Gefährliche Gefühle - Hanna Dietz - E-Book

Gefährliche Gefühle E-Book

Hanna Dietz

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Beschreibung

Neue Liebe (streng geheim!), neuer Zickenstreit (blöde Silvy!) und auch sonst nur Stress. Dabei wollte Natascha ab sofort das Leben genießen. Doch erst taucht Enzos Ex-Freundin auf und will ihn zurückhaben, dann muss sie ihrem Bruder aus der Patsche helfen. Denn der hat sich mit gefährlichen Leuten eingelassen und sehr bald merkt Natascha, dass die Sache selbst für sie eine Nummer zu groß ist.

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Seitenzahl: 460

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Hanna Dietz

Gefährliche Gefühle

Zu schön zum Sterben

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Als Hanna Dietz so alt war wie ihre Romanfigur Natascha Sander, trug sie eine Brille in der Größe von Clownsschuhen und eine Igelfrisur mit fingerdickem Flechtzopf am Hinterkopf. Umso erstaunlicher ist es, dass sie die 1980er ohne bleibenden Schaden überstanden hat. Seit 2007 schreibt die Journalistin Romane und noch heute gäbe sie einiges für die Haare von Natascha, die Heldin ihrer »Zu schön zum Sterben«-Thrillerreihe.

Außerdem von Hanna Dietz im Arena Verlag erschienen:Gefährliche Gedanken

1. Auflage 2013 © 2013 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Frauke Schneider ISBN 978-3-401-80213-8

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Inhaltsverzeichnis

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Dank

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Es ist schon merkwürdig, was mit einem passiert, wenn man dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen ist. Man verliebt sich zum Beispiel in den komplett falschen Mann. Wie ich. Anstatt es einmal richtig zu machen und mich in meinen besten Freund Justus zu verlieben, musste ich mich ausgerechnet in meinen Bodyguard verknallen. Enzo. Enzo Tremante, zweiundzwanzig Jahre alt, grüne Augen, kurze Haare, kleine sichelförmige Narbe am Mundwinkel, seines Zeichens Expolizist und größte Quasselstrippe der Welt. Aber diese Stimme! Mit der er »Natascha« sagt, als wäre das Wort ein kostbares Juwel. Vielleicht hat er mich auch nur mit seiner Stimme um den Finger gewickelt. Oder eben damit, dass er mir in letzter Minute das Leben gerettet hat. Auf jeden Fall ist es doch wohl total merkwürdig, wie man sich in jemanden verlieben kann, den man anfangs unausstehlich fand. Aber was weiß ich denn schon! Ich bin ja nur ein einfaches siebzehnjähriges Mädchen, Schülerin eines privaten Mädchengymnasiums, Tochter von Fleischfabrikant André Sander und Schwester von Bastian Sander, der sich übrigens gerade phänomenal verspätete. Dabei hatte er mir gestern bei seinem völlig übertriebenen dramatischen Auftritt vor Justus’ Haus eingebläut, ich solle pünktlich sein. Ha! Und jetzt kam er zu spät. Aber so was von. Ich saß auf der Bank neben dem Freiplatz. An einem Sonntagmorgen im Dezember. Wer, bitte schön, stand sonntags um sieben Uhr morgens auf, um sich um acht Uhr mit seinem Bruder auf einem Freiplatz zu treffen? Das Basketballfeld lag verlassen unter einer dünnen Schicht Reif, angestrahlt von zwei gelblichen Straßenlaternen. Seit gestern war die Temperatur in den Keller gesackt. Ein eisiger Wind streifte meine Nase und ich kuschelte mich tiefer in meinen Skianzug. Wie schlau ich gewesen war, ihn samt Moonboots und Bommelmütze anzuziehen! Enzo hatte ziemlich gelacht, als er mich heute Morgen vor der Garage gesehen hatte. Und noch mehr gelacht hatte er, als ich ihm vorwurfsvoll gesagt hatte, dass es sich um total angesagte Klamotten von Spyder handelte, die immerhin auch die Skifahrer der amerikanischen Nationalmannschaft tragen würden.

»Du siehst aus, als ob du auf den Mount Everest wolltest«, kommentierte er und startete den Motor des Toyotas.

»Dreh die Heizung auf und fahr einfach los«, gab ich zurück. Ich war etwas gereizt. Bastian hatte mich gestern vor Justus’ Haus geradezu überfallen und mir gesagt, dass er in Schwierigkeiten steckte. Und dass nur ich ihm helfen könnte. Warum auch immer! Er wollte mir heute alles erklären. Treffpunkt am Basketballplatz. Enzo fuhr mich hin.

»Mann, ist das warm«, schnaufte Enzo, als das Gebläse uns die heiße Luft ins Gesicht wehte. Er trug wie immer nur ein weißes Hemd und ein schwarzes Jackett. Keine Ahnung, wie er es anstellte, aber er fror nie. »Gehst du da drin nicht ein?«, sagte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich würde mich kaputtschwitzen. Darf ich wenigstens die Heizung kleiner drehen? Das ist doch Wahnsinn. Schlimmer als in Apulien im Sommer! Da werden es leicht vierzig Grad im Schatten und man muss alle Fensterläden verrammeln, damit die Bude sich nicht aufheizt wie ein Backofen. Meine Oma hat …«

»Enzo?«, unterbrach ich ihn.

»Ja?«

»Könntest du bitte ruhig sein?«

»Okay.« Er war ungefähr fünf Sekunden still, dann fragte er: »Was ist los? Nervös?«

»Jep.«

»Wird schon«, munterte er mich auf. »Ich bin ja bei dir.« Er legte mir die Hand auf das dick wattierte Bein, ich zog meinen Handschuh aus und drückte seine warmen Finger. Das beruhigte mich tatsächlich. Ich lächelte ihm zu. Er war so süß! Und sah zum Anbeißen aus! Sobald wir das Auto vor dem Freiplatz geparkt hatten, beugte ich mich zu ihm und küsste ihn. Davon wurde mir ziemlich warm! Und noch wärmer wurde mir, als Enzo einfach sagte: »Natascha.«

Wie ein Schluck heißer Suppe ging das runter in meinen Magen und brodelte dort vor sich hin.

»Ich geh dann mal«, sagte ich widerstrebend. »Du siehst ja die Bank da vorne. Da bin ich mit Basti verabredet.«

»Gut. Ich lass dich nicht aus den Augen.«

»Okay.« Ich seufzte verliebt. »Ich werde versuchen, ihn schnell zu überreden, mit uns nach Hause zu fahren. Wenn ich dir das Zeichen gebe, dann kommst du einfach dazu, damit er dich kennenlernt.«

»Alles klar.«

Ich überlegte einen Moment. »Vielleicht solltest du am Anfang nicht so viel reden«, riet ich, »weil sonst könnte es ja sein, dass du ihm ziemlich auf den Keks gehst und dann kommt er nachher nicht mit, und das wäre dann ja doof.« Ich merkte, dass ich mich verhedderte. Enzo schaute mich ungerührt an und brachte mich damit noch mehr aus dem Konzept. »Ich meine, ich spreche nur aus Erfahrung«, plapperte ich weiter und versuchte, noch irgendwie die Kurve zu kriegen. »Aber wenn er dich erst mal richtig kennt, dann wird er dich lieben, auf jeden Fall.«

»Ach ja?«, sagte Enzo amüsiert. »Sprichst du da auch aus Erfahrung?«

Ich wurde rot. Mann, war das plötzlich warm hier. »Ach, halt die Klappe«, brummte ich, küsste ihn noch mal, damit er aufhörte zu lachen, zog mir die Mütze tiefer ins Gesicht und stieg aus.

Es war dunkel, es war kalt und es war einsam. In der Ferne hörte ich die Straßenbahn die Berliner Straße entlangrumpeln. Das Motorgeräusch vereinzelter Autos drang durch die kahlen Bäume. Ansonsten Stille. Ich stapfte zu der Bank. Ließ mich daraufplumpsen und schaute mich um. Hoffentlich würde er schnell kommen. In dem Moment sah ich auf der anderen Seite des Freiplatzes etwas rot aufleuchten. Ein kleiner roter Punkt. Ich setzte mich auf und starrte in die Dunkelheit. Da ging ein Mann! Er bewegte sich langsam, blieb immer wieder stehen. War das Bastian, der die Umgebung checkte und mir mit einer winzigen roten Lampe Zeichen gab? Es war zu dunkel, um ihn zu erkennen. Ich stand auf. Von der Größe kam es ungefähr hin, dachte ich, doch als der Mann in den Lichtkegel einer der Straßenlaternen trat, musste ich enttäuscht feststellen, dass es sich bloß um einen rauchenden Hundebesitzer handelte, der seinen Dackel ausführte. Wo war Bastian? Ich kramte mein Handy aus der Jackentasche. Acht Uhr zwölf. Der hellblaue Streifen am Horizont wurde langsam breiter und ging ins Orange über. Immerhin würde die Sonne bald aufgehen. Ich schlenderte über den Freiplatz. Um halb neun ging ich zu Enzo ans Auto.

