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Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die Australier den Eisschrank erfunden und einen Weltmeister im Snowboarden haben? Dass Bier einst nicht nur Währung, sondern auch Maßeinheit für Raum und Zeit war? Wir entdecken Australien als Surferparadies, in dem selbst Wolken und Felsen so tun, als seien sie riesige Wellen. Erkunden ein Land, in dem man Luftraum kubikmeterweise erwerben kann, und Sydney, die »Wohlfühlhauptstadt« der Welt. Wir begegnen Tieren, die aussehen wie eine Mischung aus Biber und Schuhlöffel. Erfahren, wie Aborigines ihre Nahrung mit den Fußsohlen finden und wieso das Nationalgericht aus exakt sieben Gängen besteht. Weshalb die reichste Frau der Welt natürlich eine Australierin sein muss. Und dass putzige Koalas ziemliche Nervensägen sein können.
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Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe 2023
© Piper Verlag GmbH, München 2014, 2018 und 2023
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Coverabbildung: Lucky Bay, Cape Le Grand National Park, Esperance, Westaustralien (Andrew Atkinson / Adobe Stock)
Redaktion: Matthias Teiting
Karte: cartomedia, Karlsruhe
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
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Cover & Impressum
Widmung
Karte von Australien
Surprise, Surprise
Kangaroo I – sie hüpfen rückwärts
Wassermenschen und Feuerkünstler
Willkommen in der Urzeit
Drachen, Beutellöwen und Riesenkängurus
Waterworld
Die Eingeweide der Welt
Die gestohlene Haarlocke
Lebenslänglich für einen geöffneten Brief
Ein Paar Seidenstrümpfe
Frauenmangel in Sydney
Lost World
Verborgene Schätze
Geheime Kunst im Land des Donners
Kontinent versus Land
Vergessene Welten
The True Blue
Identität durch Insektenvernichtungsmittel
Treue Seelen
Mateship in der Verfassung
You gotta laugh, mate
Hammer für Linkshänder
Der Leonardo da Vinci Australiens – ein Aborigine
Der Traum von der Freiheit
Luftraum kaufen
Sydney – die Wasserstadt
Eine Nacht im Zoo
Bis dass der Rost uns scheidet
Die Schönheit der Orangenschalen
Küsten, Strände, Meereswelten
Die Whitsundays und der gestohlene Sand
Mangroventanz
Tasmanien – Reise nach Elysium
Garten Eden oder Gottes Gefängnis?
In Teufels Küche
Der Olymp der Natur
Western Australia – Im Rausch und Reich der Farben
Bäume, die Gold sch(l)ürfen
Die ältesten Lebewesen der Welt
Schwimmen mit dem größten Fisch der Welt
Melbourne – die auf Gold gebaute Schönheit
Die Stadt der Immigranten
Stay in control. Ein Besuch im Casino
Inselbegabung
Kangaroo II – Fliegende Hasen und Grinsebäckchen
Falscher Hase
Drop Bear
Knall-auf-Fall-Kängurus
Das schönste Lächeln der Tierwelt
Dreaming & Songlines
Land im Kopf
Kein links – kein rechts
Nenn es bitte nicht Traumzeit
Die Schuhe, die unsichtbar machen
Zirkularatmung
Die Stimme des Baumes
Redende Hände, lauschende Füße
Long live the termite
Hilft gegen Schnarchen
Von wegen kuschliger Teddy
Porn, Pot & Politics
(Un)geliebte Hauptstadt
Die Zeltbotschaft und die Pornolobby
Der König von Australien
Sprich nicht mit Piraten, sprich mit der KI
Fairness, Transparenz und Allgemeinwohl
Direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild
Sonnenschutz und Schattenseiten
Sonnencreme bei Autofahrten
Slip, slop, slap, seek, slide (… and sip)
Willkommen im Zeitalter des Feuers
Der große Ozean der Lüfte
Brandbeschleuniger und Witwenmacher
Wüste und Outback
Glas aus rotem Wüstensand
