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Ein gefährliches Spiel zwischen Macht und Wahrheit - Eine junge Frau, in den Fängen einer Scheinfirma des FBI, wird vor die Wahl gestellt. Entweder sie knackt die verschlüsselten Daten oder sie verliert ihre Freiheit. Doch was sie in den Tiefen dieser geheimen Informationen entdeckt, lässt sie an allem zweifeln, was sie zu wissen glaubte. Gedankenlesen, Willensbeeinflussung - das kann es nicht geben, davon ist Mara überzeugt. Doch kommt sie genau diesem Geheimnis und einem Mann auf die Spur, der ihr zunächst unheimlich ist, aber von Tag zu Tag ihre Gefühlswelt mehr und mehr durcheinanderbringt. Darf sie diesem Gefühl Raum geben? Miguel wird des Mordes beschuldigt und sie gefährdet ihre Freiheit, wenn sie nicht seine verschlüsselten Daten dem FBI übermittelt. Als sie Zeuge eines Mordes wird, muss sie sich für eine Seite entscheiden und steht fortan zwischen den Fronten. Dieser Roman wurde bereits unter dem Titel 'Schwanennebel' im Jahr 2016 vom Verlag Telegonos Publishing veröffentlicht.
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Seitenzahl: 391
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Birgit Gürtler, geboren 1974 in Wiesbaden, wo sie auch heute noch gerne und regelmäßig den wunderschönen Kurpark besucht und die Straßen aus Kindertagen abläuft. Viele Jahre hat es sie in den grünen Westerwald verschlagen, von wo aus sie letztendlich in ihre neue Heimat Spanien gezogen ist.
Schreiben ist ihre große Leidenschaft. Am liebsten ist sie in der Spannungsliteratur zu Hause und verknüpft alte Geheimnisse und Mythen in ihre Geschichten. Aber auch Kindergeschichten zählen zu ihren Veröffentlichungen. Sie ist Mitglied der 42er-Autoren.
Mehr unter: https://birgit-guertler.de/
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Maras Finger huschten über die Tastatur des Laptops. Die Geräusche der Anschläge und des Lüfters klangen fremd in der Stille des verlassenen Gebäudes.
Zum dritten Mal traf sich Mara mit Leuten, die an eine bessere Welt glaubten. An eine Zeit, in der die Reichen den Armen Lebensnotwendiges abgaben, in der Profit eine nebensächliche Rolle spielte. Doch keiner hoffte auf Wunder, weswegen sie sich berufen fühlten, bei der Entwicklung einer freigebigeren Gesellschaft nachzuhelfen.
Das Brummen von Motoren näherte sich. Mara hielt inne und rieb sich die klammen Finger. Fragend blickte sie zu Scott, der aufsprang und zum Fenster hastete.
Sein fahles Gesicht, das im Mondlicht gespenstisch wirkte, nahm einen gequälten Ausdruck an. Mara eilte zum Fenster, um nachzusehen. Ihr Herz raste. Es durfte jetzt nichts dazwischenkommen, sie waren so nah dran!
Drei Limousinen hielten vor der verlassenen Lagerhalle. Dumpf schlugen Autotüren ins Schloss. Schwarz gekleidete Gestalten verließen die Wagen.
„Wir müssen weg hier!“, murmelte Scott. Entschlossen fasste er Maras Hand und zog sie mit sich.
„Wie denn? Der Eingang ist doch längst umstellt!“ Tränen füllten ihre Augen.
„Es gibt noch einen anderen Ausgang. Wir werden denen die Arschkarte zeigen.“
Abrupt stoppte er und blickte entsetzt zur Tür. Der Rest der achtköpfigen Gruppe stürmte kopflos los und reagierte nicht auf seine Rufe.
„Verdammt. Das geht nicht gut. Sie laufen den Typen direkt in die Arme“, fluchte er und zog Mara mit sich. Der Lichtstrahl seiner Taschenlampe tanzte wild vor ihnen her, nur schemenhaft erkannten sie die Beschaffenheit des Bodens. Vergessenes Werkzeug, Dreck und alte Matratzen lagen herum. Zweimal stolperten sie über herumliegende Bretter. Ihre Schritte dröhnten in den leeren Hallen und Gängen. Sie erreichten die Treppe, die nach unten führte, und nahmen gleich zwei, drei Stufen auf einmal.
Schüsse donnerten durch das Gebäude.
„Die schießen doch nicht auf uns?“, japste Mara. Ihre Lunge brannte vor Anstrengung und dem Staub, den sie aufwirbelten. Scott antwortete nicht. Ächzend stemmte er seinen Oberkörper gegen eine Flügeltür aus Eisen, bis sie scheppernd aufsprang. Misstrauisch spähte Mara in einen Innenhof. Wuchtig bauten sich ringsherum die Mauern schäbiger Bauwerke auf. Das Bild des Vollmondes spiegelte sich in den Fenstern.
„Da vorne gibt es einen Zugang zu einem stillgelegten Tunnel“, flüsterte Scott und blickte noch einmal zurück.
Sie huschten über den Hof und gingen vor einem eisernen Gullydeckel in die Hocke. Das Geräusch von Eisen, das auf Beton schabt, durchdrang die Dunkelheit, während sie den Deckel zur Seite schoben.
„Geh du zuerst“, raunte Scott hektisch.
Mara kroch mit den Füßen voran in das Loch und griff nach den rostigen Stäben der Leiter. Feuchte, faulig riechende Luft stieg in ihre Nase.
„Das ist ja eklig!“ Naserümpfend leuchtete sie mit einer Taschenlampe auf das Rinnsal, das hier unten entlang floss. „Sagtest du nicht etwas von stillgelegt?“
Scotts Zähne blitzten für einen Moment zu einem Grinsen auf. „Muss ich mich wohl getäuscht haben. Wenn du dir Kugeln um die Ohren schießen lassen willst, kannst du es ja woanders versuchen.“
Mara stöhnte. „Ich hoffe, du weißt wenigstens, wohin der Tunnel führt. Am Ende landen wir noch vor einer Polizeistation, bei deinem lausigen Informationsstand.“
Scott lachte und schob Mara voran. Geduckt balancierten sie auf dem etwas höher gemauerten Rand, um sich nicht an der gewölbten Decke zu stoßen. Mara schmerzte bereits der Rücken, als der Tunnel eine enge Kurve machte. Schummriges Licht leuchtete plötzlich auf. Mara hörte Scotts Warnung zu spät. Ein Lichtkegel erfasste sie.
„Bleiben Sie stehen und nehmen Sie die Hände hoch!“, tönte eine Männerstimme durch den Tunnel.
„Ich bin alleine und unbewaffnet“, rief sie laut zurück. Sie konnte nichts erkennen, hinter dem Licht wirkte alles schwarz. Scott kauerte noch unentdeckt im Dunkeln.
„Mach, dass du verschwindest!“, raunte sie in seine Richtung.
Ihr Herz raste, während sie zu dem Umriss einer Gestalt lief. Als sie näherkam, erkannte sie zwei Personen. Einer hielt ihr eine Waffe entgegen und dirigierte sie forsch die Leiter nach oben.
Mara entstieg der muffigen Unterwelt und nahm einen tiefen Atemzug der frischen Nachtluft. Sie befand sich in einer Seitenstraße, in der eine schwarze Limousine mit geöffneter Fahrertür parkte. Im Innern erleuchtete die Glut einer Zigarette das Gesicht eines Mannes.
„Sie können die Hände herunternehmen, Frau Bucher“, tönte eine gelassene Stimme aus dem Wageninneren.
