bin ja tatsächlich auch Lehrerin. Zwar nur ein paar Stunden in der Ballettschule, aber es ist nicht gelogen.«
»Hey.« Mittlerweile hatte das Gespräch eine Wendung angenommen, die Kieran nicht mehr nachvollziehen konnte. »Um was geht es hier eigentlich?«
»Ich weiß nicht.« Seufzend legte sich Ailis zurück. »Ich bin grade mal 32 und irgendwie geht mein Leben, wie ich es kenne, zu Ende. Ich muss über das Ende meiner Tanzkarriere nachdenken, Kieran. Ich kann nicht in drei Jahren vor dem Nichts stehen. Und … ich weiß auch nicht. Auch wenn du das nicht verstehst. Ich will eine Beziehung. Ich sehne mich nach jemandem. Und wenn ich dazu ein bisschen die Wahrheit hinbiegen muss, damit ich in dieser Dating-App jemanden finde, so be it. Tanzmäuschen ist hier einfach nicht gefragt. Da hätte ich gleich bei Tinder bleiben können.«
Was sollte er dazu sagen? Nein, er konnte das Gefühl nicht nachempfinden, sich nach einer Beziehung zu sehnen. Ja, seine Karriere gab ihm mehr Freiheiten und hatte auch kein wirkliches Ablaufdatum wie die Karriere eines Sportlers. Den Unwägbarkeiten eines Künstlerlebens waren sie beide ausgesetzt. Aber Ailis’ Erfolg hing von noch viel mehr ab. Ihm war bewusst, dass ihr Alter und ihre körperliche Fitness wesentliche Faktoren waren, aber vermutlich konnte er sich nicht wirklich in sie hineinversetzen.
Er legte den Arm um sie und drückte sie fest an sich. »Tut mir leid! Du hast recht, ich hab keine Ahnung, was das für dich bedeutet! Vor allem glaube ich, bin ich total übermüdet.«
Ailis atmete fest an seine Schulter.
Kieran drückte sie noch etwas enger an sich, bevor er fortfuhr: »Aber ich würde mich wirklich besser fühlen, wenn du mir deinen Standort schickst, wenn du dich mit Henry, 53, Steuerberater, dreimal geschieden, leicht gräulicher Haut, wegen übermäßigen Alkoholkonsums, weil ihn die Unterhaltszahlungen für seine sieben Kinder mit den vier Geliebten außerhalb seiner Ehen auffressen, triffst. Du weißt schon, wenn ich der Polizei sagen muss, wo…«
Ailis drückte ihn von sich weg und lachte schallend auf. »Du bist ein kompletter Idiot. Ich schicke ihn dir, wenn du versprichst, dass du dich raushältst.«
Lächelnd sah er auf seine kleine Schwester. Seine Schwester, die er über alles liebte. »Okay, fest versprochen!«
Kapitel Drei – Henry
Zum wiederholten Male zog Henry seine Weste zurecht – soweit das sitzend überhaupt möglich war.
Er verstand sich selbst nicht. Es war mit Sicherheit nicht das erste Date, zu dem er ging. Und wahrscheinlich würde es auch nicht das Letzte sein.
Ein kurzer Blick auf die Uhr im rechten Eck seines Computers zeigte ihm, dass er, wenn er pünktlich kommen wollte, langsam seinen Tag beenden musste. Er sah sich auf seinem Schreibtisch um. Oder er würde nach seiner Verabredung wieder hierherkommen? Genügend zu tun hätte er. Vor allem wollte er seine Mitarbeiter nicht zu sehr belasten. Es war schließlich seine Steuerkanzlei und er trug die Verantwortung dafür.
Entschlossen sicherte er das Dokument, an dem er gearbeitet hatte. Er musste diese Entscheidung nicht jetzt fällen. Sollte sich das Treffen als komplette Enttäuschung herausstellen, konnte er immer noch zurückkommen. Allein in seinen Büroräumen arbeitete er ohnehin konzentrierter – ohne Telefongeklingel und eine Vielzahl von Fragen, die laufend von seiner Bürotür aus auf ihn einprasselten. Während der PC herunterfuhr, sortierte er einen Stapel Akten, den er seiner Bürovorsteherin zur Bearbeitung geben konnte, während er nicht da war.
