Gefährliche Lügen - Hanna Dietz - E-Book

Gefährliche Lügen E-Book

Hanna Dietz

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Beschreibung

Endlich Ferien (Familienstress!), neuer Job (Zickenalarm!) und jede Menge verwirrende Gefühle. Das hat Natascha gerade noch gefehlt! Während ihr Freund Enzo am Filmset, wo Natascha als Mädchen für alles angeheuert hat, auf kalte Schulter macht, braut sich direkt unter ihrer Nase ein Eifersuchtsdrama zusammen. Ehe sie sich versieht, stolpert sie über eine leider mehr als echt Leiche - und die Sache wird äußerst gefährlich.

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Seitenzahl: 435

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Hanna Dietz

Gefährliche Lügen

Zu schön zum Sterben

 

 

 

 

 

 

Als Hanna Dietz so alt war wie ihre Romanfigur Natascha Sander, trug sie eine Brille in der Größe von Clownsschuhen und eine Igelfrisur mit fingerdickem Flechtzopf am Hinterkopf. Umso erstaunlicher ist es, dass sie die 1980er ohne bleibenden Schaden überstanden hat. Seit 2007 schreibt die Journalistin Romane und noch heute gäbe sie einiges für die Haare von Natascha, die Heldin ihrer »Zu schön zum Sterben«-Thrillerreihe.

Außerdem von Hanna Dietz im Arena Verlag erschienen: Gefährliche GedankenGefährliche Gefühle

 

 

 

 

 

1. Auflage 2014 © 2014 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Frauke Schneider ISBN 978-3-401-80214-5

facebook.com/natascha.sander.311www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de

Inhalt

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Dank

1

Da war ich gerade mal siebzehn Jahre alt und schon auf der schiefen Bahn gelandet. Ich weiß echt nicht, wieso, aber seit einiger Zeit endete einfach alles, was ich anfing, über kurz oder lang in einem totalen Desaster. Eben war ich noch friedlich shoppen, Weihnachtsgeschenke für meine Familie – und schwups, befand ich mich schon wieder auf der Flucht. Verdammt noch eins, Sander, hättest du das Mädchen nicht einfach in Ruhe ihre Diebestour machen lassen können? Warum musstest du die Verkäuferin informieren? Hast du immer noch nicht kapiert, dass du dir nur Ärger einhandelst, wenn du dich immer in alles einmischst? Tja. Offensichtlich nicht. Ich mochte in Mathe gut sein und in Deutsch und Bio und selbst in Geschichte, aber in dem Unterrichtsfach Stressfreies Leben war ich die komplette Versagerin.

Und jetzt hockte ich hier zwischen fremden Beinen und hoffte darauf, dass mich meine beiden Verfolgerinnen im Gewühl verlören. Zum Glück war in der Fußgängerzone gerade ein Einradkünstler dabei, seine Weihnachtskasse mit artistischen Einlagen aufzubessern. Um den beiden Mädchen zu entkommen, die mich am Ausgang des Kaufhauses erwartet hatten, hatte ich mich unter sein Publikum gemischt und war auf Tauchstation gegangen, indem ich vortäuschte, meinen Schnürsenkel binden zu müssen. Und so hockte ich inmitten einer Gruppe Jungs, der Boden war nass vom Regen, es roch nach feuchtem Leder. Über mir und um mich herum waren nichts als Jacken und Mäntel und Taschen, jeweils nur eine Nasenbreite entfernt. Eigentlich ein super Versteck. Aber die diebische Elster, ein dünnes Mädchen mit kalten grauen Augen und schwarzer Lederjacke, und ihre Freundin, eine Kampfmaschine in Bomberjacke, waren zwar ultrafies, aber leider nicht so blöd, wie sie aussahen. Irgendwie ahnten sie, dass ich hier war, denn ich sah die Bomberjacke mit ihren Doc Martens auf und ab laufen, sie schob sich rücksichtslos durch die Menge. Die streichholzdünnen Beine der Diebin blieben im Abstand von einigen Metern hinter ihr.

Na gut, dachte ich grimmig. Ich würde einfach hier in meinem Schlupfwinkel bleiben, bis die beiden abdampft … aua! Eine lachende Frau hinter mir hatte mir ihre volle Einkaufstüte an den Kopf gedonnert. Mist. Konnte sie sich nicht woanders amüsieren? Ich rieb mir den Schädel und überlegte. Vielleicht doch keine so gute Idee, mich hier zu verstecken. Aber immerhin konnte ich mir in Ruhe Schuhe angucken, ein Vergnügen in allen Lebenslagen. Stiefel, Trekkingschuhe, Schnürschuhe, Stiefeletten, hohe Sneaker, flache Sneaker, Bikerboots, ein paar Pumps und jede Menge Keilabsätze. Bei manchen hätte mich interessiert, wie der dazugehörige Träger aussah, aber das konnte ich von meinem erdnahen Beobachtungsposten nicht sehen. Es war einfach zu eng dafür. Blöd. Aber nur deshalb hatte mich die Bomberjacke noch nicht entdeckt. Besonders gefielen mir die Stiefel von dem Jungen direkt vor mir. Braunes Leder, die Ziernähte gut verarbeitet, Schnürsenkel locker gebunden, umgeschlagenes Futter aus Lammfell. Warm, cool und praktisch.

Plötzlich ertönte Applaus. Es kam Bewegung in die Menge. Alte Schabe! Dieser Einradheini hatte offensichtlich seine Show beendet und fing an, mit dem Hut rumzugehen. Schneller kann man die Leute natürlich nicht vertreiben. Meine Deckung war im Begriff sich aufzulösen und ich hatte meine Zeit mit sinnlosem Schuhglotzen verplempert und mir keinen genialen Plan ausgedacht. Ich schaute nach oben. In dem Moment sah der Junge mit den coolen Stiefeln zu mir nach unten. Zu seiner hellbraunen Wachstuchjacke trug er eine rote Nikolausmütze mit weißem Bommel. Er grinste mich an, die Wangen gerötet. Ich begriff in einem Sekundenbruchteil: Das war meine Chance. Ich würde mit ihm und seinen Kumpels gehen, getarnt durch ihre Anwesenheit würde ich meinen Verfolgerinnen entkommen. Wer weiß, vielleicht würden sie mich sogar mit Fäusten vor der Elster und der Bomberjacke beschützen? Der Gedanke an Enzo blitzte auf, zu schade, dass er nicht da war. Er würde mich verteidigen, natürlich würde er das. Aber er hatte ja zu arbeiten, in Hamburg, und ich musste die Suppe, die ich mir eingebrockt hatte, selbst auslöffeln. Der Junge starrte immer noch in meine Richtung. Jetzt schnell, Sander. Aber er darf nicht merken, dass du krampfhaft Anschluss suchst. Oder gar panisch. Ich sagte das Erstbeste, was mir in den Sinn kam. »Du hast schöne Schuhe.«

Er guckte verwirrt.

»Ja«, plapperte ich weiter, ein bisschen lauter, damit er auch raffte, dass ich ihm gerade ein super Kompliment gemacht hatte. »Ich mag deine Stiefel total, das Leder glänzt so schön und sie sehen auch echt so aus, als ob man da keine kalten Füße drin kriegen würde. Ich kriege ja immer kalte Füße, außer in meinen Timberlands, da nicht.«

Er zog die Augenbrauen hoch und ich überlegte, ob meine kleine Ansprache wohl zur Kategorie kluge Anmachsprüche gehörte oder doch eher zu Dämlichkeiten, die man besser für sich behält. Es schien jedenfalls so, dass er meinem Charme noch nicht erlegen war. Ich musste wohl noch eine Schippe drauflegen. »Deine Stiefel sind einfach klasse!«, geriet ich ins Schwärmen. »Daran erkenne ich sofort, dass du Stil hast.«

Immer noch keine Reaktion von oben. Mist, ich musste mich beeilen. Eben war ich noch auf einem Kontinent aus Beinen gewesen, jetzt war es nur noch eine Insel. Die Doc Martens liefen in etwa zehn Metern Abstand an mir vorbei, die Bomberjacke musste sich nur umdrehen, dann würde sie mich entdecken. Und dann würde es übel. Bei jeder anderen hätte ich vielleicht auf die Kraft der Diplomatie gehofft und versucht, mich irgendwie rauszureden. Aber ich wusste instinktiv, dass die Bomberjacke einem gepflegten Meinungsaustausch abgeneigt war und lieber die Fäuste sprechen lassen würde. Mir blieb also nichts anderes übrig, als mir das Fluchtobjekt mit den schicken Stiefeln zu sichern.