Zögerlich ließ sie die Arme sinken. „Woher kennen Sie meinen Namen?“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Das ist jetzt nicht Ihr Ernst? Sie erpressen große Pharmaunternehmen und sind so naiv zu glauben, keine Spuren hinterlassen zu haben?“
Mara presste die Lippen zusammen. Sie wollte nicht als Kriminelle angesehen werden. Er musste doch verstehen, dass gute Pläne mitunter drastische Mittel verlangten.
„Uns entstehen keine Vorteile. Wir helfen lediglich etwas nach, um die Firmen zu einer guten Tat zu bewegen. Dort werden Milliarden umgesetzt. Was ist schlimm daran, wenn sie etwas von ihren Medikamenten an die Ärmsten der Armen abgeben?“
„Ich bin nicht hier, um ethische Fragen zu beantworten, sondern um das Gesetz zu vertreten und das Gesetz hat kein Verständnis für einen Cyber-Robin Hood.“ Er zog noch einmal kräftig an seiner Zigarette, ehe er sie wegschnippte und aus dem Wagen stieg. Er war groß, athletisch und trug einen grauen Anzug. Sein rotblondes Haar schimmerte im Licht der Straßenlaterne.
Ohne Kommentar hielt er ihr die hintere Wagentür auf. Mara kam der unausgesprochenen Aufforderung nach und ließ sich auf die Rückbank sinken. Einer der Männer aus dem Tunnel saß bereits dort. Er war in den Morast getreten. Gereizt schaute er zu ihr rüber, während er seine Schuhe in den Händen hielt.
Die Fahrt verlief ruhig. Niemand sprach ein Wort. Die Straßenbeleuchtung erhellte in gleichbleibenden Abständen den Innenraum. Mara dachte an die Schüsse, die sie gehört hatte.
„Ist jemand verletzt worden?“ Ihre Stimme bebte.
„Wie kommen Sie darauf?“
„In der Lagerhalle. Ich konnte Schüsse hören.“
„Nur ein Warnschuss. Ein gutes Mittel, um sich größeres Gerenne zu ersparen. In der Regel bleibt jeder stehen“, nuschelte der Typ am Steuer undeutlich, da er gerade eine neue Zigarette anzündete.
Knirschender Kies durchbrach die wieder eingekehrte Stille, als der Wagen bremste. Sie kannte das Haus, an dem sie anhielten. Ein älteres Bürogebäude. Nie hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, was es beherbergte.
Ein Schild hing neben dem Eingang, worauf der Name einer Sicherheitsfirma stand. Handelt es sich gar nicht um die Polizei? Haben die überhaupt das Recht, mich zu zwingen, mitzukommen? Der Gedanke an die Pistole, die ihr im Tunnel vor die Nase gehalten wurde, ließ sie einsehen, dass sie keine andere Wahl hatte.
Wortlos schloss der Rothaarige einen Nebeneingang auf. Sie liefen über schmutzigen Betonboden, bis sie einen Fahrstuhl erreichten. Maras Hände schwitzten. Angst übermannte sie. Beinahe wünschte sie sich, dass jetzt Scott an ihrer Seite wäre.
Im dritten Stock stiegen sie aus, durchquerten einen Flur, bis sie vor einem Raum stoppten. Die Tür quietschte in den Angeln. Das Inventar wirkte alt und abgenutzt.
„Warten Sie hier“, murmelte der Typ und ließ sie allein. Ein Holztisch und drei Stühle standen im Zimmer. Mara trottete ans Fenster. Nachtfalter umschwärmten die erleuchtete Scheibe, in der sich ihre müden Augen spiegelten. Sie wusste, dass Ärger auf sie zukam.
Sie zuckte zusammen, als jemand die Tür aufriss.
„Also, Frau Bucher. Mein Name ist Agent Taylor“, begann der Rothaarige scharf, ließ sich auf einen der Stühle fallen und öffnete eine Akte. „Ich arbeite für eine Sicherheitsfirma, die sich dem Gebiet der Datenkriminalität widmet. Ist es richtig, dass Sie aus Deutschland stammen, einundzwanzig Jahre alt sind und seit vier Jahren bei einer Pflegefamilie leben?“
Unschlüssig, ob sie sich nun setzen oder besser stehen blieb, nickte sie. Ob die Papiere in der Akte alle von mir handeln? Der Typ Beth anrufen wird? Sollte ich lieber verheimlichen, ausgezogen zu sein? Ich habe bereits bei der letzten Verhaftung jede Menge Ärger verursacht.
„Sie sind auf Bewährung. Sie wissen, was das für Sie bedeutet?“
Alles in ihr verkrampfte sich. Natürlich wusste sie, was das bedeutete. Gefängnis, vielleicht sogar Ausweisung. Ausweisung aus dem Land ihrer Träume. Seufzend nickte sie wieder.
„Es ist spät, deswegen werde ich mich kurzfassen. Der Geschäftsführer des von Ihnen attackierten Pharmakonzerns ist ein Bekannter. Ich könnte ein gutes Wort für Sie einlegen.“
Mara war klar, nichts geschenkt zu bekommen. Tief durchatmend schob sie ihre verschwitzten Locken über die Schulter.
„Was erwarten Sie im Gegenzug? Auf keinen Fall kann ich Ihnen Namen geben!“ Sie verschränkte die Arme vor die Brust.
Der Rothaarige winkte ab. „Sie haben angefangen, Kryptografie zu studieren, mit dem Schwerpunkt Kryptoanalyse?“
„Ja, aber das Studium abgebrochen.“
„Darüber bin ich informiert, doch so, wie ich Sie einschätze, schmälert das nicht Ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet. Wenn Sie sich bereit erklären, einige Daten zu decodieren, lassen wir Sie und Ihre Freunde gehen.“
Mara hatte keine Ahnung, warum er sie dafür brauchte, garantiert kannte er genug Leute, die sich auf diesem Gebiet auskannten, wenn er in einer Firma arbeitete, die der Datenkriminalität diente. Sie nickte, ehe er es sich anders überlegen würde.
Mit einer Mischung aus Neugier und Beklemmung klopfte Mara an diesem Morgen an eine Bürotür. Auf dem Schild an der Wand stand in großen Lettern der Name Taylor. Zigarettenqualm verwirbelte, als sie eintrat. Sein rötliches Haar war straff nach hinten gekämmt. Er erinnerte sie an einen reichen Mafioso aus einem italienischen Film.
Mit einer Handbewegung wies er in Richtung des leeren Platzes auf der gegenüberliegenden Seite seines edlen Schreibtisches.
Regungslos saß Mara da und unterdrückte ein Gähnen. Verstohlen blickte sie zu seinem vergoldeten Kuli. Ein altes Laster, das sie seit ihrer Kindheit begleitete. Aus Rache stahl sie unliebsamen Leuten ihre Lieblingsschreiber. Doch mit so etwas Albernem wollte sie sich keinen zusätzlichen Ärger einfangen. Hier saß schließlich nicht die Leiterin des Waisenhauses, in dem sie aufgewachsen war.
Taylor verengte die Augen und lehnte sich in den Stuhl zurück. Mara hatte keine Ahnung, warum er sie anstarrte. Habe ich noch Zahnpasta im Gesicht? Unwohl rutschte sie auf der Sitzfläche herum.
„Sie sehen nicht gut aus“. Seine grauen Augen schienen sie wie ein Laser abzutasten. „Haben Sie heute Nacht schlecht geschlafen, oder ist das nicht Ihre Zeit? Und fangen Sie bloß nicht an, sich rechtfertigen zu wollen. Für mich zählt nur Ihre Effizienz und wann die am effektivsten ist.“
Mara hatte ein paar bissige Worte auf der Zunge, doch die würden die Situation sicher nicht zu ihrem Vorteil wenden.