Die Tür ließ er einfach offenstehen, als er auf den Flur hinaustrat. Die Geräusche eifriger Geschäftigkeit beruhigten ihn. Alles lief wie am Schnürchen. Er war kein Kontrollfreak, er wollte sicherstellen, dass sich jeder auf ihn verlassen konnte und dies auch wusste. Immer. Er half gerne, wo immer er konnte.
Zugegeben, seine Freunde waren teilweise der Meinung, er übertrieb es mit ungewollten Hilfestellungen – im Regelfall gaben ihm die Ergebnisse aber Recht. Meistens. Es war nicht so, dass er glaubte, besser zu wissen, was gut für seine Freunde war, aber manchmal brauchte man eben einen Schubs oder den Blick von außen, um zu erkennen, was vor jemandem lag. Und da er nun oftmals die Gelegenheit hatte, die Sicht eines Beobachters einzunehmen, sah er auch keinen Grund, seine Dienste als guter Freund zu verweigern.
»Tanja, ich bin für mindestens zwei Stunden weg.« Er legte die Akten vor seiner Mitarbeiterin ab und deutete mit dem Finger darauf. »Hier muss nichts fertig werden. Mach, so weit du kommst, den Rest morgen.«
Sie nahm die Unterlagen an sich und nickte. »Dann wünsche ich dir einen schönen Feierabend.«
Henry korrigierte ihre Annahme nicht. Vielleicht würde er ja tatsächlich nach seiner Verabredung nicht mehr ins Büro gehen.
Das historische Gebäude, in dem er seine Kanzleiräume gemietet hatte, befand sich in ruhiger Lage am Stadtrand. Trotz der Distanz zum Zentrum hatte er seine Entscheidung nie bereut. Für seine Mandanten musste er nicht zwangsläufig fußläufig erreichbar sein und er fühlte sich in den renovierten, eleganten Räumen im Neu-Renaissance-Stil wohl. Da er auch den Großteil seiner Zeit dort verbrachte, manchmal mehr als in seinem Zuhause, hatte er beschlossen, bei der Suche dem Wohlfühlcharakter eine ebenso große Bedeutung beizumessen wie der Raumaufteilung und der Miete. Die Miete, die auch deutlich günstiger war als in der Innenstadt. Und die Ruhe.
Die wenigen Kilometer in die Innenstadt und zu seiner Verabredung legte er in kurzer Zeit zurück. Da es mitten am Nachmittag war, lief er nicht Gefahr, im Feierabendverkehr stecken zu bleiben.
In einem Parkhaus stellte er sein Auto ab und sah auf den Rücksitz, um seine Hundedame mitzunehmen. Er schüttelte den Kopf. Sie war gar nicht mit im Büro gewesen. Sein Vater hatte Max heute extra übernommen, damit er in Ruhe zu seiner Verabredung gehen konnte. Aber die Gewohnheit ließ sich nicht einfach ablegen. Da die Französische Bulldogge normalerweise bei ihm im Büro war, verbrachten sie regelmäßig ihre Tage miteinander und er kam sich fast nackt ohne sie vor.
Er löste die Krawatte, um sie auf seinen Beifahrersitz zu legen. Ob sein Arbeitsanzug zu förmlich für eine Verabredung war, hätte er sich früher überlegen müssen. Dafür war es zu spät. Er saß perfekt und war so unglaublich bequem, dass er oft keine Notwendigkeit sah, sich umzuziehen. Mit einem kurzen Blick in den Rückspiegel strich er sich sein Haar aus der Stirn, zuckte mit den Schultern und stieg aus.
Den Weg zum Königspark konnte er in wenigen Minuten zu Fuß zurücklegen. In Gedanken ging er die Daten seines Dates noch mal durch. Ailis war Lehrerin. Sie hatten sich in den vergangenen Tagen mehrfach geschrieben und sie schien … perfekt. Nett. Angenehm. Witzig. Ein bisschen sarkastisch. Henry machte sich keine Illusionen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er beim vereinbarten Treffpunkt ankommen und seinen Traummenschen erkennen würde, war sehr gering. Liebe brauchte Zeit und Arbeit. Wenn die Grundlage passte und die gemeinsamen Werte übereinstimmten, hatte man zumindest etwas, auf das man eine Beziehung aufbauen konnte.
