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Nicht nur den Lesern dieses Essays, sondern allgemein stellte sich zu den Schriften Thomas Manns ab dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges die große Frage: Wieso nur verfiel er, der sich bis zu diesem Zeitpunkt kaum mit Äußerungen zu politischen Fragen hervorgetan hatte, derselben Kriegsbegeisterung, der die Mehrheit der Deutschen offensichtlich verfallen war? Gab es eine gewisse Disposition, schloss er sich lediglich der Mehrheit an? Heute werden Manns Texte aus jener Zeit allgemein als temporäre Verfehlung betrachtet, als ein »Ausrutscher« des großen Schriftstellers, wenn man so will. In Briefen, zum Beispiel an seinen Bruder Heinrich, äußert sich eine aggressive Zwiegespaltenheit: Mann gesteht seine »tiefste Sympathie für dieses verhaßte, schicksals- und rätselvolle Deutschland« ein. Die ›Gedanken im Kriege‹ verfasste er, wie die vielen aktuellen Bezüge belegen, zwischen Mitte August und Anfang Oktober 1914, veröffentlicht wurden sie im November in der Neuen Rundschau sowie im Rahmen von ›Friedrich und die Koalition‹ (1915), dort jedoch mit Kürzungen und in abgemilderter Form.
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Seitenzahl: 32
Thomas Mann
Gedanken im KriegeI
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
Im Gebrauch der Schlagworte »Kultur« und »Zivilisation« herrscht, namentlich in der Tagespresse – und zwar der des In- und Auslandes –, große Ungenauigkeit und Willkür. Oft scheint man sie einfach als gleichbedeutend zu verwechseln, oft sieht es auch aus, als ob man das erstere für eine Steigerung des anderen halte, oder auch umgekehrt, – es bleibt ungewiß, welcher Zustand nun eigentlich für den höhern und edleren gilt. Für meine Person habe ich mir die Begriffe folgendermaßen zurechtgelegt.
Zivilisation und Kultur sind nicht nur nicht ein und dasselbe, sondern sie sind Gegensätze, sie bilden eine der vielfältigen Erscheinungsformen des ewigen Weltgegensatzes und Widerspieles von Geist und Natur. Niemand wird leugnen, daß etwa Mexiko zur Zeit seiner Entdeckung Kultur besaß, aber niemand wird behaupten, daß es damals zivilisiert war. Kultur ist offenbar nicht das Gegenteil von Barbarei; sie ist vielmehr oft genug nur eine stilvolle Wildheit, und zivilisiert waren von allen Völkern des Altertums vielleicht nur die Chinesen. Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt, und sei das alles auch noch so abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar. Kultur kann Orakel, Magie, Päderastie, Vitzliputzli, Menschenopfer, orgiastische Kultformen, Inquisition, Autodafés, Veitstanz, Hexenprozesse, Blüte des Giftmordes und die buntesten Greuel umfassen. Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung, – Geist. Ja, der Geist ist zivil, ist bürgerlich: er ist der geschworene Feind der Triebe, der Leidenschaften, er ist antidämonisch, antiheroisch, und es ist nur ein scheinbarer Widersinn, wenn man sagt, daß er auch antigenial ist.
{28}Das Genie, namentlich in der Gestalt des künstlerischen Talentes, mag wohl Geist und die Ambition des Geistes besitzen, es mag glauben, durch Geist an Würde zu gewinnen, und sich seiner zu Schmuck und Wirkung bedienen, – das ändert nichts daran, daß es nach Wesen und Herkunft ganz und gar auf die andere Seite gehört, – Ausströmung ist einer tieferen, dunkleren und heißeren Welt, deren Verklärung und stilistische Bändigung wir Kultur nennen. Die Verwechselung des Geistigen, des Intellektualistischen, Sinnigen, ja Witzigen mit dem Genialen ist zwar modern; wir alle neigen ihr zu. Doch bleibt sie ein Irrtum. Wie sehr das Verhältnis zwischen Geist und Kunst das der Irrelevanz ist, hat Gontscharow einmal heiter und einfach ausgedrückt, indem er irgendeinen Redakteur einem schreibenden Dilettanten auf dessen Zusendung antworten läßt: »Sie haben viel Geist, aber Sie haben kein Talent. Und die Literatur kann nur Talent brauchen.«
Kunst, wie alle Kultur, ist die Sublimierung des Dämonischen. Ihre Zucht ist strenger als Gesittung, ihr Wissen tiefer als Aufklärung, ihre Ungebundenheit und Unverantwortlichkeit freier als Skepsis, ihre Erkenntnis nicht Wissenschaft, sondern Sinnlichkeit und Mystik. Denn die Sinnlichkeit ist mystischen Wesens, wie alles Natürliche.
Goethe, für dessen Naturforschung Helmholtz die Bezeichnung »naturwissenschaftliche Ahnungen« wählte, spürte des Nachts in seinem Schlafzimmer zu Weimar auf irgendeine natürlich-mystische Art das Erdbeben von Messina. »Hört, Goethe schwärmt!« sagten die Damen des Hofes, als er sein dämonisches Wissen verlautbarte und es für Beobachtung und Schlußfolgerung auszugeben versuchte. Aber nach Tagen kam die Kunde der Katastrophe. Dieser dämonischste Deutsche und kultivierteste Sohn der Natur, der je lebte, mußte sich nicht nur aus Ordnungssinn kalt verhalten gegen die französische {29}Revolution, sondern namentlich, weil sie so ganz ein Werk des zivilisierenden Geistes war.