»Weißt du, wenn du solche wirklich hässlichen Schuhe anhättest«, ich zeigte auf ein paar ausgelatschte Halbschuhe, die von irgendeinem Geschmackskrüppel aus verschiedenfarbigen Lederresten zusammengeklebt worden waren, »dann würde ich ja nicht mal mit dir reden!« Und so verführerisch wie es mir meine komische Kauerstellung erlaubte, fügte ich hinzu: »Aber mit solchen coolen Stiefeln musste ich dich einfach kennenler…« Die Stiefel gingen weg. Der Junge mit der Weihnachtsmannmütze blieb da. Genau wie die potthässlichen Halbschuhe.

Upps. Da hatte ich mich wohl verguckt. Ich lächelte den Jungen von unten an und fragte: »Wollen wir einen Kaffee trinken gehen und uns über das Phänomen der verzerrten Perspektive unterhalten?«

Endlich öffnete er den Mund. »Nein, danke.« Er drehte sich ab und ging. »Hey!«, rief ich ihm hinterher. »Deine Schuhe sind auch … praktisch. Für Matsch auf jeden Fall.«

Er war weg, noch ehe ich mich ihm verzweifelt an den Hals werfen konnte. Mit Schrecken musste ich feststellen, dass nur noch ein älteres Ehepaar, das sich mit dem Einradartisten unterhielt, als letzte Deckung fungierte. Und die gingen jetzt auch! Hilfe! Ich wusste nicht, wohin, blieb also hocken. Meine Jacke war schwarz, keine schlechte Tarnung auf nassem Asphalt. Und Unbewegliches war viel schwerer zu entdecken als bewegte Objekte. Wegen unserer Neandertaler-DNS, die schon unsere Vorfahren davor bewahrt hat, Beute eines heransprintenden Säbelzahntigers zu werden. Wenn ich jetzt loslaufen würde, würde die Bomberjacke mich deswegen natürlich sofort bemerken. Ich würde also zur Statue erstarrt warten, bis sie weg war. Sie patrouillierte in Richtung Kaufhaus, das etwa dreißig Meter entfernt war. Gut so, animierte ich sie telepathisch, ja, such mich da! Die diebische Elster schlich an den Eingängen der Boutiquen auf der anderen Seite der Straße herum. Doch anstatt reinzugehen, wandten sie sich einander zu und zuckten mit den Schultern. Eine Adrenalinwelle durchzuckte mich. Und dann geschah es. Die Bomberjacke guckte in meine Richtung. Und obwohl ich versuchte, optisch mit dem Asphalt zu verschmelzen, bemerkte sie mich. Natürlich. Meine Statuen-Taktik war von Anfang an so was von hirnrissig gewesen! Sander, warum bist du nicht abgehauen, als es noch möglich war! Auch die Bomberjacke staunte eine Sekunde über meine elefantöse Dämlichkeit. Dann schrie sie »Aya! Da!« Aber noch bevor die kleine diebische Elster namens Aya ihren Kopf zu mir rumgeschwungen hatte, war ich schon losgerannt. Auch die Bomberjacke warf die Maschinen an. Ich hörte ihre schweren Schritte hinter mir auf das Pflaster knallen. Verdammte Hacke. Das konnte ja heiter werden. Ich rannte die Fußgängerzone in südlicher Richtung und überlegte fieberhaft, wie ich verschwinden könnte. Da sah ich hinter einem Trupp älterer Damen den Eingang der Sternen-Passage leuchten. Mir kam eine Idee. Ich umrundete die Frauen und sprintete auf den Eingang zu. Zum Glück öffnete sich gerade die elektronische Schiebetür der Einkaufspassage, um ein verliebtes Paar in die nasskalte Dezemberluft zu entlassen. Ich schlüpfte an ihnen vorbei in die Einkaufspassage und steuerte schnurstracks auf die Treppen zu. Aus dem Aufzug von rechts fuhr ein gelangweilter Azubi einen mannshohen Rollwagen mit einem abenteuerlich aufgetürmten Klopapier-Stapel in Richtung Drogeriemarkt auf der anderen Seite. Ich huschte gerade noch vor ihm vorbei. Der Rollwagen würde meine Verfolgerinnen vielleicht kurz aufhalten. Ich nahm zwei Stufen auf einmal die Treppe nach oben. Im ersten Stock bog ich nach links ab in Richtung eines Buchladens, lief um die Ständer mit großformatigen Kalendern und hastete weiter zu einer unscheinbaren weißen Tür, die zu meinem Glück unverschlossen war. Ich huschte hinein und lehnte mich keuchend von innen an das kühle Metall und schnaufte richtig durch. Vielleicht sollte ich im nächsten Jahr mal mit Joggen anfangen. Ein bisschen mehr Kondition könnte echt nicht schaden.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte mich die Dame hinter dem Empfangstresen der Kanzlei Siebert, Stolle und Radtke und beäugte mich kritisch.

»Ja«, schnaufte ich. »Wo geht es hier zum Sauerstoffzelt?«

Sie lächelte schmallippig. »Damit können wir nicht dienen. Zu welchem unserer Mitarbeiter wollen Sie denn?«

Draußen auf dem Gang hörte ich schwere Schritte und einen heiseren Ruf: »Wo ist die dreckige Schlampe?« Dann Stille. Oh, oh. Das verhieß nichts Gutes. Vielleicht hatten sie doch gesehen, dass ich hier reingerannt war. Und ohne die Rufe der Empfangsdame zu beachten, lief ich durch den Gang zu meiner Rechten, durch eine Glastür und weiter zu einer schallisolierten dicken Tür. Ohne anzuklopfen, glitt ich hinein in das große helle Anwaltsbüro. Das Gespräch wurde abrupt unterbrochen, vier Augen schauten mich erstaunt an. Tja, Sander. Das war ja eine grandiose Idee. Bis genau hierher hatte ich gedacht. Aber nicht einen Schritt weiter.

2

Nanu, Natascha«, sagte meine Tante Ute, die hinter dem Schreibtisch saß, fast vollständig verdeckt von einem Berg Akten. »Was machst du denn hier? Ist was passiert?« Sie hatte ihre Lesebrille auf der Nase, eine Akte vor sich, die Haare vor Anstrengung zerzaust. Ihr gegenüber saß ein dürres Mädchen mit blonden, feinen Haaren, ihre Augen wässrig blau, das Gesicht blass. Sie war ungefähr mein Alter und hatte vermutlich irgendwas ausgefressen. Jedenfalls wirkte es so, als ob meine Tante Ute, Anwältin für Sozialrecht, ihr gerade eine Standpauke gehalten hatte. Das Mädchen guckte nämlich ziemlich verkniffen.

»Hallo, Tantchen«, keuchte ich. »Nee, alles okay. Ich wollte nur …« Ich finde Lügen wirklich ganz, ganz furchtbar und hebe sie mir nur für Notfälle auf. Deswegen suchte ich fieberhaft eine Ausrede, die nicht gelogen, sondern eher nur ein bisschen wahrheitssparsam war. Und meiner Tante, die sich wirklich den Hintern für vom Pech verfolgte Leute aufriss, konnte ich nicht mit irgendwelchen Kinkerlitzchen kommen. Aber ich würde jetzt auch ungern die Story Wie sich Natascha beim Shoppen mal wieder völlig unnötig in Schwierigkeiten gebracht hatte zum Besten geben und da fiel mir zum Glück was ein, was sogar wirklich stimmte. »Ich wollte dich fragen, ob ich nicht bei dir ein Praktikum machen kann«, sagte ich eifrig. »Du weißt schon, für die Schule. Bei uns steht im nächsten Jahr das Thema Berufswahl an und jeder soll sich einen Praktikumsplatz suchen in einem Job, der ihn interessiert.« Ich übersprang die Information, dass das Praktikum für Mai angesetzt war, und plapperte weiter: »Und da dachte ich natürlich sofort an dich, weil du ja immer so spannende Fälle hast und bestimmt auch mal Unterstützung brauchen kannst, und ich weiß zwar noch überhaupt nicht, was ich nach dem Abi genau machen möchte, aber Jura könnte mich wirklich interessieren …« Ich musste kurz Luft holen und Ute sagte schnell: »Klar kannst du hier Praktikum machen!«

»Super, danke!« Ich blieb stehen. Das Mädchen schaute in die Ferne, dann auf ihre Fingernägel. Sie fing an, an ihrer rechten Hand zu knabbern. Ute sah mich ratlos an. Sie wartete wohl darauf, dass ich mich verabschiedete. Aber meine beiden Verfolgerinnen schwirrten da draußen bestimmt noch irgendwo rum.