Fischregen und die Kuh im Baum
Leichhardt ohne Wüstenschiff
Nützliche und unnütze Dinge fürs Outback
Der große Durst
Familienfreundliche Kneipen
Die Meister der kühlen Biere
Maßeinheit für Zeit und Raum
Der Berg, der das Licht trinkt
Besteigen verboten
Intermezzo in der Hauptstadt
Noch ein Geheimtipp
Alice Springs – der ruhigste Ort der Welt
Regatta im ausgetrockneten Flussbett
Der Filmemacher und der Feuertornado
Die Gärtner des Geheimdienstes
Relikte der Urzeit
Jäger mit drei Augenlidern
Mischung aus Schuhlöffel und Biber
Nervig, giftig & gefährlich
Zum Fressen gern
Von toter Schlange gebissen
Die verzweifelte Sehnsucht weiblicher Fliegen
Sportlich: Cricket, Surfen, Bumerang
Surfboard, Snowboard, Sandboard
Cricket
Bumerang
Gourmet & Wildfood
Brekkie & Flat White
Kultpaste Vegemite
Die Wächter der Flammen
Im Schlemmerland Südaustralien
Aborigines-Sprachen und Aussie-Slang
Der vierte Artikel
Doppelmoppel und Buchstabentausendfüßler
Das Selfie und der Wellensittichschmuggler
Blicke in die innere Welt
Die Sixtinische Kapelle der Urzeit
Das große Rätsel
Australische Literatur und Poesie – von Salzbäumen und Schaumkronen
Tim Winton
Kate Grenville
Peter Carey
Zwischen den Welten
Reisen ins Niemandsland
Die gestohlenen Kinder
Wut und Video
Die Geheimgesellschaft
Kangaroo III – Most crazy sex facts
Purzelbaum ins Beutelglück
Zum Schluss wird es bizarr
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Rainer Remus, der Australien überlebt hat
Ich ging über den goldgelben Sand der Weinglasbucht und trank gekühlten Tee am Strand der Pfefferminzbäume. Ich lernte am Hafen von Woolloomooloo einen australischen Barista-Weltmeister kennen und bekam im Ort Nowhere Else vor Schönheit Gänsehaut. Australien ist ein Land, in dem es Orte gibt, die aus einer märchenhaften Werbebroschüre stammen könnten. Oder die so klingen, als wären sie aus einem Fantasy-Roman frisch auf die Landkarte gepurzelt: die Schlucht der Regenbogenschlange, der Berg der Wolkenwälder, das Tal der flüsternden Bäume.
Es waren die Ureinwohner Australiens, die sich einst viele dieser fantasievollen Wortschöpfungen ausgedacht haben. Doch auch die späteren Entdecker und weißen Siedler ersannen Namen voller Poesie: das Kap der Trübsal, die Inseln der Hoffnung, der See der Enttäuschung, der Berg der Überraschungen.
Wie wahr. Australien ist tatsächlich ein Land der Überraschungen und der unerwarteten Wunder. Und höchst seltsamer Tiere. Auf gelben Verkehrsschildern werden wir vor Tasmanischen Teufeln (Raubbeutlern) gewarnt, vor Quokkas (Kurzschwanzkängurus) und Wombats (Plumpbeutlern). Doch wer hat je etwas von den hochgradig vom Aussterben bedrohten Zottel-Hasenkängurus (kein Witz), dem Dibbler (einer Sprenkelbeutelmaus) oder den fantastischen Baumkängurus gehört – von denen (Stand Herbst 2023) gerade noch wenige Dutzend Tiere in den Baumkronen des australischen Regenwaldes leben?
In diesem Buch wird auch über das Artensterben, über Hochwasser, Buschfeuer, Glutöfen, Quälgeister, Giftstachel und Reißzähne zu reden sein. Was wäre Australien ohne seine Gefahren und Herausforderungen? Oder ohne die First Nations Australians, die ältesten Kulturvölker der Welt? Auch deren Leid und Elend sowie ihr kultureller Reichtum werden nicht unerwähnt bleiben. Und was wäre das Land ohne sein Wappentier, das Känguru? Jährlich werden immer noch über 5 Millionen Tiere getötet, auch, um sie tonnenweise zu Hunde- und Katzenfutter zu verarbeiten – oder zu Turnschuhen.