„Ich arbeite als Bedienung. Es ist eine Mischung aus Café und Pub. Da kann es schon mal spät werden.“
„Dann sollten Sie sich die Bürozeiten notieren. Von mir aus können Sie auch nachmittags kommen“, murmelte Taylor genervt.
„Da gibt es noch ein Problem, wenn wir schon beim Thema Effizienz sind.“
Der harte Ausdruck wich aus seinem Gesicht. Fragend zog er die Augenbrauen hoch.
„Ich bin Nichtraucherin und kann mich nicht konzentrieren, wenn in meiner Nähe geraucht wird.“ Unschuldig zuckte sie mit den Schultern und blickte auf die dicken Rauchschwaden, die durchs Zimmer zogen.
Taylor starrte einen Moment nachdenklich auf die Tischplatte aus hellem Nussholz.
„Es gibt ein kleines Zimmer am Ende des Ganges. Ich werde jemanden beauftragen, es bis morgen fertigzumachen.“ Er stand auf und machte eine Kopfbewegung, die andeutete, dass sie ihm folgen solle.
Sie verließen sein Büro und betraten das Nachbarzimmer, in dem drei Mitarbeiter saßen. Auf jeden der Schreibtische stapelten sich schiefe Papiertürme. Desinteressiert schauten alle kurz hoch.
„Das sind Agent Ann Cortes, Agent Steven White und Agent Stacy Miller. Sie wird Ihnen das Wichtigste erklären. Für heute werden Sie sich mit deren Nikotinausdünstungen bequemen müssen.“ Mit den Händen in den Taschen stand er breitbeinig im Zimmer und grinste.
Mara bemerkte das gespielte Lächeln Stacys. Sie war einen Kopf kleiner als sie selbst. Das blonde Haar umrahmte, tadellos geföhnt, ihr Gesicht. Ein Hosenanzug aus Satin umspielte Ihre Figur. Mara schätzte sie auf Ende zwanzig.
Mara setzte sich auf den ihr zugewiesenen Bürostuhl. Der Tisch war bis auf typisches Bürozubehör und eine Amerikakarte, die als Schreibunterlage diente, leer. Sie konnte noch immer nicht glauben, von einer Sicherheitsfirma angeheuert worden zu sein, Daten zu entschlüsseln. Irgendwo gibt es da noch einen Haken, einen großen Haken, sinnierte sie.
Stacy legte eine Mappe auf den Tisch. Ihre grünen Augen blickten kühl.
„In dieser Akte befindet sich ein USB-Stick. Sie werden feststellen, die Daten darauf wurden professionell verschlüsselt. Worin dabei Ihre Aufgabe besteht, können Sie sich alleine zusammenreimen. Ich gehe davon aus, Ihnen ist die Frage durch den Kopf gegangen, warum wir Ihre Hilfe in Anspruch nehmen? Natürlich ist es kein Problem für uns, einen der hiesigen Kryptografen damit zu beauftragen. Es ist nur so, dass wir unter Personalmangel leiden und Agent Taylor gerade ein Helfersyndrom zu haben scheint. Er kann Ihre Bemühungen, Medikamente für Arme zu besorgen, verstehen. Das trifft aber keinesfalls auf mich zu. Ich habe für Systemcracker nicht viel übrig. Nutzen Sie die Chance, die er Ihnen bietet!“
Mara antwortete nicht. Mit zusammengepressten Lippen deutete sie ein Nicken an. Sie ärgerte sich, als Cracker bezeichnet zu werden. Das waren schließlich die Bösen. Sie sah sich als Hacker, auch wenn sie die Firmen erpresste, um an ihr Ziel zu gelangen.
Sie entnahm den Stick aus der Akte, verband diesen mit dem Computer und wartete ab, was sie darauf vorfinden würde.
„Das sieht kompliziert aus. Ich werde Zeit brauchen. Gibt es persönliche Aufzeichnungen über die Person, die das ausgetüftelt hat? Was er gelernt hat, oder mir die Person sonst irgendwie näherbringt?“
„Informationen gibt es, soweit mir bekannt ist, nur in dieser Akte. Falls sie nicht ausreichen, erkundige ich mich bei Taylor, ob er noch etwas auftreiben kann.“ Gleichgültig zog sich Stacy an ihren Platz zurück.
Misstrauisch grübelte Mara darüber nach, was der Grund sein mochte, dass sie an diesen Daten arbeiten sollte. Sie würde sich nicht wohlfühlen, solange sie die Antwort nicht wusste. Ob der Inhalt der Akte einen Hinweis darauf gab? Zu ihrer Enttäuschung entdeckte sie nichts Spektakuläres.
Es handelte sich um einen Mann spanischer Abstammung. Miguel Lopez. Sechsundzwanzig Jahre alt, Wohnort unbekannt. Er wurde beschuldigt, geheime Informationen gestohlen und einen Polizisten erschossen zu haben.
Ihr fiel etwas auf. Sie musste zweimal hinsehen, um sich zu vergewissern. Auf einer der Seiten endete der letzte Satz mittendrin.
Auf die Buchstaben starrend, kaute Mara auf ihrer Unterlippe. Vielleicht ist dieser Lopez doch nicht so unspektakulär, wie die Akte den Eindruck erweckt! Wieso sonst hätte Taylor einige Seiten aus der Akte entfernen sollen? Würden die fehlenden Seiten den Hinweis geben, warum ich jetzt hier sitze? Hat Taylor mich gezielt festgenommen, wegen dieser Verschlüsselungen? Oder ist das alles nur Zufall? Hat dieser Taylor am Ende tatsächlich etwas für meine Lebensphilosophie übrig?
Mit einem Druck an ihre Schläfen versuchte sie den Schmerz zu vertreiben, der sich anbahnte. Sie warf noch mal einen Blick auf die Daten des Sticks, doch zwischen den fremden Leuten und der verrauchten Luft wollte sich ihre Konzentration einfach nicht einstellen.
Sie gab vor, auf die Toilette zu müssen, um etwas Bewegung zu bekommen.
Ihr Blick wanderte den Flur entlang, dessen grauer Linoleumboden schon bessere Zeiten gesehen hatte. Nach einigen Schritten kam ein junger Mann auf sie zu, der sie interessiert musterte.
„Guten Morgen. Ein neues Gesicht. Arbeiten Sie hier, oder statten Sie uns einen Besuch ab?“ In seinem Versuch, charmant zu wirken, scheiterte er kläglich, trotzdem schien er ein ganz netter Kerl zu sein. Wenn er lächelte, entstanden Fältchen um seine blauen Augen, die ihm einen warmherzigen Ausdruck verliehen.
„Es ist mein erster Tag.“
„Na, dann freut es mich, gleich heute schon Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Fred Parker. Aber nennen Sie mich Fred.“
„Mara. Werde für drei Monate hier sein“, antwortete sie und hoffte, er würde nicht allzu genau nachbohren, was sie hier machte.
„Ah, sicher werden Sie hier auf dem Gebiet Programmiersprachen weitergebildet.“ Selbstsicher verschränkte er die Arme vor der Brust und sah sie erwartungsvoll an.
„Ja, so etwas in der Art“, gab sie lächelnd zurück.
Er erweckte einen komischen Eindruck mit seinen Sommersprossen und dieser Igelfrisur. Er passte nicht zu den anderen Leuten, die sie bisher gesehen hatte.
