Gedankenspiele aus der Retorte oder die organisierte Flucht ins Wochenende - Peter Arndt - E-Book

Gedankenspiele aus der Retorte oder die organisierte Flucht ins Wochenende E-Book

Peter Arndt

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Beschreibung

Lyrik aus den unterschiedlichsten Bereichen, humorvolle Erzählungen, Analysen und spezielle Betrachtungen aus der Sicht des Autors. Ein Blick auf die Tramper und Hippie-Bewegung der 60 er und 70 er Jahre nimmt den Leser mit auf einen 7-Tage-Tramp, mit vielen Fotos aus dieser Zeit, immer im ständigen Visier der Staatssicherheit.

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Seitenzahl: 342

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Anthologie

Sammlung von Erzählungen,

Gedichten, Analysen, Gedankenspiele

und andere Beobachtungen aus den verschiedensten

Bereichen.

Mark Twain

Enttäuscht vom Affen, schuf Gott den Menschen. Danach verzichtete er auf weitere Experimente.

Inhaltsverzeichnis:

Deutschstunde

(Lyrik und die Staatssicherheit – „Ein Nachruf

“)

7 Tage unterwegs

(1972 in der DDR unterwegs als Tramper und Hippie - Erzählung)

Lyrik – Block

(Eine lyrische Zeitreise durch alle Bereiche)

Nachdenkliches - 32 Stück

Realität - 5 Stück

Zeitgeschichte - 7 Stück

Liebe - 10 Stück

Hoffnung / Sonstiges - 6 Stück

Lustiges - 9 Stück

Natur / Fantasie - 12 Stück

Ein Tag wie jeder andere

(Erzählung)

Die Flüchtlinge von Sachalin

(Ein Hörspiel, frei nach einer Erzählung von Wladimir Korolenko)

Beobachtungen und Gedankenspiele 6 Erzählungen

Oh du schöne Winterzeit

Der Frühaufsteher

Gedankenspiele

Etwas über Esel und Menschen

Wartezeit

Weihnachtszeit

Ein Telegramm für euch

(Erzählung)

Die besondere Buchempfehlung

Buchgestaltung:

Peter Arndt

Fotos:

Peter Arndt / Klaus Fechner

Zeichnungen:

Waldemar Badt

Deutschstunde

(1971)

„Teile und herrsche“,

sprach der Wolf zum Schakal.

Zerriss die Beute

in zwei Hälften,

und nannte das Ganze dann

Deutschland.

30 Jahre später:

Man bedenke den Zeitpunkt, als ich diese Zeilen niederschrieb. 1971, auf dem Höhepunkt des „Kalten Krieges“, war die Welt zerrissen und der Rüstungswahn trieb immer neue Blüten. Die Nahtstelle dieses Wahnsinns zog sich mitten durch Deutschland, teilte ein Land in zwei Hälften, jeweils einem dieser Blöcke zugewiesen.

Ohne Wenn und Aber wurde die Bevölkerung im jeweiligen Teil des Landes, dem Nachkriegsstatus schuldend, einfach vereinnahmt, ohne ihr Einverständnis einzuholen.

In Ost und West auseinander gerissen, wurde ich im östlichen Teil des Landes ein Jahrzehnte langer Begleiter der dortigen Entwicklung.

Ohne eine Change, der damals herrschenden Diktatur entfliehen zu können, wurden wir einer perfiden Gehirnwäsche ausgesetzt, von der Geburt an bis zum Tode.

Dem stalinistischen Leitbild dienend, wurde die kommunistische Diktatur zum Totengräber aller Freiheitsbestrebungen und jeglicher Regime kritischer Einstellungen. Mit allen Mitteln wurde versucht, ein Feindbild in die Köpfe zu hämmern, vom Kindergarten angefangen, über Schule, Lehre und Arbeit hinweg, bis hin zur Freizeitgestaltung, dem sich niemand entziehen konnte. Nach und nach wurde der lückenlose Überwachungsstaat ausgebaut und in allen Teilen meiner ostdeutschen Heimat hochgefahren.

Damit das Volk den Diktatoren nicht einfach wegrennen konnte, wurde es kurz entschlossen in einer Nacht- und Nebelaktion eingemauert. Um ihren Machtanspruch zu festigen und ihr Herrschaftsgebiet nach außen hin sicherer zu machen, wurden die Grenzen vermint und mit Stacheldraht und Selbstschussanlagen ausgestattet.

Nun konnte man in aller Ruhe damit beginnen etwas für die innere Sicherheit zu tun. Und wer konnte das wohl am besten?

Natürlich die Staatssicherheit! Der Name bürgt ja schon für Qualität. Und der Krake war geboren!

Er wuchs heran, wurde immer mächtiger. Ein Staat im Staat. Seine fürsorglichen Arme umspannten alles und jeden. Niemand hatte die Change, den Lauschangriffen auszuweichen. Dem Klassenfeind zuvorzukommen war eine der Kampfparolen, um den inneren Feind auszumerzen.

Lakaien und Zuträger der Krake denunzierten ihre Opfer, beschrieben kilometerlange Aktenberge, um anschließend ihren Judas-Lohn zu empfangen.

Bis zu zehn Leute hatten das Vergnügen, meinen Lebensweg in dieser Zeit zu begleiten und alles für die Nachwelt festzuhalten. Ab und zu kamen diese netten Leute von der Sicherheit, um mit mir ein wenig zu plaudern. Ich fand dies immer sehr anregend. Vor allem ihr Interesse an meiner Lyrik hat mich immer wieder überrascht. Man kannte sich aus und nahm regen Anteil an allen neuen Gedichten. Nur ihre Interpretation ging des Öfteren in die Hose.

So Uneigennützig wie ich nun mal bin, musste ich ihre eingefahrenen Gedankengänge auf die Sprünge helfen.

Schwachsinnige Unterstellungen wurden der Stasi übermittelt, die für bare Münze genommen wurden.

Mit der Aufschrift „Freiheit“ konnte der Informant nichts anfangen. Einfach köstlich!

Oh je, das Atomwaffengegner-Abzeichen stand immer im Fokus ihrer Erkundungs-Touren.

Man wusste genau Bescheid, warum, wann und wo wir waren. Das war für manche IMs ein Voll-Time-Job.

Für uns ein riesen Spaß, zwei erspähte Beobachter zu beschäftigen und dabei zu verarschen. Wir bildeten 4 Gruppen und spazierten in 4 verschiedene Richtungen auseinander. Es wurden Wetten abgeschlossen, welche der 4 Gruppen den Begleit-Vorzug erhielt. Für die beiden IMs ein Rätsel und für uns ein Gaudi.

Man hat immer wieder versucht, uns in gruppenähnliche Strukturen aufzuteilen. Völliger Blödsinn!

Auf der Autobahn nach Eisenach waren wir für die Polizei ein „Rotes Tuch“. Jedes Mal begann ein „Katz-und-Maus-Spiel“ - Wer ist schneller.

Solche netten Leute kann man ja nicht dumm sterben lassen, darum habe ich gern nachgeholfen.