Australien kennt, trotz all der ökologischen und klimatischen Herausforderungen, dank seiner unermesslichen Bodenschätze seit über einem Vierteljahrhundert nichts anderes als wirtschaftliches Wachstum. Das ist Weltrekord.
Und obwohl Australien ökonomisch in den letzten Jahrzehnten den Turbo eingeschaltet hat, wirkt das Land auf verblüffende Weise nicht hektisch, sondern entspannt.
Noch immer strahlt »The Lucky Country« mit seinen 12 000 Stränden weiter Ruhe und Gelassenheit aus und bleibt ein Kontinent der erstaunlichsten Rekorde.
Wer hätte gedacht, dass Australien die größte Sandinsel der Welt besitzt, deren offiziellen Namen K’gari noch kaum jemand kennt, dass es in Australien Bäume gibt, die Gold sch(l)ürfen können, dass man hier Luftraum kaufen kann, dass Australien über das größte Trinkwasserreservoir der Welt verfügt oder dass es auf dem Fünften Kontinent über 160 erloschene Vulkane gibt, manche von ihnen sogar tropisch grün überwuchert?
Traumhaft schöne Maare, mit Wasser gefüllte Vulkankraterseen.
Im Süden Westaustraliens dann: Riesenbäume, Riesenfarne, Riesenwälder.
Überall gibt es neben den Dingen, die man sowieso unweigerlich mit Australien verbindet, wie die steinernen Riesen im Outback, die rote Halbwüste und die schneeweißen Strände, auch immer wieder Verblüffendes, wie die smaragdgrünen, feuchttropischen Wälder von Queensland oder die subtropischen Gondwana-Regenwälder mit ihren Schildvulkanen.
Denn an Überraschungen herrscht in Australien einfach kein Mangel.
Sachen, mit denen man einfach nicht rechnet: den Korallenzauber und Farbrausch der Abrolhos Islands. In Monkey Mia kann man sich mit Delfinen direkt an einem wunderschönen Strand zum gemeinsamen Schwimmen verabreden.
Mitten in Wüsten, Steppen und Halbwüsten gelangt man an erfrischende Bademöglichkeiten. Das Ellery Creek Big Hole zum Beispiel. Ein kühler See im West MacDonnell National Park. Oder der kleine Schwimmfelspool im Maguk Gorge, der sich zwischen einem Steinlabyrinth oberhalb eines Wasserfalls versteckt.
Und wer hätte gedacht, dass es neben dem weltweit bekannten Great Barrier Reef im Osten noch ein traumhaftes Korallenriff im Westen gibt? Das Ningaloo Reef – das längste Saumriff der Welt –, das wenige Hundert Meter vom Strand entfernt, zum gemeinsamen Tauchgang mit Walhaien einlädt.
Vieles, was man hier zu sehen, zu riechen, zu schmecken und zu hören bekommt, gibt es sonst nirgendwo auf der Welt. Vieles ist einmalig, weil sich dieses Land so lange abseits aller anderen Landmassen bewegt hat.
Über Millionen von Jahren konnte der Fünfte Kontinent sein eigenes Spiel des Lebens betreiben und wartet nun mit unglaublichen Resultaten auf. Kommt nur und schaut alle her, was ich euch Schönes gezaubert habe!
Das Känguru ist das weltweit berühmteste aller Beuteltiere. Es ziert jede australische 1-Dollar-Münze, ist auf der tausend Kilogramm schweren »Kangaroo One Tonne Gold Coin« im Mint Museum in Perth abgebildet, dient als Logo der Qantas-Flugzeuge, ist natürlich Symbol der sprungkräftigen australischen Basketballteams und darüber hinaus das weltweit einzige Wappentier, das man verspeisen kann! Kein Wunder, dass man diese Tiere als Erstes auf der Rechnung hat, wenn man nach Australien reist.
Aber auch anderswo auf der Welt war man sehr frühzeitig von Kängurus fasziniert. Zur Geburtsstunde des Kinos zum Beispiel. Als Max und Emil Skladanowsky im Berliner Wintergarten 1895 ihre allerersten Filme präsentierten, zeigten sie auch einen kurzen Stummfilm, in dem ein gewisser Mr Delaware gegen ein boxendes Känguru antrat. Wie ein richtiger Boxkampf sah das zwar nicht aus, eher wie ein wüstes Raufen, aber derartige Schaukämpfe gehörten gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchaus zum Berliner Varieté- und Zirkusprogramm. Auch auf australischen Jahrmärkten traten damals boxende Kängurus gegen harte Männer aus dem Outback an.