Sie schwatzten noch eine Weile. Mara nutzte die Möglichkeit, strahlte ihn mit ihren bernsteinfarbenen Augen an und legte ihre brünetten Locken über die Schulter. Mit der Begründung, nicht gleich zu Anfang in ein Fettnäpfchen treten zu wollen, hatte sie ihn mit Leichtigkeit um den Finger gewickelt. Beinahe fürsorglich hatte Fred genickt und erklärt, wie die Sicherheitsvorkehrungen in dieser Abteilung funktionierten. Er war so nett gewesen, dass sie ein schlechtes Gewissen bekam, ihn ausgefragt zu haben.
Als sie das Büro wieder betrat, entdeckte sie einen Karton auf ihrem Schreibtisch. Ein gelber Zettel klebte daran, auf dem Taylor ihr eine Notiz hinterlassen hatte. Sie sollte vergleichen, ob die Daten von einem der USB-Sticks aus dem Karton mit den Daten des USB-Sticks, den man ihr bereits übergeben hatte, in Verbindung stehen.
Merkwürdig. Das haben die Jungs hier bestimmt schon zehn Mal überprüft! Sie stöhnte innerlich. Wollen die mich verarschen? Verunsichert nahm sie sich den ersten Stick und schob ihn in den USB-Schacht.
Die meisten Daten der verschiedenen Datenträger waren leicht zu knacken. Ein banales Decodierungsprogramm aus dem Internet, das sich jeder Anfänger herunterladen konnte, reichte dafür aus. Diese waren nichts im Vergleich mit den Daten vom USB-Stick aus der Akte. Das war eine Herausforderung, die sie nur ungern ablehnen würde. Gut möglich, dass bisher tatsächlich jeder daran gescheitert ist, doch kann es mir gelingen? Und was soll ich dann tun? Die Arbeit für diese merkwürdige Firma erledigen? Für diesen Taylor, der mir so sympathisch ist, wie eine dicke Schmeißfliege auf dem Frühstücksbrot? Mara verdrehte die Augen.
Der achte Stick weckte ihr Interesse. Ungläubig starrte sie auf den Bildschirm. Es gab Übereinstimmungen. Regelmäßigkeiten. Für einen Laien nicht sichtbar. Vorsichtig hob sie den Kopf. Hatte jemand bemerkt, wie sich ihre Augen geweitet hatten? Niemand schien sie zu beachten, konzentriert widmeten sich alle ihrem Papierkram. Enttäuscht stellte sie fest, dass ihre Zeit dem Ende zuging. Nur zu gerne würde sie alles mit nach Hause nehmen, doch das war sicher nicht in Taylors Sinn.
Mara entschied sich, zu Fuß ins Pub zu gehen, da der Regen nachgelassen hatte. An den Bordsteinkanten liefen dünne Rinnsale, um gluckernd in die Kanäle zu laufen. Am Abendhimmel rissen die Wolken auseinander, die in den letzten Sonnenstrahlen violett schimmerten. Nach den vergangenen heißen Tagen wirkte die kühlere Temperatur ungewohnt. Fröstelnd zog Mara ihre Ärmel des Pullovers tiefer.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bemerkte sie einen komischen Kauz. Sie konnte nicht einmal genau sagen, warum, doch erweckte er den Eindruck, als wolle er besonders unauffällig wirken. Er las die Zettel, die im Schaufenster einer Tierpension hingen. Ihrer Meinung nach war das kein Typ für Haustiere. Er sah aus, wie der typische Bürohengst, der außer Arbeit nichts kannte. Einen verheirateten Eindruck machte er auch nicht. Er war ein etwas klein geratener Mann mit Halbglatze und trug einen, für seine Größe, viel zu langen Trenchcoat. Mara war sich sicher, eine Frau hätte ihn so nie auf die Straße gelassen, schmunzelte sie in sich hinein.
Beobachtet der mich durch die Spiegelung des Schaufensters? So ein Quatsch! Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. Taylor hat sicher Wichtigeres zu tun, als mir nachzuschnüffeln. Zügig ging sie weiter. Heute war die Chance, einmal pünktlich zu sein. Das wollte sie sich auf keinen Fall vermasseln, aufgrund irgendwelcher Hirngespinste.
Mara öffnete die schwere Holztür des Pups, in dem sie abends arbeitete. An der Theke entdeckte sie Scott und Andy. An ihren ernsten Gesichtern las sie ab, dass ihnen das Ereignis vom Vorabend noch zu schaffen machte. Scott kam gleich mit ausgebreiteten Armen auf Mara zugelaufen und drückte sie fest an sich.
„Ich hätte dich nicht alleine lassen dürfen.“ Er senkte seinen Kopf und fuhr sich durch die blonden Locken.
„Blödsinn. Was hätte das gebracht? Ich habe mich nur geärgert, dass du nicht als Erstes gelaufen bist“, antwortete sie kichernd.
Scott lächelte verkrampft. „Was ist danach passiert? Warum hast du dich nicht mehr gemeldet?“
Mara zuckte mit den Schultern und verdrehte die Augen.
„Jetzt erzähl schon. Wirst du Ärger bekommen?“
„Ich weiß nicht. Eine ziemlich verrückte Geschichte ist das. Wie konnten diese Mistkerle nur wissen, wo wir uns treffen?“ Nachdenklich band sie sich ihre Schürze um.
„Da hat wohl jemand geplaudert“, schlussfolgerte Scott und starrte einen Moment auf den Boden. Das Blau seiner Augen erinnerte an Vergissmeinnicht und er besaß das Gehirn eines Einsteins, wenn es um Computer ging.
„Was ist jetzt mit dieser verrückten Geschichte? Jetzt spann uns doch nicht auf die Folter“, murmelte er genervt.
Beipflichtend nickte Andy.
Mara stieß einen langen Seufzer aus, erzählte ihnen die Geschichte mit den Sicherheitsleuten und, dass sie noch irgendeinen Haken daran vermutete.
„Ganz merkwürdig ist, dass sich die Leute als Agent bezeichnen. Agent Taylor, Agent Miller, Agent Stone. Entweder sind das irgendwelche Möchtegerngeheimagenten oder ich habe es mit mehr, als einer normalen Sicherheitsfirma zu tun.“
Scott und Andy tauschten ungläubige Blicke aus. Eine Gruppe Studenten, die gerade hereinkam, unterbrach ihr Gespräch.
Die ersten Sterne funkelten am Firmament. In einer Seitenstraße traf sich Miguel mit Ivan. Zusammen schlenderten sie durch die schmalen Gassen, in denen der Duft der umliegenden Restaurants lag.
„Was ist so wichtig, dass du mich heute noch sehen musstest?“, fragte Miguel und hielt aufmerksam die Umgebung im Auge. Er vertraute Ivan, doch er erinnerte sich noch gut an dessen Leichtsinnigkeit, als sie Partner beim FBI gewesen waren. Ivan war einer seiner wenigen Freunde, um einiges älter und derjenige, der ihm immer zugehört hatte, wenn es Probleme gab.
„Es gibt Neuigkeiten, die du wissen solltest. Taylor hat eine junge Frau auf die Datenträger angesetzt und er scheint von ihr ziemlich überzeugt zu sein.“ Ivan verengte drohend die Augen und kratzte sich an seinen grauen Bartstoppeln.