Voller Andacht folgte man meinen Ausführungen, machte sich viele Notizen und fotografierte ausführlich alle Unterlagen Seite für Seite. Ich war richtig stolz auf diese tollen Fans.

Doch eines habe ich ihnen nicht verraten, so sehr man mich auch nötigte. Unter allen Umständen wollte man wissen, wer denn nun im obigen Gedicht der Wolf und wer der Schakal sei. Ein kleines Geheimnis darf ja nun wohl jeder besitzen.

Oder?

Um die Zusammenhänge in der damaligen Zeit, in der ich geboren wurde, aufwuchs und meine ersten lyrischen Versuche startete, besser einordnen zu können, möchte ich hier einen kurzen Ablauf meiner Entwicklung einfügen.

Ein Gedanke, ein Weg, ein Ziel

Mit einem lauten Schrei bin ich in diese Welt hineingeplumpst, war die Aussage meiner Mutter, was ich ja im Nachhinein nun nicht mehr überprüfen konnte.

Geboren kurz vor dem Ende des siegreichen Untergangs eines Größenwahnsinnigen, wurde ich Mitte Februar 1945 am Rande des Harzes ein neuer Erdenbürger.

Mal abgesehen von den vielen Blödsinnigkeiten und Fast-Katastrophen, die ein Heranwachsender so alles fabrizieren konnte, verlief mein Leben in dieser Zeit in relativ ruhigen Bahnen.

Dies änderte sich dann allerdings schlagartig nach dem Abitur, als ich beschloss Hippie zu werden. Vom Unverständnis der Umwelt getrieben, meine Eltern einbegriffen, wurde ich notgedrungen zum Fast-Philosophen, um meine Situation vollständig zu analysieren, in die ich mich hinein begeben hatte. Daran änderten auch die Berufsausbildung und der danach folgende Armeedienst nichts.

Nur die langen Haare verschwanden. Die mussten runter, wegen der Armeefrisur. War aber nicht so schlimm, denn alle sind später umso kräftiger nachgewachsen. Zum Ärger des Friseurs hatte ich mir diese eingetütet und mitgenommen. Meine Haare werden keine Perücke füllen, auf keinen Fall. Das würde ich nie zulassen, war damals meine feste Überzeugung.

Arndt, 1971 in Helbra

In dieser Zeit lag die Geburtsstunde meiner „Ersten Versuche“, ein Lyrikband mit 40 Gedichten und mehreren Erzählungen. Ein Verleger fand ich leider nicht, trotz vieler Versuche. Eigentlich kein Wunder, gerechnet hatte ich damit sowieso nicht.

Folgerichtig kam ein ständig wachsendes Interesse von einer anderen Seite, die sich mit Lyrik normalerweise nicht beschäftigt. Von nun an waren die Herren mit den großen Ohren meine ständigen Wegbegleiter. Im „Ein Nachruf“ spiegelt sich die Perversion dieser Epoche wieder.

Ein Nachruf

Steil war der Weg des Despoten.

Von Stalin erzogen,

lernte er die Macht schätzen,

holte sich diese und hielt sie fest,

mit allen Mitteln.

Wie ein Seelenfischer

spannte er sein Netz

von Mensch zu Mensch.

Saugte und filterte alle Gedanken aus den Köpfen

und fror sie ein.

Die Vögel hörten auf zu singen,

und in den Kerkern

hörte man die Schreie

der abgestellten Gedanken,

archiviert bis zum Tode.

Doch im Sturm der Wende

fielen alle Ketten.

Der Alchimist des Schreckens

wurde hinweggefegt, seine Asche entsorgt

und die Gedanken waren wieder frei.

Nach abgebrochenem Theologiestudium 1974 in Berlin, blieb ich in dieser aufregenden Stadt hängen, bin heute noch hier und will es auch bleiben.

Nach langer Pause startete ich pünktlich zum Jahrtausendwechsel meinen zweiten Versuch. Voller Schaffenskraft öffnete ich meine, mit abgestellten Gedanken gefüllte und bis dahin geschlossen gehaltene Schublade. Seitdem bin ich wieder aktiv und voller Energie.

Wohin die Reise geht, kann ich noch nicht beantworten, denn Schreiben ist für mich ein Hobby von vielen.

7 Tage unterwegs

Trampen in der ehemaligen DDR (vom 03. 07.1972, bis 09. 07. 1972)

Prolog

Wir nannten uns Tramper, Blueser oder einfach Kunde. Wir, die langsam erwachsenwerdenden Kinder der DDR, in den sechziger und siebziger Jahren, wandten uns ab vom täglichen Einheitsbrei der damalig verspießerten Gesellschaftsordnung, der langsam immer weiter sich verfestigenden Meinungsdiktatur durch Staat und Partei.

Wir hatten andere Vorstellungen vom Leben, trugen lange Haare und Bärte, Jesuslatschen, Jeans und Shell-Parkas. Um den Trott des immer wiederkehrenden Einerleis von Schule oder Arbeit, von Montag bis Freitag zu entkommen, gestalteten wir die Wochenenden komplett nach unseren Vorstellungen.

Die Ideale der Hippiebewegung und der Geist von Woodstock waren unsere Leitbilder, die uns formten und trugen. An allen Wochenenden waren wir unterwegs, zu Feten, Rockkonzerten oder zu gemeinsamen Wanderungen mit Freunden aus allen Teilen der DDR. Die Staatsmacht war für uns nicht existent, wurde von Montag bis Freitag ausgeklammert und als anhängender Pflichtteil notgedrungen mitgenommen. Doch die Wochenenden gehörten uns, ausschließlich uns.

Straßen und Autobahnen waren unsere Verbindungswege zu Rockkonzerten, die in abgeschiedenen Dorfsälen stattfanden. Tausende Tramper standen an den Wochenenden auf und an Ostdeutschen Zufahrtsstraßen und Raststätten und wurden mehr oder weniger schnell mitgenommen.

Immer im Blickfeld der Staatsmacht mit ihren Stasi-Bütteln, wurden wir permanent überwacht und ausspioniert. Zum Ärger dieser Herren zeigten diese Aktionen allerdings bei uns keinerlei ängstliche Reaktionen. Im Gegenteil, wir grüßten diese Späher mit ihren Kameras an den kleinen Dachluken-Fenstern der Dorf-Säle mit einem freundlichen Lächeln, verbunden mit einem allbekannten Handzeichen. Zum Ausgleich wurden wir gefilmt und in ihren Archiven eingelagert.

Da die Hippie-Bewegung ja nicht auf Stunk und Klamauk ausgerichtet war, sondern auf Liebe und Frieden, konnte man uns kein sogenanntes asoziales Verhalten vorwerfen, dem in Ostdeutschland der Knast drohte. Wir hatten alle eine Arbeit, denn das war unser Freibrief für alle unsere organisierten Wochenenden, zum Leidwesen der allmächtigen Staatsmacht.

Für uns waren diese Happenings auf den Tanzsälen, den Dorf-, Volks-, und Heimatfesten ein komplettes Kontrastprogramm zum tristen Alltag.