Als die Segeljacht AustraliaII im Jahr 1983 das Motiv eines boxenden Kängurus samt grüner Fahne hisste und zum ersten Mal nach über hundert Jahren den Titel der berühmtesten Segelregatta der Welt nach Australien holte, wurde The Boxing Kangaroo auf dem Fünften Kontinent endgültig Kult. Die Flagge mit dem goldfarbenen Känguru und den roten Boxhandschuhen auf grünem Grund galt von da an als Glücksbringer und sorgte während der Olympischen Spiele in Sydney sogar für Unruhe, weil das Olympische Komitee das boxende Känguru als nationales Symbol nicht anerkennen wollte.
Männliche roos – so die australische Kurzform – haben das Boxen im Blut. Bevor sie sich mit Konkurrenten und Gleichaltrigen messen, versuchen sie sich an ihren Müttern oder aber an ihrer Variante des Punchingballs, jenen Sträuchern, die im Outback stehen und nicht selten mit ihren biegsamen Ästen überraschend »zurückschlagen«. Heranwachsende männliche Kängurus wählen sich täglich im Busch pflanzliche oder tierische Sparringspartner.
Die riesigen Muskelstränge der Kängurus funktionieren wie Sprungfedern. Die Achillessehnen werden dabei gestreckt und gespannt wie die Sehne bei einem Bogen. Ein großer Teil der Aufprallenergie wird beim Sprung gespeichert und für den nächsten Riesensatz genutzt. Das Hüpfen ist eine geniale und pfiffige Fortbewegungsart für Wüstenbewohner. Energiemäßig ist es bei Weitem effizienter als der Galopp eines Pferdes. Die kräftigen Beine erlauben dem Roten Riesenkänguru Sprünge von bis zu zehn Meter Weite und drei Meter Höhe. Der heiße Boden Australiens wird dabei selten berührt; erstaunlich schnell, mit bis zu siebzig Kilometern pro Stunde, überbrückt dieses Beuteltier die weiten Ebenen des Landes. Ein immenser Vorteil, um an weit entfernte Wasserstellen zu kommen (und Wasser benötigt ein ausgewachsenes Känguru spätestens nach zehn Tagen).
Wenn es zum Kampf kommt, katapultiert sich ein Männchen akrobatisch in die Luft, stützt sich hinten mit dem kräftigen Schwanz ab und tritt dabei mit beiden Hinterbeinen so kräftig nach vorn, dass dies auch für einen menschlichen Gegner lebensgefährlich werden kann. Kickboxen vom Feinsten. Oft macht das gegnerische Känguru dann etwas, das es offiziell gar nicht können dürfte: rückwärtshüpfen!
Kängurus, das lehrt man die Kinder in australischen Schulen und wiederholt es seit Jahrzehnten brav in vielen Reiseführern und Büchern über Australien, könnten nur nach vorn hüpfen, niemals zurück. Ebenso wie für den australischen Staat gebe es für das charismatische Beuteltier nur eine Richtung, in die man sich bewegt: nach vorn! Schließlich sollen die Tiere doch die sogenannte forward progression repräsentieren. Ob der australische Staat und seine Ökonomie sich stetig nur nach vorne bewegen, sei dahingestellt.
Jedenfalls ist diese Behauptung, zumindest was die Kängurus betrifft, völlig falsch. Denn wenn sich die riesigen männlichen Tiere aufrichten und wie eine Primaballerina in die volle Fußstreckung zu einer Art Spitzentanz begeben, dazu ihren Schwanz anheben und den gegnerischen Tritten elegant mit einem federnden Sprung nach hinten ausweichen, machen sie eben genau das, was man ihnen eigentlich am liebsten per australischem Dekret verbieten würde. Wappentiere hüpfen nicht zurück. Niemals. Nun ja, tun sie eben doch!