Miguel nickte. „Wie ich dich kenne, weißt du bereits alles über sie?“
Ivan lachte. „Ja, natürlich. Ihr Name ist Mara Bucher, eine Deutsche, einundzwanzig Jahre alt, lebt seit vier Jahren in den Staaten. Eine Großtante hat sie aus dem deutschen Waisenhaus geholt und bei sich aufgenommen. Das Mädel gehört zu dieser Gruppe von Hackern, die Pharmaunternehmen erpressen. Sicher erinnerst du dich an die Fälle. Zuerst setzte Taylor Stacy auf einen der Jungs an. Sie hat ihre Sache wie immer gut gemacht. Der Junge ist Stacy hörig und plappert wie ein Wasserfall.“
Ivan lachte wieder, wobei seine schmalen Augen listig aufblitzten. „Als Taylor erfahren hat, dass das Mädchen ziemlich gut ist, stellte er ihr beim letzten Treffen eine Falle. Nach der Verhaftung unterbreitete er ihr zwei Möglichkeiten, entweder Mitarbeit oder Knast.“
Sie erreichten ein abgelegenes Lokal, in dem trotz später Stunde noch eine Menge Leute saßen. Sie wählten einen Tisch, etwas abseits. Ivan überreichte Miguel eine Akte, in der sich weitere Informationen über Mara befanden.
„Es war nicht einfach, daranzukommen. Taylor bewacht alles, was mit den Datenträgern auch nur im Geringsten zu tun hat, wie ein bisswütiger Schäferhund.“
Misstrauisch wartete Ivan ab, bis die Bedienung die Bestellung aufgenommen hatte und sich wieder entfernte, um ein Bündel Papiere über den Tisch zu schieben.
Miguel ließ sich in die Stuhllehne sinken und studierte die Akte. Als er aufblickte, sah er in Ivans breit grinsendes Gesicht.
„Ob das FBI mit ihrer Loyalität rechnen kann, falls es ihr gelingen sollte, den Code zu knacken? Wenn sie nur annähernd so scharfsinnig ist, wie sie reizend ausschaut, müsste sie doch bemerkt haben, dass man ihr eine Falle gestellt hat und zwischen euch so eine Art Seelenverwandtschaft besteht?“ Schmunzelnd tippte er bei seinen Worten auf die Fotografie, die er Miguel hinhielt.
„Seelenverwandtschaft? Ist das nicht ein bisschen hochgesteckt? Zudem wissen wir nicht, wie man mich darstellt.“ Ein Lächeln huschte über seine Lippen und besah sich das Foto.
„Du solltest jedenfalls auf der Hut sein. Ich habe wirklich alles versucht, um an die Datenträger zu kommen, doch Taylor hat sie irgendwo versteckt. Ich habe keine Ahnung, wie du da noch rankommen kannst. Der einzige Weg ist zurzeit über die Kleine. Schade um sie.“
Miguel versuchte, seine Gedanken zu ordnen, doch er kam nicht mehr dazu, etwas zu erwidern.
„Ich muss jetzt wieder los. Hab‘ da noch eine große Sache am Laufen. Wenn alles gut läuft, setzte ich mich zur Ruhe“, witzelte Ivan augenzwinkernd, trank hastig seinen Espresso aus und verschwand.
***
Es war bereits spät in der Nacht. Mara starrte an die leeren Wände, die mit einer Gänseblümchentapete tapeziert waren. Die Wandgestaltung stammte noch von den Vormietern ihrer Wohnung. Bisher hatten nur eine Matratze und ein wuchtiger Ohrensessel Einzug gefunden, den sie auf dem Trödelmarkt erstanden hat. Ihre Bücher bildeten einen schiefen Turm und ein wackeliger Stuhl musste als Tisch-Ersatz herhalten.
Sie grübelte über ihre derzeitige Lage, die Zukunft, die sich angsteinflößend anfühlte. Auf den ersten Blick wirkte alles wie ein Abenteuer. Mara, die große Hackerin, die mit Leichtigkeit die Codierungen entschlüsseln würde. Beinahe von oben herab hatte sie auf die Leute rund um Taylor geblickt. Aber was würde geschehen, wenn die verschlüsselten Daten geheime oder belastende Informationen enthielten? War das der Grund, warum Taylor sie daran arbeiten ließ? Und von wem wurde er eigentlich bezahlt? Handelte es sich um eine staatliche oder private Firma? Wieso trugen alle die Bezeichnung Agent? Mit der immer wiederkehrenden Frage, ob Taylor etwas zu verbergen hatte, trank sie den Rest ihres Tees aus.
Am späten Nachmittag betrat Mara das Gebäude der dubiosen Sicherheitsfirma. Diesmal nicht durch den Hintereingang. Eine breite, zweiflügelige Glastüre führte in das Haus. Man erwartete automatisch einen ebenso großen Raum, doch das Gegenteil war der Fall. Ein Mann saß dort in einem durch Glasscheiben abgetrennten Teil und blickte Mara erwartungsvoll an.
„Guten Tag, ich möchte zu Agent Taylor. Ich habe einen Termin. Mara Bucher.“
Der Mann lächelte. Er hatte eine Halbglatze, auf der sich das Licht der Deckenlampe spiegelte und einen ergrauten Oberlippenbart. Seine braunen Augen blickten gutmütig. Er nickte, rückte die runde Brille zurecht und drückte auf einen Summer, der eine weitere Tür öffnete.
Mara betrat den Aufzug und beobachtete nervös die Stockwerks-Anzeige, während sie nach oben fuhr. Ob Taylor mit meinem späten Auftauchen einverstanden sein wird? Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist eine Standpauke von diesem Rotschopf.
Sie klopfte kurz an seine Tür und trat ein. Taylor stand mit rotem Kopf in der Mitte des Zimmers. Stacy und Steven saßen an seinem Schreibtisch aus edlem Nussholz, ihre Hände im Schoß, so als hätten sie Angst, etwas im Büro des Chefs zu beschmutzen. Es herrschte dicke Luft.
„Da sind Sie ja.“ In seinen Worten lag weder ein Hauch von Missbilligung noch des Einverständnisses, aber sie spürte seinen Ärger. Ob es nun an ihrem späten Auftauchen lag, oder doch nur an dem Thema, das eben sein Gemüt aufgeheizt hatte, konnte sie nicht sagen.
„Hier ist der Schlüssel für das Büro am Ende des Ganges.“ Ohne sich von seinem Platz wegzubewegen, hielt er ihr einen Schlüssel entgegen.
„Ich hoffe, es ist alles Notwendige angeschlossen worden, falls sich aber dennoch irgendwelche Fragen ergeben sollten, erkundigen Sie sich nach Mr. Osaka, unser Mann fürs Technische, er wird sich dann darum kümmern.“
Mara nickte und nahm den Schlüssel. Taylors ungeduldiger Blick ließ keinen Zweifel aufkommen, dass sie am besten sofort verschwand.
Leise hallten ihre roten Sandaletten vom Boden wider, während sie die zehn Meter bis zum Ende des Ganges lief. An den Wänden hingen bunte Kunstdrucke in Glasrahmen. Dies tat der Tristesse des Korridors jedoch nichts ab. Neugierig öffnete Mara die Tür. Taylors Bezeichnung kleines Zimmer war keine Übertreibung gewesen. Es war gerade genug Platz für einen alten schwarzen Drehstuhl und einem Schreibtisch, auf dem zwei Bildschirme standen und eine Tastatur.
Am Rand des Tisches entdeckte sie den Karton mit USB-Datenträgern vom Vortag. Übermütig ließ sie sich in den Drehstuhl fallen, der an die Wand rollte. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und starrte die Decke und Wände an. Eine Überwachungskamera hatte Taylor nicht installieren lassen. Sie kramte im doppelten Boden ihrer Handtasche nach ihren USB-Sticks. Sie musste die Daten haben! Taylor einen Schritt voraus sein. Nur so sah sie die Möglichkeit, den Überblick zu behalten. Denn, was war, wenn sie die Daten entschlüsselt hatte? Den Inhalt kannte? Würde Taylor sie dann einfach ziehen lassen? Sie wusste, dass sie eine Versicherung brauchte. Ein Druckmittel, ein Ass im Ärmel. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Bin ich nun besonders gewitzt, oder völlig selbstverliebt und sehe den Ernst der Lage nicht?