»Also, was soll ich tun?«, fragte ich. »Ich könnte Kaffee kochen. Theoretisch jedenfalls. Praktisch wäre es natürlich so, dass ich ausgerechnet davon nicht unbedingt viel Ahnung …«

»Wie, du möchtest jetzt anfangen? Heute?«, unterbrach Ute erstaunt. »Hast du nicht Weihnachtsferien?«

»Na ja, ich dachte, ich könnte schon mal reinschnuppern. Weißt schon, von der Pike auf und so.«

»Hör mal, Natascha, deinen Eifer finde ich ja grundsätzlich ganz klasse«, sagte Ute, »aber ich bin hier mitten in einem wichtigen Gespräch. Einem wichtigen, vertraulichen Gespräch.«

»Ah, natürlich!«, sagte ich. »Ich könnte auch Akten ordnen. Oder irgendwas kopieren. Draußen meine ich. Auf dem Gang. Oder im Konferenzraum, wenn ihr so was habt.«

Meine Tante nahm die Lesebrille ab und massierte sich die Nasenwurzel.

»Hey, ich hab’s!«, rief ich. »Ich dekoriere die Kanzlei mit Weihnachtsschmuck! Lametta und so Kram. Wir könnten auch überall kleine Schokoladenweihnachtsmänner hinstellen, das ist doch nett. Und wenn man Lust hat auf was Süßes, ist auch immer was griffbereit.«

Ute räusperte sich.

»Oder hast du eine bessere Idee?«, fragte ich.

»Natascha«, sagte Ute nachdrücklich. »Es geht jetzt nicht.«

»Oh.«

»Wenn ich an Weihnachten zu euch nach Hause komme, besprechen wir, wann du anfangen kannst, okay?«

»Ja«, sagte ich und machte keinerlei Anstalten zu gehen. Mein Blick fiel auf eine potthässliche knallrote Daunenjacke, die neben dem Mädchen auf dem Stuhl lag. Das war die Idee! Ich würde mich verkleiden! Dann hätte ich vielleicht eine Chance, unerkannt aus der Einkaufspassage rauszukommen, ohne dass die Bomberjacke mich aufmischte.

»Boah, was ist das denn für eine coole Jacke!«, rief ich. »Ist das Armani oder so?« Ich befühlte ehrfürchtig das klebrige rote Polyester. Das Mädchen guckte mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank.

»So eine wollte ich schon immer mal haben!«, rief ich. »Ich habe die Idee! Wir tauschen. Was hältst davon?« Ich zog meine Barbour-International-Polarquilt-Jacke aus und hielt sie dem erstaunten Mädchen hin. Sie sah zu meiner Tante, die zuckte mit den Schultern, das Mädchen befühlte die goldfarbenen Druckknöpfe und das weiche Fleece-Innenfuter meiner superschicken Jacke. Dann nickte sie andächtig, nahm ihren glänzenden roten Anorak und reichte ihn mir.

»Hast du auch eine Mütze?«, fragte ich, aber das Mädchen rührte sich nicht. »Schade.« Ich zog die Jacke über.

Ute betrachtete mich spöttisch. »Schick«, sagte sie.

»Ja, wirklich super, danke!«, rief ich. »Also, Tantchen, wir sehen uns an Weihnachten.«

»Ach, das ist überhaupt die Idee«, sagte Ute. »Ich bringe Zina zu euch mit. Dann könnt ihr zusammen abhängen, okay?«

»Ist gut«, sagte ich und war dabei so abgelenkt von der Aussicht, wieder feindliches Gebiet betreten zu müssen, dass ich mich nicht weiter darüber wunderte, warum meine Tante an Weihnachten eine Klientin mitbringen wollte.

Auf dem Flur sah ich mich in der Spiegelung der Glastür und stellte fest, dass die rote Jacke viel zu kurz war und mein Oberkörper auf groteske Weise gleichzeitig aufgeplustert und gestaucht aussah. Eine Kreuzung aus Stoppschild und Vogel Strauß. Aber ich fand in der Jackentasche einen schwarzen Jutebeutel, krempelte die Schlaufengriffe ein und den Rand um, setzte ihn mir auf den Kopf, stopfte meine langen blonden Haare darunter und zupfte den Stoff zurecht. Ging als Mütze durch. Na ja. Aus der Entfernung vielleicht. Die Empfangsdame musterte mich jedenfalls wie einen besonders hoffnungslosen Fall. »Bis demnächst. Bald fange ich nämlich hier mein Praktikum an. Also, frohe Weihnachten!«, rief ich gespielt begeistert, um ihr klarzumachen, dass ich zwar keinen Geschmack, aber dafür umso mehr Manieren hatte. Und dann stand ich vor der Tür, die die Kanzlei von der Einkaufspassage trennte, atmete noch einmal tief ein, öffnete sie langsam und trat hinaus. Vorsichtig linste ich um die Kalender herum. Kein Anzeichen von der Bomberjacke und Aya, der Diebin. Gut. Außerdem hatte ich mich ja in einen knallroten Vogel Strauß mit schwarzer Haube verwandelt. Selbst wenn sie noch hier wären, würden sie mich vielleicht nicht erkennen. Gesenkten Kopfes eilte ich Richtung Aufzüge. Mein Gehör war enorm geschärft, jeder Schritt, jede sich öffnende Tür, jeden Lufthauch nahm ich wahr. Wie ein Vampir oder ein anderes paranormales Wesen, dessen Sinne total geschärft sind. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich unauffällig meine Umgebung, jede Bewegung, jedes blinkende Licht, jeden Passanten. Mein Ziel waren die Aufzüge hinten links, ungefähr dreißig Meter entfernt. Schnelle Schritte hinter mir schreckten mich auf, doch es war nur ein Angestellter, der dem Feierabend entgegeneilte. Noch zwanzig Meter bis zum Aufzug. Eine alte Dame verließ den Buchladen zur Rechten. Zehn Meter, fünf, drei, endlich war ich da. Ungeduldig drückte ich den Knopf, der den Aufzug aus dem Erdgeschoss nach oben rief. Ich wagte nicht, mich umzudrehen. Der Fahrstuhl kam und kam nicht. Vermutlich wurde unten gerade eine Lieferung hauchdünnes chinesisches Porzellan ausgeladen, es dauerte jedenfalls eine Ewigkeit, bis er sich wieder in Bewegung setzte. Endlich zeigte das Display die Ankunft im ersten Stock an. Ich drückte mich seitwärts an die Wand und guckte angestrengt nach unten, nur für den Fall, dass dort gerade meine frisch erworbenen Feindinnen aussteigen würden. Doch die Luft war rein. Ich stieg ein und drückte die Taste U für Untergeschoss. Mein Weg in die Freiheit würde durch die Tiefgarage führen. Die Aufzugtüren schlossen sich behäbig, es rumpelte und der Fahrstuhl sank abwärts, in panikerzeugendem Schneckentempo. Die kleinen roten Leuchtdioden signalisierten das Erreichen des Erdgeschosses. Nicht anhalten, betete ich, da rumpelte es und mit einem widerwärtig arglosen Ping! glitten die Türen auseinander und gaben den Blick frei auf das Erdgeschoss. Und neben einem Bäcker war sie, die Bomberjacke. Sie marschierte auf und ab, hielt die Umgebung im Blick. Aya, die diebische Elster, entdeckte ich etwas weiter links. Shit. Doch zum Glück hatten sie mich noch nicht gesehen. Es machte Ping! zum Zeichen des Schließens der Aufzugtüren, ich wollte gerade aufatmen, da schob ein alter Mann seinen Rollator in die Lichtschranke. Die Türen gingen wieder auf. In dem Moment fiel der Bomberjacke offensichtlich der Aufzug ein, denn sie starrte interessiert herüber. Der Mann blieb mit den Rädern seiner Gehhilfe an der kleinen Türschwelle hängen. Die Bomberjacke schlenderte in meine Richtung. Ich packte den Rollator und mit einer energischen Bewegung schob ich ihn über den Spalt und den alten Mann gleich hinterher. Und noch bevor mich meine Verfolgerinnen identifiziert hatten, glitten wir nach unten in die Tiefgarage und ich trat über die Ausfahrt an der Königsstraße den Rückweg an. Eine halbe Stunde später war ich zu Hause. Weihnachtsgeschenke hatte ich zwar noch nicht alle, aber ich war trotzdem erleichtert. Und mir absolut sicher, dass ich diese beiden Mädchen nie wiedersehen würde. Aber Sicherheit ist ja manchmal ein Nylonstrumpf.