Musik war der Motor fast aller Aktivitäten, begleitete uns immer auf der Suche nach Ursprünglichkeit, Überlebensstrategien und Nischen zum Ausscheren, Aufbrechen und mit der ständigen Sehnsucht nach Selbstfindung, angelegt zwischen Rausch und Ritual.

Die langlebigste und auffälligste Jugendszene in der DDR waren die Gruppierungen der Jeans- und Parka-Träger. Schon in den sechziger Jahren rockte man zum „I can’t get no satisfaktion“, der Rolling Stones und wandelte sich später zur Flower Power Bewegung. Mitte der siebziger Jahre hatte die von langen Haaren geprägte Hippie-Underground-Bewegung ihren Höhepunkt. Etwas später vervielfältigte sich die Szene durch Punks und Heavy –Metall- Freaks.

Wir Tramper, Kunden und Blueser waren in dieser Zeit permanent zur Urlaubszeit und an allen Wochenenden auf Achse.

Die Rotweinflasche im Beutel, überrannten wir den Karneval im thüringischen Wasungen und die Ostberliner Bluesmessen wurden zum Pflichtprogramm. Wer es zeitlich einrichten konnte, zog es über Ostern nach Prag, im Sommer ans Schwarze Meer oder im Herbst nach Krakau.

Von all diesen Aktivitäten ließen wir uns nicht abbringen, nicht mit Zugeständnissen und schon gar nicht mit Zwangsmaßnahmen.

Die nachfolgende Erzählung ist in dieser Zeit angesiedelt und berichtet über einen dieser Ausflüge im Jahre 1972. Mein damals protokollarisch festgehaltener Ablauf wurde Grundlage dieser Erzählung und gibt situationsbedingte Einblicke in ein Phänomen des Aufbruchs und der Suche nach eigenen Zielen und Wertvorstellungen, innerhalb einer alles einnehmenden und beherrschenden Meinungsdiktatur in der damaligen DDR.

Mit der Seilbahn in Chamonix auf den 3842 Meter hohen Aiguille du Midi des Mont-Blanc-Massivs.

Montag, der 03. 07. 1972

Verabredet hatte ich mich mit Holger gegen neun Uhr am Luther-Denkmal in Eisleben. Hier war schon immer unser Treffpunkt bei besonderen Ereignissen, Startpunkt zum Trampen oder nur zum Abhängen mit Kunden.

Die Lutherstadt Eisleben ist die zweitgrößte Stadt im Landkreis Mansfeld Südharz, im östlichen Harzvorland in Sachsen-Anhalt. (Zu DDR-Zeit Bezirk Halle.) Bekannt ist sie als Geburts- und Sterbeort Martin Luthers. Zu Ehren des großen Sohnes der Stadt, führt Eisleben seit 1946 den Beinamen „Lutherstadt“.

Und genau unter diesem Denkmal Luthers stand ich nun und erwartete Holgers Auftauchen. Das Wetter war regnerisch und viel zu kalt für Anfang Juli. Kräftige Windböen trieben dunkle Wolkenbänke über Stadt und Land hinweg und vereinzelt herabsickernder Nieselregen trug dazu bei, dass Straßen und Marktplatz öd und leer vor mir lagen.

Ich werde mich nie wieder auf den Wetterbericht verlassen, der für den heutigen Tag schönes Wetter ankündigte. Nun gut, das Schicksal wollte es so und wir mussten uns damit abfinden.

Im Übrigen waren Tramper auch keine Weicheier. Schlechtes regnerisches Wetter war kein Grund, zu Hause zu bleiben. Was einmal beschlossen wurde, wurde auch durchgeführt. Natürlich war das nasskalte Wetter nicht angenehm, aber im Einzelfall sogar vorteilhaft, da wir schneller mitgenommen wurden als bei schönem Wetter.

Soweit die Theorie. Doch um irgendwohin zu kommen, mussten wir erst mal starten. Das Warten ging mir langsam auf den Keks, denn kein Holger erschien. Endlich, nach einer langen Stunde, kurz nach zehn Uhr, tauchte er schnaufend hinter mir auf.

„Entschuldige, Peter! Mein Linienbus ist mir vor der Nase weggefahren. Der Nächste kommt erst in zwei Stunden.“, berichtete er immer noch nach Luft schnappend.

„Mir blieb nichts anderes übrig, ich musste per Anhalter weiter. Ging auch alles gut. Bin schnell weggekommen und wurde oben am Bahnhof abgesetzt. Hab mich beeilt, hierher zu kommen. Na ja, nun bin ich ja hier.“

Etwas mitleidig betrachtete ich Holger, der leicht durchnässt und schwitzend vor mir stand. Eigentlich hätten wir jetzt starten können, wenn wir denn gewusst hätten wo wir hin wollten. Holger nahm an, ich hätte mir etwas ausgespäht und umgedreht vertraute ich seine ansonsten guten Weg-Ziel-Vorgaben. Doch heute standen wir beide im Nieselregen und lachten über unser Missverständnis. Uns blieb nichts weiter übrig, wir mussten uns auf ein neues Ziel einigen.

Und das war schnell gefunden. Da wir beide beim letzten Kunden-Besuch in Dresden zeitlich verhindert waren, einigten wir uns schließlich und beschlossen, Dresden mit unserer Anwesenheit zu beehren.

Routinemäßig folgten nun die nächsten Abläufe in allbekannter Art und Weise. In zugezogener Kutte eingewickelt, trabten wir zur stadtauswärts führenden Durchgangsstraße Richtung Halle. Und das Wetter wurde immer schlechter. Aus Nieselregen wurde ein kräftiger Landregen.

Wie schon erwähnt, war das heutige Mistwetter nicht der schlechteste Wegbegleiter. Gegen elf Uhr hielt ein Wartburg und ab ging es bis Seeburg. Dort dauerte es bis zwölf Uhr fünfzehn und ein Barkas B 1 000 übernahm den zügigen Weitertransport. Diesmal bis zur Autobahnauffahrt Halle, eine Abschussrampe für Tramper aus dem ganzen Bezirk.

Der Barkas B 1 000 war ein Kleintransporter, der in den Jahren 1961 bis 1990 im VEB Barkas-Werke Karl-Marx-Stadt hergestellt wurde. Der Eintonner mit Zweitaktmotor war im Fertigungsprogramm der DDR oberhalb des Multicar und unterhalb des Robur LO angesiedelt.

Auf dem Weg zur Autobahnauffahrt wurde Holger tätig. Er saß hinten im Barkas und schrieb mit Großbuchstaben unser nächstes Ziel: „Dresden“, auf ein 1-meterlanges Pappschild, vom Barkas-Fahrer. Jetzt waren wir bestens ausgerüstet, brauchten nur noch unser Schild hochhalten und alle Autofahrer wussten sofort wohin wir wollten.