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte ich.

»Lass uns noch warten«, schlug er vor. »Vielleicht hat er sich vertan und kommt um neun.«

Aber auch um neun kam er nicht. Wieso hatte ich ihn gestern nicht zum Mitkommen überredet? Oder wenigstens dazu, mir zu erzählen, wo genau das Problem lag! Um Viertel nach neun kam ein junger Mann auf dem Fahrrad vorbeigefahren, ein langer dünner Kerl in einem alten schwarzbraunen Fischgrätenmantel, der mir bekannt vorkam.

»Michi!«, rief ich. Es war ein Freund von Bastian, mit dem er früher oft Basketball gespielt hatte.

»Natascha?«, fragte er und hielt an. »Was machst du denn hier?« Seine schmalen Wangen waren rot vor Kälte.

»Ich bin mit Basti verabredet«, sagte ich.

»Bei der Kälte? Zum Basketballspielen?« Er schüttelte sich. »Handschuh-Basketball wird sicher bald olympische Disziplin«, flachste ich und imitierte mit meinen Fäustlingen einen Korbwurf.

Michi grinste. »Wann kommt Basti denn?«, fragte er gut gelaunt. »Ich muss ihm unbedingt noch erzählen, dass ich mein erstes Jura-Staatsexamen bestanden hab! Ist das nicht der Hammer? Und Basti hat mir sooo geholfen. Ich weiß nicht, ob ich es ohne ihn geschafft hätte.«

»Tatsächlich? Herzlichen Glückwunsch!« Ich stutzte. »Habt ihr zusammen gelernt oder was?« Mein Bruder studierte VWL, kein Jura.

»So was in der Art.« Michi grinste. »Wann kommt Basti denn?«

»Wenn ich das wüsste!«, seufzte ich. »Er wollte schon längst hier sein.«

»Mist.« Michi schaute auf seine Uhr. »Ich muss weg. Aber richte ihm doch aus, dass ein Kumpel von mir auch gerade einen ziemlichen Durchhänger hat.«

»Und?«, fragte ich verständnislos.

»Und vielleicht hat Basti noch was davon.«

»Wie? Was soll er noch haben?«

Er sah mich durchdringend an, sagte aber nichts.

»Was meinst du?«, fragte ich.

»Ach, nicht so wichtig. Sag ihm einfach, er soll sich bei mir melden. Also dann, bis bald!« Er trat in die Pedale und brauste den Fahrradweg entlang und bog um die Ecke. Es war halb zehn. Eine Gruppe Jogger kam vorbei, ein paar Hundebesitzer und zwei Frauen, die ihre Nordic-Walking-Stöcke hinter sich herschleiften. Mir war trotz Skianzug kalt und ich hatte Hunger auf ein Schinkenbrot und Durst auf einen heißen Milchkaffee und ich wollte Enzo küssen. Und langsam, aber sicher wurde ich sauer, weil Bastian nicht kam. Trotzdem wartete ich. Ich lief auf und ab und grübelte darüber nach, was Michi mit »noch was davon« gemeint haben könnte. Um kurz nach zehn gab ich auf.

»Hätte er mir doch einfach gesagt, was los ist«, sagte ich, als ich bibbernd ins Auto stieg. »Wäre er doch gestern mitgekommen. Oh Gott!« Ich starrte Enzo entsetzt an. »Meinst du, es ist ihm was passiert?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Enzo ehrlich. »Aber wenn etwas wirklich Furchtbares passiert wäre, dann hättet ihr von den Krankenhäusern oder der Polizei Bescheid bekommen.«

Eine Panikwelle rollte über mir hinweg. Krankenhaus. Polizei. Allein die Wörter machten mir Angst.

»Vielleicht hat er auch nur verschlafen«, sprach ich mir selbst Mut zu. »Mein Bruder ist die totale Pennwurst. Freiwillig würde der nie vor mittags aufstehen.«

»Es bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten«, beschwichtigte Enzo. »Und mach dir nicht zu viele Sorgen. Bestimmt ist es alles halb so wild.«

»Ja«, sagte ich folgsam.

»Wir finden schon noch raus, was Sache ist«, tröstete er mich weiter.

»Das mit dem wir gefällt mir«, sagte ich.

»Und jetzt wird erst einmal gefrühstückt. Ohne eine ordentliche Mahlzeit im Magen kann man sowieso nicht denken.«

Wir hielten auf dem Rückweg an einer Bäckerei und ich holte eine Tüte warmer Brötchen und Croissants. Das war das Alibi für meine Eltern gewesen. Ich hatte ihnen einen Zettel hingelegt, dass ich zum Bäcker unterwegs war.

Meine Mutter wuselte schon in der Küche herum, als ich reinkam. Erstaunt sah sie mich an. »Du warst im Skianzug beim Bäcker?«

»Weißt du, wie kalt es draußen ist?«, fragte ich zurück. »Wie in Sibirien. Mindestens.« Sie lachte, nahm die Tüte mit den Brötchen entgegen und schüttete sie in einen silbernen Korb. »Das sind aber viele«, wunderte sie sich.

»Ich habe für Enzo auch ein paar mitgebracht«, murmelte ich etwas verlegen.

»Das war sehr nett von dir!«, sagte sie überrascht.

»Immerhin hat er mir das Leben gerettet«, schob ich schnell nach. »Da kann ich mich wenigstens mit einem Croissant revanchieren.«

Sie legte vier Brötchen und ein Croissant in eine Schale auf ein Tablett, das schon mit einer Aufschnittplatte, Butter, Rührei, selbst gemachter Himbeermarmelade und einer kleinen Thermoskanne beladen war. »Dann bring ihm das doch in den Aufenthaltsraum«, bat sie mich.

»Okay.« Ich entledigte mich schnell meines Skianzugs und schnappte mir das Tablett. Eine Gelegenheit, Enzo zu sehen, würde ich mir nicht entgehen lassen. Der Raum für unsere Angestellten ging von unserer Eingangshalle ab. Meine Mutter hatte ihn wirklich gemütlich eingerichtet. In einem Erker mit den schönen hohen Fenstern stand zwischen jeder Menge Grünzeug ein runder Esstisch. An dem saß Enzo und blätterte sich mit seinem Smartphone durchs Internet. Mit dem Fuß stieß ich die Tür hinter mir zu. »Frühstück für meinen Lebensretter«, säuselte ich. Er sah auf. Seine Augen leuchteten auf, ein wohliger Schauer durchlief mich und mir rutschte heraus: »Ich hätte es dir auch gerne ans Bett gebracht.« Als ich begriffen hatte, was ich da gesagt hatte, wurde ich rot. Wir hatten zwar schon ausgiebig geknutscht, aber mehr war natürlich nicht passiert. Vom Bett waren wir meilenweit entfernt. Jedenfalls von meiner Warte aus.

Was er dazu sagte, keine Ahnung. Das war noch kein Thema gewesen. Deswegen war es mir auch so peinlich, dass ich gerade jetzt davon angefangen hatte. Und dann warf er mir auch noch diesen überraschten Blick zu, zog mich auf seinen Schoß und raunte mir ins Ohr: »Das hätte mir auch gefallen.«

»Hey, das kitzelt«, sagte ich und tat so, als ob ich mich losmachen wollte. Aber er hielt mich fest und schnupperte an meinem Hals. »Wie gut du riechst«, sagte er und ich musste kichern. »Ist mein neues Shampoo. Mit Granatapfel und Jasmin.«

»Lecker«, sagte er. »Das hätte ich gerne als Marmelade.«

Ich lachte. »Du Spinner«, sagte ich zärtlich und beugte mich vor, um ihn zu küssen. Doch ein Geräusch aus der Eingangshalle ließ mich aufschrecken. Shit! Meine Eltern durften uns auf keinen Fall erwischen! Ich sprang von seinem Schoß auf und strich schnell meinen Pullover glatt. Enzo räusperte sich und starrte auf die Tür. Aber niemand kam herein. Wir atmeten beide auf.

»Hast du vor, heute noch auszugehen?«, fragte Enzo plötzlich wieder sachlich und schüttete sich Zucker in den Kaffee.

»Mal sehen. Aber auf jeden Fall würde ich gerne später ein bisschen Kampftraining machen. Würde dir das passen?«

»Ja, natürlich«, sagte Enzo und nahm einen Schluck. Über den Rand der Kaffeetasse zwinkerte er mir zu. »Sehr sogar. Ich habe da schon ein paar spezielle Nahkampfübungen vorbereitet.«

»Dann mach dich auf was gefasst«, sagte ich gespielt kämpferisch. »Ich habe nämlich eine umwerfende Wirkung.«

»Die hast du.« Er lachte, schmierte sich Marmelade auf ein Brötchen und biss hinein.