3

Nach diesem ungeplanten Ausflug auf den gefährlichen Planeten Adrenalin war ich froh, die nächsten Tage in einer für mich ungewohnten, aber vermutlich sehr verbreiteten Weihnachtsferienstarre zu verbringen. Die fehlenden Geschenke bestellte ich im Internet. Dann badete ich. Und las. Und glotzte Fernsehen. Dann las ich wieder. Sogar Das kunstseidene Mädchen, Pflichtlektüre für Deutsch. Dann starrte ich aus dem Fenster in den trüben Garten und stellte mir vor, wie Enzo vor ein paar Wochen zum Gärtnerhaus gelaufen war, mit schnellem Schritt und wehenden Jackettschößen, und ich ihm ausgebüxt war. Das waren noch Zeiten, als ich mich dauernd vor ihm verdrückt hatte! Jetzt hätte ich ziemlich viel dafür gegeben, wenn er bei mir gewesen wäre. Dafür hätte ich mir sogar einen Vortrag über das Züchten von Tomaten oder das richtige Anbringen von Dachschindeln angehört. Ich vermisste ihn so sehr! Ich vermisste sein schiefes Grinsen und seine glatt rasierten Wangen. Ich vermisste seinen Duft nach Rosmarin und Minze. Ich vermisste die Art, wie er erst seine Hand auf meinen Unterarm legte und mich dann sanft an die Schulter fasste und mich dabei mit seinen grünen Augen ansah und »Natascha« sagte, als wäre mein Name eine Delikatesse, die man sich auf der Zunge zergehen lassen muss, um ihren vollen Geschmack zu entfalten. Und ich vermisste seine Küsse, die mir das Hirn aufwirbelten, als würde Frau Holle ihre Daunenkissen schütteln. Vermissen konnte richtig wehtun, musste ich feststellen, und die einzige Medizin dagegen war, ihm E-Mails zu schreiben. Ich verfasste also eine weitere von ungefähr achttausend Schmacht-Nachrichten, in der ich die Theorie aufstellte, dass die Trennung von Frischverliebten durch den Arbeitgeber eine nicht hinnehmbare Schikane wäre und dass ich ihn unbedingt küssen musste, und zwar von genau diesem Moment an bis Ostern im Jahr 2022. Dann ging ich runter in den Fitnessraum und drosch auf den Sandsack ein, um mich abzureagieren, aber das klappte kein bisschen, denn hier unten vermisste ich Enzo noch viel mehr. Hier hatten wir das erste Mal normal miteinander geredet, als er mir erklärt hatte, wie man richtig auf den Sandsack schlägt. Hier hatte er mich das erste Mal berührt. Er hatte meine Hand genommen und mir gezeigt, wie ich die Faust richtig ballen musste. Und später, als wir uns ineinander verliebt hatten, hatten wir hier unser ganz spezielles Kampftraining gemacht, bei dem wir dann auf der Matte landeten und uns küssten … Ah!!! Schon wieder erfasste mich eine brennende Sehnsuchtsattacke und ich konzentrierte all meine telekinetischen Fähigkeiten darauf, Enzo in diesem Fitnessraum zu materialisieren. Ich stellte mir so fest vor, dass er jetzt genau hier vor mir stand und ich ihn sehen, riechen, fühlen und schmecken konnte. Aber dann machte ich die Augen auf und verdammt noch eins, er war natürlich kein bisschen aufgetaucht, noch nicht mal ein Schatten von ihm, und ich war immer noch allein und eeeeecht mies drauf. So konnte das nicht weitergehen! Ich musste mich aufheitern und schickte Enzo ein Foto von mir, wie ich k.o. neben dem Sandsack lag, und schrieb drunter: »Ich hab den Schlag von diesem alten Sack einfach nicht kommen sehen.« Ich stellte mir vor, wie er gucken würde, wenn er das las. Mit seinem schiefen Grinsen und der kleinen Narbe unter dem Mundwinkel. Und dann würde er mir irgendwas Lustiges zurückschreiben und ich würde mich besser fühlen, weil ich wüsste, dass er mich auch vermisste. Aber nichts geschah. Ich wartete eine Ewigkeit von zehn Minuten, aber er antwortete nicht. Mist. Auch in der nächsten halben Stunde hörte ich nichts von ihm. Dieser blöde Job in Hamburg! Warum musste er den überhaupt annehmen? Ach ja, weil wir uns verliebt hatten und er deswegen nicht mehr mein Bodyguard sein durfte. Ich schaute mir ein paar Folgen Big Bang Theory an, aber alleine machte das keinen Spaß. Außerdem schielte ich sowieso die ganze Zeit mit einem Auge auf mein Handy in Erwartung einer Nachricht. Die nicht kam. Mist. Ich überlegte, ob ich mein Zimmer umdekorieren und endlich mal das olle Twilight-Filmplakat abhängen sollte, beließ es dann aber dabei, Edward mit Filzstift einen Schnäuzer und eine Harry-Potter-Brille zu malen. Mit Bastian war auch nichts los, der hing die ganze Zeit in seinem Zimmer und hörte schreckliche Musik aus der Abteilung unmelodiöser Gitarrenkrach. Irgendwie zelebrierte er eine Lebenskrise, jetzt, wo ich ihm aus der Patsche geholfen hatte, und machte einen auf Eremit im Exil. Phh!

Es war so langweilig, dass ich langsam anfing, mir selbst auf den Keks zu gehen. Wenn es wenigstens geschneit hätte, dann hätte ich vielleicht einen Schneemann gebaut. Oder versucht, die größte Schneekugel aller Zeiten zu rollen. Vielleicht wäre ich sogar rodeln gegangen. Aber das Wetter war umgeschlagen und viel zu warm für diese Jahreszeit. Es regnete andauernd! Anstatt weißer Weihnacht würde es bei uns am Rhein wohl eher Weihnachtshochwasser geben. Ich versuchte erneut, Enzo zu erreichen, aber: keine Antwort. Und ich ertappte mich dabei, dass ich mich ärgerte. Über ihn. Weil er diesen doofen Job angenommen hatte. Und nicht da war. Und ich ihn nicht erreichen konnte. Ich wusste zwar, dass es nicht seine Schuld war, und redete mir ein, dass er sich sofort melden würde, wenn es ginge. Und ich wollte auch gar nicht sauer auf ihn sein. Aber ich hatte ja sonst nichts anderes zu tun!

Mürrisch ging ich in die Küche. Meine Mutter rührte mit dem Handmixer Teig an. »Was wird das?«, fragte ich gelangweilt.

»Marzipanherzen.«

Ich tippte mit dem Finger gegen ein rohes Ei, das neben einem Schneebesen auf der Arbeitsplatte lag. Es eierte über den Marmor. Sah lustig aus. Ich tippte es noch einmal an, diesmal stärker. Es kullerte Richtung Abgrund.

»Natascha!«, mahnte meine Mutter und ich fing es im letzten Moment auf.

»Was denn?«, sagte ich und legte das Ei zurück. »Hab doch alles im Griff.«

Ich entdeckte ein Blech mit duftenden Makronen neben der Spüle. »Hey, die sehen lecker aus«, sagte ich, und noch bevor meine Mutter mich warnen konnte, hatte ich mir schon die Finger an den heißen Dingern verbrannt.

»Halt die Hand unter kaltes Wasser«, seufzte sie und holte aus dem Kühlschrank einen in Frischhaltefolie eingepackten Batzen Teig.