Wie vermutet waren wir nicht die einzigen Tramper. Drei Kunden wollten nach Berlin, Freunde besuchen und bei zwei jungen Frauen lag das Ziel irgendwo kurz vor Rostock. Für uns eine gute Nachricht, da wir uns nicht hinten anstellen mussten, da unser Ziel mehr oder weniger in der entgegengesetzten Richtung lag. Nach kurzer Unterhaltung kramte Holger sein „Dresden“- Schild hervor und wir positionierten uns zwischen den anderen vor der Auffahrt.

In der Regel hatten die Mädels beim Trampen immer Vorfahrt. Zumindest bei den meisten Autofahrern, als bei männlichen Artgenossen. Doch heute, mal abgesehen von den unterschiedlichen Zielen, lief das diesmal nicht so, wie erwartet. Ob nun vom Wetter beglückt, oder warum auch immer, verschwanden die drei Berlin-Tramper im 5-Minuten-Abstand von der Piste.

Und wieder einmal veränderte sich das Wetter. Nach und nach zogen die dunklen Regenwolken weiter und aus kräftigem Land- wurde wieder ein Nieselregen. Unaufhörlich kroch an uns die lange Schlange der Autofahrer vorüber, einen wirbelnden Wasserschweif hinter sich herziehend.

Die beiden Mädels hatten einfach kein Glück. Alles brauste weiter. Schließlich beschlossen die Beiden ihre Route zu verändern, wollten jetzt über Berlin weiterkommen. Wir wünschten viel Glück und konzentrierten uns auf die endgegenkommende Autoschlange.

Erschrocken sprang Holger plötzlich einen halben Meter nach hinten. Ein Trabant rollte ihm entgegen, wäre ihm bald über die Füße gefahren. Fast zu spät, auf der rechten Seite die Blinkanlage angestellt, scherte er aus und kam zehn Meter vor uns zum Stehen.

„Der nimmt uns mit!“, brüllte Holger und winkte den beiden Mädels ein Abschiedsgruß zu. Im Eiltempo schnappten wir unsere Sachen und rannten dem Auto hinterher. Der Fahrer, ein junger Mann aus Leipzig, half uns beim Einsteigen. Fünf Minuten später rollten wir Richtung Leipzig. Wir beschlossen am Schkeuditzer—Kreuz, einer Autobahndrehscheibe auszusteigen. Von hier aus hatten wir eine direkte Verbindung nach Dresden.

Und es klappte diesmal ohne Wartezeit. Kaum auf der Raststädte in Positur gestellt, war es wieder ein Trabant-Fahrer, der uns die Weiterfahrt ermöglichte. Und diesmal genau bis Dresden-Hauptbahnhof. Holger strahlte übers ganze Gesicht.

„Das klappt ja heute wie am Schnürchen“, kommentierte er die Situation und kletterte als letzter ins Auto. Da manche Fahrer das Gespräch suchten, um eine eintönige Fahrzeit zu überbrücken, standen wir bald im Mittelpunkt einer Unterhaltung. Es entwickelte sich ein interessantes Gespräch zwischen uns.

Es ging um die Enteignung der letzten Privatbetriebe der DDR. Wie wir auf dieses Thema kamen, ist mir nicht mehr geläufig. Sicherlich vom Fahrer begonnen, da er selbst von dieser räuberischen Kollektivierung erfasst, und sein kleiner Kranbaubetrieb mit einem Zwang zum Verkauf, dabei mehr oder weniger enteignet wurde. Für ein Spottgeld wurde der Staat zum Besitzer und der ehemalige Eigentümer durfte gnädiger Weise dort als Produktionsleiter arbeiten. Auf dieser verbrecherischen Art und Weise wurden damals circa neunzig Prozent aller Privatbetriebe enteignet.

Auch die Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR, war ein Modell das aus der Sowjetunion übernommen wurde. 1949 hieß es in der DDR: Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen. Nun machte man also denselben Unfug nochmal. Nach dem Motto: Junkerland in Bauernland, wurden die Landflächen auf gestückelt. Zuerst bekamen die Landlosen und Kleinbauern Land – dann presste man später die Bauern durch die SED und FDJ in die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft).

Jetzt wurde es ungemütlich. Viele Bauern wollten das nicht. Sie hetzten die Hunde auf die Parteiagitatoren und FDJler, und diese revanchierten sich mit Schikanen und staatlichen Erpressungen. Viele Bauern verließen daraufhin über Nacht Haus und Hof, und türmten in den Westen.

Solche oder ähnliche Gespräche führten wir fast auf jeder Etappentour. Die Anonymität lockerte die Zunge. Es wurden Themen angesprochen, die ansonsten öffentlich nicht geführt wurden. Man sah sich ja sowieso nicht wieder und der Fahrer selbst bekam schnell mit, ob wir deckungsgleiche Ansichten mit ihm teilten. So verging die Zeit in angenehmer Unterhaltung.

Natürlich gab es auch Situationen, da wollten die Fahrer ihre Ruhe haben, oder wir landeten bei einem Mitarbeiter der Staatssicherheit im Auto. Das war natürlich für uns ein heikler Moment, den wir aber clever meisterten und uns noch lange darüber amüsierten über dieses Frage und Antwort-Spiel während der Weiterfahrt, bis zur nächsten Abfahrt.

Natürlich hatten wir schon nach wenigen Augenblicken kapiert, wessen Geistes Kind uns hier die Mitfahrt anbot. Schon mehrmals erprobt, benötigten wir keine Absprachen mehr, sondern legten los wie die Feuerwehr.

Auf seine Gesprächsvorgaben eingehend. Erzählten wir ihm die unmöglichsten Geschichten über uns, dem heutigen Tramperziel und alles was damit zusammenhing. Eine gelungene Märchenstunde, die dem Stasi-Mann all das bescherte, was er sich erhofft hatte, von uns mitgeteilt zu bekommen. Die Freude war ihm förmlich anzusehen, in uns zwei Trottel gefunden zu haben, die er aushorchen konnte, ganz nach seinem Belieben.

Oh nein, wie mussten wir lachen, als sein Auto beim nächsten Standortwechsel aus unserem Blickwinkel verschwand. Die Märchenstunde war ihm bestimmt sauer aufgestoßen, beim abendlichen Rapport und Auswertung unserer freigiebigen Informationsflut.

Klappernd rollte unser Trabant auf dem Kopfsteinpflaster des Dresdner Hauptbahnhof-Vorplatzes langsam aus. Unser Ziel war erreicht. Uns die Rucksäcke reichend betrachtete der Fahrer nachdenklich den blankgespülten Bahnhofsvorplatz und beobachtete die aufgewühlten und vom Regen aufgefüllten Wasserpfützen vor seinen Füßen.

„Kein schönes Wetter zu Trampen!“, sprach er vor sich hin und verabschiedete sich bei uns mit einem festen Händedruck.

„Ach alles halb so wild“, antwortete Holger lachend und bedankte sich für die Mitnahme.

„Keine Ursache Jungs. Hat mir riesigen Spaß gemacht, euch mitzunehmen. Bleibt wie ihr seid! Und alles Gute im Leben!“, waren seine letzten Worte bevor er selbst im Auto verschwand und davonbrauste.