»Natascha, Frühstück«, hörte ich meine Mutter rufen.

Ich seufzte. Dann beugte ich mich vor und drückte ihm schnell noch einen Kuss auf den Mund. »Bis später dann«, hauchte ich und drehte mich entschlossen ab.

»Natascha …«, rief Enzo hinter mir her.

»Nee, jetzt nicht mehr«, sagte ich. »Sonst komme ich hier nie weg.«

»Du hast Marmelade an der Lippe.«

Oh. Das wäre in der Tat ziemlich verräterisch gewesen.

»Du bist ja so still, Natascha«, sagte mein Vater, als wir wenig später um unseren Tisch im Wintergarten saßen.

»Ach, ich bin vielleicht nur was müde.« In Gedanken war ich noch immer bei Enzo im Aufenthaltsraum und träumte vor mich hin. Aber das konnte ich meinen Eltern ja nicht erzählen.

Sie warfen sich einen Blick über den Tisch zu.

»Ruh dich gut aus«, sagte meine Mutter. »Und wenn dir danach ist, können wir Karla anrufen. Vielleicht möchtest du nach diesem traumatischen Erlebnis mal mit ihr sprechen?«

»Traumatisches Erlebnis?«, fragte ich verwirrt. Meine Eltern hielten inne und beobachteten mich aufmerksam. Ich war so mit Enzo, Basti und auch mit Justus beschäftigt gewesen, dass ich schon fast vergessen hatte, dass ich vorgestern fast einem tödlichen Verbrechen zum Opfer gefallen wäre.

»Ach, eigentlich fühle ich mich ganz okay. Aber wenn ich das Bedürfnis habe, mit einer Psychologin zu sprechen, dann sage ich Bescheid«, schob ich schnell hinterher.

»Du kannst natürlich auch mit deiner Mutter und mir über alles sprechen«, bot mein Vater an. »Das weißt du, Püppchen, oder?«

»Natürlich, Paps.« Ich biss in mein Croissant. »Danke.«

»Ich möchte zu gerne wissen, was Bastian macht«, sagte meine Mutter, als sie mit einer neuen Ladung frisch gepresstem Orangensaft ins Zimmer kam.

»Ich auch«, warf ich ein.

»Was wird er schon machen? Amüsieren auf Familienkosten«, brummte mein Vater.

»Vermutlich«, sagte meine Mutter. »Aber dass er sich immer noch nicht gemeldet hat, ist schon merkwürdig. Vielleicht sollten wir einen Detektiv einschalten, nur um rauszufinden, wo er steckt.«

Mein Vater blickte von der Zeitung auf.

»Ach Quatsch!«, sagte ich schnell. Wer weiß, was der entdecken würde! Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass Bastian was Schlimmes angestellt hatte. Was echt Blödes. Und dem würde ich lieber erst mal selber nachgehen. Vielleicht könnte ich ihm ja aus der Patsche helfen, ohne dass alle Welt davon erfuhr und meine Eltern noch saurer auf ihn waren. »Das ist doch übertrieben oder findest du nicht, Paps?«

»Ich würde ihn lieber heute als morgen wieder hier haben«, sagte mein Vater ausweichend. »Damit er wenigstens einen Funken Verantwortungsgefühl beigebracht bekommt.«

»Ich frage meine Schwester mal«, sagte meine Mutter. »Die kennt einen zuverlässigen Detektiv, der ihr ab und zu in der Kanzlei hilft.«

Mist. »Also gut«, bekannte ich. »Er hat sich bei mir gemeldet.«

»Was?«, rief meine Mutter schrill. »Und warum hast du nichts gesagt?«

»Das habe ich wohl in der ganzen Aufregung vergessen«, brummte ich.

»Und wann war das?«, fragte mein Vater.

»Gestern.«

»Wo ist er denn?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Aber er meinte, er wäre bald wieder da.« »Gut«, knurrte mein Vater.

Meine Mutter seufzte erleichtert. »Das wird aber auch Zeit. Denn wenn er nicht schnell wiederkommt, dann lasse ich ihn wirklich suchen. Er muss vor Weihnachten zu Hause sein! Das kannst du ihm ausrichten, wenn du mit ihm sprichst.«

»Mache ich.« Ich musste ihn vorher finden, so viel war klar.

Mein Vater legte die Zeitung endgültig weg. Ich sah die Nachricht unten auf dem Titelblatt: Mord an Mädchenschule – Die Hintergründe. Ich überlegte kurz, ob ich den Artikel lesen sollte, ließ es aber bleiben. Ich wusste genug darüber. Ich wollte das Ganze einfach nur noch vergessen. Mein Blick fiel auf die dicke Schlagzeile in der Mitte: Neuer Fleischskandal! Mit Antibiotika verseuchtes Fleisch schreckt Verbraucher auf.

»Was ist denn da los?«, fragte ich. Ich wusste, dass solche Nachrichten meinen Vater immer ärgerten, weil sie sich auf sein Geschäft auswirkten.

»Ach, die Konkurrenz sorgt mal wieder für Schlagzeilen«, schnaubte mein Vater. »Ist natürlich PR-technisch eine Katastrophe. Mein Krisenstab arbeitet schon an Pressemeldungen.« Er machte eine kurze Pause und fragte dann: »Ich wollte euch beide noch um einen Gefallen bitten. Würdet ihr mich am Mittwoch zu einer Benefiz-Veranstaltung begleiten?«

»Eine Benefiz-Veranstaltung? Wofür?«, fragte meine Mutter.

»Das Kinderkrankenhaus sammelt Spenden für ein neues Mutter-Kind-Zentrum. Abgesehen davon, dass es sowieso eine sinnvolle Sache ist, wirft es ein gutes Licht auf mich, wenn ich mich dort engagiere. Ich kann positive PR dringend gebrauchen.«

Das Kinderkrankenhaus! Das bedeutete, dass eine bestimmte Person involviert war. Auf die ich absolut keine Lust hatte.

»Du solltest auf Biofleisch umsteigen«, warf ich schnell ein, als ob mich das noch retten würde. »Dann können dir solche Skandale nichts mehr anhaben.«

»Ja, Natascha«, seufzte mein Vater. »Ich weiß. Aber das ist nicht so einfach, wie du denkst.«

»Ich komme natürlich mit, wenn das für dich wichtig ist«, sagte meine Mutter.

»Ich habe ehrlich gesagt nicht so viel Lust«, murrte ich. »Das ist doch eine total steife Veranstaltung.«

»Es wäre aber schön, wenn mich meine ganze Familie begleiten würde. Oder zumindest der Großteil«, bat mein Vater. Und setzte schelmisch hinzu: »Das macht mich noch sympathischer, als ich eh schon bin.«

»Ach, das wird sicher nett«, sagte meine Mutter fröhlich. »Und du siehst Silvy endlich mal wieder.«

»Ja, stimmt«, sagte ich gedehnt. Aber genau das war ja das Problem. Denn Silvys Mutter, Frau Doktor Karin Kern, war die Chefin des Kinderkrankenhauses. Und Silvy würde sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, sich bei einer solchen Feier wichtig zu machen. Ich aber würde mich im Moment lieber mit achtunddreißig Vogelspinnen in einen Glaskäfig sperren lassen, als Silvy zu begegnen. Ich wusste nämlich nicht, ob ich ihr nicht doch aus Versehen den Kopf abreißen würde.

»Seit ihr nicht mehr auf einer Schule seid, habt ihr euch ja ziemlich aus den Augen verloren«, plauderte meine Mutter.

»Stimmt«, wiederholte ich. Ich hatte ihnen nie erzählt, was ich über Silvy rausgefunden hatte, als ich von der Schule geflogen war. Dass sie jede Menge total fiese Lügen über mich in Umlauf gebracht hatte. Und dass es Silvy herself gewesen war, die hatte auffliegen lassen, dass ich mich in den Schulrechner eingeloggt und die Matheprüfungsaufgaben vom Server gezogen hatte. Um sie Silvy zu geben, die in Mathe auf der Kippe stand. Schön doof von mir. Und vielleicht war es ebenso doof, sie wegen ihrer Petzerei nicht anzuschwärzen. Aber so bin ich nun mal. Ich verpfeife keinen. Selbst Arschlöcher nicht. Und genau das wusste die liebe Silvy. Und vermutlich dachte sie auch, dass sie mit mir machen konnte, was sie wollte. Und dass ich kneifen würde, um ihr nicht zu begegnen. Ha! Da hatte sie aber falsch gedacht.