»Ich halt sie lieber hier rein.« Ich tauchte den Finger in die Rührschüssel, in der sie eben Marzipan und Eier und Mandeln gemischt hatte. »Schmeckt nicht schlecht«, sagte ich mit vollem Mund und probierte erneut. »Und hilft auch gegen Brandblasen.«

Meine Mutter verzog das Gesicht und fing an, den Teig aus dem Kühlschrank in Würfel zu schneiden. Eine Weile waren wir beide beschäftigt. Was Enzo wohl gerade machte? Er war auf einem Filmset, so viel wusste ich. Immerhin. Ansonsten tat er total geheimnisvoll. So, als ob mich sein Job gar nichts anginge. So, als ob er nicht in Wirklichkeit die totale Schwätzbacke war! Klar, bei Hedi, der alten Schnarchtasse, war es ja noch klar gewesen, dass sie die Vorschriften für Bodyguards mit all der Diskretion und dem Firlefanz supergenau genommen hatte. Aber Enzo war mein Freund. Er musste mir erzählen, was er so trieb. Sonst war das total gemein. Und auch gar nicht …

»Natascha!«

»Wie bitte?« Ich schaute meine Mutter erstaunt an.

»Es wäre nett, wenn du nicht alles auffuttern, sondern auch was von dem Teig übrig lassen würdest. Damit wir daraus Plätzchen backen können. Was eigentlich auch der Sinn von Plätzchenteig ist.« Meine Mutter versuchte sich an einem strengen Blick.

»Oh«, sagte ich und schaute in die geplünderte Schüssel.

»Komm, du kannst mir beim Kipferlmachen helfen.« Sie formte geschickt einen kleinen Würfel Teig zu einem Halbmond und legte das erste Kipferl auf das Blech. Ich nahm mir auch eine Portion von dem Teig und rollte ihn nach Vorbild meiner Mutter zwischen den Händen. Das machte Spaß. Lenkte mich ab. Von Enzo und seiner blöden Abwesenheit. Ich hoffte wirklich, dass er einen todlangweiligen Tag hatte und nicht irgendwas Aufregendes passierte! Shit! Darauf war ich vorher ja noch gar nicht gekommen. Es könnte ja sein, dass er sich in Gefahr begeben musste! Für jemand anderen als mich! Wer weiß, vielleicht würde er sich beim Schutz irgendeiner dahergelaufenen Schauspielerin sogar verletzen. Blöder Enzo. Warum musste er ausgerechnet Bodyguard sein? Oder besser: Warum konnte er nicht mein Bodyguard sein! Ich schmollte gerade so richtig schön vor mich hin, da riss mich die genervte Stimme meiner Mutter aus den Gedanken. »Natascha! Was machst du denn da?«

»Ups«, sagte ich und schaute auf die Teigwurst, die mir zwischen den Fingern klebte.

»Wenn du den Teig zu lange in der Hand hältst, wird er weich«, seufzte sie. »Siehst du, so musst du das machen.« Sie formte ein neues perfektes Kipferl. Sah so einfach aus. Aber obwohl ich mich bei meinem zweiten Versuch wirklich anstrengte, sah das Kipferl aus wie eine fette Made mit zwei Köpfen. Und Zotteln. Bäh!

»Blöder Enzo!« Ich knallte den Klumpen auf den Tisch.

»Was ist los?«, fragte meine Mutter.

»Er ist nicht da. Das ist«, maulte ich.

Meine Mutter lachte. »Dann ist die Wiedersehensfreude umso größer, weißt du.« Plötzlich hielt sie inne, schaute mich nachdenklich an und wischte sich die Hände an einem Handtuch ab. Und ich wusste, was jetzt kommen würde.

»Natascha«, fing sie an und suchte nach Worten.

»Was denn, Mama?«, tat ich ahnungslos.

»Ich wollte mal fragen, wie das so ist mit dir und …«

»Enzo?«

»Ja. Habt ihr schon …«

»… Sex gehabt?«

Sie wurde tatsächlich ein bisschen rot. »Es geht mich nichts an«, beeilte sie sich zu sagen, »ich will nur sichergehen, dass du …«

»… an Verhütung denkst?«

»Ja«, sagte sie. »Wenn du irgendwelche Fragen hast, frag mich. Ich kann auch für dich einen Termin bei meiner Frauenärztin machen.«

»Mama«, sagte ich. »Ich bin gerade mal drei Wochen mit ihm zusammen. Wenn ich irgendwelche Fragen habe, dann komme ich zu dir, okay? Und ansonsten entspannt euch. Ich bin ja nicht blöd.«

»Nein«, sagte sie erleichtert. »Das bist du nicht.«

Ich hatte genug klebrigen Teig gefuttert und auch genug von ausforschenden Gesprächen und ging in mein Zimmer, balancierte ein bisschen auf der Slackline und überlegte. Über das Thema Sex mit Enzo hatte ich bisher noch überhaupt nicht nachgedacht. Na ja. Das stimmt natürlich nicht. Überhaupt nicht hatte ich nicht daran gedacht. Sagen wir mal so: Es war noch nicht akut gewesen. Mangels Gelegenheiten, in denen sich die Frage »Sex mit Enzo – ja oder nein?« ergeben hätte. Und jetzt, wo mein Freund Hunderte Kilometer weg war, brauchte ich mir darüber ja wohl auch keine Gedanken machen. Und ich hoffte sehr, dass sich jetzt gerade auch niemand anders darüber Gedanken machte. Denn wie ich ja wusste, konnte man bei seiner Daueranwesenheit durchaus über seine Schwatzhaftigkeit hinwegkommen und ihn nur noch attraktiv finden. Und wenn mir das passierte, dann konnte es einer anderen Klientin theoretisch auch passieren. Mist! Ich sah ihn schon mit einer hübschen Schauspielerin flirten und … Ah! Sander, halt die Klappe! Er ist total professionell und würde nie … und er hat nur bei dir eine Ausnahme gemacht, weil er sich nun mal in dich verliebt hat! Also, entspann dich! Aber das war nicht so einfach. Um nicht verrückt zu werden, lenkte ich mich mit Angry Birds ab, dann surfte ich eine Runde durchs Internet. Schaute nach einer Ewigkeit mal wieder auf meine Facebook-Seite. Hatte ich wegen dem Stress in der Schule mit Silvy damals eine Zeit lang ruhen lassen. Und in Ermangelung an echten Freunden. Aber jetzt dachte ich, würde es Zeit, mal wieder was zu posten. Falls es überhaupt irgendwen interessieren würde. Stolz änderte ich meinen Beziehungsstatus zu »In einer Beziehung mit Enzo«. Dann schaute ich auf Justus’ Facebook-Seite. Er hatte seine Beziehungsstatusfrage immer noch nicht beantwortet. Aus lauter Langeweile schrieb ich ihm eine EMail über die lähmende Ödnis der Ferien, Betreff: Stille Nacht, langweilige Nacht. Er schrieb zurück und wir mailten ein bisschen belangloses Zeug hin und her. Welche Plätzchen unsere Mütter backten und wie viele Plätzchen man auf einmal in sich reinstopfen konnte und ob einem von der gleichen Menge an rohem Teig schlecht werden würde oder nicht. Wir diskutierten, ob Dominosteine ekelhaft (ich) oder köstlich (Justus) waren und welches die besten Weihnachtsfilme waren, und Justus versuchte natürlich mal wieder, Ghostbusters unterzubringen, was er immer tat, egal zu welchem Thema wir Filmranglisten aufstellten. Dann debattierten wir eine Weile darüber, ob es besser wäre, Weihnachten zu Hause zu verbringen oder in der Südsee. Ich plädierte sehr für Südsee, wegen dem Meer und dem Sand und den Palmen und dem schönen Wetter, aber Justus meinte, er fände es zu Hause am schönsten. Deswegen wäre er auch nicht mit Christina und ihrer Familie zum Skifahren nach Gstaad gefahren. Das überraschte mich dann doch. Und dann fragte er, ob wir nicht zusammen ins Kino gehen sollten. Und wo ich früher sofort Ja gesagt hatte, schoss mir der Gedanke in den Kopf, ob ich das einfach machen könnte, jetzt, wo wir doch beide liiert waren.