Er versuchte, in sich hinein zu fühlen. Aufgeregt war er etwas, das ließ sich nicht leugnen. Ob dies aber über die normale Nervosität hinausging, eine ihm doch völlig unbekannte Person zu treffen, vermochte er nicht zu sagen. Er war sich nicht mal sicher, ob er sich auf das Date freute. Doch, er freute sich. Natürlich. Leider hatte diese ganze Dating-App-Geschichte mittlerweile einen eher verpflichtenden Beigeschmack angenommen. Er war registriert. Der Algorithmus spuckte regelmäßig passende Partner für ihn aus und schickte die Profile auf sein Telefon. Jedoch war bisher noch jedes Treffen mit einem Match im Sande verlaufen. Sein Enthusiasmus, mit dem er zum ersten Date vor Wochen gegangen war, war mittlerweile verpufft. Aber es entsprach seiner Natur, jetzt nicht aufzugeben. Irgendwie musste er dieses Projekt zu einem Abschluss bringen und das Sinnvollste schien eben zu sein, erfolgreich einen Partner zu finden.
Henry wusste natürlich, dass er dazu keine Verpflichtung hatte. Dennoch fühlte er sich selbst in der Verantwortung, dieses Unterfangen positiv zu beenden. Ohne zu verkrampfen oder unüberlegte Entscheidungen zu treffen. Keinen Partner zu haben ist kein Versagen. Er musste es sich nur oft genug sagen, um es zu glauben. Nein. Er wusste es. Er musste seine Gefühlswelt nur noch davon überzeugen, dass er niemanden brauchte. Wollte. Dass er niemanden brauchen wollte.
Energisch zog er sich die Anzugweste zurecht. In jedem Fall würde er die arme Ailis nicht in seine wirre Gedankenwelt hineinziehen und ihr eine echte Chance geben. Was er zu Fiona und Ben gesagt hatte, war ihm ernst. Seine experimentellen Jahre waren vorbei. Er wollte eine Beziehung. Eine wirkliche Beziehung. Keine Affäre im Tarnmantel einer vermeintlichen Beziehung.
Während er den Park betrat, wünschte er sich, er hätte Max doch mitgebracht. Vielleicht hätte sie für die nötige Auflockerung zwischen ihm und Ailis sorgen können. Insbesondere hatte Max einen guten Riecher. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie war auch eine treudoofe Seele von einem Hund und nie aggressiv. Die Versicherungen mancher Menschen, Hunde zu mögen, waren oftmals nicht ganz so ernst gemeint, wie sich nachträglich rausstellte. Nun, dafür war es zu spät.
Vor sich konnte er die Biergartenbestuhlung und die Bänke am Rand des Außenbereichs erkennen. Es war schon angenehm warm für Anfang April und die Nachmittagssonne schien heiß auf die Rasenflächen, als ob sie nicht wüsste, dass es erst Frühling war.
Als er an den Biergarten herantrat, schaute er aufmerksam um sich. Auf einer Bank ganz am Rand saß, wie sie es angekündigt hatte, eine junge Frau mit dunklen Locken. Es war unverkennbar Ailis. Die Fotos waren ihr nicht gerecht geworden. Sie sah in Natura noch besser aus. Auch sie beobachtete die vorbeigehenden Leute aufmerksam. Es war deutlich, dass sie ihn sofort erkannte, als sie ihn entdeckte.
Ein offenes Lächeln zog sich über ihr hübsches Gesicht und Henry bemerkte, wie ihre unumwundene Art ihn entspannte.
Zielstrebig ging er auf ihren Tisch zu. Sie stand auf, um sich ihm entgegen zu beugen, als er an sie herantrat. Als er ihr ein flüchtiges Küsschen auf die Wange drückte, zog ihr fruchtiger Duft in seine Nase. Er hatte eine hervorragende Wahl unter den Vorschlägen getroffen. Das konnte nur gut laufen.