»Also gut«, sagte ich. »Ich komme mit.«

»Danke, Püppchen«, sagte mein Vater erleichtert und gab mir einen Kuss auf die Wange, bevor er mit dem Handy in der Hand in sein Arbeitszimmer eilte.

»Ist eine prima Gelegenheit, sich ein neues Kleid zu kaufen«, sagte ich und wie erwartet sprang meine Mutter sofort darauf an. »Ja, genau! Gute Idee!«, rief sie begeistert. »Hast du schon eins im Blick?«

Ich nickte. »Marc Jacobs. Schwarz-weiß, mit Blumen, ein bisschen Vintage. Guck mal.« Ich zeigte ihr ein Bild, das ich schon länger auf meinem iPhone gespeichert hatte.

»Genau dein Stil. Toll. Ich glaube, ich kaufe mir endlich eins von Victoria Beckham. Ich werde gleich mal Ines anrufen.« Das war eine Freundin von ihr, der eine Designer-Boutique gehörte. »Soll sie dir deins auch besorgen?«

»Ja, gerne.« Dann würde ich nur noch nach passenden Schuhen suchen müssen. Oder einer neuen Handtasche. Oder was mir sonst noch über den Weg lief. Wenn ich schon Silvy gegenübertreten musste, dann wollte ich wenigstens fabelhaft aussehen. Der Gedanke munterte mich gleich auf. Ein bisschen Shopping könnte ich gebrauchen. Das lenkte mich ab von Bastian. Und von der Aussprache mit Justus, die mir bevorstand. Denn gestern nach dem Chaos, das mein Bruder veranstaltet hatte, war ich nicht mehr in der Lage dazu gewesen, Justus gegenüberzutreten und alles zu beichten. Ich hatte nach der verwirrenden Begegnung mit meinem Bruder auf dem Absatz kehrtgemacht und Justus eine SMS geschickt, dass ich leider erst am nächsten Tag kommen könnte. Und dieser nächste Tag war heute. Nur machte es die Sache kein bisschen leichter. Und kaum hatte ich das gedacht, klingelte mein Handy. Er war es. Ich atmete tief ein, ging ran, und als ich »Hi Justus« sagte, versuchte ich, meiner Stimme einen normalen Klang zu geben. Ganz so, als ob ich ihm heute nicht das Herz brechen müsste.

2

Als ich am frühen Nachmittag um die Ecke zu Justus’ Haustür ging, spähte ich ins Gebüsch. Irgendwie hatte ich die Hoffnung, dass Bastian noch einmal hier auftauchen würde. Aber heute kam er nicht aus dem Gestrüpp gesprungen. Natürlich nicht.

Ich ging gerade noch einmal meine Gesprächseröffnung durch, da schwang auch schon die Tür auf und Justus stand vor mir. Mit seinen verstrubbelten dunkelblonden Haaren und dem lausbübischen Grinsen.

»Hi Nats«, sagte Justus und grinste. »Schön, dass du da bist.«

Ich musste schlucken. Wie viel schwerer alles ist, wenn man sich persönlich gegenübersteht! Meine ganzen tollen Überlegungen, wie ich ihm alles erklären würde, waren in null Komma nix verdampft. Ich fühlte mich nur noch hundeelend, total miserabel und schlichtweg einfach schrecklich.

»Huaaa, ist das kalt heute«, war alles, was mir auf seine nette Begrüßung einfiel, und das war schon eine beachtlich schwachsinnige Bemerkung. Doch Justus ließ sich nichts anmerken, nahm mich in den Arm und ich atmete seinen vertrauten Duft nach frisch gemähtem Gras ein. »Keine Sorge, hier drinnen wird dir schnell wieder warm«, sagte er sanft. »Hab extra die Heizung aufgedreht.«

Ach du je. Mein Herz wurde schwer wie ein nasser Sack. Er war so lieb! Das machte alles noch schwieriger. Beklommen und nervös stieg ich hinter ihm die Treppe hoch und hoffte auf ein Wunder. Irgendwas, das verhindern würde, dass ich es ihm gestehen müsste. Irgendwas, das verhindern würde, dass ich ihn verletzen würde. Ich schloss die Zimmertür hinter mir und lehnte mich kurz daran, um mich zu sammeln. Da drehte sich Justus um und hatte ein Paket in der Hand. »Hier, für dich.« Er hielt mir den Karton hin. Er war oben offen. Ich sah rote Stoffpäckchen und eine Schnur.

»Was ist das?«, fragte ich und zog an der Schnur. Es waren vierundzwanzig Stoffherzen, die Justus mit kleinen Geschenken gefüllt hatte.

»Ein Adventskalender. Hab ich selbst gemacht. Also, na ja. Selbst gefüllt.«

»Oh, Justus«, stammelte ich. »Das ist aber …« Ich wusste nicht weiter.

Er grinste verschmitzt. »Gern geschehen.«

»Aber ich habe gar nichts für dich«, krächzte ich verlegen. Außer einer Riesenenttäuschung.

»Ist doch egal«, sagte Justus. Ich fühlte mich noch mieser, wenn das überhaupt möglich war, und hatte Angst, dass ich anfangen würde zu heulen. Deswegen stellte ich den Karton auf den Boden und beugte mich darüber, als ob ich mir alles ganz intensiv anschauen würde.

Justus setzte sich auf seinen Drehstuhl vor dem Computer. Ich versuchte, meine Fassung wiederzugewinnen, und ließ die seidene Schnur mit den vierundzwanzig Säckchen immer wieder durch meine Finger gleiten. Justus’ Adventskalender machte mich echt noch fertiger. Und trauriger. Die Atmosphäre war total verkrampft. Das schien auch Justus zu bemerken, denn er fing an, mit seiner Maus rumzuklicken. »Guck mal«, rief er betont lässig. »Elvis lebt!«

Endlich hatte ich die drohende Heulattacke überwunden und konnte wieder aufschauen. Nur der fette Kloß in meinem Hals rückte kein Stückchen zur Seite. Auf dem Computermonitor hatte er eines seiner beknackten Infrarotbilder geöffnet, die er wie ein Besessener machte, seit sein Vater so eine Kamera gekauft hatte, um einen nächtlichen Gartenräuber zu überführen. Diesmal war es ein Bild von einer ausgestreckten Hand oder Pfote und dahinter – unscharf – einem Gesicht mit zwei reflektierenden Augen, einem seltsamen Backenbart und einer Tolle. »Was ist das?«, fragte ich.

»Das ist Elvis.«

Die Ähnlichkeit mit dem Sänger war nur mit einer Menge Fantasie zu erkennen. »Ist das ein Waschbär?«

Justus nickte. »Er ist es, der nachts immer den Komposthaufen und neuerdings auch die Mülltonnen durchwühlt. Total gierig und unersättlich. Deswegen und wegen seiner lustigen Koteletten haben wir ihn Elvis getauft. Und schau mal hier.« Er klickte weiter auf der Suche nach einem anderen Bild.

»Justus«, unterbrach ich ihn mit belegter Stimme. »Ich muss mit dir reden.« Ich räusperte mich. Er sah mich an. Aufmerksam. Liebevoll. Ich atmete tief ein. Suchte nach Worten. Nach einer Formulierung, die das, was ich zu sagen hatte, abmilderte. Doch ohne dass ich überhaupt etwas gesagt hatte, bekam sein Gesicht einen enttäuschten Ausdruck. Er wusste es, bevor ich es ausgesprochen hatte. So gut kannte er mich. Verdammter Mist. Trotzdem. Ich musste jetzt all meinen Mut zusammennehmen und es hinter mich bringen. »Justus. Du bist mein bester Freund. Seit Ewigkeiten. Und ich liebe dich.« Ich schluckte. »Aber ich bin nicht in dich verliebt.«

Er starrte mich noch einen Moment fassungslos an, schaute dann zu Boden und sagte mit rauer Stimme: »Verstehe.«

»Ich wollte, es wäre anders«, schob ich aufgewühlt hinterher. »Wenn ich darauf irgendeinen Einfluss hätte, dann wäre ich es, wirklich. Aber ich bin es nicht. Es tut mir leid.«

»Und warum hast du mich dann geküsst?«, fragte er leise.

»Weil ich es wirklich wollte«, beteuerte ich. »Ich wollte, dass wir beide … du und ich …«

Seine Schultern sackten nach unten. Seine Kiefer mahlten.

»Es tut mir so leid, Justus«, flüsterte ich. Ich musste die Tränen, die sich gerade sammelten, wegblinzeln.

Er drehte sich weg. Schaute aus dem Fenster. Dann fragte er: »Ist es Enzo?«

Der Kloß in meinem Hals war so groß wie ein BigMac. Justus drehte sich zu mir um, sah mir in die Augen und fragte erneut: »Ist es Enzo? Bist du in ihn verliebt?«

»Justus …«, fing ich an, wusste aber nicht weiter. Oh nein, das hatte ich ihm heute nicht auch noch sagen wollen.