Fairerweise muss man sagen, dass viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen klar zwischen dem populär postulierten Unvermögen, rückwärts zu hüpfen, und dem tatsächlich für Kängurus unmöglichen alternierenden Rückwärts- und Vorwärtsgehen unterscheiden. Kängurus setzen grundsätzlich ihre beiden Füße nur dann unabhängig voneinander ein – wenn sie schwimmen!
Vorab: Der Begriff »Aborigine« war lange Zeit Gegenstand einer kontroversen Debatte. Viele Nachfahren der Ureinwohner Australiens haben sich mittlerweile mit dieser Bezeichnung arrangiert, verwenden aber auch gerne die Begriffe »Aboriginal Australians«, »Aboriginal People«, »First Australians«, »First Nation Australians«, »First Nation People« oder »Indigenous Australians«. Die offizielle Bezeichnung dieser Gruppen lautet in Australien übrigens »Aboriginal and Torres Strait Islander peoples«.
Es gibt englische Historiker und Historikerinnen, die behaupten, der Seefahrer James Cook habe Australien nur deshalb erreichen können, weil er seiner Mannschaft ganze Fässer voll Sauerkraut verabreichte. Dass es deutsches Sauerkraut war, kann man aus einem Streit erkennen, den Cook mit seinen Matrosen hatte. Denn die wollten das deutsche Kraut anfangs ums Verrecken nicht essen. Das Standardessen auf der Endeavour bestand aus stark gepökeltem Schwein und einer Art bissfestem Keks. Erst als Cook selbst sich täglich eine gute Ladung Sauerkraut auf den Teller packte, konnte er auch seine mürrische Crew überzeugen. Der gefährliche Skorbut blieb aus, und James Cook verlor dank intensiver Vitamin-C-Gaben in Form von Sauerkraut und Limettensaft auf seinen langen Reisen nur wenige Männer. (Wahrscheinlich ebenjene, die sich seiner Sauerkrautkur standhaft verweigert hatten.)
Als der Brite 1770 die australische Ostküste entlangsegelte, um sie zu kartieren, war er weder der Kapitän des Schiffes (!) noch der Entdecker dieses neuen Landes (!!). Am 26. Januar, dem australischen Nationalfeiertag, feiert man nicht die Entdeckung Australiens, sondern die Ankunft der ersten Flotte, ihrer Strafgefangenen und Besatzung. Ein häufig tradierter Fehler. Cook galt lange Zeit in den Schulen des Landes als Captain Cook, der Entdecker Australiens. Die Aboriginal People in den Missionsschulen reagierten auf die dort ausschließlich unterrichtete Geschichte der weißen Besiedlung mit einer spöttischen Interpretation des historischen Kürzels B. C. Für sie begann die neue Zeitrechnung nicht before Christ, sondern before Cook.
Bereits 164 Jahre vor Lieutenant James Cook hatte der holländische Handelsreisende Willem Janszoon australischen Boden betreten. Er hielt die Landspitze der heutigen Cape-York-Halbinsel, auf die er am 26. Februar 1606 stieß, jedoch für einen Teil Neuguineas. Als den »Kolumbus von Australien«, also den eigentlichen Entdecker, könnte man den Niederländer Dirck Hartog bezeichnen, der 1616 am heutigen Cape Inscription an der Westküste landete.
Tatsächlich jedoch kamen die Europäer Jahrtausende zu spät, um sich als Entdecker feiern lassen zu können. Die erste Besiedlung verliert sich im Nebel der Zeit, reicht aber mindestens 53 000 Jahre zurück. Die Ureinwohner Australiens lebten bereits seit der Altsteinzeit auf diesem fernen Kontinent. Als sich 1770 Europäer und First Nation People zum ersten Mal begegneten, kam es zum größten cultural clash, den die Welt je erlebt hatte. Auf der einen Seite die indigenen Völker Australiens, die ältesten kontinuierlichen Kulturen der Menschheit. Leben mit Steinwerkzeugen wie im Paläolithikum. Kein Metall, kein Rad, keine Feuerwaffen. Und auf der anderen Seite die neuen Siedler. Reisende der Industrialisierung. Botschafter der Dampfwagen, des Thermometers und der optischen Telegrafie. Die neuen Herren, die auf die Aborigines herabblickten, als wären diese seltsame Fossilien, brachten viele Dinge in die neue Welt, die man dort zuvor nicht vermisst hatte: Musketen, Pferde, Missionare, Rum, Tabak, Syphilis und Pocken.