„Jetzt brauchen wir ein Schließfach. Komm wir müssen in die Bahnhofshalle!“, nötigte ich Holger zum Aufbruch, der immer noch dem Trabant nachsah und dem Fahrer zuwinkte.

Sein Gepäck am Zielort los zu werden, war eigentlich immer die erste Aufgabe jedes Trampers. Tagsüber war der Rucksack lästig und auch ein auffälliges Zeichen für alle Staatsdiener, uns zu kontrollieren und wenn möglich aus der Stadt zu verbannen. Da auf jede Art von Reaktion eine Gegenreaktion erfolgte, waren wir gewarnt und konnten uns darauf einstellen. Das Katz- und Mausspiel begann immer wieder von vorn.

Kaum hatten wir den Bahnhof betreten sah Holger ratlos nach allen Seiten.

„Das darf doch nicht wahr sein“, stieß er hervor und deutete dabei auf eine lange Reihe von Schließfächern hin, die neben- und übereinander montiert und in den Gangwänden fest verankert waren.

„Die sind ja alle geschlossen? Kein einziger ist frei!“

Unterwegs

Treffpunkt: Helbra

Ja das war so eine Situation, die man nicht beeinflussen konnte. Uns blieb nichts weiter übrig als zu warten, in der Hoffnung, dass jemand sein Gepäck rausholen würde und wir das Fach übernehmen konnten. Und zu allem Überfluss waren wir nicht die einzigen, die auf einen freien Platz warteten.

„Holger, wir müssen uns jetzt trennen.“, machte ich den Vorschlag um die Change zu erhöhen. „Jeder geht in eine andere Ecke.“

Gesagt und getan! Das passende Kleingeld in den Händen marschierten wir beide auseinander, ohne die Schließfächer dabei aus den Augen zu verlieren. Bei der geringsten Bewegung in diese Richtung, waren wir sofort dran an Mann oder Frau. Und dieser Entschluss war Gold wert und von Erfolg gekrönt.

Nicht mal zehn Minuten waren verstrichen, da hörte ich aus der anderen Ecke Holgers Stimme zu mir herüberschallen.

„Peter, komm rüber! Ich habe ein Fach ergattert!“

Schneller als gedacht wurden wir vom Gepäck befreit und im Sog einer sich nach draußen hin bewegenden Menschenmasse auf den glänzenden Bahnhofsvorplatz gespült. Da hier draußen alles im Regen zu versinken schien, kam heute mein alter, zusammenfaltbarer Regenschirm zum ersten Mal zum Einsatz. Vorsichtig entfaltete ich das übergroße Prachtstück, unter dem wir beide bequem Platz fanden.

Zügig überquerten wir den Vorplatz und entfernten uns vom Bahnhofsgebäude. Unser momentanes Ziel waren die „Wallterrassen“, ein im Neubau errichtetes Restaurant, halb Kneipe, halb Café. Dort waren wir allerdings noch nie gewesen, kannten den Ort nur durch Bekannte mit Wegbeschreibung vom Bahnhof bis zum Ziel.

Nun gut, das war die eine Seite, aber jetzt hier im Regen stehen und dort hinfinden war die andere Seite. Direkt am Bahnhof schloss sich ein Neubauviertel an mit einer langen Geschäftsstraße und einem Springbrunnen mit verschiedenen Wasserspielen. Bei Sonnenschein sicherlich dicht belagert, war er heute einsam und verlassen, als stände er heute im Wettbewerb mit hochschießenden Wasser-Fontänen und herabströmenden Regenmassen.

Dummerweise sahen alle abgehenden Seitenstraßen irgendwie gleich aus. Sicherlich hatten wir uns verrannt. Wir mussten es uns beide eingestehen, diese mündlichen Wegbeschreibungen waren für uns heute nicht verwertbar, wie auch immer.

Und was tut man in so einem Fall? Man sucht Hilfe. Und die fanden wir vor einer überdachten Schaufensterauslage einer Mode-Boutique. Zwei ältere Dresdner Damen waren sofort bereit, uns zu den Wall-Terrassen zu begleiten, da ihr Heimweg daran vorbei führte.

Zwischen 1958 und 1962 entstand hier ein neues Geschäftsviertel, das Webergassenviertel. Diese Fußgängerzone mit Läden, Kaufhaus und der Gaststätte „Wallterrasse“, sollte die Tradition der früheren Webergasse wieder aufnehmen.

Gar nicht so weit von der „Prager Straße“ entfernt, bogen wir zweimal rechts und zweimal links ab, und schon standen wir fünf Minuten später am Eingang der gesuchten Lokalität. Wir bedankten uns für die Begleitung und traten ein in den langgezogenen Gastraum.

„Komm Holger, dort hinten ist ein freier Tisch.“, bemerkte ich beim Weitergehen. Sich am Tresen vorbeischiebend, blockierten wir sofort mit unseren Kutten die Plätze und bestellten zwei Bier beim vorbei eilenden Kellner.

Das also war der Dresdner Treffpunkt, der uns von mehreren Seiten empfohlen wurde, um hier schnell Kontakte zu knüpfen, sich zu treffen oder eine Schlafgelegenheit zu besorgen.

„Na dann lass uns starten“, bemerkte Holger so nebenbei und bezahlte die beiden Bier beim herantretenden Kellner. Zufrieden streckten wir die Beine weit von uns und löschten unseren Durst mit einem kräftigen Schluck. Und dieser war so groß, dass nur noch eine Pfütze in den beiden Biergläsern herumschwabbelte. Schnell orderte Holger Nachschub beim Kellner, der dabei etwas irritiert dreinschaute und kopfschüttelnd hinterm Tresen verschwand.

Jetzt hatten wir das Nötigste erledigt, und konnten uns um eine Übernachtungsmöglichkeit bemühen. Unser Tisch stand sehr günstig, fast am Ende der Räumlichkeit. Die beiden Tischreihen im langgestreckten Gastraum waren von hier aus komplett einsehbar, ohne unseren Beobachtungsposten dabei preiszugeben.

Nach Kunden und Trampern Ausschau haltend, sortierten wir die Gäste nach dem Schema:

„Könnte klappen, einer nichtssagenden eventuell-Situation oder mit einer auf-keinen-Fall-Ausstrahlung versehen.“ Tische mit Langhaarigen, Leute mit Bärten oder Kunden und Hippies aus der Szene waren natürlich bevorzugte Anlaufpunkte.

Schnell wurden wir fündig.

„Schau mal dort am Fenster.“

Holger deutete auf einen mit fünf Personen besetzten Tisch hin, alle so um die achtzehn bis zwanzig Jahre alt, zwei Mädels mit Shell-Parkas und drei junge Männer mit Bart und langen Haaren.

„Passt voll in unser Suchschema.“, antwortete ich zufrieden. „Ich werde mal hingehen und mit den Leuten reden.“

Fast wäre ich beim Aufstehen mit dem Kellner zusammengestoßen, der hinter mir auftauchte und das Bier brachte. Diesmal übernahm ich die Runde und bezahlte beim ihm das Bestellte.