Justus schüttelte den Kopf. »Ich hab’s gewusst«, sagte er bitter.

»Ich hab das nicht gewollt«, beteuerte ich noch einmal.

Er seufzte. »Ich weiß, Nats.«

»Es tut mir leid«, wiederholte ich.

»Mir auch, Natascha. Mir auch.«

Ich stand unschlüssig herum.

»Geh jetzt, Natascha«, sagte er.

»Wollen wir ... wollen wir nicht darüber reden?« So wie Justus mich ansah, hatte ich plötzlich Angst, dass er nach heute nie wieder mit mir sprechen würde.

»Nein. Bitte geh einfach.«

»Okay«, sagte ich verzweifelt und musste schlucken. »Ich rufe dich an, ja?«

»Ist gut.«

Ich wandte mich zur Tür.

»Und Nats?«

Ich drehte mich noch mal zu ihm um. Da stand er. In ausgeblichenen Jeans und dem schwarzen Sons-of-Anarchy-Hoodie, das ich ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, die Hände in den Taschen vergraben. Das vertraute Lächeln war verschwunden. Ich hatte ihn noch nie so traurig gesehen. Er nahm den Karton mit dem Kalender, drückte ihn mir in die Hand und sagte: »Ich wünsch dir viel Glück.«

Ich konnte es kaum glauben. Anstatt wütend zu sein und mich zu beschimpfen oder Enzo zu verfluchen, blieb er auch jetzt noch nett und sagte einfach genau das Richtige. Zu gerne hätte ich ihn umarmt, aber das Recht dazu hatte ich gerade verwirkt.

»Ich dir auch«, brachte ich hervor, dann ging ich hinaus und schloss die Tür. Auf dem Weg die Treppe runter wischte ich mir mit dem Ärmel die Tränen von der Wange, denn seine Mutter kam gerade aus der Küche. Ich wollte nicht, dass sie mir was anmerkte. Ich flitzte zur Tür, winkte nur und rief: »Tschüss, Nicole.«

»Schon wieder weg?«, fragte sie erstaunt. »Das ging aber schnell!«

»Muss noch was erledigen«, sagte ich und ließ hinter mir die Tür ins Schloss fallen und die Kälte, die mich plötzlich umfing, machte mir auf einmal gar nichts aus. Ich ließ den Tränen freien Lauf. Hinter den geschlossenen Lidern sah ich Justus und mich mit neun Jahren, wie wir in unserem Baumhaus eine Bande gegründet und uns ewige Treue geschworen hatten. Justus und Natascha hatten wir mit krakeliger Schrift auf die selbst gemalte Urkunde geschrieben – mit roter Tinte, weil wir uns zwar mit einer Nadel in den Finger gepikst hatten, aber der Tropfen Blut nicht ausgereicht hatte. Den Blutstropfen hatten wir einfach noch unter unsere Unterschrift gedrückt, wie ein Siegel. Kurz darauf hatten wir uns an dem Seil nach unten auf den Rasen geschwungen und waren auf dem Feldweg Richtung Aaler See gerannt, um feindliche Banden ausfindig zu machen, die wir überfallen konnten. Und jetzt weinte ich, weil eine Zeit in meinem Leben vorbei war, die nie wieder kommen würde. Und weil ich auch Justus vielleicht für immer verloren hatte. Ich atmete tief ein und aus. Wischte die Tränen ab und ging langsam zurück zur Straße. Stumm stieg ich ins Auto ein. Enzo sah mich einen Augenblick von der Seite an, ich stellte den Karton auf den Boden zwischen meine Füße. Ich wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen, dann hätte ich sofort wieder angefangen zu heulen. Er drückte stumm meine Hand, dann fuhr er los. Ich starrte aus dem Fenster.

»Und wie war’s?«, fragte Enzo sanft. Ich seufzte. Und normalerweise bin ich nicht gerade der Typ, der mit irgendwas hinter dem Berg hält. Aber aus irgendeinem Grund wäre es mir wie Verrat vorgekommen, wenn ich Enzo erzählt hätte, wie verletzt Justus war. Auch wenn ich nicht ihm gehörte, gehörte diese letzte Begegnung Justus ganz allein. Sie sollte unter uns bleiben. Wenigstens das war ich ihm und unserer Freundschaft schuldig.

»Es war schlimm«, sagte ich deswegen knapp. »Aber jetzt ist es vorbei.« Und wie ich das sagte, merkte ich, dass es zwar unendlich traurig war und ich echt noch eine ganze Weile brauchen würde, um darüber hinwegzukommen, dass ich aber auch erleichtert war. Ich hatte es hinter mich gebracht. Ich brauchte meinen besten Freund nicht mehr anlügen. Und vielleicht würden wir doch damit klarkommen. Ich hoffte es sehr. Und bis dahin würde ich mich jetzt erst mal ablenken.

Genug zu tun hatte ich ja. Und ganz oben stand: Bastian finden.

3

Ich muss herausfinden, mit wem er weggefahren ist, wer seine Freundin ist«, sagte ich zu Enzo, als wir wieder in die Garage fuhren. »Vielleicht weiß deren Familie, wo die hin sind. Oder ihre Freunde.«

»Wo willst du sie suchen?«, fragte Enzo.

»An der Uni natürlich. Es ist am wahrscheinlichsten, dass er sie dort kennengelernt hat.« Doch Tatsache war, dass ich überhaupt nicht wusste, wie regelmäßig er überhaupt dahin gegangen war. Aber es war mein einziger Anhaltspunkt.

»Ich werde in Bastis Zimmer nach seinem Stundenplan suchen, damit ich weiß, wann er welche Seminare hat. Hilfst du mir?«

»Ich weiß nicht, Natascha, ob ich im Zimmer deines Bruders rumschnüffeln sollte.«

»Komm, da herrscht so ein Chaos, das merkt kein Mensch, wenn wir uns ein bisschen umgucken.«

Er zögerte immer noch.

»Es dauert sonst eine Ewigkeit, alles durchzusuchen. Und du warst Polizist. Du weißt, wie man so was macht. Und danach haben wir auch mehr Zeit für unser Kampftraining.« Ich zwinkerte ihm zu.

Er seufzte, grinste aber. »Also gut, überredet.«

Bastis war das Eckzimmer am Ende des Flurs. An der Tür hing ein Betreten-verboten-Schild und ein Filmplakat von World Invasion. »Mein Bruder hat eine seltsame Vorliebe für düstere Science-Fiction-Filme«, erklärte ich Enzo. Ich betrat Bastis Zimmer. Enzo zögerte in der Tür, aber ich winkte ihn rein. Mein Bruder war noch nie besonders ordentlich gewesen, aber jetzt sah sein Zimmer so aus, als wäre ein Tornado hindurchgefegt. Überall lagen Klamotten und Bücher und anderes Zeug. Um den Mülleimer herum häuften sich zerknüllte Papiere, die Bastian offensichtlich vergeblich versucht hatte, durch einen kleinen Basketballkorb zu werfen. Es wirkte geradezu erschreckend unordentlich. Das lag vielleicht aber auch nur daran, dass Bastian fehlte, um dem Chaos Leben einzuhauchen. »Du kannst mit dem Schreibtisch anfangen«, sagte ich.

»Äh, wo ist der?«, fragte Enzo.

Ich musste lachen. »Stimmt. Den sieht man kaum. Da drüben.« Ich räumte einen Neoprenanzug und zwei Taucherflossen beiseite, darunter kam der Schreibtisch zum Vorschein, der von Zetteln und Collegeblöcken übersät war. Sein Notebook lag unter einer Surfzeitschrift.

»Mach du das lieber«, sagte Enzo. »Ich schaue im Bücherregal.«

Ich stöberte durch Bastis Schreibtisch. »Hier ist ein Vorlesungsverzeichnis«, rief ich triumphierend und blätterte durch das Buch. »Da hat er auch was angestrichen.« Ein Zettel fiel heraus. Ich faltete ihn auseinander.

»Hey, das ist er! Hier ist sein Stundenplan!« Ich legte ihn auf den Schreibtisch und versuchte, Bastis Handschrift zu entziffern. Enzo kam zu mir. Er beugte sich über meine Schulter und berührte mich dabei ganz leicht. Ich sog seinen Geruch ein. Es kribbelte. Ich verringerte den Abstand zwischen uns. Nur einen Millimeter. »Schau mal da«, sagte Enzo und zeigte auf das Papier. »Dienstags hat er die meisten Vorlesungen.«

Ich nahm kaum wahr, worauf er da gezeigt hatte, so sehr war ich auf seine Nähe konzentriert. Plötzlich ging die Tür auf.