Es blieb ihr überhaupt keine andere Wahl, ihrer Meinung nach und schloss den Datenträger an, um eine Kopie anzufertigen. Während der Übertragung schlich sie immer wieder zur Tür und schaute durch einen Spalt den Flur entlang. Ihre Hände schwitzten, und nicht nur die, der Schweiß durchnässte sichtbar ihre dunkelrote Bluse. Verärgert betastete sie die Placken unter ihren Achseln. Taylor würde sicher Verdacht schöpfen, sollte er das sehen.
Ihr Blick wanderte zur Uhr. Anhand Freds Erklärungen wusste sie, dass sie in einer halben Stunde, beinahe alleine auf diesem Gang sein würde. Nur das erste Zimmer wurde bis zum Schluss besetzt.
Mit angehaltenem Atem spähte sie in den Flur. Ob tatsächlich niemand mehr von Taylors Truppe anwesend war? Sie hatte die gestohlenen Daten gut versteckt, doch sie wollte Taylor nicht unterschätzen.
Verhalten tappte sie den Linoleumboden entlang, der den Geruch von Bodenwachs ausdünstete. Taylor war tatsächlich fort. Kein einziges Geräusch drang aus seinem Büro. Sie schlich weiter, blieb aber nach wenigen Schritten abrupt stehen. Die fehlenden Seiten aus der Akte kamen ihr in den Sinn. Unschlüssig rieb sie sich über das Kinn.
Soll ich es wagen? In Taylors Schränken nach den Aktenseiten suchen? Mara musste nicht überlegen, ob sie ihr Pickwerkzeug dabeihatte, das trug sie immer mit sich herum. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, damit etwas Illegales anzustellen. Es stellte eher eine Art Sport in ihren Augen dar.
Regelmäßig wurden Lock-Picking-Meisterschaften ausgetragen, die sie immer gerne besuchte. Mit zusammengepressten Lippen starrte Mara auf die Tür. Das Schloss war keine Herausforderung. Ihr Blick wanderte noch einmal den Flur entlang, ehe sie zurückschlich.
Sie spürte ihren Herzschlag beschleunigen, als sich ihre Hand um den Türknauf legte. Der Rotschopf hatte abgeschlossen! Mara zog ihr Set aus der Tasche. Alle Werkzeuge waren wie bei einem Schweizer Taschenmesser zusammengefügt. Bis auf den Spanner, das erste Hilfswerkzeug, welches sie in den Zylinder einführte, um das Innenleben auf Spannung zu bringen. Mara konzentrierte sich auf ihre Sinne. Es fühlte sich anders an, als sonst, während sie den Pick über die Stifte gleiten ließ. Gefühlvoll übte sie Druck auf, bis die Stifte fixiert waren und sie den Spanner zum Öffnen drehte. Mara blickte auf die Uhr, das gehörte einfach dazu. Acht Sekunden!
Sie huschte ins Büro. Unschlüssig stand sie nur so da. Wenn man mich hier erwischt! Mara atmete tief durch und ging zu einem Spind, der so gar nicht hierher passte. Sie konnte sich keinen Reim daraus machen, wieso Taylor diesen hässlichen Schrank hier stehen hatte. Die graue Farbe war an einigen Stellen abgeplatzt und rostig. Vielleicht erinnert ihn der Spind an seine Schulzeit oder Sportclub. Sie zog an der Tür. Er war verschlossen. Ihre Hand glitt am oberen Rand des metallenen Schrankes entlang und ertastete etwas. Der Schlüssel. Mara grinste. Es war nie klug, ein Versteck so nah an der Tür zu wählen.
Zu ihrer Enttäuschung war der Spind leer. Eine dicke Staubschicht bedeckte den Boden. Sie hastete zum Aktenschrank. Erleichtert stellte sie fest, dass das Schloss defekt war und der Schrank sich öffnen ließ. Sie wollte hier so schnell wie möglich verschwinden.
Nacheinander durchstöberte sie die Fächer. Alles wirkte streng geordnet, doch unter Lopez konnte sie nichts finden. Angespannt strich sie sich eine nass geschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Die unterste Schublade enthielt unbeschriftete Aktenhüllen. Einige waren leer, andere nicht. Hülle für Hülle nahm Mara heraus und studierte flüchtig den Inhalt. Hektisch blickte sie auf die Uhr. Es waren bereits zehn Minuten vergangen. Ihr Herz raste, wie lange nicht mehr. Sie wollte schon abbrechen, weil ein ungutes Gefühl in ihr anwuchs, doch dann fiel ihr eine unvollständige Akte auf. Es ging um einen ehemaligen Angestellten dieser Abteilung, auf den die Beschreibung Miguels passte.
Mara hatte keine Nerven, um alles sorgfältig durchzulesen. Aus der Handtasche fischte sie eine Digitalkamera, mit der sie den Inhalt fotografierte. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Sie dachte an ihre Lieblingsserie, in der es um einen gutaussehenden Privatdetektiv ging, der stets heimlich Fotos machte und diese als Beweismaterial nutzte.
Sie wollte gerade nach dem Türknauf greifen, als Geräusche näherkamen. Es waren Stimmen! Taylors Stimme!
Panisch blickte sie sich um. Es war zu spät, um unbemerkt das Zimmer verlassen zu können. Unsicher schaute sie in Richtung Spind. Er war ja leer, bis auf die dicke Staubschicht. Taylor schien ihn schon länger nicht mehr zu benutzen, warum sollte er es an diesem Abend tun? Mara huschte zurück und zwängte sich hinein. Sie hielt den Riegel nach oben und ließ die Tür einrasten.
In Gedanken fluchte sie über ihr dummes Vertrauen in Freds Informationen. Sie schauderte bei der Vorstellung, dass gleich einige Leute im Büro auftauchten und sie versteckt in diesem engen Gefängnis saß. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was man mit ihr machen würde, sollte sie jemand entdecken. Mara zuckte zusammen, als die Tür aufsprang.
Hereingestürzt kamen Taylor, Stacy und Steven, in Begleitung von jemandem, besser gesagt von einem Gefangenen, was die Handschellen und das sich abzeichnende blaue Auge deutlich machten. All das konnte sie durch die Luftschlitze erkennen.
Ihr Blick fiel auf den Gefangenen. Er kam ihr bekannt vor. Ist das nicht der kleine Kauz mit dem hässlichen Trenchcoat? Auch wenn er heute etwas besser gekleidet war, hatte sie keinen Zweifel. Wurde sie tatsächlich beschattet? Doch warum tauchte er jetzt hier in Handschellen auf?
Steven schubste den Mann unsanft auf den Stuhl, der vor Taylors Tisch stand.
„Ihr seid doch dumme Esel“, beschwerte sich der Gefangene, was sich, mit dem russischen Akzent, beinahe komisch angehört hätte, wäre da nicht der Fausthieb Stevens gewesen, der in seiner Magengrube landete. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rang der Mann nach Luft.
„Jetzt gib endlich zu, die Pläne von N5 gestohlen zu haben. Gib sie zurück und wir vergessen den Fall“, versuchte es Taylor diplomatisch.
„Ich sag doch, ihr seid dumme Esel, gar nichts habe ich gestohlen.“
Steven holte zu einem weiteren Schlag aus, doch Taylor gab ihm durch eine Handbewegung zu verstehen, sich zurückzuhalten.