„Na ob das klappen wird?“, ging mir durch den Kopf. „Na ja, Fragen kostet ja nichts.“

Zielstrebig schlängelte ich mich zwischen den viel zu eng nebeneinander aufgestellten Tischen hindurch und stoppte erst hinter den Stühlen der Auserwählten. Die dort in ein Gespräch verwickelten Kunden verstummten sofort bei meinem Herantreten und betrachteten mich neugierig-fragend von oben bis unten.

„Ja? Was ist?“, wollte eines der beiden Mädels wissen, setzte dabei ihre Lesebrille ab und verstaute ein nun geschlossenes Notizbuch in ihrem Umhänge-Beutel.

„Zuerst muss ich mich bei euch entschuldigen für die Störung.“, begann ich weitausholend mein Frage-Wunsch-Programm abzuspielen.

„Mein Name ist Peter. Ich bin heute mit meinem Freund Holger, der sitzt dort hinten auf der anderen Seite beim Bier, von Eisleben über Halle, hier her nach Dresden getrampt. Leider kennen wir in Dresden keinen Kunden, wo wir hätten übernachten können. Im Urlaub und an allen Wochenenden sind wir unterwegs, von Rostock bis Eisenach, meistens mit Penne inclusive.“

Alle Fünf am Tisch hingen jetzt an meinen Lippen, wie ich zufrieden feststellen konnte.

„Und jetzt komme ich zu meiner eigentlichen Frage an euch.“, fuhr ich fort.

„Das Lokal hier, die „Wallterrasse“, wurde uns von vielen Trampern und Kunden empfohlen, diese bei fehlender Schlafgelegenheit aufzusuchen. Hier würde man immer irgendwelche Kunden antreffen, die einem weiter helfen könnten.“

„Und du meinst, wir wären dafür die richtigen Kunden?“, wurde ich von einem der jungen Männer unterbrochen.

„Ich hoffe es!“, schob ich leicht grinsend hinterher. „Tramper helfen sich doch untereinander! Oder?“

Irgendwie schien jetzt der Weg frei zu sein. Ich spürte sofort ihre Bereitschaft zu helfen. Aus Zuhörern wurden eine Gesprächsrunde und unser Übernachtungswunsch ein hin und her diskutiertes Thema.

„Hol deinen Freund her und setzt euch mit an unsern Tisch.“, wurde ich von den Mädels aufgefordert, während sie vom Nachbartisch zwei leere Stühle herüber zogen.

„Danke! Nichts tue ich lieber als das. “

Holger hatte natürlich die Situation am Tisch immer im Blickfeld und setzte sich sofort mit den Kutten und den beiden Bier in Bewegung, als ich ihm mit Handzeichen andeutete, zu uns rüber zu kommen.

Problemlos wurden wir akzeptiert und standen schon nach kurzer Zeit nicht mehr im Fokus ihrer Erkundungs-Neugierde. Da wir uns nicht kannten, war es natürlich wichtig für alle, zu wissen, mit und auf wen man sich da einließ. Als ich zwei Kunden aus Eisenach erwähnte, war der Bann endgültig gebrochen, denn man kannte die beiden schon über zwei Jahre. Hier zeigte es sich wieder einmal, wie gut unser Netzwerk funktionierte und dazu beitrug, missliche Situationen zu meistern.

Es stellte sich heraus, dass alle fünf in kirchlichen Einrichtungen arbeiteten, als Krankenpfleger, Hausmeister und Gärtner auf Friedhöfen.

Die Unterhaltung sprudelte nur so dahin, mit breiter Themenvielfallt. Eines hatten wir aber alle gemeinsam, an jedem Wochenende unterwegs zu sein, als Tramper die Autobahn zu bevölkern, Rockkonzerte zu besuchen, abzufeiern bei Feten oder irgendwelche Staatlichen Veranstaltungen wie Heimat- und Volksfeste einfach zu überrennen und ein eigenes Happening daraus zu machen. Jeder hatte irgendwelche Geschichten auf Lager und berichtete über besuchte Rockkonzerte oder deren nächste Auftrittstermine.

Ich selbst kam mit Harald, einem der jungen Männer mehr und mehr in ein persönliches Gespräch, wobei er mir zusicherte, sich selbst darum zu kümmern, uns eine Schlafgelegenheit zu beschaffen.

Was mich an Harald faszinierte war seine lebensbejahende Philosophie, verbunden mit dem Christlichen Glauben, dem er alles unterordnete. Er war Anhänger der Jesus-People Bewegung, für mich ein völliges Neuland. Zwar war mir der Begriff geläufig, aber einem Bekenner gegenüber zu sitzen, war dann doch etwas anderes. Natürlich nutzte ich die Situation aus. So Neugierig wie ich nun einmal war, wollte ich alles von ihm genau wissen. Bereitwillig beantwortete er alle meine Fragen sehr ausführlich.

Am Wochenende trafen wir uns mehrmals an der Talsperre in Wippra zum Zelten.

Hier war immer was los. Wandern, Gesprächsrunden und ein Autoanhänger voll mit Getränken, Brot und Kartoffeln zum Kochen.

Harzwanderung

Ein Wild-Fütterungs-Häuschen am Wegrand

Die Jesus-People waren eine christliche Gruppierung, die sich in den 1960 er und 1970 er Jahren (Höhepunkt 1971/72) an der amerikanischen Westküste aus der Hippie-Bewegung herausbildete und sich schließlich auf Nordamerika und Europa ausdehnte.

Die Jesus-People übernahmen einen Teil der Hippie-Ideologie mit veränderten Abläufen und Schlussfolgerungen. Aus der „freien Liebe“ wurde beispielsweise die freie Liebe zu Gott und den Menschen. In ihrem Lebensstil orientierten sich die Jesus-People am Urchristentum. Die meisten Jesus-People lebten in Kommunen zusammen.

In der Bundesrepublik konnte man sich dafür entscheiden und zusammenziehen. In der DDR ging das natürlich nicht. Zwar traf man sich in kirchlichen Einrichtungen zu Veranstaltungen, schloss sich der Jungen Gemeinde an oder wurde als Jesus-People-Bekenner zum Einzelkämpfer. Zumindest gab es unter den jungen Christen in der DDR eine östliche Version der Jesus-People.

Man entlieh aus dem Evangelium nur den einen Satz: „Jesus liebt mich!“ Er wurde zum Leitfaden und Wegbegleiter in allen Lebenslagen.

Immer nach dem Motto: „Jesus liebt mich! Was kümmern mich der Terror in der Schule, die Barbarei der Polizei und der Trott auf der Arbeit. Was geht mich die beschissene Welt an – Jesus liebt mich und ihr könnt mir alle mal!“

Und Harald erzählte und erzählte. Ich war sehr beeindruckt von seiner inneren Einstellung, seiner ausdrucksstarken Erzählweise und Aufgeschlossenheit. Harald hatte sich arrangiert in der katholischen Jugendarbeit. Als Anhänger der Jesus-People-Bewegung besuchte er natürlich die monatlich stattfindenden Diskussionsabende der Jungen Gemeinde und war dort mit verantwortlich für einen reibungslosen Ablauf. Kurzentschlossen lud er uns ein, am kommenden Mittwochabend zur Jugendstunde nach Dresden zu kommen.