»Was macht ihr denn hier?«, fragte meine Mutter verdutzt. Enzo richtete sich sofort auf und ging einen Schritt von mir weg.

»Ich hatte Enzo gebeten, mir bei der Suche nach Bastians Stundenplan zu helfen«, sagte ich. »Wenn er noch mal anruft, kann ich ihm vielleicht sagen, was er alles verpasst. Vielleicht beeindruckt ihn das.«

»Oh okay. Gute Idee.« Meine Mutter sah von Enzo zu mir. Einen Moment lang standen wir wie die Ölgötzen herum.

»Ich gehe dann mal. Bis später.« Enzo eilte davon. Meine Mutter schaute ihm irritiert hinterher. Ahnte sie was?

»Und was willst du hier?«, lenkte ich sie ab.

»Ich hatte mir überlegt, dass ich die Gelegenheit nutze, mal aufzuräumen.« Sie hielt die Müllsäcke und einen Eimer mit Putzlappen hoch. »Bastian lässt mich ja sonst nie in sein Zimmer.«

»Vielleicht findest du ja was über sein Reiseziel«, sagte ich und dann zischte ich ebenfalls ab, mit dem Stundenplan in der Hand. Ich ging in mein Zimmer. Wartete eine Weile. Surfte ein bisschen durchs Internet und schaute mir die neue Kollektion von Burberry an. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die mir meine Uhr als eine Dreiviertelstunde verkaufen wollte, erklärte ich die Anstandsfrist für beendet und rief Enzo auf dem Handy an und fragte, ob er bereit sei für unser Training. Das war er. Ich zog mir eine schwarze enge Sporthose an und ein langärmeliges Shirt von Nike in Meerblau, band mir die Haare zu einem Pferdeschwanz und widerstand der Versuchung, Lipgloss aufzutragen. Nur weil ich verliebt war, würde ich nicht gleich zur Supertussi mutieren. Außerdem würde nach ein paar Minuten davon eh nichts mehr zu sehen sein. Denn ich hatte nicht vor, nur zu trainieren.

Laute Musik schallte mir schon entgegen, als ich die Tür zum Fitnessraum öffnete. Ich schoss Enzo entgegen, der gerade mit der Anlage hantierte, und warf mich in seine Arme. »Ich hab dich so vermisst«, sagte ich, nachdem ich ihn ausgiebig geküsst hatte.

»Hey«, sagte er sanft. »Verausgab dich noch nicht total, wir haben einiges vor. Also, stell dich da mal an die Wand. Ich zeige dir, wie man sich aus dem Würgegriff von vorne befreit.« Ich folgte seiner Anweisung. Sah ihm in die Augen. Lächelte. Er lächelte kein bisschen, sondern packte mich am Hals, als ob er mich würgen wollte. »Dies ist eine sehr gefährliche Situation«, dozierte er.

»Finde ich auch«, sagte ich und versuchte, an seine Hüfte zu kommen, um ihn an mich heranzuziehen. Da er aber natürlich viel stärker war als ich, ließ er sich davon nicht beeindrucken, sondern redete weiter. »Besonders wenn du an eine Wand gedrückt wirst wie jetzt, hast du keine Fluchtmöglichkeit … hey!«

Ich hatte ihm mit dem Finger in die Seite gepikst.

»Was ist? Bist du kitzelig?« Ich pikste ihn erneut. Er wich aus und ließ meinen Hals los.

»Also bist du kitzelig!«, stellte ich fest und zwickte ihn wieder. Er nahm mich und warf mich mit einem Griff auf die Matte hinter uns. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ich packte seinen Hinterkopf und zog ihn sanft zu mir herunter und küsste ihn. Und er küsste zurück, doch dann machte er sich seufzend los und setzte sich auf. Ich holte schnell mein Handy, das an der Seite der Matte lag, und machte ein paar Schnappschüsse von ihm.

»Lass das«, sagte er, die Stirn gerunzelt.

»Was ist los? Bist du kamerascheu?«

Sein Gesicht war seltsam ernst. Und dann sagte er: »Natascha, so leid es mir tut, aber wir müssen damit aufhören.«

»Womit müssen wir aufhören?«, fragte ich alarmiert.

»Na, damit.« Er zeigte zwischen ihm und mir hin und her.

»Warum das denn?« Ich war total entgeistert.

»Ich verstoße gegen sämtliche Regeln meines Jobs, verstehst du«, sagte er zerknirscht. »Wenn das rauskommt ...«

»Aber wie sollte es rauskommen?«, warf ich empört ein. »Wir verraten es doch keinem.«

»Aber deine Mutter heute in Bastians Zimmer«, fing er an. »Und wenn hier einer plötzlich reinkommt und uns sieht …« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das geht nicht. Ein guter Ruf ist entscheidend in meinem Beruf. Und du bist erst siebzehn …«

»Aber doch nicht mehr lange! Nur noch läppische vier Monate, dann werde ich achtzehn!«

Er schüttelte den Kopf, dann sah er mich mit seinen flaschengrünen Augen an und sagte entschlossen: »Natascha, ich werde kündigen müssen.«

»Nein, tu das nicht!«, rief ich erschrocken. »Wo doch gerade alles so super ist!«

»Aber ich kann nicht mit dir zusammen sein und im Auftrag deines Vaters auf dich aufpassen. Das geht einfach nicht.«

»Aber wenn du nicht mehr hier arbeitest, wer weiß, wo und wie und wann du dann hinmusst. Dann können wir uns vielleicht gar nicht mehr treffen«, jammerte ich.

»Ja, ich weiß. Aber …«

»Nein, Enzo, tu das bitte nicht. Ich überlege mir was, okay?« Ich dachte fieberhaft nach. »Ich überlege, wie ich es meinen Eltern sage, sodass sie einverstanden sind.«

Er betrachtete mich nachdenklich, strich mir sanft über die Wange und seufzte: »In Ordnung. Aber überleg schnell!«

Ich atmete erleichtert auf und fiel ihm um den Hals. »Danke!«

Er nahm meine Arme und machte mich los. »Aber bis wir es deinen Eltern gesagt haben, hören wir auf damit. Mit dem Küssen und den Berührungen und alldem.« Er stand auf und ging zwei Schritte zurück. Er sah streng und entschlossen aus und ich sah ein, dass ich ihn nicht umstimmen konnte. »Ist in Ordnung«, sagte ich. »Aber Kampftraining können wir machen, oder?«

»Kampftraining können wir machen«, bestätigte er und lächelte. »Also los. Die Übung war noch nicht zu Ende.« Er zeigte mir, wie ich meine Arme von unten zwischen die Arme des Angreifers führen und mit den Daumen in seine Augenhöhlen drücken sollte, um mich aus dem Würgegriff zu befreien. Das übten wir so lange, bis ich den Bewegungsablauf flüssig hinbekam. Dieses Training war wirklich unglaublich. Interessant. Und spannend. Ich wusste, ich durfte ihn nicht mehr küssen. Und nicht mehr über den Arm streicheln. Oder ihn sonst wie unangemessen berühren. Und er mich auch nicht. Aber wir wollten es. Wir wollten es beide! Energie schoss zwischen uns hin und her und lud die Atmosphäre auf. Es knisterte und funkte um uns herum. Noch nie fand ich ihn so unwiderstehlich wie in diesem Moment. Er simulierte einen Angriff von der Seite, ich führte langsam die Abwehrbewegungen aus, bis ich es irgendwann nicht mehr aushielt und ihm um den Hals fiel und ihn so leidenschaftlich küsste, als hätte ich ihn ein Jahr nicht gesehen. Ich war ja noch nie besonders vernünftig gewesen, aber jetzt, wo ich das allererste Mal so richtig verknallt war, war ich regelrecht unzurechnungsfähig. Und das gefiel mir. Außerordentlich. Enzo zögerte zunächst, zog mich dann aber enger an sich und erwiderte meinen Kuss. Meine Knie wurden weich und in meinem Kopf ging ein silvesterwürdiger Funkenregen herunter. So gerne hätte ich genau in diesem Moment die Zeit angehalten. Ich wollte einfach nur für immer mit ihm knutschen.

»Unmöglich, dieses Mädchen«, sagte Enzo etwas heiser, als wir uns dann doch voneinander lösten. »Wo soll das nur hinführen? Wir werden noch einen Riesenärger bekommen.«

»Ich lass mir was einfallen, Enzo, okay?«, flüsterte ich atemlos und küsste ihn erneut.