Und gerade, als ich noch überlegte, klingelte mein Telefon. Enzo. Endlich! Hastig griff ich nach dem Hörer und vor lauter Begeisterung vergaß ich sogar, Enzo wegen unangemessener Anrufverknappung zu tadeln, und säuselte ihm vor, wie sehr ich ihn vermisste und dass es einfach blöd wäre, dass er so weit weg wäre und dass er doch bitte auf der Stelle herkommen sollte.

»Das geht leider nicht«, sagte er. »Auch wenn ich natürlich auch gerne bei dir wäre.« Er klang irgendwie geschäftsmäßiger, als ich es nach meinem Liebesgeflüster erwartet hatte. Vielleicht stand direkt neben ihm irgendjemand vom Film, sodass er nicht offen reden konnte.

»Und wie laufen die Dreharbeiten?«, fragte ich ein wenig ernüchtert. »Was machst du den ganzen Tag? Ist alles friedlich? Baggert dich jemand an?«

»Gut. Arbeiten. Ja. Nein.«

»Hä?«

Er lachte. »Du hast mir mal wieder vier Fragen auf einmal gestellt, die habe ich nur beantwortet.«

»Oh Mann, tut mir leid«, sagte ich. »Es ist nur … ich habe soooo lange auf deinen Anruf gewartet, da sprudelt es eben ein bisschen aus mir raus.«

Er berichtete kurz, dass sie in Hamburg auf dem Weihnachtsmarkt gedreht hatten. Aber bevor er ins Detail gehen konnte, sagte er schon: »Ich habe leider nicht so viel Zeit. Aber ich wollte unbedingt deine Stimme hören.«

»Was musst du denn heute noch machen?«

»Ich begleite Lia Beyer zu einem Pressetermin.«

»Lia Beyer?«, fragte ich überrascht. Mein Wissen in Sachen Promis war wirklich nicht berauschend, aber man musste schon wirklich ein kompletter Ignorant sein, um Lia Beyer nicht zu kennen. »Das Model!«, rief ich erschrocken und musste schlucken.

»Ist sie das? Keine Ahnung«, sagte er gespielt harmlos.

»Du veräppelst mich doch. Selbst ich weiß, wer Lia Beyer ist.«

»Ja, stimmt. Hab schon vorher ein-, zweimal von ihr gehört.« Ich konnte hören, dass er grinste. Ich musste an Violetta denken und meine ziemlich unpassenden Eifersuchtsattacken.

Aber dann schob Enzo ganz sachlich hinterher: »Sie ist mit dem Regisseur verheiratet, der den Film dreht, Max Jacobi. Offiziell heißt sie auch Beyer-Jacobi.«

Der sperrige Doppelname half mir, meine Beunruhigung hinunterzuschlucken und meine Stimme fast normal klingen zu lassen. »Und, wie ist sie so?«

»Verrückt, wie alle hier.« Dann machte er eine kurze Pause und sagte: »Sorry, Engelchen, ich muss aufhören. Aber ich melde mich, sobald ich kann.«

Ich kam gerade noch dazu, Tschüss zu sagen, dann hatte er schon aufgelegt. Und ich saß da und starrte auf das Telefon. Engelchen? Wieso Engelchen? Das hatte er noch nie zu mir gesagt. Und das sollte er auch nicht. Es klang blöd. Er sollte Natascha sagen. So wie am Anfang. Als er mich alleine mit dem Klang seiner Stimme in Aufruhr versetzt hatte. Also, echt. Engelchen. Da stimmte was nicht. Aber bevor ich mir jetzt wieder den Kopf zerbrechen und mir tausend Möglichkeiten ausdenken würde, was das zu bedeuten hatte, rief ich Justus an und sagte, Ja, ich würde gerne mit ihm ins Kino gehen.

4

Hey, coole Karre!«, sagte ich zu Justus, als ich zu ihm in seinen knallgelben Nissan Micra einstieg, der vor Kurzem Mister Schrott abgelöst hatte, seinen heiß geliebten alten Ford Escort.

»Haha«, sagte er. »Cool ist sie ja wohl überhaupt nicht.«

»Aber klein.«

»Klein und fährt.«

»Optimal, würde ich sagen. Was ist das denn?« Ich zeigte auf ein vorsintflutliches Autoradio mit Kassettendeck.

»Das, meine Damen und Herren, ist ein antikes Stück aus grauer Vorzeit.« Er schob grinsend eine Kassette ein und die aufgeregte Stimme eines Jungen erklang.

»Die drei Fragezeichen!«, rief ich. »Dass du die noch hast.«

»Ich hatte auch noch Benjamin Blümchen, aber die bekommen nur die VIP-Gäste in meinem Shuttle zu hören.«

»Ah, ich kann mir schon denken, wer«, sagte ich. Ich hatte Justus seit unserem Schulball vor über einer Woche nicht gesehen, wo er mit seiner neuen Freundin Christina trautes Glück demonstriert hatte. Wir schwiegen eine Zeit lang und lauschten dem Hörspiel. Es war merkwürdig. Auf der einen Seite war es so was von normal, mit Justus allein zu sein. Andererseits waren wir beide früher eine eingeschworene Einheit gewesen. Das war, bevor andere Menschen in unser Leben getreten waren. Und jetzt waren zwar nur Justus und ich anwesend, dennoch saßen wir irgendwie zu viert im Auto – Justus schleppte eine unsichtbare Version von Christina mit sich und ich hatte natürlich Enzo dabei, der mit einem geheimen Band mit mir verbunden war.

Auch im Kino ließ mich das Gefühl nicht los, dass sich etwas verändert hatte. Wir waren zwar alte Kumpels, kannten uns in- und auswendig, aber es war nicht mehr so selbstverständlich, dass wir miteinander allein waren. Als wir im Dunkeln nebeneinandersaßen, spürte ich Justus’ Anwesenheit auf eine neue, intensivere Art. Und als wir gleichzeitig in das salzige Popcorn griffen und sich unsere Hände berührten, zog ich meine fast erschrocken zurück. Aus heiterem Himmel fiel mir ein Merksatz aus dem Chemieunterricht ein. Die chemische Reaktion ist an vier Merkmalen erkennbar: an der Stoffumwandlung, an der Energieumwandlung, an der Veränderung der Teilchen und am Umbau chemischer Bindungen.

Genau, sagte ich mir, das ist eine logische Erklärung. Dadurch, dass ich Energie an Enzo abgegeben und von ihm bekommen hatte, hatte sich meine chemische Struktur gewandelt. Meine Elementarteilchen waren durcheinandergewirbelt und neu gemischt worden. Genau wie bei Justus, der durch Christina ebenfalls in ein Kraftfeld geraten und aufgeladen war. Und jetzt waren wir eben andere als vorher. Und das führte dann eben auch zwischen uns zu einer neuen chemischen Reaktion. Genau. Wir mussten uns nur an die neue Verbindung gewöhnen, wie man sich an eine neue Zahnfüllung gewöhnen musste, dann würden wir das nicht mehr merken.

Zum Abschied umarmten wir uns wie immer, das einzige Neue war, dass ich darauf achtete, dass wir uns verabschiedeten wie immer: Umarmung, blöder Spruch, Gute Nacht. Ich fragte ihn nicht wie sonst, ob er noch mit reinkommen wollte. Denn Enzo hatte angerufen, während wir im Kino waren, und ich wollte ihn so schnell wie möglich zurückrufen.

Sobald ich in meinem Zimmer war, wählte ich seine Nummer. Und ich erreichte ihn auch sofort. Mir fiel ein Stein vom Herzen!

»Warum hast du Engelchen zu mir gesagt?«, fragte ich sofort nach der Begrüßung. Enzo stutzte einen Moment, als ob er überlegen müsste, ob er das wirklich zu mir gesagt hatte.

»Na, wegen Weihnachten«, antwortete er verblüfft. »Und weil du doch mit deinen blonden Haaren wirklich wie ein Engel aussiehst.«

»Mmhhh«, machte ich und es klang pampig.

»Höre ich da etwa raus, dass dir Engelchen nicht gefällt?«, sagte Enzo neckend.