„Ivan, du stehst auf der falschen Seite. Wir wissen, dass du Miguels Aufenthaltsort kennst. Du solltest uns helfen ihn zu kriegen. Zurück ins Team kommen.“
Bei diesem Namen wurde Mara hellhörig. So heißt doch der Mann, dessen Verschlüsselungen ich bearbeite! Hatte dieser Kauz vielleicht für Miguel spioniert, um herauszufinden, wer ich bin? Doch zu welchem Zweck? Sie begann an ihrer Objektivität zu zweifeln. Was wenn sie sich das alles einbildete und Taylor es nur gut mit ihr gemeint hatte? Sie völlig sinnlos in diesem Spind geendet war?
Ivan stotterte. „Nein, nein, keine Ahnung, wo er steckt. Hab‘ ihn mal getroffen, doch was hätte ich tun sollen? Ihn verhaften? Er hätte mich wahrscheinlich als verrückten Vogel ins nächste Irrenhaus geschickt. So wie dich mein Freund.“ Mit einem schadenfrohen Grinsen guckte er zu Steven hoch, dessen blasses Gesicht rot anlief.
„Freunde waren wir nie und werden wir auch nie sein, du Stück Dreck“, schnaubte Steven und sah dabei aus, als wolle er ihn jeden Augenblick umbringen.
Taylor schlug verärgert die Faust auf den Tisch. Mara zuckte zusammen.
„Erzähl uns keinen Bullshit, du weißt ganz genau, wo er steckt. Ich gebe dir noch fünf Minuten, ansonsten bekommst du das Wahrheitsserum verpasst. dir wird sicher in Erinnerung geblieben sein, dass es Stacy nicht so genau nimmt mit der Dosierung.“
Ivan lachte verzerrt. „Nicht so genau nimmt? Sie ist zu dumm, das ist alles.“
Steven unterbrach sein Lachen mit einem erneuten Hieb in den Magen. Auf Russisch fluchend hielt sich der Mann den Bauch.
Stacy, die bisher kein Wort gesprochen hatte, hielt plötzlich eine merkwürdige Spritze in der Hand, die sie aus einem Köfferchen entnommen hatte. Keine von den gewöhnlichen Einweg-Spritzen, die Mara von ihrem Arzt her kannte. Sie war groß und sah antiquiert aus. Mara schauderte. Auf keinen Fall wollte sie mit ansehen, wie sie damit dem armen Kerl etwas antun würden.
Als wäre die Situation nicht verfahren genug, breitete sich ein unangenehmes Kribbeln in ihrem rechten Bein aus. Für einen kurzen Augenblick lenkte sie das dermaßen ab, dass sie es fast übersehen hätte. In einem unbeobachteten Moment, während alle auf Stacy starrten, ließ Ivan etwas in den Papierkorb fallen.
Stacy stach zu. Die lange Nadel bohrte sich unter die Haut.
„Los, befrag ihn“, befahl Taylor und verschränkte die Arme vor die Brust. Stacy beugte sich zu dem Mann runter und begann ihm etwas ins Ohr zu nuscheln, was nicht bis ins Spind Innere vordrang. An ihrem verärgerten Gesichtsausdruck ließ sich erraten, die Antwort hatte nicht zu ihrer Zufriedenheit gelautet.
„Wir müssen ihm mehr verabreichen. Das Zeug wirkt bei dem nicht richtig.“ Ihr Blick wirkte kalt, während sie die Spritze bereitmachte und Ivan erneut etwas verabreichte.
Nochmals stellte sie Fragen. „Wo sind die Unterlagen von N5? Was ist mit Miguel? Was hat er vor? Wo hält er sich auf?“
Schweiß durchdrang Ivans Hemd, mehrmals verdrehte er die Augen und stand kurz davor bewusstlos zu werden, was Steven durch regelmäßige Schläge ins Gesicht, zu verhindern suchte.
Der Mann tat Mara leid. Wie gerne würde sie ihm irgendwie helfen. Doch was hätte sie tun sollen? Aus dem Spind gesprungen kommen, um alle bewegungsunfähig zu erschrecken? Die dummen Gesichter wären es beinahe wert, ging es ihr durch den Kopf.
Langsam zeichnete sich ab, dass Ivan die Kontrolle über sich verloren hatte. Wirre stammelte er einiges durcheinander. „Im Spind, Schlüssel ist versteckt im Müll.“ Nur über Miguel sagte er kein Wort. Dann wurde er ganz fahl im Gesicht, sackte zusammen und kippte vornüber vom Stuhl.
„Was machen wir jetzt mit dem Sack?“, fragte Steven und trat ihm dabei verächtlich in die Seite.
„Viel haben wir nicht aus ihm rausbekommen“, erwiderte Taylor in sich versunken. „Die Pläne müssen in irgendeinem angemieteten Postfach stecken, von denen es Tausende gibt, und den beschissenen Schlüssel dürfen wir im Müll suchen.“
Nachdenklich kaute Stacy auf ihrem Bleistift. „Ob Miguel die Pläne gesehen hat? Wenn, dann haben wir ein Problem. Unser Überraschungseffekt wäre somit dahin und er uns wieder zwei Schritte voraus.“
„Das ist er sowieso“, entgegnete Steven gereizt. „Oder findet ihr es nicht merkwürdig, dass Ivan kein Sterbenswörtchen über Miguel verloren hat? Nicht einmal ein Elefant hätte dieser Dosis widerstanden.“
Mara wurde aus all dem nicht schlau, doch sie kombinierte, dass der Russe den besagten Schlüssel eben in Taylors Papierkorb geworfen hatte.
Taylor schüttelte genervt den Kopf. „Steven und ich bringen Ivan von hier weg. Falls er nicht schlappmacht, befragen wir ihn morgen noch mal. Stacy, du gehst zu seiner Wohnung und seinem Büro, vielleicht findest du dort den Schlüssel, oder irgendetwas das uns weiterhilft.“
Stacy nickte und hatte schon den Türknauf in der Hand, als sie innehielt. „Was ist mit Mara Bucher? Sie sollte auf keinen Fall etwas mitbekommen. Ist sie noch hier?“
Mara spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte.
„Ja, sie ist noch hier. Wenn sie uns nicht zufällig über den Weg läuft, brauchst du dir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Such jetzt lieber nach dem verdammten Schlüssel. Und lass den Koffer mit dem Serum verschwinden!“
Stacy nickte. „Ich werde alles bei mir zuhause deponieren.“
Taylor und Steven zerrten Ivan hoch, was ihnen einiges an Kraft abverlangte, und schleiften ihn aus dem Zimmer.
Maras Herz raste. Vorsichtig bewegte sie den Verschlussriegel. Alles war wieder still, nur der Schmerz im Bein war von diesem albtraumartigen Szenario noch übrig. Ihre Hände zitterten, während sie den Spind abschloss und den Schlüssel zurücklegte.
Sie humpelte zum Papierkorb. Sie hatte sich nicht getäuscht, der Schlüssel war leicht auszumachen, zwischen dem weißen Papier.
Erleichtert, dass niemand die Tür zugeschlossen hatte, huschte sie aus dem Büro.
Mara hockte auf ihrer Matratze und fühlte sich noch immer völlig ausgelaugt. Sie hatte nichts essen können, stattdessen trank sie einen Früchtetee, um ihre Nerven zu beruhigen. Ihre Hand zitterte, als sie die Tasse zum Mund führte. Die Angst war noch immer präsent, das Gefühl der Panik, als sie sich in den Spind verstecken musste. Sie hatte noch nie so viel Schiss gehabt. In ihrem ganzen Leben nicht! Sie hoffte, dieser Alptraum waren die Fotografien wert gewesen, die sie von den unbeschrifteten Aktenseiten geschossen hatte. Mara schloss die Kamera an ihren Laptop an und verglich die Bilder mit der offiziellen Akte, die von Miguel Lopez handelte.