4

Was ist denn hier los?«, fragte ich erstaunt, als wir am Montagmorgen auf das Schultor zurollten. Fernsehübertragungswagen blockierten fast die Straße, alle Parkplätze auf dem Seitenstreifen waren belegt, vor dem Eingangstor drückte sich eine Traube Journalisten und Kamerateams herum. »War ja nicht anders zu erwarten«, sagte Enzo. »Nach dem Zeitungsbericht gestern.«

Ich schluckte. Daran hatte ich ja gar nicht gedacht! Dass meine Schule jetzt im Mittelpunkt des Medieninteresses stehen würde. Hausmeister Schmitz stand am Tor und winkte die Autos, in denen die Schülerinnen gebracht wurden, ungeduldig auf den Schulhof. Im Vorbeifahren schaute ich mir die Journalisten an, ihre verfrorenen Gesichter, die behandschuhten Finger mit den Mikrofonen, die sie in unsere Richtung hielten und dabei Fragen auf den Schulhof riefen, in der Hoffnung, einen O-Ton zu bekommen. Als wir vorbeirollten, starrten sie neugierig in unseren Wagen. Mir wurde mulmig. »Hast du den Zeitungsartikel gelesen?«

»Ja«, antwortete er ungewöhnlich einsilbig.

»Enzo«, bohrte ich nach. »Was hat drin gestanden? Wurde ich erwähnt?«

»Nein, nicht namentlich«, sagte er. »Da stand, dass eine Klassenkameradin des Opfers bei der Aufklärung geholfen hat, aber dieser Kommissar Söderberg hat klargestellt, dass es mehr ein Zufall gewesen war.«

Ich atmete erleichtert auf. »Zum Glück ist er so ein ehrgeiziger Blödmann«, sagte ich. »Er darf ruhig alle Lorbeeren einheimsen, solange mich die Presse in Ruhe lässt. Was haben sie sonst noch geschrieben?«

»Nicht viel mehr. Dass Täter und Opfer hier auf die Schule gegangen sind und dass es um Eifersucht gegangen sei.«

»Kein Wunder, dass sich die Medien wie die Geier darauf stürzen«, murmelte ich, »wenn sich die Reichen und Schönen vom katholischen Privatgymnasium gegenseitig umbringen.«

Vor der weißen Eingangstür stand unsere Schulleiterin Meinhilde von Cappeln und winkte die Schülerinnen hindurch, von denen sich manche noch schnell durch die Haare strichen und den Lippenstift nachzogen, als ob sie nur darauf warteten, sich ins Rampenlicht zu begeben. Ich verabschiedete mich von Enzo und stieg aus. Ohne mich zu den Kameras umzudrehen, ging ich die breite Steintreppe hoch.

»Natascha«, rief Frau von Cappeln, als ich das Ende der Treppe erreicht hatte. »Auf Sie habe ich gewartet!« Sie zog mich ins Innere der Schule und führte mich schnell in ihr Büro.

»Ich hoffe, Sie haben nicht mit diesen Presseleuten gesprochen«, sagte sie, als sie die Tür hinter mir geschlossen hatte.

»Nee, Frau von Cappeln. Habe ich nicht.«

»Natascha, ich weiß, wir hatten nicht den besten Start, aber ich hoffe, Sie verstehen, wie wichtig es für die anderen Schülerinnen ist, dass keine Informationen an die Öffentlichkeit gelangen.«

»Sie meinen, es ist besonders für Sie und Ihren Sohn wichtig«, korrigierte ich.

»Ja, das auch.« Sie fingerte nervös an ihrem Dutt herum, den sie aus ihren rot gefärbten Haaren geknotet hatte. Sie lief hektisch auf und ab und schaute immer wieder aus dem Fenster auf die Journalisten, die vor dem Tor hingen. »Mein Sohn wird übrigens nicht mehr an die Schule zurückkehren.«

»Gut«, sagte ich. Sie schaute mich nervös an und der Blick aus ihren grauen Augen hatte etwas Flehendes. Und auch wenn ich sie nicht mochte, hatte ich nicht vor, ihr irgendetwas heimzuzahlen. »Ich habe absolut kein Interesse, in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit zu rücken, und werde so oder so nicht mit der Presse reden«, beruhigte ich sie.

»Und was ist mit Ihren Freundinnen?«, fragte Frau von Cappeln.

Welchen Freundinnen? Von diesen Zicken hier ist keine meine Freundin, wäre mir beinahe herausgerutscht. Aber stattdessen sagte ich: »Ich rede mit niemandem über das, was geschehen ist. Darauf können Sie sich verlassen.«

Sie atmete auf. »Danke, Natascha. Das weiß ich sehr zu schätzen.« Und nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Sie sind doch vernünftiger, als ich gedacht hatte.«

»Hab ich doch gleich gesagt«, sagte ich zufrieden. Sie versuchte sich an einem Lächeln.

Bevor der Unterricht anfing, berief unsere Direktorin eine Versammlung in der Aula ein, in der sie allen anderen Schülerinnen ebenso ans Herz legte, jedes Interview zu verweigern und mit niemandem von der Presse über die Schule zu sprechen. »Auch die harmloseste Aussage kann verdreht und aufgebauscht werden, und das fällt nachher auf uns alle zurück. Dabei wollen wir nach dieser Aufregung hier doch nur eines: In Ruhe lernen!«, rief sie und erntete überwiegend zustimmendes Murmeln. Aber natürlich gab es auch die Fraktion der bockigen Meckerziegen, besonders unter meinen lieben Klassenkameradinnen.

»Die wird uns doch wohl nicht vorschreiben, mit wem wir sprechen dürfen«, zischte Kim und fuchtelte mit ihren furchterregenden smartiesbunten Fingernägeln herum.

»Also echt«, gab ihr Jennifer recht. »Was bildet die sich eigentlich ein?« Sie hielt ihre schwarze Ledertasche kampfbereit vor ihre vanillepuddinggelbe Bluse.

»Ich rede, mit wem ich will«, verkündete Kim. »Und du, Coco?«

»Klar, ich auch«, stimmte die zu, wenn auch nicht ganz so energisch.

»Aber mit der Presse reden bringt doch nichts als Ärger«, mischte sich Alina, unsere vernünftige und allzeit politisch korrekte Stufensprecherin, ein. Aber niemand reagierte darauf.

»Ich wette, als Erstes sehen wir Evelyn im Fernsehen«, ätzte Kim, als unsere Mitschülerin Evelyn in ihrem Dita-von-Teese-Kleid und der piekfein frisierten Haarwelle vorbeilief. »Die wartet doch nur darauf, dass sie berühmt wird. So wie die sich in Musik beim Singen immer aufspielt!«

»Ja, genau«, fiel Coco in die Lästerei mit ein. »Und dann ist sie allein der Star der Schule.«

»Dabei hat die doch keinen blassen Schimmer«, sagte Irina.

»Sie kannte Milena überhaupt nicht!«, empörte sich Jennifer.

»Ich kannte sie ja am besten«, gab Kim bekannt. »Wenn einer das Interview geben kann, dann ich.«

Jennifer starrte Kim an, als hätte sie gerade behauptet, Robert Pattinson wäre ihr Geliebter. »Was redest du da?«, sagte sie giftig. »Ich müsste das Interview geben, denn ich war ihre beste Freundin.«

»Warst du nicht«, widersprach Kim ungerührt.

»Doch, natürlich! Coco, was meinst du dazu?«

Coco zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, wir wären alle ihre besten Freundinnen gewesen.«

»Nee, waren wir nicht. Ich habe auf ihrer Facebookseite zum Beispiel die allermeisten Kommentare geschrieben. Ist doch wohl völlig klar, dass ich ihre beste Freundin bin«, beharrte Jennifer.

»Ach ja? Und habt ihr euch auch SMS geschrieben?«, zeterte Kim. »Wir haben uns nach der Schule ständig gesimst!«

»Mich hat sie immer zuerst angerufen, wenn was war«, stellte Jennifer zufrieden fest.

»Ist mir doch egal«, erwiderte Kim. »Ich war ihre beste Freundin. Und ich habe in der Klasse neben ihr gesessen.«

»Ich doch auch, du …« Das Schimpfwort, das sich Jennifer gerade noch mal verkniffen hatte, hing stumm in der Luft. Ich für meinen Teil hätte einiges drauf gewettet, dass sie Schlampe hatte sagen wollen. Sie hatte es zwar nicht ausgesprochen. Aber irgendwie doch gesagt.

Bevor Jennifer erneut etwas erwidern konnte, griff ich ein. »Ey Mädels. Ich weiß nicht, ob das wirklich etwas ist, womit man angeben sollte«, warf ich ein. »Ich an eurer Stelle würde mir gut überlegen, ob ich mit so einer Story an die Öffentlichkeit gehe. Denn schließlich hat keine von euch was gemerkt.«

Kim und Jennifer warfen sich einen hasserfüllten Blick zu, aber immerhin verstummte diese idiotische Diskussion. Doch die Atmosphäre war auch nach dem Englischunterricht noch angespannt.