»Nein, gefällt mir überhaupt nicht.«

»Natascha«, sagte Enzo mit seiner warmen Stimme und mein Widerstand fing augenblicklich an zu bröckeln. »Das ist doch kein Problem. Wenn du nicht möchtest, dass ich dich Engelchen nenne, dann tue ich das nicht, okay?«

»Nie wieder?«

»Nie wieder, versprochen. Wie möchtest du denn, dass ich dich nenne, Natascha?«

»Genau so«, sagte ich, denn immer wenn er meinen Namen sagte, hatte ich das Gefühl, brodelnd heiße Suppe zu essen, die sich in meinem Bauch wohlig warm ausbreitete.

»Du möchtest also, dass ich dich Natascha nenne, Natascha?«

»Ja.«

»Gut, Natascha. Dann mache ich das.«

Und damit war meine Stimmung wieder bestens, das kleine Missverständnis ausgeräumt und ich dachte nicht mehr daran. Enzo hatte auch endlich mal Zeit und musste nicht sofort wieder weg und erzählte mir sogar was von seiner Arbeit. Dass sich am Set alle anzicken würden und dass Jule Bruckner sehr nett sei und Raffael Hingsen ziemlich eingebildet. Mir fiel eine der Zeitschriften meiner Mutter ein. Da war Raffael Hingsen mal drauf gewesen, als er eine kleine Rolle in einem Quentin-Tarantino-Film ergattert hatte.

»Ist ja ein richtiges Staraufgebot«, sagte ich und seufzte. »Schade, dass ich nicht dabei sein kann. Also, natürlich nicht wegen der Stars, sondern wegen dir.«

»Du bist süß«, sagte er. »Ich vermisse dich auch, weißt du?«

»Das will ich aber auch hoffen«, sagte ich.

»Aber nach Weihnachten bin ich dir wenigstens wieder was näher. Da reisen wir alle nach Köln und drehen in Hürth weiter! Da haben die vorher schon mal gedreht. Hamburg war nur eine Zwischenstation wegen des Weihnachtsmarkts.«

»Das ist ja super!«, rief ich und wurde ganz aufgeregt. »Und was ist mit Weihnachten? Da arbeitet ihr doch nicht, oder? Kannst du da nicht kommen? Oder ich komme zu dir?«

Er lachte, aber sagte dann: »Leider nein, Natascha. Morgen drehen wir noch mal hier, dann fahre ich mit Lia in deren Villa nach Potsdam. Mit Lia und Max, dem Regisseur und ihrem Ehemann«, setzte er hinzu.

»Wozu braucht sie dich denn zu Hause?«, fragte ich verwundert.

»Na ja.« Er zögerte, dann sagte er: »Sie fühlt sich halt im Moment besonders verwundbar.«

»Wieso denn das?«

»Keine Ahnung«, sagte er schnell. »Aber eine saftige Neurose könnte zum Beispiel der Grund sein. Diese Schauspieler haben alle einen an der Waffel, so viel steht fest. Ich glaube, das ist eine Grundvoraussetzung, wenn man diesen Job machen möchte. Man wird erst geprüft, ob man wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, erst dann darf man vor die Kamera.« Enzo plapperte noch eine ganze Weile über die Marotten der Besetzung und ich ließ mich davon einlullen, besonders weil er noch ein paar Mal meinen Namen sagte. Das warme Heiße-Suppen-Gefühl im Bauch hielt auch noch an, als ich mich kurz darauf ins Bett legte und mit dem Kissen im Arm einschlief.

Am nächsten Tag war Heiligabend. Den feierten wir immer bei meiner Oma Gertrud, der Mama von meiner Mama. Sie wohnte in einem kleinen Haus ganz in der Nähe des Rheins. Wenn es still im Haus war, konnte man die Frachtschiffe tuckern hören. Der Weihnachtsbaum stand im »Zimmer«, womit sie das Wohnzimmer meinte. Daneben am Tisch wurde gegessen. Das gute Geschirr mit dem Goldrand, Silberbesteck und die vergoldeten Serviettenringe hatte sie schon Stunden vorher aufgedeckt. Bastian war – gegen seinen Willen, wie er mit seiner muffigen Miene nicht müde wurde zu betonen – mitgekommen, hatte sich aber mit seinem iPhone verkabelt, um sich ja nicht an einem normalen Gespräch beteiligen zu müssen. Selbst mir, der jüngeren Schwester, kam das kindisch vor. Normalerweise saßen wir vor dem Essen um den marmornen Couchtisch und die Erwachsenen tranken Sherry und Holunderlikör von Oma Gertruds Nachbarin. Im letzten Jahr hatte ich ihn zum ersten Mal probieren dürfen. Er war sehr süß und klebrig, aber nicht schlecht. Normalerweise war Oma Gertrud damit beschäftigt, von Opa Erich zu erzählen, der vor acht Jahren gestorben war, und dauernd in die Küche zu laufen, um den Heringssalat abzuschmecken oder Gürkchen und Eier zu schneiden. Aber dieses Jahr war Oma ein bisschen mitgenommen, weil die Pumpe im Keller nicht funktionierte. »Und was mache ich, wenn der Rhein steigt?«, fragte sie verzweifelt. »Dann läuft alles voll Wasser. Und ich hab doch alles im Keller, die Waschmaschine und die ganzen Sachen von Erich und …« Sie schlug die Hände vors Gesicht.

»Mach dir keine Sorgen, Gertrud«, sagte mein Vater mit seiner ruhigen Art. »Ich schaue mir das mal an. Das kriegen wir schon hin, in Ordnung?«

»Ach, hätte ich doch einen Mann im Haus!«, seufzte sie. »Erich hat auch immer gewusst, was zu tun ist.«

»Komm, setz dich, Mutti«, sagte meine Mutter. »Trink einen Sherry. André macht das schon.«

»Ja, André macht das schon«, sagte sie, aber man hörte ihr an, dass ihre Nerven flatterten.

»Kommst du mit, Püppchen?«, fragte er mich. »Vielleicht brauche ich eine Assistentin.« Ich ging mit meinem Vater hinunter in den Keller. Die Pumpe war im Waschkeller unter einer Metallplatte in den Boden eingelassen.

»Dann wollen wir doch mal sehen«, sagte mein Vater und öffnete den Metallverschlag, unter dem die Pumpe in einem kleinen Schacht stand. Sie bestand aus einem orangefarbenen zylinderförmigen Ding und einem blauen zylinderförmigen Ding, aus dem ein Plastikrohr in die Wand ragte. Sonst konnte man nicht viel erkennen. »Das ist eine Tauchwasserpumpe«, erklärte mein Vater. »Wenn der Pumpensumpf voll Wasser läuft, dann schaltet sie sich normalerweise von selbst an. Siehst du hier?« Er zeigte auf eine vergitterte Öffnung. »Das ist der Ansaugstutzen, wo das Schmutzwasser eingesaugt wird. Und hier wird es rausgepumpt.« Er tippte auf das Rohr, das in der Wand verschwand. Dann stellte er den Schalter auf manuell und schaltete sie ein. Es tat sich nichts. »Mmmh«, machte er nachdenklich. »Sieht eigentlich alles normal aus. Aber es funktioniert eindeutig nicht.«

»Brauchst du irgendein Werkzeug?«, schlug ich vor. Früher hatte ich ihm immer Schraubenzieher und Hammer angereicht, wenn wir zusammen gebastelt hatten. Na ja. Eigentlich hatten wir nur einmal zusammen ein Vogelhäuschen gebaut. Wobei er es genau genommen alleine gebaut hatte, aber ich hatte die Säge und die Nägel angereicht. Aber später, als die Vögel dort ihre Körnchen aufpickten, war ich genauso stolz darauf gewesen.

»Im Moment nicht«, sagte mein Vater. »Ich weiß einfach nicht, woran es liegen könnte.«

»Wenn mein Computer mal nicht geht, gucke ich als Erstes, ob der Stecker richtig drin ist«, erwiderte ich.

Mein Vater sah mich erstaunt an. »Gute Idee!«

Wir überprüften das Kabel, das aus dem Schacht und weiter über die Wand nach oben verlief. Durch ein Loch verschwand das Kabel nach draußen in den Flur.