Seite für Seite ging sie die letzten Absätze durch und suchte nach dem einen, der den Satz komplett machte, der mittendrin endete. Ein seltsames Gefühl stellte sich ein, als sich Wörter zu einem Sinn zusammenfügten, sich der Satz vervollständigte, die Seiten einen Zusammenhang ergaben. Nervös zwirbelte sie eine ihrer Haarlocken, während sie die Informationen über Miguel Lopez ordnete. Er arbeitete als FBI-Agent, den man vom Dienst vorläufig suspendiert hatte. FBI-Agent! Er stand unter dem Verdacht, einen Polizisten hinterrücks erschossen zu haben. Ein Mister Thomson, ebenfalls FBI-Mitarbeiter, wurde als Vorgesetzter angeführt.
Das FBI! Arbeitet diese Sicherheitsfirma für das FBI?
Ohne Hoffnung, doch noch den entscheidenden Hinweis zu finden, warum sie an den Codierungen arbeitete, klickte sie die letzte Seite an. Ein unscharfes Passfoto lenkte sie ab. Miguel Lopez hatte schwarzes Haar und ebenso dunkle Augen. Sie war nie schnell zu beeindrucken gewesen, doch dieses Gesicht strahlte einen gewissen Charme aus. Vielleicht sind es auch nur seine kniffligen Codierungen, weswegen er so süß wirkt, sinnierte sie grinsend und las die letzten Zeilen.
Alles, was sie bisher aufgeschnappt hatte, schien sich wie ein aberwitziges Puzzle zusammenzufügen. Doch konnte das wahr sein? Ungläubig las sie die Seite abermals durch. In diesen wenigen Sätzen fand sie die Antwort auf alle Ungereimtheiten und warum man sie ausgesucht haben könnte. Ivans Hinweis, Miguel nicht einfach festnehmen zu können, ergab plötzlich Sinn. Seine Sorge, wie Steven im Irrenhaus enden zu können. Nachdenklich kaute sie auf ihren Lippen. Ob Miguel weiß, wer an seinen Codierungen arbeitet? Wenn das stimmt, was hier steht, stecke ich richtig tief im Mist! Oder ist das am Ende alles bloß Quatsch? Zweifelnd las sie ein weiteres Mal die Informationen durch.
Laut dem, was in diesen Seiten ausgeführt wurde, besaß Miguel eine außergewöhnliche Fähigkeit. Er soll imstande sein, Gedanken zu lesen und Menschen seinen Willen aufzuzwingen.
Auch wenn es schwarz auf weiß auf diesen Papierseiten geschrieben stand, kam es ihr absurd vor. Über den Hinweis, dass er seine Gabe nur bis zu einem Abstand von zwei bis vier Metern einsetzen konnte, schüttelte sie den Kopf. Ist das FBI, oder wer auch immer diese Sätze verfasst hat, nicht zu einer genaueren Erklärung fähig gewesen? Muss man darauf achten, wie der Wind steht? Müde schloss sie die Seiten und starrte an die Decke. Plötzlich fiel ihr der Mann mit dem russischen Akzent wieder ein. Wie er vor ihrem Haus herumgelungert hatte. Sie fühlte sich unwohl. Nachdenklich blickte sie auf den Schlüssel, den sie aus Taylors Papiereimer gefischt hatte. Soll ich ihn lieber zurücklegen?
Ihr Kater riss sie aus ihren Überlegungen. Er sprang auf ihren Schoß und lief über die Tastatur. Aufdringlich stellte er sich mit den vorderen Pfoten auf ihre linke Schulter und begann schnurrend seinen pelzigen Kopf an ihren zu stupsen. Er würde ja doch nicht aufgeben! Mit Romeo im Arm ließ sich Mara erschöpft in die Kissen fallen und verdrängte ihre Sorgen. Im eintönigen Schnurren wurden Maras Lieder schwer. Verausgabt fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
Mara schreckte aus einem wirren Traum hoch. Verschlafen blickte sie auf die Uhr, es war fast Mitternacht. Die Bilder des Russen, wie er die Augen verdrehte und das fiese Grinsen Stevens ließen sich nicht vertreiben. Mara musste sich ablenken, wenn sie den Albtraum mit dem Spind irgendwie verarbeiten wollte.
Scott ging nie vor dem Morgengrauen ins Bett, weshalb Mara beschloss, zu ihm zu fahren. Sie löschte das Licht im Zimmer und beobachtete von ihrem Fenster aus die Straße. Ihre Wohnung lag zu weit oben, um jedes Detail erkennen zu können, doch es wirkte alles friedlich. Nur wenige Autos fuhren vorbei.
Als sie den ersten Schritt aus dem Haus setzte, wurde ihr mulmig. Misstrauisch blickte Mara die Straße entlang und huschte zu ihrem Wagen.
Die Fahrt zu Scott dauerte nicht lange. Vor Jahren hatten Scott und einige seiner Freunde zusammengelegt, um sich dieses mehrstöckige Haus zu kaufen. Musik und Stimmen drangen aus den meist offenstehenden Wohnungen, an denen Mara auf dem Weg in die letzte Etage vorbeikam.
„Na, ich dachte schon, du willst dich überhaupt nicht mehr blicken lassen“, grüßte Scott überschwänglich und drückte Mara links und rechts einen dicken Schmatzer auf die Wangen.
„Das war ein grauenvoller Tag“, jammerte Mara. Seufzend ließ sie sich in einen Sessel fallen.
Scott griff nach der gläsernen Teekanne, die auf dem Tisch stand, um ihr eine Tasse einzuschenken.
„Auf der Packung steht etwas von Harmonie. Vielleicht hilft es dir ja.“ Grinsend schob er ihr die Tasse rüber und setzte sich gegenüber in eine braune Cord-Couch.
„Ich könnte deine Hilfe gebrauchen, doch wenn dir die ganze Sache zu heiß ist, kann ich das verstehen“, erklärte sie seufzend.
„Zu heiß? Dieses Wort kenne ich nicht.“ Seine blauen Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, blickte er abenteuerlustig.
Mara tat es gut, sich die erlebten Schrecknisse von der Seele zu reden. Auch wenn sie ein schlechtes Gewissen bekam, war es ein motivierendes Gefühl, einen Komplizen an ihrer Seite zu wissen.
„Das ist der Schlüssel, den der Russe in den Papierkorb fallen gelassen hat.“ Über Miguels Eigenart verlor sie kein Wort, das schien ihr doch zu aberwitzig.
Scott, der bis zum Schluss zugehört hatte, schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
„Du bist wohl nicht ganz bei Verstand?“
Mara zuckte mit den Schultern und sah zu, wie er den Schlüssel drehte und dann in seinem Rucksack kramte. Scotts blonde Locken wippten im Takt seiner nickenden Kopfbewegung, als er den Schlüssel mit einem anderen verglich.
„Der muss von einem Postfach stammen. Es scheint eines der Schließfächer von Mailbox Café zu sein. Lass dich bloß nicht erwischen. Besser du lässt die Finger davon“, murmelte er kaum hörbar und gab ihn ihr zurück. Er blickte ernst. „Wir haben schon jetzt mehr als genug Ärger.“
Mara ging Scotts düsteren Blick nach. Ein Stapel ausgedruckter Passbilder lag auf dem Tisch.