Als bei uns in Europa noch Neandertaler lebten, hatten die ersten Menschen der Gattung Homo sapiens Australien längst erreicht. Während der ersten Besiedlung war dieser südliche Kontinent etwa um ein Sechstel größer als heute. Durch die Eiszeit auf der Nordhalbkugel war der Meeresspiegel weltweit über Hundert Meter niedriger. Australien war damals noch mit Neuguinea und Tasmanien verbunden.
Die Vorfahren der Aboriginal People haben Australien allerdings nicht über eine Landbrücke erreicht. Sie machten sich von den Inseln des indonesischen Archipels mit langen Seekanus auf den Weg in eine ihnen völlig unbekannte Welt. Eine urzeitliche Welt, wie der Mensch sie noch nie zuvor gesehen hatte.
In ihren ältesten Sagen sprechen die Aborigines aus dem Arnhemland im Norden Australiens noch heute voller Ehrfurcht von Beutellöwen, riesigen Drachen und baumhohen Kängurus. Neueste Forschungsergebnisse zeigen, dass diese keine reinen Erfindungen waren.
Der Kontinent, den die Vorfahren der Aborigines in der Urzeit erreichten, sah völlig anders aus als das heutige Australien. Wasser war das Element der frühen Zeit. Es gab endlose Sümpfe und Feuchtgebiete. Riesige Dschungel dominierten das Land. Im Norden befand sich ein gewaltiger Süßwassersee, in dem Krokodile lebten, die doppelt so groß waren wie ihre heutigen Nachfahren. Australien war damals eine Welt der Riesen, der Megafauna. Das größte Beuteltier, das es je gab, das Diprotodon, erreichte die Größe eines Nilpferds. Gingen die ersten australischen Menschen auf die Jagd, so mussten sie mit Riesenechsen und dem Procoptodon goliah rechnen, einem drei Meter großen Känguru. Durch Skelettfunde weiß man, dass dieses giant short-faced kangaroo stolze 230 Kilo auf die Waage gebracht haben muss. Wer sich ein Bild von diesen uns völlig unbekannten, teils sehr bizarren Tieren machen möchte, kann sie im Australian Museum in Sydney in Originalgröße bestaunen.
Als vor 9000 Jahren die Eiszeit zu Ende ging, stiegen die Meeresspiegel rapide an, und Australien verlor ein Sechstel seiner Landmasse durch Überschwemmungen. Die Aboriginal Australians zogen ins Landesinnere, in eine ihnen fremde, unwirtliche, sehr trockene Welt. Dürre und Hitze bestimmten nun ihr Leben, und um dort überleben zu können, machten sie ausgerechnet das Feuer zu ihrem wichtigsten Werkzeug. Aus Wassermenschen wurden Feuerkünstler, die mit mächtigen Fackeln auf die Jagd gingen.
Mit geübtem Auge erkannten die Ureinwohner den Wechsel der Ernte- und Sammelzeiten allein an den veränderten Farben der Vegetation. Die Sonne war ihre Uhr, und die unterschiedlichen Farben der Bäume wurden zu ihrem Kalender. War das Gras vertrocknet, wurde es Zeit, es abzufackeln, Schneisen ins Buschland zu brennen und die Kängurus in die Speere der Jäger zu treiben. Man zog weiter, wenn an einer Stelle alles Essbare aufgesammelt worden war. Die Aborigines legten selten Vorräte an. Die Vergangenheit und die Zukunft gab es in ihren Augen nicht. Die Ureinwohner lebten im zeitlosen Glück.