»Ist klar«, sagte mein Vater. »Der Stecker muss natürlich in einem trockenen Zimmer sein. Sonst … fffzisch!« Er deutete mit den Händen einen massiven Kurzschluss an. Wir verfolgten das Kabel, das im Kellerflur oben in einer Steckdose endete. Und tatsächlich! Der Stecker hatte sich gelockert. Mein Vater steckte ihn wieder fest ein, probierte die Pumpe aus und das gleichmäßige Brummen zeigte an, dass sie wieder ging. Dann schaltete er sie auf Automatik, sodass sie bei Wassereintritt in den Schacht von selbst anfangen würde abzusaugen. »Gute Arbeit, Püppchen!«

Er hielt die Hand hoch, um mit mir abzuklatschen. Dann gingen wir nach oben und überbrachten Oma Gertrud die gute Nachricht und sie war so erleichtert, dass sie sich bekreuzigte und noch eine Runde Likör für alle springen ließ. Danach war sie bester Stimmung. Erst als sie anfing, nach meiner Tante Ute zu fragen, drohte sie wieder in die Griesgrämigkeit abzurutschen. Traditionell regte sie sich darüber auf, dass Tante Ute nie an Heiligabend mitkam.

»Dabei ist sie allein«, jammerte meine Oma. »Da muss sie Weihnachten mit ihrer alten Mutter verbringen. Sie weiß doch gar nicht, wie viele Weihnachten ich noch erleben werde, bis ich heimgehe zu meinem Erich.«

Meine Mutter sagte ihr wie jedes Jahr, dass Ute den Heiligabend in einem Frauenhaus verbringt, wo auch ihre beste Freundin arbeitet, um mit den vor allen möglichen Schicksalen geflohenen Frauen zu feiern und ihnen Mut zuzusprechen.

»Mein Schicksal interessiert sie wohl gar nicht«, kommentierte Oma Gertrud biestig und verzog ihren schmalen Mund.

»Ihr seht euch doch übermorgen bei uns«, beruhigte sie Mama seufzend.

»Das ist aber doch nicht dasselbe«, protestierte Gertrud.

»Mein Freund kennt Jule Bruckner«, platzte ich dazwischen, um von dem leidigen Dauerstreit abzulenken. Mir entging nicht, dass mein Vater bei den Worten »mein Freund« meiner Mutter einen Blick zuwarf. Die ignorierte ihn aber und stieg sofort auf das Thema ein. »Echt? Wie das?«

»Und Raffael Hingsen«, fügte ich stolz hinzu, bevor ich meiner Oma erläuterte: »Enzo ist Bodyguard und beschützt gerade eine Menge Schauspieler bei Dreharbeiten in Hamburg.«

»Oha«, machte meine Oma, die begeisterte Leserin von goldenen Blättern aller Art war. »Der Raffael ist ein feiner Mann. Ein sehr feiner Mann.«

»Beschützen? Wovor beschützt er sie?«, fragte mein Vater und die Frage irritierte mich.

Meine Oma sagte schwärmerisch: »Erinnert mich an meinen Erich.« Dann setzte sie nüchterner hinzu: »Nur, dass er bestimmt bessere Tischmanieren hat. Der Raffael, meine ich.«

»Ich kann Enzo ja mal fragen, ob Raffael immer mit Messer und Gabel isst«, warf ich ein, lachte gekünstelt und hoffte, dass mein Vater die Frage vergessen hatte. Denn mir war die besondere Verwundbarkeit von Lia Beyer eingefallen. Wieso in aller Welt fühlte sie sich besonders verwundbar?

Aber natürlich bohrte mein Vater nach: »Gibt es denn da eine konkrete Bedrohung? Ein verrückter Stalker? Oder Entführungspläne? Oder einen anderen Anschlag?«

»Nein«, sagte ich heftiger als geplant, um dann hinzuzufügen: »Glaube ich jedenfalls nicht. Ich meine, diese Promis sind doch alle bekloppt, die brauchen halt einen Bodyguard, der auf sie aufpasst.«

»Natürlich«, pflichtete meine Mutter mir bei. »Bei so einem Staraufgebot.«

Und bevor mein Vater mich noch mehr in Panik versetzen konnte mit den Risiken und Nebenwirkungen des Bodyguard-Jobs, verkündete ich schnell: »Und Lia Beyer ist auch dabei.«

»Der Victoria’s-Secret-Engel?«, fragte meine Mutter erstaunt und mir blieb fast der Heringssalat im Hals stecken. Engel? Ich musste husten.

Oma Gertrud sagte streng: »Die mag ich nicht.«

Als ich wieder richtig Luft bekam, krächzte ich: »Und wieso magst du sie nicht, Oma?«

»Das ist ein Flittchen«, entschied Gertrud. »Mit diesen knappen Fummeln öffentlich rumzulaufen, also nein. Das geht nicht. Männer können überhaupt nicht mehr klar denken, wenn sie so was sehen.«

»Die Dessous hatte sie doch nur früher an, als sie noch Model war«, widersprach meine Mutter.

»Ich sehe die andauernd in diesen hauchdünnen Fetzen«, brauste Gertrud auf.

»Das sind aber alte Fotos«, erklärte Mama.

»Egal, ob alt oder nicht. Solche Fotos bringen Männer immer um den Verstand.«

5

Den ersten Weihnachtstag verbrachten wir wie immer bei Opa Curt und Oma Herta im krampfhaften Bemühen, es über die Bühne zu bringen, bevor es krachte. Opa Curt war der sauertöpfischste Griesgram aller Zeiten – Söderberg eingenommen. Denn im Gegensatz zum überarbeiteten Mordkommissar hatte Opa Curt nichts anderes zu tun, als in seiner Villa zu sitzen und sich zu ärgern. Und am allerliebsten regte er sich darüber auf, was mein Vater alles falsch machte. Ich glaube, er war einfach eifersüchtig, dass mein Vater es geschafft hatte, aus der kleinen Metzgerei meines Opas einen international operierenden Fleischhandel zu machen. Am Anfang hatte Paps ihn immer noch um Rat gefragt, aber seit Opa Curt generell das Gegenteil von dem verkündete, was mein Vater sagte, ging das nicht mehr. Mein Vater hielt ihn dennoch auf dem Laufenden, weil es sonst ein Familiendrama gegeben hätte. Er versuchte, wann immer es zum Thema kam, ruhig zu bleiben und das Gespräch abzubügeln, wenn er merkte, Opa Curt galoppierte wieder mit wehenden Fahnen in die rote Zankzone. An diesem Weihnachtstag lief alles gut, bis wir die Bratäpfel mit Vanillesoße aufgegessen hatten. Oma Herta servierte gerade Kaffee, als mein Vater verkündete: »Ich werde im nächsten Jahr im Betrieb einiges umstellen.«

Opa Curt schob die Zuckerdose zur Seite und sah ihn herausfordernd an. »Wieso denn das?«, sagte er. »Es läuft doch gerade so gut, sagst du zumindest dauernd.«

»Denk an die ganzen Fleischskandale«, sagte mein Vater. »Wir müssen unsere Firma deutlich abheben von den anderen Großfirmen. Und deswegen möchte ich einen Teil des Betriebs auf Biofleisch umstellen.«

»Super!«, entfuhr es mir. »Endlich, Paps!«

Opa Curt schaute auf seine Kaffeetasse, als wollte er sie an die Wand werfen.

»So, Curti, nun trink mal deinen Kaffee, sonst wird er kalt«, sagte Oma Herta und tätschelte ihm die Hand.

»Da sprechen wir noch drüber«, sagte Opa Curt und fuchtelte drohend mit dem Löffel. Zum Glück hob er sich das aber für später auf, als er mit Paps alleine war und ich mit meiner Mama, Oma und dem muffigen Bastian auf dem Sofa saß und Ist das Leben nicht schön? schaute, wobei ich nebenbei heimlich Mails an Enzo schrieb. Denn ich wusste echt nicht, was mich fertiger machte: Die Tatsache, dass Lia Beyer Männer durchdrehen ließ oder dass mein Freund vielleicht in ernsthafter Gefahr schwebte. Deshalb war ich auch sehr erleichtert, als ich in der Nacht endlich seine Antwort erhielt:

Sorry, dass ich mich nicht gemeldet habe. Die Villa ist strahlensicher gebaut, kein Handyempfang. Noch so eine Marotte. Ich rufe an, sobald ich kann. 1000 Küsse.

Mit tausend Küssen versorgt konnte ich dann auch einigermaßen gut schlafen. Es schien ihm ja immerhin gut zu gehen. Und ich hatte mir fest vorgenommen, keine unnötige Panik zu schieben. Oder gar eifersüchtig zu sein.