Es lief … gut? Henry überlegte, während er Ailis zuhörte, wie sie vom Theater erzählte. Sie war richtig beschämt, als sie ihre kleinen Lügen gestand. Doch ihr Enthusiasmus machte dies wieder wett. Fast. Er wusste auch nicht, was er von diesem Nachmittag halten sollte. Letztendlich war es gut, dass er nicht übermannt von Gefühlen der Anziehung hier saß. Wie derartige Konstellationen endeten, hatte er zu Genüge erlebt. Das brauchte er nicht. So war es … besser. Nein. Er hatte seinen Hang, sich kopflos in manche Sachen zu stürzen, mittlerweile im Griff und diese Gefahr bestand bei seiner Verabredung nicht.
Doch, traf er seine innere Entscheidung, so ist es deutlich besser.
»Aber du bist wirklich exakt so, wie du dich im Profil darstellst. Das ist wirklich außergewöhnlich.«
Henry lächelte und zuckte mit den Schultern. »Ich wüsste gar nicht, wie ich mich anders geben sollte.«
»Gibt ja offensichtlich auch keinen Grund dazu«, murmelte Ailis so leise, dass er sie kaum verstehen konnte. Etwas lauter fuhr sie fort: »Wie betreibst du das eigentlich? Hast du noch andere Dates, mit denen du dich triffst, um zu sehen, mit wem du am besten zusammenpasst?«
Henry schüttelte amüsiert den Kopf. »Ach, nein. Ich gehe tatsächlich Date für Date vor. Wenn sich herausstellt, wir passen nicht zusammen, klärt man das und ich treffe mich mit jemand anderem.«
»Das ist wirklich nobel, Henry. Du glaubst nicht, was mir schon alles passiert ist. Einer hat sogar meinen Namen mit seiner Verabredung, die er direkt im Anschluss mit mir treffen wollte, verwechselt. Er fand das auch lustig. Ich weiß nicht, für mich war das unangenehm.« Mit einem energischen Griff packte sie ihr Handy, das einen einkommenden Anruf signalisierte, nachdem sie die zahlreichen Textnachrichten nicht beachtet hatte. Henry jedoch hatte sie nicht ignorieren können und langsam fragte er sich, ob er selbst in einer von Ailis geschilderten Szenarien gelandet war. Versuchte ein weiteres Date, sie zu erreichen?
Nachdenklich beobachtete er sie, wie sie ihr Telefon in ihrer Tasche verschwinden ließ. Als sie aufschaute, blickte sie direkt in sein Gesicht. Ertappt verdrehte sie die Augen. »Das ist nur mein Bruder. Er ist echt eine Plage.«
Henry war sich nicht sicher, ob er diese Erklärung glauben sollte. Ailis machte nicht den Eindruck, eine unehrliche Person zu sein, dennoch … Dies schien alles sehr dramatisch für einfache Geschwister. Sie schien seine Zweifel aus seinem Gesicht abzulesen, denn sie fuhr fort: »Wirklich, er glaubt, er sei mein Beschützer und will über alles informiert werden. Aber das«, sie deutete zwischen ihnen hin und her, »geht ihn schlicht und ergreifend nichts an. Versteht er nur nicht.«
»Ich hab selbst keine Geschwister. Aber ich kann mir vorstellen, dass es da Reibereien gibt.«
»Das kannst du laut sagen. Wir leben ja sogar zusammen. Das klappt eigentlich auch ganz gut, nur manchmal vergisst er, dass ich keine acht Jahre mehr alt bin und er sich aus meinem Privatleben rauszuhalten hat.«
Henry kniff die Augen leicht zusammen. »Um ehrlich zu sein, könnte ich mir vorstellen, dass ich einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester auch etwas übereifrig beschützen wollen würde.« Entschuldigend lächelte er Ailis an. »Ohne Partei ergreifen zu wollen«, setzte er versöhnlich hinterher.
Ailis winkte gutmütig ab. »Wäre er nicht der beste Bruder, würde unser Zusammenleben nicht so harmonisch ablaufen.«
Das Gespräch verlief danach wieder unaufgeregt vor sich hin.
Henry suchte nach dem gewissen Etwas, das ihn tiefer berührte, als die offensichtlich freundschaftliche Zuneigung, die er für Ailis empfand. Je länger sich ihr Treffen zog, umso mehr zweifelte er – wieder mal – daran, das gefunden zu haben, was er sich eigentlich erhofft hatte.