Lange Zeit wurden die Aborigines von den neuen Siedlern als primitive Steinzeitmenschen eingeschätzt, die keine Keramik und keine Häuser kannten und als Nomaden weder Rad noch Ackerbau oder Landwirtschaft entwickelt hätten. Nun gut, sie hatten ganz nebenbei ein gyroskopisches Wunderwerk erfunden, einen Bumerang, der zurückkehrt! Sie hatten die Woomera entwickelt, dank deren Hebelwirkung ein Speer drei Mal weiter fliegen konnte als üblich. Sie hatten gelernt, wie man thermoplastisches Harz herstellt, den über Jahrtausende besten Klebstoff der Welt. Sie hatten einen Wasserbeutel erfunden, den man zurecht als ersten Kühlschrank bezeichnen kann.
Den Coolgardie Safe, der Kapillarwirkung und Verdunstungskühlung nutzte, um das Verderben von Lebensmitteln zu verhindern. Aber ansonsten hielt man sie lediglich für Jäger und Sammler, die Steinäxte und Holzspeere verwendeten. Eine Kultur, die seltsamerweise trotz großer Eisenerzvorkommen die Metallverarbeitung nicht kannte und der das Rad völlig fremd zu sein schien. Doch in den letzten Jahren haben die Archäologen und Paläoanthropologen Australiens Erstaunliches entdeckt, weshalb man sich von vielen alten Vorstellungen verabschieden musste.
Denn die ersten Aboriginal People kannten bereits den Landbau und die Fischerei. Sie waren Seefahrer und Regenwaldmediziner. Sie besaßen über 400 hochkomplexe Sprachen, bauten Häuser und trieben Handel mit Völkern im heutigen Indien, in China und auf der Arabischen Halbinsel. Weil sie sich anfangs eher dem Wasser als der Wüste verbunden fühlten, wurden die frühen Küsten-Aborigines wahre Meister der Fischzucht. Vor 6500 Jahren baute der Tribe der Gunditjmara an der südlichen Küste, am Lake Condah, die ersten steinernen Fischfallen. Raffiniert konstruierte hydraulische Systeme spülten im Frühjahr das Wasser und die Aale in die Kanäle. Die Frauen des Tribes übernahmen das Flechten der langen Aalkörbe.
Doch sie interessierten sich nicht nur für das, was im Wasser schwamm, sondern auch für die »Eingeweide der Welt«, wie es einige First Nation People mir gegenüber nannten. Was sie so tief im Bauch der Erde suchten, war weder Silber noch Gold. Es war Ocker, ein Mineralgemisch aus Tonerde und Eisenoxiden. Eine für die ersten Australier überaus wertvolle Substanz, die auf langen Handelswegen über Tausende von Kilometern von den Minen Westaustraliens und denen im nördlichen Queensland durch die Wüsten ins rote Zentrum, ins Arnhemland und an die Küsten gebracht wurde.
Ein mit rotem Ocker künstlerisch gestaltetes Grab am Lake Mungo zeigt, wie wichtig den frühen Menschen die Pigmente des Ockers für ihre aufwendigen Beerdigungsrituale waren. Und zwar bereits vor 40 000 Jahren, wie der Mungo Man beweist. Dieses Skelett eines leichtknochigen, grazilen Menschen mit flachem Gesichtsschädel und vorgewölbter Stirn gilt als der älteste Fund eines anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens) in Australien überhaupt.
Die Pigmente des Ockers wurden auch zur Körperbemalung benutzt, für Stammesrituale, Initiationen und als Schutzschicht gegen Insekten und nervige Fliegen. Der Lehm auf dem Körper half den Ureinwohnern bei der Jagd, weil die Kängurus so keine Witterung aufnehmen konnten.
Einer alten Erzählung nach entstand der rote Ocker im Dreaming. In dem, was wir heute »Traumzeit« nennen, kämpften die Schöpfer mit einem riesigen Känguru – das die allerersten Australier ja tatsächlich noch kennengelernt hatten. Das in die Erde versickernde Blut des Tieres verwandelte sich in roten Ocker. Die austretenden Säfte der Leber wurden zu gelbem und die der Galle zu grünem Ocker.
Die Aborigines waren folglich auch die ersten Minenarbeiter Australiens, wenn nicht gar der Welt. Ihre Arbeit in der Mine von Wilgie Mia mussten sie nach 40 000 Jahren in den Jahrzehnten zwischen 1940 und 1970 zeitweise beenden, weil weiße Minenarbeiter sie enteigneten und Anspruch auf die Bodenschätze erhoben.