„Aber ja, sehr gern sogar.“, platzte ich heraus, ohne überlegen zu müssen. Da Holger den gleichen Wunsch hegte, änderten wir kurzendschlossen unsere Reisepläne und bedankten uns für seine Einladung. Dadurch verkürzte sich natürlich unser morgiger Zielaufenthalt in Karl Marx Stadt um die Hälfte. Eigentlich wollten wir dort bis Mittwoch bleiben, was nun allerdings nicht mehr ging, da wir laut Absprache in Dresden erwartet wurden.

Und die Zeit verging wie im Fluge. Gegen einundzwanzig Uhr verließen wir gemeinsam die Wallterrasse und trennten uns dann draußen von zwei der jungen Männer. Nun nahte für uns dir Stunde der Wahrheit. Mit Harald und den anderen zwei Mädels zogen wir los, Freunde aus der Szene aufzusuchen, um für uns eine Übernachtung zu organisieren. Leider war da, wie man so schön sagt, der Wurm drin. Niemand war zu Hause. Eine ganz schön blöde Situation für Harald. Als beim vierten Versuch wiederum der Kunde mit Abwesenheit glänzte, verabschiedeten sich die beiden Mädels, da sie morgen früh zur Arbeit mussten. Nun standen wir mit Harald allein auf der Straße.

„So was habe ich aber auch noch nicht erlebt.“, brabbelt er kopfschüttelnd vor sich hin. „Kein einziger Kunde ist zuhause. Das ist wirklich außerirdisch.“

„Mach dir darüber keinen Kopf, Harald.“, fällt ihm Holger ins Wort. „Es hat aufgehört mit regnen. Die Nacht ist warm. Wir finden auch draußen irgendwo eine Stelle zum Schlafen.“

„Nein, nein. Das würde ich mir nie verzeihen. Da muss doch noch etwas möglich sein.“

Grübelnd läuft er ein paar Schritte auf und ab, bleibt plötzlich ruckartig stehen und grinst uns an.

„Leute, das könnte klappen. Allerdings die letzte Möglichkeit. Warum ist mir das nicht gleich eingefallen. Wir fahren zum Lindengarten, draußen an der (LiGa). Dort ist eine Tanzveranstaltung. Wir müssen nur zusehen, wie wir dort reinkommen.“

Der Lindengarten (LiGa) war ein großes Konzert und Ballhaus an der Königsbrücker Straße. Später wurde ein als „LiGa“ berühmt-berüchtigter Tanzgasthof daraus. Anfangs der 1970 er Jahre traten die Puhdys fast regelmäßig montags im Lindengarten auf und starteten ihre künstlerische Karriere als bekannte DDR-Rockband. Bis zu tausend Besucher passten in den Saal.

Und heute war Montag. Das konnte ja heiter werden. Wie vermutet war natürlich um diese Zeit kein offizieller Einlass mehr möglich. Der Schuppen war gerammelt voll. Die Puhdys waren heute zwar nicht anwesend, aber eine andere Band stand auf der Bühne.

Panta Rhei eine junge DDR-Band, ein musikalischer Zwitter: spielten auf der einen Seite progressiven Bigband-Jazzrock und auf der anderen Seite ruhige Balladen oder Chansons. Dieses Jazz-Rock, und Soul-Ensemble wurde 1971 gegründet. Zu dieser Zeit war Panta Rhei neben den Puhdys und der Klaus Renft Combo eine der führenden Gruppen der DDR-Rockszene. Auch Veronika Fischer war in dieser Band bis 1973 solistisch tätig. Als sich drei Bandmitglieder, Dreilich, Protzmann und Swillms entschlossen, die Gruppe Karat zu gründen, löste sich Panta Rhei 1975 auf.

Nun standen wir also am Lindengarten-Eingang, ohne Einlassgarantie. Zum Glück war Harald bei uns. Ohne ihn wären wir garantiert nicht reingekommen. Es dauerte zwar zwanzig Minuten, doch dann wurden wir von zwei, ihm bekannten Kunden, durch eine Hintertür eingeschleust. Einfach klasse, dieser Zusammenhalt untereinander. Zwei Abstellräume durchquerend, betraten wir den übervollen Saal unweit der Bühne. Hier blieben wir vorerst, da Harald gleich im Gewühl verschwand, um eine Schlafgelegenheit zu besorgen. Für uns der ideale Standplatz, mit freier Sicht auf die ablaufende Bühnenshow.

Heute lief nicht alles am Schnürchen, wie man so schön sagt, nein heute war der Wurm drin. Harald kam und kam nicht wieder und die Zeit verrann ohne Gnade. Doch dann wurden wir erlöst. Kurz vor Mitternacht tauchte Harald plötzlich vor uns auf, mit einem Bekannten im Schlepptau.

„Das ist Peter Reis“, stellte er uns den Kunden vor. „Bei ihm könnt ihr heute schlafen.“

Das war Rettung in letzter Minute.

„Doch Peter, dein Namensvetter“, fuhr er fort, „wohnt nicht in Dresden, sondern in Meißen. Da müsst ihr noch ein paar Kilometer mit dem Zug fahren. Ihr werdet es schon überleben.“

„Okay! Das geht in Ordnung und vielen Dank für die Mühe.“, antwortete ich ihm und deutete zur Bühne hin. „Die machen Feierabend. Wir müssen raus.“

Dienstag, der 04. 07. 1972

So war es dann auch. Kurz nach Mitternacht wurden wir nach draußen gespült. Jeder war bestrebt, so schnell wie möglich nachhause zu kommen.

Die Nacht war lau und mild. Der Regen hatte sich nun endgültig verzogen. Zwischen der aufgerissenen Wolkendecke schimmerte der nächtliche Sternenhimmel hervor, während der Mond noch im Verborgenen lauerte.

In einer alten schon ausgedienten Straßenbahn zuckelten und ruckelten wir langsam dem Bahnhof Dresden-Neustadt entgegen. Von den ausgeleierten, abgefahrenen Gleisen verursacht, klapperten die halbaufgezogenen Wagenfenster auf beiden Seiten und ein lautes Quietschen pressender Räder übertönten alle anderen Nachtgeräusche.

Immer genügsam! Ein Brot, Kartoffeln und ein Kasten Bier waren völlig ausreichend.

Kurz vor halb zwei war unsere Abfahrtszeit. Der Zug hielt hier nur kurz und fuhr weiter nach Meißen. Wir waren nicht die einzigen, die vom Rock-Konzert kommend, nach Hause fahren wollten. Da wir niemand von den Kunden kannten, war uns das egal. Eine Stunde bis zur Abfahrt wurde genutzt, sich kennen zu lernen. Im Hallenvorbau fanden wir Sitzplätze, in einer Sackgasse zwischen Gepäckautomaten. Uns dort niederlassend, verabschiedete sich Harald, wobei er uns nochmals daran erinnerte, am Mittwoch die Jugendstunde nicht zu vergessen.