Sie war attraktiv. Sehr sogar. Aber auch ein bisschen Sex war es nicht wert, eine mögliche Freundschaft aufs Spiel zu setzen oder womöglich falsche Anreize auszusenden. Und so anziehend sie war, warum auch immer würde es ihm nicht schwerfallen, sich heute von ihr zu trennen. Aber dennoch war er froh. Ganz aufgeben wollte er noch nicht. Er würde sich gewiss wieder mit ihr treffen. Falls sich nicht mehr entwickelte, könnten sie zumindest Freunde werden. Darüber war er sich fast sicher.
Aber vielleicht würde er ja, sobald er zu Hause war, alles noch mal in einem anderen Licht sehen.
Verstohlen warf er einen Blick auf seine Uhr. Kurz vor fünf. Die Schatten wurden länger und es wurde kühler. Er würde noch ins Büro fahren. Als er wieder aufsah, verfinsterte sich Ailis’ Gesicht und für einen Moment vermutete er, sie ärgerte sich über seine offensichtlich desinteressierten Gedanken, die ihn dazu verleiteten, die Uhrzeit zu prüfen, während sie sich unterhielten. Erst als er registrierte, dass sie nicht ihn ansah, sondern hinter ihn schaute, wurde ihm klar, dass ihr Ärger nicht ihm galt.
»Ich nehm das mit dem besten Bruder zurück. Er ist ein selbstherrlicher Arsch, der sich nicht einen Deut darum kümmert, was ich will.«
Henry drehte sich um und wurde zunächst nur von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne geblendet. Er konnte überhaupt nichts außer einer dunklen Gestalt inmitten eines spätnachmittäglichen Leuchtens erkennen. Um sicher zu gehen, seine Netzhaut vor dem penetrierenden Sonnenlicht zu schützen, blickte er kurz in den Schatten. Als er wieder aufsah, hielt er sich die Hand zum Schutz an die Stirn und kniff die Augen zusammen. Bevor sein Gehirn überhaupt verarbeiten konnte, wen oder was er dort sah, hatte sein bestes Stück in seiner Anzughose bereits begriffen, dass ihm sein Kryptonit gegenüberstand. Ein Kribbeln rann über seinen ganzen Körper. Langsam verarbeitete sein Kopf, dass dieser Adonis in zerrissenen Jeans mit einer Mischung aus ertapptem und schelmischem Lächeln auf den Lippen, diese elektrische Attraktion auslöste, vor der er sich so sehr fürchtete. Er musste sich abwenden, um wenigstens zu versuchen, seine Ratio wiederzuerlangen. Aber wie magnetisch angezogen saß er hier. Mit verdrehtem Oberkörper auf einer Bierbank konnte er seine Augen nicht von der Gestalt, die aus dem Lichtkegel trat, lösen. Als sich Henrys Augen an die geänderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, schafften es seine Pupillen, den Mann vor ihm scharf zu stellen. »Hrmpf!« Ein Laut entwich ihm. Würde der Mann schärfer gestellt werden, würde sich das Hier und Jetzt teilen. Das Date hatte sich offiziell von gut zu desaströs gewandelt.
Kapitel Vier – Kieran
»Du bist so ein Arsch!«
»Ah, Schwesterchen, ist das eine Art, seinen Bruder zu begrüßen?«
Ailis sah ihn mit vor Zorn funkelnden Augen an. Als er die beiden im Biergarten zusammen gesehen hatte, hatte er es bereits bereut, hierhergekommen zu sein. Es war offensichtlich, dass dieser Henry zumindest nicht über das Offensichtliche die Unwahrheit gesagt hatte. Verdammt. Wie konnte es sein, dass ein Steuerberater derart gut aussah? Vielleicht hatte er diesbezüglich gelogen? Es kam Kieran gerade recht, Ailis’ wütendem Blick ausweichen zu müssen, da fiel es sicher nicht auf, dass er ihre Begleitung ein bisschen länger als unbedingt nötig beobachtete.