Bis in die jüngste Zeit rätselte die Wissenschaft ferner, wie es der indigenen Bevölkerung gelingen konnte, ohne Klingen feine und exakte operative Schnitte zu machen. Doch die ersten Australier brauchten keine Metallklingen, weil sie Obsidian besaßen, ein vulkanisches, wesentlich schärferes Gesteinsglas. Der Obsidian war auch einer der Gründe, warum die Aborigines bereits 15 000 Jahre vor den Europäern geschliffene Äxte kannten. Die Bruchkanten dieses vulkanischen Glases sind so scharf, dass heute noch viele Chirurgen Obsidianklingen modernen Metallinstrumenten bei Operationen vorziehen.
»… die Erde ist der Schorf der Missetäter, ihr tiefer Schmerz sind die Risse der Roten Erde. Wusstest du, dass es auf Rottnest Island ein Wellnesshotel gibt, das 300 Dollar die Nacht kostet?«
»Nein, so viel bezahle ich nicht für ein Hotelbett, Rob.«
»Dieses Hotel war ganz früher mal ein Gefängnis, in dem meine Vorfahren wie die Tiere gehalten wurden. Heute gibt es keinen einzigen Hinweis darauf auf dem Gelände. Kein Gedenkstein. Keine Plakette.«
»Rob, weißt du, dass es Männer gab, die in Fußketten in die Verbannung hierher geschickt und lebenslang ins Arbeitslager gesteckt wurden, nur weil sie in England ein gelocktes Haar oder ein Brot gestohlen haben?« Rob senkt den Kopf.
»Das ist traurig. Das wusste ich nicht. Aber wir wissen sowieso viel zu wenig übereinander. Ob der Hass jemals aufhören wird? Der Schmerz ist zu groß. Vielleicht sogar auf beiden Seiten. Wie heilt die Zeit die Wunden, wenn es die Zeit nicht gibt?«
Vor Jahren waren viele Australier und Australierinnen beleidigt, wenn sie daran erinnert wurden, dass ihre Vorfahren Verbrecher waren und ihr Land anfangs nicht mehr und nicht weniger als das größte Gefängnis Ihrer Majestät von England. Und sie waren – das muss man heute sagen – völlig zu Recht beleidigt. Denn die Gefangenen, die auf lichtlosen, faulig riechenden Schiffsdecks in Gitterkäfigen oder mit Fußfesseln in die neue Kolonie verfrachtet wurden, waren meist einfache Leute, deren Vergehen allein darin bestand, vor Hunger ein Stück Brot oder eine Rübe auf dem Wochenmarkt oder auch bloß ein Paar Seidenstrümpfe gestohlen zu haben.
Wer also in Australien auf das Thema der ersten Besiedlung zu sprechen kommt, sollte das Wort criminal – Verbrecher – auf jeden Fall vermeiden. Für den Zeitraum der frühen Deportation und der ersten Jahre des Landes bietet sich der Begriff penal colony – Sträflingskolonie – an. Falls das Gespräch auf die Vorfahren der weißen Aussies kommt, sollte der Begriff convict für Sträfling beziehungsweise Verurteilter verwendet werden – oder man spricht besser gleich weitaus höflicher von den first arrivals. Denn zu den ersten Menschen, die in der Botany Bay landeten, gehörten neben den Sträflingen schließlich auch Seeleute, Soldaten, Wissenschaftler sowie deren Frauen und Kinder. Australische Freunde haben mir zwar erzählt, dass die sogenannten einfachen Seeleute den Sträflingen in ihrer Raubeinigkeit und Trunksucht in nichts nachstanden, doch macht es Sinn, diese Feinheiten den Australiern zu überlassen. Denn angesichts des oft überharten Schicksals ihrer Ahnen ist Respekt angebracht.
Der gleiche Respekt allerdings, den ich auch für die Vorfahren der Aborigines einfordere, die vielfach ins Gefängnis gesteckt wurden und Schreckliches erdulden mussten. Ein sehr heikles Thema, das man auf fröhlichen Grillpartys besser lassen sollte, wenn man die Stimmung nicht allzu schnell ruinieren möchte.