Die große Pause verbrachten wir auf Anordnung der Schulleitung im Klassenzimmer, weil die Journalisten das Feld immer noch nicht geräumt hatten. Die Ereignisse der vergangenen Woche waren weiter das Gesprächsthema und einige wollten von mir wissen, was am Freitagnachmittag denn geschehen sei, aber ich hielt meinen Mund. Nora saß verkniffen auf ihrem Platz und tat so, als ob sie in ihren Büchern lese. Sie hatte verständlicherweise auch kein Interesse, ihre Version der Geschichte zum Besten zu geben. Das hätte wohl auch noch jeden Rest an Sympathie bei ihren Mitschülerinnen weggesprengt. Zum Glück kamen aber irgendwann andere Gesprächsthemen auf. In der Umkleidekabine der Sporthalle erzählte Irina, dass sie am Wochenende mit ihren Eltern auf einer Feier der russischen Botschaft gewesen sei, und Kim wurde gleich neugierig, weil sie meinte, das wäre doch der richtige Ort, um sich einen reichen Mann zu angeln.

»So einen Abramowitsch. Das wäre cool! Der würde einem das Leben vergolden«, schwärmte sie. Jennifer verdrehte die Augen und raunte Coco eine Bemerkung zu. »Kannst du mich nicht mal auf so eine Feier mitnehmen, Irina?«, fragte Kim.

»Da waren gar keine reichen Männer«, sagte Irina. »Okay, vielleicht ein oder zwei. Aber die waren in Begleitung ihrer Frauen da.«

»Ihrer zukünftigen Exfrauen, meinst du wohl.« Kim kicherte. »Wenn die Männer so was haben können«, sie zeigte stolz an sich hoch und runter, »dann vergessen sie die anderen Tussen ganz schnell.«

»Niemals«, murmelte Jennifer giftig. »Welcher Milliardär würde dich nehmen, wenn er jede Menge Supermodels haben kann?«

»Das ist eine Frage des Stils, Jennifer«, gab Kim spitz zurück und schüttelte ihr blondes Haar mit den schwarzen Strähnen. »Aber davon verstehst du natürlich nichts.«

»Nächste Woche Donnerstag gibt meine Tante eine kleine Weihnachtsfeier«, sagte Irina langsam. »Da kommen viele Geschäftsleute. Da könntest du mitkommen, Kim.«

»Echt jetzt?«, fragte Kim begeistert. »Das wäre doch Wahnsinn. Dann suche ich mir dort einen Partner für den Schulball.«

»Was für ein Schulball?«, fragte ich ahnungslos. Alle starrten mich an. »Hey«, sagte ich. »Ich bin neu hier, vergessen?«

»Der Schulball ist seit über zwanzig Jahren eine Institution«, klärte mich Jennifer auf. »Jedes Jahr an dem Samstag vor den Weihnachtsferien veranstaltet die Schule einen Ball für die Oberstufe und die Ehemaligen. Und jedes Mädchen darf einen Begleiter mitbringen.«

Einen Begleiter mitbringen. Sofort sah ich Enzo und mich über das Tanzparkett schweben. Nicht dass ich Walzer oder so einen Schrott tanzen könnte. Ich hatte mich standhaft geweigert, als meine Mutter mich in eine Tanzschule schleifen wollte, die tatsächlich der Ansicht war, jeder sollte Walzer tanzen können. Aber es wäre so schöööön, dort mit Enzo zusammen sein zu können! Und romantisch. Und bis dahin hätte ich es auf jeden Fall durchgezogen, ihn bei meinen Eltern als Freund vorzustellen und ihn gleichzeitig als Bodyguard zu behalten.

»Die Einnahmen werden für einen wohltätigen Zweck gespendet«, erläuterte Alina.

»Und es ist ein Kostümball«, rief Diana.

Ratsch! Die Traumsequenz von Enzo und mir riss ab. »Ein Kostümball?«, fragte ich skeptisch. Mal ehrlich: Wie albern war das denn? »Und als was muss man sich da verkleiden?«

»Dieses Mal ist das Thema Literarische Figuren«, sagte Kim. »Also Homer Simpson und so was.«

»Ich würde Homer Simpson nicht unbedingt als literarische Figur einordnen, aber wir verstehen, was du meinst«, warf Nora besserwisserisch ein. Sie wurde aber nicht weiter beachtet.

»Muss man sich da wirklich verkleiden?«, fragte ich.

»Na klar«, sagte Kim. »Ohne Kostüm kommt man nicht rein.«

»Stimmt doch gar nicht«, widersprach Jennifer. »Natürlich kommt man auch ohne Kostüm rein.«

»Du hast wieder mal keine Ahnung«, ätzte Kim. Die beiden hatten sich anscheinend nur noch in der Wolle, jetzt, wo ihre Anführerin Milena nicht mehr da war.

»Wenn sie in ihren normalen Klamotten geht, kann sie immer noch sagen, sie wäre eine Figur aus einem Sophie-Kinsella-Roman«, beharrte Jennifer.

»Ich gehe als Elizabeth Bennet aus Stolz und Vorurteil«, verkündete Diana schnell.

»Das ist gemein!«, zeterte Heidrun Zumke. »Als die wollte ich gehen!« Sie hatte einen neuen Wintertrend für sich entdeckt und trug geflochtene und mit Glasperlen verzierte Strickstirnbänder. Das alleine war schon scheußlich, aber zu allem Überfluss klemmte sie ihre langen Haare auch noch so unter das Stirnband, dass sie einseitig auf ihre rechte Schulter fielen. Es sah so was von behämmert aus! Ihr Spiegelbild zu Hause musste ein verlogenes Miststück sein, dass es sie so unter Leute gehen ließ.

»Ich verkleide mich als Holly Golightly«, rief Deborah. Es hagelte noch ein paar berühmte Damen aus der Weltliteratur.

»Auf jeden Fall gewinne ich den ersten Preis, Ladys«, schloss Kim die Diskussion ab. »Findet euch schon mal damit ab.«

»Welchen ersten Preis?«, fragte ich.

»Das beste Kostüm wird gewählt und der Sieger gewinnt eine Reise nach Rom. Am Silvesterwochenende. Und Eintrittskarten für die Neujahrsmesse des Papstes«, erklärte Merle aufgeregt. Mmmh. Vielleicht sollte ich mich doch verkleiden. Enzo und ich an Silvester in Rom! Die Messe könnten wir uns schenken, aber da gäbe es sicher einige andere interessante Dinge, die wir tun könnten … doch weiter kam ich mit meinem Tagtraum nicht, denn unsere Sportlehrerin, Frau Lutz, rief uns in die Halle. Ihre aschblonden Locken wippten energisch und die Oberschenkelmuskeln strafften sich unter ihrer Shorts, als sie verkündete: »Los, Mädchen! Zum Aufwärmen gibt es Musik! Heute wird getanzt.«

Als Vorbereitung auf den Schulball sollten wir tatsächlich Walzer und Foxtrott tanzen üben, sagte sie, aber zum Glück war ich mit meiner Abscheu gegen Standardtänze nicht allein. Auch die Mädels meuterten und meinten, wir sollten besser »richtig tanzen«.

»Was meint ihr mit richtig tanzen?«

»Na, Hip-Hop und so.«

»Super«, sagte Astrid Lutz grinsend, »das ist auch das viel bessere Cardiotraining.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Deborah skeptisch.

Als Astrid Lutz uns fünf Minuten später zu den Beats von Jay-Z erbarmungslos durch die Halle scheuchte, hatte sich Deborahs Frage eindeutig von selbst erledigt.

5

Ich freute mich auf den Nachmittag! Seit Enzo mir nicht mehr kolossal auf die Nerven ging – ganz im Gegenteil –, konnte ich ihn sogar beim Shoppen ertragen. Der Himmel war strahlend blau und es war eiskalt. Genau richtig, um ausgiebig in den angenehm warmen Kaufhäusern nach Accessoires zu stöbern, die zu meinem sensationellen Marc-Jacobs-Kleid passen würden. Meine Mutter hatte mir eine SMS geschickt, dass ihre Freundin es besorgt hatte und ich es in ihrer Boutique anprobieren könnte. Enzo fuhr mich hin, wartete aber diskret draußen. Ich hatte mich nicht getäuscht mit dem Kleid: Es war wie für mich gemacht. Der etwas ausgestellte Rock mit der schwarzen Zierbordüre überdeckte noch genau die Stelle an meinen Oberschenkeln, an denen sie etwas zu kräftig waren. Die weiß-grauen Blumen aus Spitze über dem schwarzen Unterkleid waren kein bisschen spießig, sondern einfach nur cool und die kurzen Ärmel fand ich auch klasse. Auch Mamas Freundin Ines war begeistert.