„Wir kommen! Du kannst dich drauf verlassen. Am Nachmittag in der Wallterrasse oder auf dem Kirchengelände. Die Adresse haben wir ja.“, rief ich ihm hinterher.

„Mach’s gut alter Junge. Bis dann!“

Während Harald aus unserem Blickfeld verschwand, beobachteten wir zwei Transportpolizisten von der Bahnhofswache, die mit grimmigem Gesichtsausdruck im Hallen Gelände auf und ab stolzierten und misstrauisch die vom Konzert ankommenden Kunden beobachteten. Einige Leute wurden aufgefordert ihre Ausweise vorzuzeigen und wurden gefragt wo man denn um Mitternacht hin wolle. Dabei wurden ihre Ausweise durchblättert, von vorn nach hinten und von hinten nach vorn. Zehn Minuten lang glotzte man in die Papiere, als könne man nicht lesen. Man sah den Ärger ihrer Gesichtsmimik an, da man leider nichts Außergewöhnliches finden konnte. Die Ausweise wurden zurückgegeben und der Kontrollrundgang fortgesetzt.

Als sie an uns vorüber schritten, streckten wir ihnen unsere Papiere entgegen.

„Hier bitte! Meiner zu erst.“, rief Holger aufstehend, und wedelte den aufgeklappten Ausweis vor seiner Nase herum.

„Bürger, das müssen sie schon uns überlassen, wer kontrolliert wird und wer nicht!“, reagierte einer der beiden „Trapos“ mit bösem Blick und leicht gereizt.

Ohne uns weiter zu beachten verschwanden sie in einem Seitengang der von Schließfächern vollgestopften Bahnhofsvorhalle.

„Nun bin ich schon mal höflich, da wird man auch noch angepflaumt.“, kommentierte Holger lachend die Situation und nahm wieder Platz zwischen mir und dem Meißener Kunden.

Ohne auf die Zeit zu achten, amüsierten wir uns prächtig über seltsame Gestalten der nächtlichen Bahnhofs-Szene. Wir teilten uns noch eine Flasche Bier, die Peter hervorkramte und notierten uns dabei Ort und Datum der nächsten Rockkonzerte bekannter Bands.

Plötzlich sprang Peter erschrocken nach oben, beförderte die leere Bierflasche in den Abfalleimer und hielt Holger seine Armbanduhr vor die Nase.

„Das gibt’s doch nicht!“, polterte er los. „Wir erzählen hier seelenruhig, und unser Zug fährt in fünf Minuten ab.“

Wir hatten mal wieder die Zeit verquatscht und mussten uns jetzt ganz gewaltig sputen. Mein Blick zur Uhr bestätigte die fehlende Zeitspanne bis zur Abfahrt.

„Eine Fahrkarte müssen wir im Zug lösen.“, stellte ich fest.

„Die am Schalter holen, da fehlt die Zeit.“

Zügig rafften wir unser Gepäck zusammen, rannten durch die langgestreckte Halle hindurch und stürmten die entsprechende Bahnsteigtreppe nach oben. In letzter Sekunde enterten wir den erstbesten Wagen und verschwanden mit dem Abfahrtspfiff im dahinterliegenden Abteil.

„Das war knapp.“ Holger prustet Luft schnappend vor sich hin. „Na ja, Glück muss man haben.“, fügt er hinzu und grinst dabei. „Heute ist bestimmt kein Schaffner mehr im Zug. Leute, wir sparen die Fahrkartenkosten!“

Allerdings war das ein frommer Wunsch. Kaum hatten wir uns bequem eigerichtet, bekamen wir Besuch. Na von wem wohl? Natürlich vom Schaffner.

Wir erwarben bei ihm die drei Tickets mit einem kleinen Aufgeld für den verspäteten Kauf. Und den Wagen mussten wir auch verlassen. Der Platz für unser 2. Klasse-Ticket lag ein Wagen weiter vorn.

Uns konnte heute nichts mehr erschüttern. Wir zogen um, suchten und fanden dort ein freies Abteil. Jetzt noch eine Stunde Ruhen, wer wollte uns das verwehren. Unser Ziel zu verschlafen, war nicht möglich, denn Meißen war Endstelle und der Schaffner hätte uns bestimmt rausgeworfen.

Im abgedunkelten Abteil zog schon nach wenigen Minuten die Ruhe ein. Nur das Klappern und Rauschen der Wagonräder auf den Unebenheiten der abgefahrenen Schienenstränge ließ die Bänke der Sitzreihen leicht vibrieren und förderte in seiner Monotonie unser Bedürfnis nach Schlaf.

Die „Penne“ bei Peter erreichten wir kurz vor drei Uhr. Seine Wohnung lag in Bahnhofsnähe. Dort angekommen, legten wir uns sofort schlafen. Gegen sechs Uhr mussten wir wieder raus, denn Peter ging zur Arbeit, wir aber zum Bahnhof und mit dem Zug zurück nach Dresden.

Dort holten wir unser Gepäck aus den Schließfächern, wuschen uns gründlich in den Waschkabinen und verschwanden im Anschluss in der geöffneten Mitropa zum Frühstück.

Endlich waren wir reisefertig. Zu Fuß ging es zum Postplatz und von dort aus weiter mit der Straßenbahn. Uns war nur bekannt, dass die Linie zwölf Richtung Autobahnauffahrt fuhr. Da wir nicht wussten, wo wir raus mussten, fuhren wir natürlich über unser Ziel hinaus, da die Bahn kurz vor der Auffahrt seitwärts abbog und wir noch nie von dieser Dresdner Auffahrt als Tramper starteten.

Ein älterer Herr war so nett uns den genauen Weg zu erklären. Wir bedankten uns bei ihm und durften drei Stationen zurück fahren. An der Haltestelle Zschonergrundstraße stiegen wir aus und standen nach hundert Metern direkt vor der seitwärts abbiegenden Autobahnauffahrt.

„Wer den Weg nicht kennt, rennt hier vorbei.“, kommentiert Holger die Rückfahrt und deutet nach vorn. „Heute sind wir nicht allein. Da stehen schon zwei Kunden.“

Die beiden waren Hallenser und wollten nach Leipzig, erfuhren wir beim kurzen Gespräch. Da wir, zumindest die erste Teilstrecke mit ihnen teilten, reihten wir uns nicht ein, sondern gingen rauf zur Tankstelle. Jetzt zur Mittagszeit, es war halb zwölf, war die Raststätte von Mittagsgästen bis auf den letzten Platz besetzt.

Normalerweise war so ein gefüllter Parkplatz, für uns als Tramper, ein gutes Zeichen schnell weg zu kommen. Doch heute dauerte es eine gefühlte Ewigkeit. Entweder waren die Autos voll besetzt, oder man wollte niemand mitnehmen. Jetzt in der flimmernden Mittagshitze zwischen den Autos herum zu suchen, war nun wirklich nicht das Gelbe vom Ei. Die Sonne brannte wie ein Schneidbrenner auf alles und jeden. Langsam wurde es für uns hier draußen ungemütlich.