»Entschuldige, Henry, das ist wirklich unmöglich. Kieran wollte sofort wieder gehen. Denn er hatte mir versprochen, nicht hier aufzutauchen.«
Irgendetwas stimmte mit diesem Kerl nicht. Wieso wich er denn seinen Blicken aus? Kieran gönnte seiner Schwester einen tollen Partner. Aber der Typ verhielt sich suspekt. Wer ging überhaupt in einem Anzug in einen Biergarten? Ein Steuerberater vielleicht?, versuchte seine innere Stimme mit ihm Kontakt aufzunehmen. Doch er wies sie in die Schranken und schenkte ihr keine Beachtung.Bevor Ailis ihm noch weitere Sachen an den Kopf werfen konnte, musste er die aufgebrachte Stimmung etwas besänftigen.
»Ich bin wirklich rein zufällig hier. Es ist so ein schöner Tag, da wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, eine Runde mit dem Rad zu drehen.« Er schob das Fahrrad in seiner Hand leicht hin und her, so als würde das sein Auftauchen erklären oder legitimieren.
»Rein zufällig! Mach dich nicht lächerlich.«
»Hättest du auf meine Nachrichten geantwortet, hätte ich nicht herkommen müssen.«
»Du musstest gar nichts! Das Einzige, was du musstest, war, meinen Wunsch zu respektieren.«
Ailis hörte sich so enttäuscht an, dass Kieran sich einfach nur schämte. Egal wie sehr er seine Aktion mit Fürsorge rechtfertigen wollte, Ailis hatte recht. Er hatte hier nichts verloren. Und wenn seine Schwester sich nicht bei ihm melden wollte, war das ihre Sache. Nicht jeder Kerl war wie Gerald. Er war selbst ein übergriffiger Idiot, der die klaren Ansagen seiner Schwester ebenso missachtet hatte, wie ihr Ex. Beschämt sah er seine Schwester an. »Tut mir leid. Du hast recht. Das war ’ne Nummer zu viel. Selbst für mich.«
Ailis sah ihn versöhnlich und jetzt mit deutlich mehr Verständnis an. Gerade als er vom Tisch weggehen wollte, schaute Henry – der vielleicht Steuerberater war oder auch nicht, was ihn aber überhaupt nichts anging – auf. Kieran blickte in dunkelbraune Augen, die ihn intensiv und viel zu kurz ansahen, bevor sie sich wieder von ihm ab- und Ailis zuwandten. Die Brille mit schwarzem Rahmen hatte Henry auf den Fotos nicht aufgehabt. Selbst die verlieh ihm natürlich noch mehr Sexappeal. Seine eigenen Online-Dating-Erfahrungen hatten nie derartige Exemplare zum Vorschein gebracht. Er musste Ailis fragen, wie sie das geschafft hatte. Oder hatte er irgendwann aufgrund der Verwendung, die er für seine Dates hatte und der damit einhergehenden Kurzlebigkeit, keine sonderliche Sorgfalt bei der Auswahl mehr an den Tag gelegt?
Für einen kurzen Moment fand Henrys Blick seinen Weg zu Kierans eigenem zurück. »Wenn du möchtest, bleib doch.« Beschwichtigend drehte sich Henry zu Ailis. »Falls das in Ordnung ist für dich. Ich bin kein Spezialist, was Geschwister angeht, aber du scheinst ja ehrlich besorgt zu sein und ich weiß auch nicht, was ich anstellen würde, hätte ich eine Schwester, die sich mit fremden Kerlen trifft, die online vorgeben sonst wer zu sein.«
Ailis sah ihn mit ihrem für sie typischen eindringlichen Blick an. »Lass dich von ihm nicht um den Finger wickeln, Henry. Du musst dir das nicht antun.«
Dieser lächelte sie aufmunternd an. »Es ist völlig in Ordnung. Und so lerne ich dich ja auch besser kennen.«
Kieran sah beide unschlüssig an. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Henry so entspannt reagieren würde. Er war sich gar nicht sicher, was er erwartet hatte. Vermutlich hatte ihm der Schlafmangel einen Streich gespielt und ein komplett unrealistisches Drohszenario in seinem übermüdeten Gehirn geschaffen. Waren alle Kerle online mittlerweile so verständig und fürsorglich? Oder galt das jetzt nur für Heten? Wie es schien, wollte Henry aber vor allem Ailis besser kennenlernen. Das war gut.
Wieso hatte er dann immer noch dieses seltsame Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte?