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1523. Hannes Fritz befindet sich auf der Walz. Auf der Suche nach seinem Onkel Joß Fritz, einem bekannten Aufrührer, kommt er nach Süddeutschland. Von dort verschlägt es ihn nach Montbéliard, wo er eine Zeit lang als falscher Edelmann am Hofe von Herzog Ulrich weilt, doch er fliegt auf und muss fliehen. Währenddessen gerät die Welt seiner Jugendliebe Anna völlig aus den Fugen. Der Mann, den sie eigentlich heiraten wollte, ist ein Mörder. Sie wird Opfer einer Intrige und muss nach Genua fliehen. Werden die beiden in ihre Heimatstadt zurückkehren und sich wiedersehen?
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Seitenzahl: 713
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Julian Letsche
Gefährliche Walz
Historischer Kriminaloman
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Höhlenmord (zus. mit Anna Barkefeld, 2014),
Mit Stock und Hut (2013), Auf der Walz (2011)
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2017
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AJoss_Fritz_Holzschnitt_von_Albrecht_Duerer.JPG
ISBN 978-3-8392-5522-3
Der jäh einsetzende Wind blähte das weiße Segel mächtig auf. Schnell hoben die erschöpften Männer ihre Ruderblätter aus dem Wasser.
Hannes war froh über die willkommene Unterbrechung. Der Geselle war es gewohnt zuzupacken, doch das monotone Rudern war eine völlig andere Tätigkeit als die übliche Arbeit in seinem Beruf.
Nach den heftigen Turbulenzen in Amsterdam war der junge Zimmermann mit einem lachenden und einem weinenden Auge aus der Seestadt abgereist.
Van Hulst, der Werftbesitzer, hatte ihm zusätzlich zu seinem Entgelt eine satte Belohnung ausbezahlt, weil er sehr wohl erkannt hatte, dass der Zimmermann einen großen Beitrag dazu geleistet hatte, dass die Werft überhaupt noch existierte.
Das Angebot der Seeleute, mit ihnen auf große Fahrt zu gehen, hatte Hannes ursprünglich annehmen wollen. Als er indes mit seinem Bündel am Anlegeplatz ankam, war das stolze Schiff bereits verschwunden.
Das muss ein Wink des Schicksals sein, dachte er, nachdem die erste Enttäuschung verflogen war. Er entschied sich nun dafür, die stolze Stadt in südlicher Richtung zu verlassen. Von Urs hatte er sich ausgiebig verabschiedet, denn der Schweizer hatte beschlossen, seine Wanderzeit in Amsterdam zu beenden und hier sesshaft zu werden. Die älteste Tochter seines Meisters hatte nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass der Maurer sich in der Hafenstadt niederlassen wollte.
Hannes hingegen wollte dem Ort aus verständlichen Gründen so rasch als möglich den Rücken kehren.
Der März brachte ungewöhnlich milde Temperaturen, sodass der Wanderer gut vorankam. Um die Mühle, in der sich die Tragödie mit dem Schmied zugetragen hatte, machte der Geselle einen Bogen.
Hannes schlief in baufälligen Heuschobern sowie verlassenen Hütten, und gerade als seine Wegzehrung nahezu aufgebraucht war, erreichte er die Herberge von Kerkhoff, bei dem Urs und er bereits bei der Hinreise eingekehrt waren.
»Wenn du willst, kannst du bei freier Kost und Logis einige Tage bei mir arbeiten«, bot der freundliche Wirt an.
Dankend nahm der Zimmermann die Einladung an. Er reparierte mehrere Türen, zudem flickte er viele Löcher im Dach des stattlichen Anwesens und aus den Tagen wurden Wochen.
»Unter Umständen habe ich eine Möglichkeit zur Weiterreise für dich gefunden«, kam der Herbergswirt eines Morgens an. »Ein Handelsschiff, das rheinaufwärts bis Worms fährt, sucht noch kräftige Kerle zum Rudern.«
Hannes wurde aufmerksam.
»Das hört sich gut an«, meinte er.
Am nächsten Morgen brachte ihn der Wirt zum Liegeplatz des Bootes am nahen Fluss. Es stellte sich heraus, dass der bärbeißige Schiffsführer ein alter Bekannter von Kerkhoff war. Dieser wünschte Hannes alles Gute und der Geselle wankte auf einer ziemlich morschen Planke an Bord.
Die darauffolgenden Tage waren mit das Schlimmste, was der Zimmermann in seinem jungen Leben durchgemacht hatte. Seine malträtierten Hände waren übersät von Blasen, die beim Aufplatzen höllisch brannten.
Der Rücken schmerzte ihn so sehr, dass er dachte, seine Wirbelsäule würde jeden Augenblick auseinanderbrechen, und eines Morgens war er so weit, in den Fluss zu springen, um auf diese Weise der Folter zu entkommen.
»Haltet ein, ihr Halunken!«, hatte der Kapitän just in diesem Moment gerufen und die geplagten Männer legten sogleich ihre Ruder aus den Händen.
Nun lenkte der Steuermann das Schiff gefährlich nahe ans rechte Ufer. Hannes beobachtete, wie der kräftige Bootsführer ein dickes Tau, dessen Ende unter Deck befestigt war, hinüberwarf.
Das Seil wurde von einem jungen Burschen sicher aufgefangen und an einen starken Baum gebunden. Wenig später blieb das Schiff mit einem kräftigen Ruck stehen. Mehrere stämmige Kaltblüter, deren Kummetgeschirre untereinander verbunden waren, wurden herbeigeführt.
Indessen hatte der Kapitän den Anker ausgeworfen, während einer der Männer an Land das Tau mit einem kunstvoll geschlungenen Knoten an das hintere Ende des Zaumzeugs band. Nachdem der Anker wieder gelichtet war, ertönte ein kurzer Peitschenknall und die kraftstrotzenden Pferde stampften los.
Hannes konnte es beinahe nicht glauben, doch die Tiere bewegten das schwere Boot so schnell vorwärts wie vorher die Ruderer.
»Das mache ich nur, damit ihr Faulpelze euch ausruhen könnt. Dabei kostet mich das Ganze einen Haufen Geld«, meinte der Kapitän grimmig.
Von den geplagten Männern hatte jedoch keiner ein schlechtes Gewissen.
Am nächsten Morgen kam für Hannes die nächste schöne Überraschung.
»Heute geht es noch besser voran, du wirst schon sehen.«
Sein Nebenmann auf der Ruderbank strahlte den verdutzten Gesellen an.
»Im Laufe des Vormittags wird der Wind aus südlicher Richtung auffrischen und der Alte wird daraufhin die Segel setzen. Wir werden im Nu in Mainz ankommen.«
Der Mann sollte recht behalten, denn als die Brise stark genug war, ließ der Kapitän das Rudern einstellen. Im Laufe des Nachmittags langten sie in der Nähe einer größeren Stadt an, wo sie das Schiff an einer Anlegestelle vertäuten.
»Wo sind wir?«, fragte Hannes, nachdem die Mannschaft an Land gegangen war.
Sie hatten in Ufernähe ein wärmendes Feuer entzündet, um das sie nun herumstanden und mit leuchtenden Augen zusahen, wie das kleine Schwein in der heißen Glut brutzelte. Der ansonsten eher knauserige Kapitän hatte das Tier mitsamt mehreren Weinschläuchen auf einem nahen Gehöft erstanden.
»Wir sind kurz vor Mainz«, antwortete ein untersetzter Kerl.
Dem Gesellen lief es eiskalt den Rücken hinunter, als er an seinen letzten Besuch in dieser Stadt zurückdachte. Andererseits bestand auch Grund zur Freude, denn hier endete für ihn die anstrengende Bootsfahrt.
Bernhard, der entlaufene Mönch, den er auf seiner Reise nach Amsterdam kennengelernt hatte und den er auf der Ebernburg zu treffen hoffte, hatte ihm geraten, sich hier vom Rhein zu verabschieden und nach Süden weiterzuziehen, bis er Wörrstadt erreichen würde.
Am darauffolgenden Tag war Hannes bereits früh auf den Beinen.
Er schnappte sich sein Bündel sowie seinen Stock und ging zur Kajüte des Schiffseigners.
»Was fällt dir ein!«, schrie der Mann, nachdem Hannes ihn unsanft geweckt hatte.
Entgegen seiner Gewohnheit hatte der Kapitän dem Wein gestern unmäßig zugesprochen und stierte den Gesellen aus blutunterlaufenen Augen an.
»Ich möchte mich verabschieden«, entgegnete der Geselle selbstbewusst.
»Eigentlich ist es meine Entscheidung, Leute einzustellen oder zu entlassen.«
Der kräftige Mann wirkte gereizt und baute sich vor Hannes auf.
Doch die Zeiten, da sich der Zimmermann leicht einschüchtern ließ, waren vorbei.
Dazu hatte er bereits zu viele brenzlige Situationen gemeistert in seiner Wanderzeit, die bereits zur Hälfte vorbei war.
Hannes blickte dem Bootsbesitzer fest in die Augen und dieser wandte sich ab.
Die rasenden Kopfschmerzen trugen wohl dazu bei, dass der Kapitän klein beigab.
»Na schön, du hast dich nicht vor dem Rudern gedrückt, das muss ich lobend erwähnen.«
Zu Hannes’ großer Überraschung öffnete er seinen Beutel und fischte einige Münzen heraus.
»Hier hast du einen kleinen Lohn für die gute Arbeit, die du auf meinem Schiff geleistet hast.«
Überschwänglich bedankte sich der junge Handwerker und steckte das Geld ein.
Es war ursprünglich ausgemacht gewesen, dass Hannes für die Fahrt sowie für Essen und Trinken rudern musste. Freudig verabschiedete sich der Geselle von den anderen Männern, die wach waren, und schritt seiner Wege.
Der Frühling zeigte sich bereits in all seinen Farben. Die Zugvögel waren zurückgekehrt und begleiteten den einsamen Wanderer mit ihrem schönen Gesang.
Von Zeit zu Zeit wurde er von Fuhrwerken überholt, Hannes machte indes keinerlei Versuche, mitgenommen zu werden. Er genoss die überschäumende Natur und freute sich auf ein Wiedersehen mit Bernhard.
Die Enttäuschung, die er in Amsterdam erlebt hatte, war mittlerweile so gut wie vergessen. Grausam waren nur die ersten Tage gewesen, nachdem Tines Verrat ruchbar geworden war. Er hatte die schöne Frau geliebt, doch inzwischen die Erinnerung an sie weitestgehend getilgt.
Kurz vor Wörrstadt begegnete er einem älteren Seifenhändler, der ein hölzernes Gestell auf seinem Rücken trug.
»Verzeiht, guter Mann.«
Hannes war neben den schwer atmenden Kaufmann getreten.
»Könnt Ihr mir den Weg zur stolzen Ebernburg weisen?«, fragte der Handwerksgeselle freundlich.
Der Händler betrachtete Hannes, als ob er ein ungehorsames Kind wäre.
»Was willst du an diesem Sündenpfuhl?«, antwortete er ungehalten mit einer Gegenfrage. »Den Weg kann ich dir wohl beschreiben, allein ich weiß nicht, ob du dort noch jemanden antriffst.«
»Wieso, was ist geschehen?«, wollte Hannes aufgeregt wissen.
Seine gute Laune war mit einem Mal verflogen.
»Tausende von Landsknechten belagern Sickingens Burg Nannstein.
Der sogenannte Afterkaiser hat seine mächtigen Feinde unterschätzt und hockt nun auf seiner Feste, wo er auf sein Ende wartet. Wie ich gehört habe, soll seine Ebernburg gleichfalls angegriffen und geschleift worden sein.«
Verstört marschierte Hannes weiter und ignorierte die hämischen Bemerkungen des Mannes.
An der nächsten Weggabelung nahm der Geselle die Straße, die westwärts führte. Der Seifenhändler hatte von zwei Tagesmärschen gesprochen und mit jeder Meile, die Hannes zurücklegte, wuchs die Anspannung.
War Bernhard überhaupt noch am Leben und was war aus Ulrich von Huttens hochfliegenden Plänen geworden, die Gesellschaft komplett zu verändern?
Während ihn all diese Fragen quälten, kam eine Horde Reiter aus der anderen Richtung auf ihn zu.
Die bewaffneten Männer hatten offenbar nicht vor, die Seite zu wechseln.
Mit einem gewagten Sprung konnte Hannes gerade noch den donnernden Hufen entkommen. Kurz bevor er sprang, sah er in ein Gesicht, das er zu kennen glaubte.
Wütend blickte er den wildgewordenen Kerlen nach und versuchte dabei angestrengt, sich an den Namen zu dem Gesicht zu erinnern. Dabei musste er zu seinem Schrecken erkennen, dass die Meute angehalten hatte und im Begriff war umzudrehen.
Mit schreckgeweiteten Augen sah Hannes, wie die Männer zurückkehrten.
Jetzt war ihm auch der Name des vordersten Reiters eingefallen.
So schnell er konnte, rannte der Geselle in den nahen Wald.
Während er sich das köstlich schmeckende Fasanenfleisch schmecken ließ, betrachtete Gotthelf Burgwart wohlwollend den gut aussehenden Advocatus.
Er dachte daran, dass er es hauptsächlich dem Adeligen verdankte, dass seine Tochter, die ihm am meisten auf der Welt bedeutete, noch am Leben war.
Sicherlich hatte auch Meister Heinrich mitsamt seinen Gesellen seinen Anteil an der Befreiung Annas. Ohne Gregors Verhandlungsgeschick jedoch wäre sie bestimmt gemeuchelt worden, davon war Burgwart überzeugt.
»Darf ich Euch noch ein wenig von dem guten Tropfen nachschenken?«, fragte der Hausherr.
Auenfeld nickte zustimmend und der fast schwarze Burgunderwein floss in seinen Becher. Der Gewürzhändler hatte es sich nicht nehmen lassen, die Befreier seiner Tochter zu diesem opulenten Mahl einzuladen. Überdies hatte er den Männern mit einem nicht unbeträchtlichen Geldbetrag gedankt.
Einzig Heinrich, der Handwerksmeister, hatte einen melancholischen Zug in seinem kantigen Gesicht. Der gewaltsame Tod Erwins, der ihm nicht bloß Arbeiter, sondern auch Freund gewesen war, wollte Heinrich nicht aus dem Sinn gehen.
»Hättet ihr wohl die Freundlichkeit, mir kurz zuzuhören?«, rief Burgwart, nachdem er mehrfach in die Hände geklatscht hatte.
»Ich habe euch eine Mitteilung zu machen«, hob er an, nachdem die Gespräche verstummt waren.
»Wie ihr alle wisst, befindet sich mein verbrecherischer Schwiegersohn auf der Flucht vor dem Scharfrichter. Meine geliebte Anna ist dadurch in eine unhaltbare Situation geraten. Aus diesem Grund habe ich bei hohen kirchlichen Würdenträgern nachgesucht, diese unglückliche Ehe zu annullieren.«
Die Gäste ließen sich bei diesen Worten zu wahren Beifallsstürmen hinreißen.
Burgwart hob die Hände und bat erneut um Aufmerksamkeit.
»Die einflussreichen Männer haben mir Hoffnung gemacht, dass dies noch vor dem Herbst geschehen könnte. Einmal habe ich meine Tochter ins Unglück gestürzt, dieses Mal ist es ihre freie Entscheidung.«
Er machte eine kurze Pause, um die Wirkung seiner Worte zu erhöhen.
»Sobald wir einen positiven Bescheid haben, wird Anna eine neue Vermählung eingehen. Betrachtet deshalb ab jetzt Anna und Gregor als verlobt.«
Wiederum war lautes Klatschen und Tischklopfen die Antwort.
Die junge Frau konnte nicht anders, als die Hand Auenfelds in ihre zu legen und ihn verliebt anzuschauen.
Das möge Gott verhüten, dachte der gut aussehende Doktor der Jurisprudenz, erwiderte jedoch den Blick genauso glutvoll mit seinen dunklen Augen.
Diese Nachricht verbreitete sich in Windeseile in der Stadt Reutlingen und danach nahm niemand mehr Anstoß daran, wenn die beiden zusammen gesehen wurden.
Anna und Gregor wurden große Sympathie und Zuspruch von allen Bevölkerungsschichten erwiesen. Drei Tage in der Woche war der eloquente Adelige mittlerweile in Annas Kontor tätig und hatte sich in der relativ kurzen Zeit seiner Anstellung fast unentbehrlich gemacht.
»Wie schaffst du es eigentlich, deine gutgehende Kanzlei in Tübingen erfolgreich zu betreiben?«, fragte ihn Anna eines Morgens nach dem Aufstehen.
»Die vielfältigen Aufgaben habe ich auf die Schultern meiner dortigen Angestellten verteilt. Es erscheint mir derzeit wichtiger, mein Hauptaugenmerk auf dein Geschäft zu richten.«
Anna genügte diese Erklärung. Bisher hatte sie auch noch nicht den Versuch unternommen, Gregors Kanzlei zu sehen.
Die beiden lebten beinahe wie ein Ehepaar zusammen. Auenfeld hatte zwar eine eigene Kammer in dem geräumigen Haus, lag indes jede Nacht, die er in Reutlingen verweilte, an Annas Seite. Die Bediensteten tuschelten zwar, waren ihrer beliebten Dienstherrin gegenüber jedoch loyal, sodass keinerlei Tratsch nach außen drang.
Hin und wieder besuchte die Kauffrau ihre Freundin Maria, so auch an diesem schönen Frühlingsmorgen. Sie verabschiedete sich von Gregor und lenkte ihre Schritte zum Mettmannstor hinaus.
Schon von Weitem sah sie die Heilerin, die vor ihrem Häuschen stand und sich angeregt mit einem gut gekleideten Mann unterhielt.
»Anna, wie schön, dich zu sehen. Darf ich dir meinen Gast vorstellen, Jakob Stechler, Kaufherr zu Reutlingen.«
Höflich begrüßte sie den Händler und schenkte ihm dabei ein freundliches Lächeln. Mit hochrotem Kopf erwiderte er den Gruß und blickte Anna kurz in die schönen Augen. Sie kannte den Gewürzhändler vom Sehen und wusste, dass er ein Konkurrent ihres Vaters war.
Stechler war von mittlerer Statur und hatte sandfarbenes Haar, das in dünnen Strähnen unter der schwarzen Kappe hervorlugte. Die überaus hellen blauen Augen passten nicht so recht zu dem eigentlich langweiligen Gesicht, das von einer knolligen Nase beherrscht wurde.
»Jakobs Mutter hat ein Magenleiden, für das ich ihr eine Kräutermischung zusammengestellt habe.«
Der Kaufmann nahm schnell das dargereichte Päckchen, drückte Maria mehrere Münzen in die Hand und verabschiedete sich.
Offenkundig machte ihn Annas Gegenwart unsicher.
»Dieser Mensch war mir schon immer unsympathisch«, meinte die Kauffrau, nachdem Stechler seiner Wege gegangen war.
»Das kann ich verstehen, ich mache indes keine Unterschiede bei meinen Patienten, das könnte ich mir ohnehin nicht leisten. Im Grunde genommen ist er zu bedauern, seit seine Gattin im vorherigen Winter den Freitod gesucht hat.«
Sehr gut konnte sich Anna noch daran erinnern, welchen Aufruhr es gegeben hatte, nachdem Bedienstete behaupteten, in einem Lagerhaus Stechlers die unglückliche Frau an einem Balken hängend gefunden zu haben.
Hinter vorgehaltener Hand war gemutmaßt worden, dass sie von ihrer zänkischen Schwiegermutter zu diesem Schritt gedrängt worden war.
Die Angestellten waren recht schnell verstummt, sei es durch eine Geldzuwendung ihres Herrn oder durch eine Drohung. Jedenfalls wurde die vermeintliche Selbstmörderin nicht auf einem Acker verscharrt, sondern in geweihter Erde begraben, wozu die Spende Stechlers an die Kirche nicht unwesentlich beigetragen haben dürfte. Seither lebte der Gewürzhändler mit seiner Mutter alleine unter einem Dach.
»Das Trauerjahr ist abgelaufen und ich bin überzeugt, dass er sich bald auf Freiersfüße begibt. Jakob Stechler ist eine sehr gute Partie und daran ändert auch das furchtbare Schicksal seiner Frau nichts.«
Bei diesen Worten der Hebamme musste Anna an ihr eigenes Schicksal zurückdenken und daran, dass sie in die Hände eines Mannes gegeben worden war, den sie nicht geliebt hatte.
»Irgendein ehrgeiziger Vater wird sein Töchterlein gegen ein anständiges Sümmchen in die Hände dieses komischen Kauzes geben. Kann es Gottes Wille sein, dass wir armen Frauen bis in alle Ewigkeit unter der Knute der Männer stehen?«, fragte die selbstbewusste Kauffrau zornig.
»Du weißt so gut wie ich, dass allein schon der Gedanke, etwas ändern zu wollen, strafbar ist. Wir zwei haben Glück gehabt, dass wir unser Leben mehr oder weniger selbstbestimmt führen können.«
»Vielleicht kommt mit der kirchlichen Erneuerung, die gerade im Gang ist, auch eine gesellschaftliche«, mutmaßte Anna versonnen und dachte zurück an die Gespräche auf der Ebernburg.
»Wenigstens scheinst du jetzt dein Glück gefunden zu haben, Anna. Die allermeisten Leute, mit denen ich zu tun habe, wünschen dir jedenfalls alles Gute für deine neue Liebe.«
»Da hast du recht«, meinte die junge Frau, wobei ihr hübsches Gesicht strahlte. »Mir geht es so gut wie schon lange nicht mehr.«
Eine Weile lang unterhielten sie sich über belanglose Dinge, wobei Maria ihrer Freundin verschwieg, dass sie sich seit Kurzem ebenfalls heimlich mit einem Mann traf.
Anna verabschiedete sich wenig später und wollte zurück in ihr Kontor gehen.
Doch angesichts des herrlichen Frühlingstages entschied sie sich anders und machte stattdessen einen Spaziergang. Sie wanderte stromaufwärts an der Echaz entlang und lenkte ihre Blicke immer wieder zu den trutzigen Mauern und der Silhouette ihrer stolzen Heimatstadt.
Ab und an glitt ihre Hand in das langsam dahinfließende Wasser und ihr Herz machte einen Sprung beim Gedanken an die baldige Hochzeit im Herbst.
Etwa zur selben Zeit stürmte Burgwart ungehalten ins Kontor seiner Tochter in der Krämergasse.
»Wo steckt Anna?«, fragte er unwirsch, ohne den überrascht aufblickenden Gregor zu begrüßen.
»Sie wollte sich ein wenig die Füße vertreten an diesem schönen Tag.
Soll ich sie suchen lassen?«
»Nein, nein«, entgegnete Burgwart.
»Der Grund meines Besuchs gilt eher Euch.«
Gregor horchte auf.
»Vorhin hat mich ein Bote aufgesucht. Der Mann war völlig entkräftet und dem Tod näher als dem Leben.«
Burgwart schwieg eine quälend lange Zeit, bevor er weiter fortfuhr.
»Es handelt sich bei dem Söldner um einen von Sickingens treuesten Gefährten, Gottfried von Karlsburg.«
Eine dunkle Ahnung stieg in Gregor auf, er ließ sich jedoch nichts anmerken.
»Der berühmte Heerführer hat seinen Adjutanten damit beauftragt, das Lösegeld für Anna, das er einbehalten hat, an mich zurückzuzahlen. Augenscheinlich kämpft er seine letzte Schlacht und will ohne Schulden von dieser Welt scheiden. Nun verhält es sich aber so, dass die Summe, die er mir gegeben hat, nur die Hälfte dessen beträgt, was ich Euch mitgegeben hatte. Als ich ihn danach fragte, hat er bei allem, was ihm heilig ist, geschworen, dass der als redlich bekannte Sickingen nicht mehr von Euch erhalten habe. Wie Gottfried von Karlsburg mir außerdem beteuerte, war er selbst zugegen und hat gesehen, dass Ihr fünfhundert Gulden ausbezahlt habt. Sobald Anna wieder da ist, werde ich ihn in seiner Herberge abholen lassen und wir bereden die Sache zu viert.«
Davon darf Anna nichts erfahren, dachte der Advocatus, seine gesamte Reputation stand auf dem Spiel.
»Der Kerl lügt natürlich, der noble Herr von Sickingen hat einfach nicht mehr Geld zur Verfügung«, suchte Gregor sein Heil im Angriff.
»Das Dokument hier spricht eine andere Sprache.«
Aus einer Innentasche seines gefütterten Wamses zog Burgwart ein Schriftstück heraus und legte es neben ein von Gregor unterzeichnetes Papier.
»Die Unterschriften sind nahezu identisch«, stellte Burgwart fest.
Währenddessen traten winzige Schweißperlen auf Gregors Stirn und ihm war bewusst, dass er dieses Dokument vernichten musste, bevor es Anna zu Gesicht bekam.
»Setzt Euch doch, Gotthelf, es handelt sich bestimmt um ein kleines Missverständnis, das sich leicht aufklären lässt. Ich werde uns etwas zu trinken kommen lassen.«
Gregor winkte dem einzigen anwesenden Kontorsangestellten und dieser beeilte sich, dem Befehl nachzukommen.
Seufzend kam Burgwart der Bitte seines zukünftigen Schwiegersohns nach, als dieser blitzschnell den Stuhl wegzog. Schwerfällig wie ein voller Sack Getreide plumpste der Gewürzhändler zu Boden. Er war zuerst mit dem Steiß und danach mit dem Hinterkopf auf die Steinplatten aufgeschlagen und blieb einen Moment reglos liegen.
Sofort war Auenfeld über ihm und drückte dem benommenen Kaufmann das gleichfalls zu Boden gefallene Sitzkissen auf Mund und Nase.
Gehetzt blickte Hannes umher, auf der Suche nach einem Ausweg.
»Was willst du von dem dreckigen Gesellen, wir haben bei Gott Wichtigeres zu tun.«
»Wenn ich dir erzähle, was ich dem Kerl zu verdanken habe, wirst du mich verstehen.«
Kaspar Neumann war wild entschlossen, sich auch von dem gewaltigen Odo nicht von seinem Vorhaben abbringen zu lassen.
Mit grimmiger Miene und gezücktem Kurzschwert drang er in den dichten Wald ein.
Von seinem Versteck aus hörte Hannes deutlich das Knacken von Ästen sowie näherkommende Schritte.
»Der Hundsfott muss doch hier irgendwo sein, er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.«
Unter äußerster Anstrengung unterdrückte der Geselle ein aufkommendes Niesen.
»Komm zurück, Kaspar!«, schrie Odo wütend. »Du musst deine Rachegelüste hintanstellen, Vogler hat bestimmt längst einen Trupp zusammengestellt, um uns zurückzuholen. So wie ich ihn kenne, wird er sich unser neuerliches Versagen nicht bieten lassen.«
Neumann lief noch um einige Bäume herum, hinter denen sich ein Mann bequem verstecken konnte, bevor er der Aufforderung seines Kumpans nachkam.
Erst als das Hufgetrappel nicht mehr zu hören war, schälte sich Hannes aus seinem feuchten Versteck.
An einem kleinen Abhang hatte er eine Wildschweinsuhle entdeckt, in die er sich hineingelegt und mit Laub zugedeckt hatte.
Mit den Händen klopfte er sich ab und dachte dabei an Kaspar.
War es Gottes Wille, dass er immer wieder auf seinen Widersacher traf?
»Eines Tages wird wohl einer von uns beiden den Kürzeren ziehen«, sagte Hannes laut vor sich hin.
Sein drängendstes Problem hingegen war die Feuchte in seinen Kleidern.
Der Frühling war zwar bereits mit Macht gekommen, die Nächte jedoch waren empfindlich kalt. Er musste einen Platz finden, wo er trocken und warm übernachten konnte. Hannes beschloss, seinen eingeschlagenen Weg zur Ebernburg fortzusetzen. Wenn die Schilderung des Seifenhändlers zutraf, musste er die Festung bald erreicht haben.
Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, war es später Nachmittag. Somit hatte der Geselle noch ein, zwei Stunden Tageslicht für seinen Marsch.
Trotz der wärmenden Strahlen fröstelte den Zimmermann und zu seinem Unglück war weit und breit keine Herberge, geschweige denn eine Poststation zu erblicken.
Fuhrwerke, bei denen er hätte aufsitzen können, waren ebenfalls Mangelware.
Nachdem die Sonne untergegangen war, nahm eine leichte Panik von ihm Besitz.
Sollte er nicht bald einen warmen Ort finden, so würde er sich hier noch den Tod holen.
Hatte er so viele Abenteuer erlebt, damit er hier an der Schwindsucht zugrunde ging?
Angetrieben von der Angst und der einsetzenden Kälte, stolperte der Geselle weiter und weiter.
Plötzlich erblickte er in der Ferne ein flackerndes Licht. Von neuer Hoffnung beseelt, eilte Hannes der Feuerstelle entgegen. Als er näherkam, sah er sich jedoch einer bizarren Szenerie gegenüber. Das Feuer war in der Nähe eines mächtigen Baumes, der inmitten des Waldes auf einer Lichtung stand, angefacht worden. An diesen war ein Mann gefesselt, der mit ansehen musste, wie die Flammen seiner Kleidung näher und näher kamen.
»Versündigt euch nicht, ihr Schafsköpfe, und lasst mich sofort frei. Ihr werdet ansonsten auf ewig in der Hölle schmoren.«
Hannes sah fünf verwegene Gestalten, die den erbarmungswürdigen Kerl auslachten.
»Du wirst uns dorthin vorausgehen«, meinte ein grobschlächtiger Bursche.
Der Gefesselte ließ sich indes von dem Gelächter nicht beirren und zählte sämtliche Qualen detailgetreu auf, die seine Peiniger im Jenseits zu erwarten hatten.
Das Gegröle ebbte ab und bei manch einem der fünf stellten sich die Nackenhaare auf ob der zu erwartenden Strafen.
»Was war das für ein Geräusch? Seid mal ruhig!«, befahl der Ungeschlachte, der augenfällig der Anführer zu sein schien.
»Hu, hu, hu!«
Jäh war eine gespenstische Ruhe eingekehrt und außer dem Prasseln des Feuers war nichts mehr zu hören.
»Hu, hu, hu!«
Den hartgesottenen Männern war bei dem unheimlichen Geräusch, das ihnen durch Mark und Bein ging, nicht mehr wohl in ihrer Haut und selbst ihr Gefangener war verstummt.
»Das Jüngste Gericht ist nah. Macht euch bereit und bereut eure zahlreichen Sünden!«, ließ sich eine gruselige Stimme vernehmen.
»Oh Herr, nimm deinen getreuen Diener zu dir. Ich befehle meine Seele in deine Hände!«, rief der Gefesselte demütig aus.
Nun gab es für die fünf Männer kein Halten mehr. Hals über Kopf rannten sie davon und ließen alles stehen und liegen.
Nach geraumer Zeit stieg Hannes von einem in der Nähe stehenden Baum herunter.
»Unser Wiedersehen hatte ich mir etwas freudvoller vorgestellt, Bernhard.«
»Ich glaube es nicht, Hannes, dich schickt der Himmel. Schnell, binde mich los!«
Der Geselle nahm sein kleines Brotzeitmesser und zerschnitt die Fesseln seines Freundes.
»Was wollten die Halsabschneider eigentlich von dir?«
»Das ist eine lange Geschichte«, seufzte der ehemalige Mönch und umarmte den Handwerker herzlich.
»Du hast mir das Leben gerettet. Im Grunde fürchten sich diese Söldner vor gar nichts, doch ihr Aberglaube macht sie verwundbar, wie man sieht.«
Bernhard schmunzelte, als er daran dachte, wie die Männer das Hasenpanier ergriffen hatten.
»Wir sollten trotzdem von hier verschwinden, falls die Kerle doch noch ihren Mut zusammennehmen und zurückkehren.«
Der Diener Gottes rieb sich die schmerzenden Hände und wandte sich zum Gehen.
»Warte kurz, Bernhard. Meine Kleider sind nass. Ich würde sie gerne am Feuer trocknen.«
»Meinetwegen, wenn du dir den Tod holst, ist uns auch nicht gedient. Danach müssen wir jedoch schnell verschwinden, denn es wimmelt hier nur so von marodierenden Banden, die Jagd machen auf versprengte Anhänger Sickingens.«
Fragend blickte Hannes seinen dicklichen Freund an.
Nachdem sie die Straße wieder erreicht hatten, auf der Hannes hergekommen war, erzählte Bernhard ausführlich vom Scheitern des Feldherrn.
»Keiner von den Getreuen, die ihm ihre Hilfe zugesagt haben, ist gekommen. Einige haben den Schwanz eingezogen und die, die kommen wollten, wurden von seinen Gegnern abgefangen. Doch den größten Fehler hat Franz selbst begangen, indem er nicht auf seine besten Ratgeber gehört hat. Wie haben sie ihn bekniet, nicht vorschnell zu handeln und sich nicht nur auf die Ritter zu verlassen. Allein Sickingen gab ihnen kein Gehör und sitzt jetzt mit seinen letzten Getreuen auf seiner Feste Nannstein. Umzingelt vom Heer seiner Feinde, will er dort bis zum letzten Blutstropfen ausharren. Die stolze Ebernburg ist bereits gefallen und nur mit deiner Hilfe konnte ich entrinnen. Wie es den anderen ergangen ist, mag ich mir nicht ausmalen«, berichtete Bernhard resigniert.
»Und wo befindet sich Ulrich von Hutten?«, fragte der Geselle besorgt.
»Er ist rechtzeitig nach Basel zu den Eidgenossen geflüchtet, nachdem er im Deutschen Reich für vogelfrei erklärt worden war.«
Die ganze Nacht waren die beiden auf den Beinen. Sie hatten sich so viel zu erzählen, dass ihnen die Müdigkeit erst am nächsten Morgen bei Tageslicht so richtig zusetzte.
Seit dem Morgengrauen hatte die Wanderer lustiges Vogelgezwitscher begleitet und die letzten Ängste vor etwaigen Verfolgern verscheucht.
Wenig später war der Tau auf den Wiesen verschwunden und die Männer legten sich etwas abseits der Straße ins Gras. Während Bernhard sofort zu schnarchen begann, musste Hannes an Anna denken. Sein Reisebegleiter hatte ihm von der Geiselnahme sowie der glücklichen Befreiung der jungen Kauffrau erzählt.
Es wurmte ihn, dass er seine Jugendliebe und seinen Schwager Heinrich nur um wenige Wochen verpasst hatte.
Bernhards Schilderungen zufolge hatte Anna nach der herben Enttäuschung mit Kaspar Neumann offenbar ein neues Glück mit einem adeligen Advocatus gefunden.
Seine Träume von Liebe und Heirat in Amsterdam waren hingegen zerplatzt wie Seifenblasen.
Hannes war irgendwann doch noch in einen unruhigen Schlummer gefallen.
»Wach auf!«
Zwei Hände rüttelten an seinem Wams.
»Wir wollen weitermarschieren und irgendwo etwas zu essen auftreiben.«
Der Geselle erhob sich langsam und betrachtete seinen Begleiter, dessen Mönchskutte über dem Bauch ziemlich spannte.
»Notleidend siehst du jedenfalls nicht aus«, meinte Hannes grinsend. »Aber du hast recht, ich verspüre gleichfalls quälenden Hunger.«
Gemeinsam gingen sie zu einem nahen Bach, um sich zu erfrischen und ihren Durst zu löschen.
Nicht lange danach erblickten sie abseits der Straße einen Kirchturm und lenkten ihre Schritte in diese Richtung. Bernhard gab sich als Benediktiner aus, der in wichtiger Mission unterwegs war, und Hannes als einen Laienbruder, der ihn auf seiner Reise beschützte. Der ortsansässige Pfaffe glaubte dem überzeugend auftretenden Bernhard jedes Wort und verköstigte seine Gäste mit allerlei Leckereien, die sich die Dorfbewohner vom Mund absparen mussten.
Solcherart suchten sie noch weitere Dörfer auf, die auf ihrem Weg nach Süden lagen, und sahen dabei das ganze Elend der Landbevölkerung.
»Das kann doch so nicht bis zum Jüngsten Tag weitergehen!«, ereiferte sich Bernhard, nachdem sie am Morgen ein besonders elendes Dorf verlassen hatten. »Die Armen gehören doch genauso zu Gottes Schöpfung wie die Reichen.«
Hannes war ebenso schockiert gewesen, nachdem die Bewohner von ihren mannigfachen Abgaben berichtet hatten.
Bernhard und Hannes hatten ein schlechtes Gewissen gehabt, als die Leute das wenige, das sie hatten, mit ihnen teilten.
Die schmutzigen Kinder waren mager und gingen barfuß umher.
Sobald sie einigermaßen laufen konnten, mussten sie ihren Eltern zur Hand gehen.
»Glaube mir, im Volk gärt es. Die einfachen Menschen lassen sich das nicht mehr länger gefallen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie sich von der Knute befreien. Es ist auffällig, wie sich die Aufstände in den letzten Jahren häufen. Dein Onkel Jos Fritz ist leider unglücklich gescheitert, doch den Samen hat er gelegt. Der ›Armer Konrad‹ genannte Aufstand hat die Mächtigen in arge Bedrängnis gebracht und den despotischen Herzog Ulrich beinahe das Leben gekostet. Sickingen und Hutten haben ihre Revolte falsch angefangen, aber glaube mir, wenn sich der überragende Luther an die Spitze der Bewegung stellt, ist die Umwälzung der Gesellschaft nur eine Frage der Zeit«, meinte Bernhard enthusiastisch und schlug wie zur Bestätigung mit seinem Wanderstock an einen Baum.
»Hast du mir nicht neulich erzählt, dass Ulrich von Hutten sich hartnäckig um den streitbaren Wittenberger bemüht hat, dieser sich jedoch nicht festlegen wollte?«
»Stimmt, doch ich denke, dass Luther einfach ein wenig Zeit braucht. Er hat gerade viel um die Ohren, ich bin aber felsenfest davon überzeugt, dass er sich nach der Reformierung unserer heiligen Kirche den weltlichen Missständen zuwendet. Dann geht es den hohen Herren an den Kragen.«
Ein triumphierendes Lächeln zeigte sich auf Bernhards rundlichem Gesicht.
»Und wo ist dein Platz bei der ganzen Geschichte?«, wollte Hannes wissen.
»Das ist eine gute Frage. Zuerst werde ich Ulrich von Hutten aufsuchen, der sich hoffentlich noch in Basel befindet. Er steht in stetiger Korrespondenz mit dem Wittenberger und wird demnach dessen Pläne genauestens kennen. Jedenfalls bin ich nach wie vor entschlossen, meine bescheidenen Fähigkeiten in den Dienst der gerechten Sache zu stellen. Du könntest mich begleiten, Basel ist eine reiche Stadt, inmitten der schweizerischen Konföderation gelegen. Dort findest du mit Sicherheit eine gute Arbeit«, versuchte der ehemalige Mönch, seinen Reisebegleiter zu überzeugen.
»Diese Aussichten klingen verlockend, außerdem würde ich mich freuen, Ulrich wiederzusehen. Ich habe mir jedoch fest vorgenommen, endlich meinen Onkel Jos Fritz zu suchen, der sich nach allem, was ich gehört habe, in der Gegend um Freiburg aufhalten soll.«
»Das ist natürlich ein gutes Argument, doch wenn du danach deine Zelte abbrichst, würde es mich ungemein freuen, dich in der Schweiz wiederzusehen.«
Nach einer mehrwöchigen Wanderung, in deren Verlauf sie dem Rhein in südlicher Richtung gefolgt waren, kam eines Nachmittags ein imposanter Kirchturm inmitten einer größeren, befestigten Stadt in Sicht.
»Siehst du das Freiburger Münster, Hannes? Es ist in der Tat eines der gewaltigsten Bauwerke im Kaiserreich.«
Bernhard erzählte von der Entstehung der Kirche und der Stadt und der Geselle saugte das Wissen auf wie ein Schwamm.
Seit er Bernhard kannte, hatte er enorm viel dazugelernt und bereute beinahe seine Entscheidung, sich von dem gebildeten Mann zu trennen.
Sein Entschluss stand indessen fest und die wunderschöne Gegend machte es ihm leichter, standhaft zu bleiben.
Die fruchtbare Rheinebene, linker Hand von den mächtigen Schwarzwaldbergen und rechts von den nicht minder beeindruckenden Vogesenhöhen begrenzt, lud geradezu zum Verweilen ein.
»Dort vorne siehst du den sogenannten Kaiserstuhl«, bemerkte Bernhard und deutete auf ein kleines, dem Schwarzwald vorgelagertes Bergmassiv. »Jetzt ist es nicht mehr weit bis nach Freiburg. Du wolltest aber zuerst hier in den umliegenden Dörfern nach deinem Onkel Ausschau halten, nicht wahr?«
»Du hast recht. Das heißt dann, dass sich unsere Wege fürs Erste trennen«, entgegnete Hannes wehmütig.
»Deine Gegenwart wird mir fehlen. Ich gebe dir einen guten Rat: Sei allzeit auf der Hut. Bestimmt wird dein Oheim noch von der Obrigkeit gesucht. Halte deshalb Augen und Ohren offen und möge der Herr deine Schritte in die richtige Richtung lenken. Wenn du nach Basel kommst, dann frage nach dem allseits bekannten Reformator Oekolampadius, er wird wissen, wo du mich findest.«
Kurzentschlossen umarmte Bernhard den Gesellen.
»Du wirst mir gleichfalls fehlen. Die gemeinsame Zeit mit dir war sehr lehrreich für mich, außerdem hatten wir so gut wie nie Streit, das ist doch ein gutes Zeichen … Bestimmt sehen wir uns in einigen Wochen in der Stadt am Rhein wieder, wenn ich meine Angelegenheiten hier erledigt habe. Gehab dich wohl, mein Freund.«
Hannes gab dem Geistlichen einen leichten Klaps auf den Arm und folgte einer Weggabelung, die in ein nahes Dorf führte.
Bernhard seufzte und ging ebenfalls seiner Wege.
Die blühenden Weinberge, die er durchschritt, erinnerten Hannes an seine Heimat.
Hier schien es jedoch deutlich milder zu sein, denn das Wachstum der Reben war weiter fortgeschritten als in Reutlingen zur selben Jahreszeit.
Hannes schritt die staubige Hauptstraße entlang und sprach die erste Person an, die ihm entgegenkam.
»Gott zum Gruße, ehrbare Frau, gibt es hier im Ort eine Schenke, wo sich ein müder Wandersmann niedersetzen kann?«
In den meisten Dörfern gab es lediglich sogenannte Lichtstuben, in denen sich die Einwohner nach Beendigung des Tagwerks trafen.
Manche Flecken hatten indes durchaus Gaststätten mit angegliederter Herberge.
»Du hast Glück, Bursche, die Schenke da vorne wird zur siebten Stunde geöffnet.«
Der Geselle wanderte in die beschriebene Richtung und dachte hoffnungsfroh, dass er hier vielleicht auch die Nacht zubringen könnte.
Er öffnete die knarrende Eingangstüre des gedrungenen Bauernhauses und fand sich in einem dunklen Raum wieder.
In der Mitte befand sich ein riesiger Kachelofen mit gemauerten Sitzbänken.
Decke und Wände waren mit Holz verkleidet und um die wenigen Tische drängten sich Männer mit derben Leinenkitteln. Hannes spürte die feindseligen Blicke, die hier offenbar jedem Fremden geschenkt wurden, beinahe körperlich.
Trotzdem grüßte er höflich in die Runde und wandte sich danach einem hochgewachsenen, hageren Mann zu, in dem er den Wirt zu erkennen glaubte.
»Könnt Ihr mir eine Mahlzeit und einen Krug Eures gewiss hervorragenden Weines geben?«
»Du siehst nicht aus, als ob du das bezahlen könntest«, meinte der Wirt skeptisch, während er die abgerissene Kleidung des Gesellen betrachtete.
Flink öffnete Hannes daraufhin seinen Beutel und zeigte dem Mann einige Hellerstücke. Seine Notreserve war an einer geheimen Stelle des Wamses eingenäht.
»Ich hoffe, das reicht auch für ein bescheidenes Nachtlager.«
Der Mann brummte etwas, das man als Zustimmung werten konnte, und ging in die angrenzende Küche. Sowie alle mitbekommen hatten, dass Hannes die Zeche bezahlen konnte, rückten mehrere Dorfbewohner zusammen und hießen den Gesellen, Platz zu nehmen. Sobald sein Krug vor ihm stand, bot er den Männern an, sich daraus zu bedienen, was diese dankend annahmen.
Der einfache Landwein schmeckte Hannes außerordentlich gut und auch das üppig mit Räucherschinken belegte Brett fand seine Zustimmung. Dazu wurde herrlich duftendes Brot gereicht und Hannes fühlte sich wohl, obgleich die Trennung von seinem hochgeschätzten Reisekameraden einen bitteren Nachgeschmack auslöste.
Aufgrund des süffigen Weines, der die Zungen löste, entspann sich eine muntere Unterhaltung. Hannes erzählte von Amsterdam und die Männer, die noch nie aus der Gegend rausgekommen waren, lauschten andächtig seinen Worten.
Der hochgewachsene, breitschulterige Bauer mit dem offenen Gesicht, der ihm gegenübersaß, schien nicht so engstirnig wie die meisten anderen zu sein und war dem Gesellen sofort sympathisch.
»Ich bin Thomas«, stellte er sich vor und streckte seine rechte Hand über den Tisch, die Hannes kräftig drückte.
»Mein Name ist Hannes«, erwiderte der Geselle freundlich und ließ los.
Sein Blick fiel auf die rechte Hand des Bauern und entsetzt sah er, dass sowohl Daumen als auch Zeige- und Mittelfinger fehlten.
Der Mann muss einen Unfall gehabt haben, dachte Hannes mitfühlend.
»Kennst du einen Jos Fritz?«, fragte der Geselle unvermittelt, nachdem der fünfte Krug geleert war.
Sofort verstummten sämtliche Gespräche am Tisch und alle Augen richteten sich auf Hannes.
»Nein, nie gehört den Namen«, antwortete Thomas knapp. »Ich muss jetzt gehen, habe morgen einen harten Tag. Gehabt euch wohl.«
Er erhob sich und eilte zur Tür hinaus.
Die anderen Männer nahmen ihre Gespräche wieder auf, keiner gab jedoch eine Antwort auf Hannes’ Frage.
Dann versuche ich es eben im nächsten Dorf, vielleicht habe ich dort mehr Glück, dachte Hannes.
»Herr Wirt, wo kann ich mich zur Nacht hinlegen?«, fragte der Geselle, nachdem er seine Zeche bezahlt hatte.
»Das ist ganz einfach, du gehst zur Haustüre hinaus und wendest dich nach links. Dort steht ein alter Heuschober ohne Tore, wo du dir ein Plätzchen zum Schlafen suchen kannst.«
»Ich danke Euch und wünsche allesamt eine geruhsame Nacht.«
Hannes nahm sein Bündel und seinen Stock und ging hinaus. Es war stockfinster und der Geselle hatte Mühe, den Schuppen zu finden.
»Das muss er sein«, sagte er vor sich hin und betrat das auf einer Seite offene Gebäude.
Kaum stand er im Inneren, als ein Knüppel auf sein Haupt niederging und ihn auf den Boden streckte. Blut sickerte aus der Kopfwunde des regungslos daliegenden Gesellen.
Blitzschnell nahm Gregor das Dokument an sich und versteckte es unter seinem Wams.
»Zu Hilfe, es ist etwas Schreckliches geschehen!«, schrie der Advocatus aus Leibeskräften, während er in die Küche stürmte, wo Köchin und Magd gerade damit beschäftigt waren, das Mahl für den Abend vorzubereiten.
»Ein großes Unglück ist passiert. Herr Burgwart hatte einen Schwächeanfall und ist gestürzt. Wir müssen sofort einen Bader herbeiholen. Ich bin zwar auch ein wenig medizinisch geschult, doch hier geht es um Leben und Tod.«
Die bestürzte Magd rannte aus dem Haus und wäre beinahe mit Anna zusammengeprallt. Mit bebender Stimme berichtete sie ihrer Herrin von dem Unfall und eilte davon.
Mit vor Schreck geweiteten Augen stand Anna wenig später in ihrem Kontor und blickte auf die leblose Gestalt. Sofort kam Gregor herbei und nahm sie in die Arme.
»Er wollte mir mitteilen, dass ein Bote Franz von Sickingens die Gulden gebracht hat, die von dem Ritter als Lösegeld einbehalten worden waren. Urplötzlich hat ihn dann der Schlag getroffen und er ist zusammengebrochen. Gotthelf atmet nicht mehr hörbar, trotzdem habe ich nach einem Bader geschickt.«
Anna konnte es nicht fassen und beugte sich über ihren Vater.
Obgleich Burgwart hin und wieder über irgendwelche Zipperlein geklagt hatte, war er doch nie ernsthaft krank gewesen.
Wenig später erschien die Magd mit einem dürren Männchen im Schlepptau.
»Tja, da kann ich auch nichts mehr machen«, meinte der Bader achselzuckend, nachdem er Gotthelf Burgwart eingehend untersucht hatte.
Schluchzend klammerte sich Anna an Gregor, der sie nach langen Augenblicken der innigen Umarmung sanft auf einen Stuhl setzte.
»Ihr kümmert Euch um Eure Herrin«, wies Gregor die Hausangestellten an, »ich suche derweil den Totengräber auf.«
Mit ernster Miene griff er sich das verbrämte Wams sowie seine schwarze Kappe und verließ das Haus. Der Bestatter wohnte mit seiner Familie und seinen Gehilfen in der Nähe des Friedhofs in der Vorstadt am unteren Tor, doch Gregor lenkte seine Schritte zuerst in eine andere Richtung. Er fand den Adjutanten Sickingens in der Herberge »Zum goldenen Adler«.
Mit deutlichen Worten bedeutete Gregor dem Ritter, dass die Angelegenheit erledigt sei und er sich besser gleich aus dem Staub machen solle. Derzeit werde nämlich zunehmend Jagd auf Anhänger Sickingens gemacht und da Reutlingen Mitglied im Schwäbischen Bund sei, könne er sich seines Lebens hier nicht mehr sicher sein.
Diese unverhohlene Drohung verstand Gottfried von Karlsburg und suchte unverzüglich das Weite.
Nachdem Gregor den Totengräber informiert hatte, rief der untersetzte Mann seine Gehilfen zusammen und folgte mit seinem einspännigen Wagen dem ruhig dahinschreitenden Advocatus.
Die zahlreichen Bürger, die die Binder- und Kramergasse säumten, wandten sich beim Anblick des todverheißenden Trosses ab. Behutsam wurde der Leichnam auf den Karren geladen, um außerhalb der Stadt für die Aufbahrung vorbereitet zu werden.
Nachdem die Totengräber fürs Erste wieder abgefahren waren, ging Anna mit unsicheren Schritten zum imposanten Haus ihres Vaters, wo die Totenwache stattfinden sollte. Wie selbstverständlich hakte sie sich bei Gregor unter, der die trauernde Frau mit ernster Miene stützte.
»Wenn ich dich nicht hätte, wäre ich vollkommen allein«, presste Anna mit tränenerstickter Stimme hervor.
Auenfeld nahm ein kleines Tuch und wischte ihr zärtlich das Gesicht ab. Erst allmählich dämmerte ihm, was er eigentlich getan hatte.
Reue indes verspürte er kaum. Warum hatte ihn der alte Trottel nicht in Ruhe gelassen? Das Einzige, was ihm ein wenig naheging, war die Trauer, unter der Anna zu leiden hatte, denn die eigenwillige Kauffrau war ihm wirklich ans Herz gewachsen.
Doch er musste seine Skrupel unterdrücken, wichtig war das große Ganze.
Seinem großen Ziel, der Rehabilitation des Hauses Auenfeld, würde er alles andere unterordnen.
Die Heirat einer Bürgerlichen käme sowieso nicht in Betracht und wäre sie noch so wohlhabend. Er würde Anna noch eine Zeit lang zur Seite stehen und könnte in dieser Zeit ein wenig von ihrem Reichtum profitieren.
Beim Gedanken daran hellte sich Gregors Miene kurz auf.
Der Tod des einflussreichen Händlers hatte sich in Windeseile herumgesprochen und vor Burgwarts Haus hatte sich bereits eine Menschentraube gebildet.
Als die Leute Anna sahen, verstummten sie und bildeten eine Gasse.
Pfarrer Alber folgte als Einziger den beiden Trauernden ins Haus.
In dem geräumigen Wohnzimmer warteten bereits Maria die Heilerin sowie Elsbeth Klingler. Haltsuchend ließ Anna sich in die Arme Marias sinken und weinte hemmungslos. Nachdem sie auch Elsbeth umarmt hatte, ließ sich die Kauffrau auf dem Lieblingsstuhl ihres Vaters nieder. Mit tröstenden Worten versuchte Matthäus Alber, die trauernde Anna wieder aufzurichten. Es gelang ihm nur für kurze Zeit, denn der Schmerz über den Verlust dieses von ihr über alle Maßen geliebten Menschen war zu viel für die junge Kauffrau.
Im Laufe des Abends wurde der Leichnam in einem behelfsmäßigen Sarg zurückgebracht und im Wohnzimmer aufgebahrt.
Die Nachtwache am offenen Sarg hielten einige Angestellte Burgwarts, denen der Tod des Händlers gleichfalls sehr zu Herzen ging. Trotz seiner manchmal unbeherrschten Art hatte er alle seine Untergebenen stets gerecht behandelt.
Anna ließ es sich nicht nehmen, die kondolierenden Bürger persönlich in Empfang zu nehmen. Sie fühlte sich trotz der Menschen unheimlich leer und es kam ihr beinahe so vor, als wäre die Situation unwirklich.
Nach einer durchwachten Nacht, in deren Verlauf ihr nur noch Gregor zur Seite stand, kamen am Morgen die Mitglieder der mächtigen Kramerzunft, um den letzten Gang Gotthelf Burgwarts gemeinsam mit seiner Tochter anzutreten.
Die Honoratioren gingen gemessenen Schrittes vor dem Wagen und auf dem Weg zum Friedhof schlossen sich ihnen zahlreiche Bürger an.
Wie durch einen dichten Nebel nahm Anna die Grabreden wahr und konnte sich später nicht mehr an den genauen Wortlaut entsinnen. Bei der anschließenden Trauerfeier im kleinen Kreis begann die junge Frau allmählich, wieder klare Gedanken zu fassen. Ihr geliebter Vater war tot, doch für sie ging das Leben weiter und sie musste anfangen, ihre Angelegenheiten zu regeln.
Zum Glück hatte sich die Kramerzunft um alles gekümmert, was mit dem Tod ihres vielleicht einflussreichsten und mit Sicherheit wohlhabendsten Mitgliedes zusammenhing, und somit Anna diese schwere Bürde abgenommen.
Sie sah in einer Ecke des prächtigen Zunftsaals den integren Kontorleiter ihres Vaters, Eberhard Bantlein, und bat ihn um eine Zusammenkunft im Hause Burgwarts am darauffolgenden Montag. Wenig später verabschiedete sich Anna, die lauten, vom Wein befeuerten Gespräche waren zu viel für sie.
Gewiss trug eine Feier dazu bei, die Trauer für einige Stunden zu vergessen, die ausgelassene Stimmung jedoch, die aufgekommen war, konnte Anna nicht ertragen.
»Möchtest du heute Nacht lieber alleine sein?«, fragte Gregor, der ihr gefolgt war.
»Nicht um alles in der Welt, bitte begleite mich in dieser dunklen Stunde.«
Gemeinsam gingen sie zum Haus der Kauffrau und Anna gab ihren Bediensteten an diesem Abend frei.
Zu dem vereinbarten Treffen am nächsten Morgen mit Bantlein wurde Anna wie selbstverständlich von Gregor begleitet.
»Seid gegrüßt, Frau Neumann, Herr von Auenfeld.«
Der hochgewachsene Kontorleiter mit den graublonden Locken führte die beiden herein und wies ihnen zwei Stühle zu, ganz so, als wäre er der Hausherr.
Gregor missfiel diese Geste und er nahm sich vor, den Angestellten bei passender Gelegenheit zurechtzuweisen.
»Bevor wir beginnen, möchte ich Euch noch einmal mein tief empfundenes Mitgefühl ausdrücken, Anna«, meinte Bantlein ehrlich. »Die Lücke, die der Tod von Herrn Burgwart gerissen hat, dürfte schwerlich zu schließen sein«, fuhr er mit einem schnellen Seitenblick auf Gregor fort.
»Ich danke Euch für Eure redliche Anteilnahme, doch nun möchte ich Euch bitten, uns einen groben Einblick in die Geschäftssituation meines Vaters zu geben.«
Bantlein nickte ergeben.
Er war sich der schwierigen Lage, in der Anna sich nun befand, durchaus bewusst.
Bisher hatte Gotthelf Burgwart seine schützende Hand über seine Tochter gehalten und es dieser somit ermöglicht, eine Stellung zu bekleiden, die einer Frau gewöhnlich verwehrt war.
Jetzt allerdings war es vonnöten, dass sie ihre Ehe mit dem gesuchten Mörder Kaspar annullieren ließ und schleunigst eine neue Verbindung einging.
Ansonsten war es sicher, dass ihr die Zunft in absehbarer Zeit den Geschäftsbetrieb einstellte. Davon wäre auch er, Bantlein, betroffen. Herrn Burgwart gegenüber war er absolut loyal gewesen und hatte auch den Abwerbungsversuchen von dessen Konkurrenten stets widerstanden. Doch nun, nach Burgwarts Tod, sah die Sachlage völlig anders aus, schließlich musste er drei zum Teil noch kleine Kinder ernähren.
Bereits auf dem Friedhof nach der Beisetzung des Gewürzhändlers hatte Jakob Stechler ihm angeboten, für ihn zu arbeiten.
Vorerst hatte ihn Bantlein noch vertröstet, mit der Bitte, abzuwarten, wie Anna sich entscheiden würde.
»Ich weiß von Herrn Burgwart, dass Ihr ihm vor Eurer Heirat mit Neumann im Kontor zur Hand gegangen seid und somit einen recht guten Einblick hattet. In dieser relativ kurzen Zeit jedoch hat sich einiges getan. Meister Gotthelf hat neben den feinen Gewürzen und dem edlen Burgunderwein zunehmend auch mit Fisch gehandelt. Die Zahl der Fastentage, die uns die Kirche aufgebürdet hat, ist immens und so lag es für ihn als Kaufmann nahe, dass er auch davon ein wenig profitieren könnte. Eingelegte Heringe und Stockfische sind dabei die Haupthandelsware, und glaubt mir, Euer Vater hatte ein feines Näschen für gute Geschäfte. Zudem hat er begonnen, den hiesigen Wein mit seinen Gewürzen zu versetzen und an betuchte Bürger zu verkaufen, was sich im Nachhinein gleichfalls als exzellenter Handel erwiesen hat. Wenn ich Euch nun die genauen Zahlen zeigen darf?«
Bantlein schob ein in Schweinsleder gebundenes Buch über seinen Schreibtisch.
»Das sind Einkünfte und Ausgaben des letzten Jahres und hier unten seht Ihr die Steuern, die Herr Burgwart entrichten musste. Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass er im letzten Jahr der größte Steuerzahler in Reutlingen war. Seine Geschäfte liefen ausgezeichnet und er hat das Geld wieder reinvestiert. Sogar das nicht unerhebliche Lösegeld für Eure Freilassung hat den Gewinn nicht sonderlich geschmälert. Hier habe ich eine Liste von Liegenschaften, die er in Reutlingen und an anderen Orten im Herzogtum Württemberg erworben hat. Selbstverständlich hat er Euch ein erkleckliches Sümmchen hinterlassen, das in einer durch zahlreiche Schlösser gesicherten, eisenbeschlagenen Kiste sicher verwahrt ist. Derzeit sind in seinem Auftrag etwa vierzig Fuhrwerke und Kutschen unterwegs.«
Er hielt kurz inne, um die Worte auf seine Zuhörer einwirken zu lassen. Dabei beobachtete er Gregor besonders genau. Das dunkle, ebenmäßige Gesicht zeigte keinerlei Regung, wenngleich die Nennung der vielfältigen Vermögenswerte das Blut des Aristokraten in Wallung brachte. Mit diesem Besitz könnte er sich bei einem bedeutenden Fürsten oder sogar am Hofe des Kaisers etablieren.
Das Geschlecht derer von Auenfeld würde endlich wieder den Status erreichen, den es aufgrund seiner Geschichte verdient hätte.
»Habt vielen Dank für die aufschlussreiche Darlegung. Ich möchte Euch in aller Form bitten, die Geschäfte im Sinne meines Vaters weiterzuführen«, sagte Anna nach kurzer Überlegung. Sie rief sich dabei die Worte ihres Vaters ins Gedächtnis, der das phänomenale Gedächtnis sowie das umfassende Allgemeinwissen des zuverlässigen Angestellten hervorgehoben hatte. »Damit bist du doch einverstanden, Gregor?«
Der Advocatus nickte zustimmend.
»Ihr habt somit freie Hand, Herr Bantlein. Dient mir genauso treu wie meinem Vater und es wird Euch nicht zum Nachteil gereichen. Wenn es Euch recht ist, treffen wir uns einmal im Monat, um alles zu besprechen. Noch etwas, vielleicht habt Ihr es schon gehört, dass Gregor und ich im Herbst heiraten. Betrachtet ihn deshalb bereits heute als gleichberechtigten Partner von mir.«
Höflich verabschiedete sich Anna von Bantlein und verließ, gefolgt von Gregor, das Kontor.
»Würdest du mich entschuldigen? Ich möchte mich in aller Ruhe von meinem Vater verabschieden, in den Räumen, die ihm lieb und teuer waren.«
»Das trifft sich gut, denn ich muss sowieso nach Tübingen in einer dringenden Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet. Morgen, spätestens übermorgen werde ich wieder zurück sein, wenn ich es so lange ohne dich aushalte.«
Die beiden umarmten und küssten sich leidenschaftlich.
»Pass auf dich auf, Gregor«, rief sie zum Abschied und stieg auf der breiten Treppe nach oben.
Anna wollte eine Zeit lang alleine sein, um ihre Gedanken zu ordnen. Sie öffnete die Tür ins geräumige Wohnzimmer und durchschritt den unaufdringlich ausgestatteten Raum. Im angrenzenden Erker setzte sie sich auf einen Stuhl und betrachtete versonnen den geschäftigen Trubel auf dem belebten Marktplatz. Hier war einer der Lieblingsplätze ihres Vaters gewesen.
Derweil war Gregor in die Stallungen in Annas Haus in der Kramergasse gegangen und ließ sich von einem Knecht ein Pferd satteln. Kurz vor Tübingen begann es wolkenbruchartig zu regnen und Gregor war klatschnass, als er über den Neckar in die Stadt einritt. Er lenkte seinen Rappen die Gasse hoch zur Stiftskirche und von da bis zum Marktplatz mit dem imposanten Rathaus. Von hier aus wandte er sich wieder bergab in die Unterstadt, wo das Viertel der Weingärtner war.
Auenfeld brachte das Tier vor einem stattlichen Fachwerkhaus zum Stehen.
Es handelte sich hierbei um das Anwesen von Karl Späth, wo Gregor logierte, wenn er in Tübingen weilte, seit er dessen Sohn Christoph kennengelernt hatte.
»So ein Sauwetter!«, empfing ihn der Winzer und nahm die Zügel des Pferdes in die schwielige Hand.
Er führte das Tier in einen Stall im Nebengebäude des mehrstöckigen Hauses.
»Es trifft sich gut, dass Ihr kommt, wir müssen etwas bereden.«
War es möglich, dass der Alte etwas ahnte? Das konnte nicht sein, die Umstände des Todes von Christoph, seinem Sohn, waren nach wie vor ungeklärt und niemand hegte auch nur den geringsten Verdacht, dass Gregor etwas damit zu tun haben könnte. Karl Späth hatte sich nicht lange mit dem Ableben des schwarzen Schafes seiner Familie beschäftigt.
Sowieso nicht, nachdem Gregor ihm von dunklen Machenschaften berichtet hatte, in die sein Stammhalter verwickelt gewesen war.
Bei dem Anliegen des Winzers musste es sich um die leidigen Schulden handeln, die Gregor noch bei Späth hatte. Das trifft sich gut, dachte der Advocatus, diese Geschichte wollte er schon lange aus der Welt schaffen.
Zur Tilgung der Verbindlichkeiten mussten die Gulden, die er bei sich trug, eigentlich bei Weitem ausreichen. Es handelte sich hierbei um etwas mehr als ein Drittel des Geldes, das er bei Annas Entführung für sich abgezweigt hatte.
Einen guten Teil hatte er seiner Mutter geschickt, damit sie die Instandsetzung der elterlichen Burg vorantreiben konnte. Mit einem weiteren Drittel war er bei einem Geldverleiher als stiller Teilhaber eingestiegen.
Der Hausherr erwartete ihn bereits in seiner guten Stube und Gregor konnte nicht umhin, den schmutzstarrenden Raum mit dem Wohnzimmer von Annas Vater zu vergleichen.
»Setz dich her, mein Lieber!«, rief Späth jovial.
Jemand, der zum ersten Mal in dieses Haus kam, musste denken, dass der Weingärtner am Hungertuch nagte, so verlottert wirkte das Gebäude.
Doch Auenfeld wusste es besser. Durch Christoph hatte er erfahren, dass selbst honorige Bürger bei dem knorrigen Karl Späth in der Kreide standen.
»Lange Zeit hatte ich gehofft, dass du meine Katrin zur Frau nimmst und meine Familie dadurch gesellschaftlich aufsteigt. Deswegen habe ich deine Schulden auch nicht mit dem nötigen Nachdruck eingetrieben. Nachdem dieser reiche Pfeffersack aus Reutlingen sich jedoch letztes Jahr nach dir erkundigt hat, um zu sehen, ob du der Richtige für sein Töchterchen bist, habe ich eingesehen, dass der Herr von Auenfeld zu Höherem bestimmt ist als für die Tochter eines einfachen Winzers.«
Wie wahr, dachte Gregor angewidert.
»Trotzdem ich natürlich etwas ungehalten war, habe ich dem noblen Herrn Burgwart nur das Beste über dich berichtet, denn irgendwie habe ich einen Narren an dir gefressen«, bekannte Späth großzügig.
»Dafür möchte ich Euch meinen herzlichen Dank aussprechen«, entgegnete Gregor betont devot. »Und außerdem ist es mir möglich, meine Außenstände bei Euch zu begleichen.«
Gregor löste seinen Lederbeutel und zählte Gulden um Gulden auf den schmierigen Tisch.
»Halt ein, Gregor, wusstest du nicht, dass deine Schuld bereits getilgt ist?«
Auenfeld starrte sein Gegenüber ungläubig an.
»Aber wer in Gottes Namen sollte das getan haben?«
»Dazu darf ich leider nichts sagen«, antwortete Späth verschmitzt.
Angestrengt überlegte Auenfeld, doch ihm fiel beim besten Willen niemand ein, der die nicht unerheblichen Verbindlichkeiten übernommen haben könnte.
»War es vielleicht Anna Neumann, die Tochter von Herrn Burgwart?«, fragte er zaghaft und voller dunkler Vorahnungen.
»Wie gesagt, der- oder diejenige hat mir ein striktes Schweigegelübde auferlegt. Lass uns nun darauf trinken, dass du ein freier Mann bist.«
Aus einem riesigen, mehrere Liter fassenden Steinkrug schenkte Späth in zwei abgegriffene Becher Wein ein.
»Auf dein Wohl, Gregor. Du musst wissen, dass ich dich immer gemocht habe und dich gerne als Ehegatten meiner Marie gesehen hätte. Obwohl du an dem tragischen Schicksal meines Sohnes wohl in irgendeiner Form beteiligt warst.«
Der Advocatus brachte nur ein säuerliches Lächeln zustande und fragte sich dabei insgeheim, wie viel der einflussreiche Späth von der ganzen Geschichte wusste. Bevor der Hausherr unangenehme Fragen stellen konnte, trat seine Tochter Marie mit züchtig niedergeschlagenen Augen in die Stube.
»Ah, setz dich doch zu uns, mein Kind.«
Das Gespräch nahm nun eine andere Wendung und drehte sich hauptsächlich um den Weinbau und die sonstigen Geschäfte Späths.
Wie zufällig schaute Gregor auf Marie, die seinen Blick für einen kurzen, aber intensiven Moment erwiderte.
»Da fällt mir ein, dass ich noch eine äußerst wichtige Verabredung habe«, meinte Späth, dem der leidenschaftliche Blickkontakt nicht entgangen war. »Wir werden in Kürze zu Abend essen, derweil kannst du unseren Gast ein wenig unterhalten, Marie. Du bleibst doch heute Nacht hier, Gregor?«
Die beiläufige Frage kam mehr einem Befehl gleich.
»Deine Kammer habe ich wohlweislich noch nicht weitervermietet.«
Kaum hatte ihr Vater den Raum verlassen, als sich Marie erhob und jegliche Zurückhaltung aufgab. Sie setzte sich unvermittelt auf Gregors Schoß.
»Warum kann es nicht mehr so sein wie früher, Liebster?«, seufzte die junge Frau und spürte deutlich, wie sich Gregors Männlichkeit aufrichtete.
»Vergiss die Tochter des Pfeffersacks und heirate mich!«
»Lass uns am Abend darüber reden, du kennst den Weg zu meiner Kammer«, meinte Gregor mit belegter Stimme und küsste den schlanken Hals und die Ansätze ihrer vollen Brüste.
Dass Späth die Türe nur angelehnt hatte, bemerkten beide nicht. Der Hausherr stand mit einem boshaften Grinsen dahinter.
Nachdem er eine Weile gelauscht hatte, entschied er sich, wieder einzutreten. Schnell sprang seine Tochter auf, doch Späth tat so, als ob er es nicht gesehen hätte.
»Gunhild hat das Abendessen fertig, würdest du ihr bitte beim Anrichten helfen, Marie?«
Späths zweite Frau war eine ausgezeichnete Köchin und der verführerische Duft nach knusprigem Schweinebraten erinnerte Gregor an die glücklicheren Tage während seiner Studienzeit, die er in diesem Haus zugebracht hatte.
Mit den Kindern ihres Mannes aus erster Ehe kam Gunhild nicht so gut zurecht und sie schaffte es auch nicht, den Haushalt einigermaßen in Ordnung zu halten.
Dafür konnte sie hervorragende Gerichte zubereiten, das wog für den Hausherrn vieles wieder auf.
»Deine Küche ist einfach die beste«, lobte Gregor, nachdem als Nachtisch fettige Schweinsohren gereicht wurden.
Das Blätterteiggericht war eine der Spezialitäten Gunhilds.
Mit einem strahlenden Lächeln bedankte sich die Frau für das Kompliment.
Auenfelds perfekte Manieren sowie sein gutes Aussehen hatten die Hausherrin bereits von Beginn seines Aufenthalts an verzaubert.
»Wenn ich weiß, dass Ihr zu Gast seid, junger Herr, strenge ich mich besonders an«, entgegnete Gunhild kokett.
Späths zweite Ehefrau war deutlich jünger als ihr Gatte und Gregor wusste, wenn er sich ein wenig um sie bemüht hätte, wäre sie ihm bereitwillig in seine Kammer gefolgt.
»Dafür danke ich dir, doch nun entschuldige mich, ich hatte einen anstrengenden Tag und muss morgen früh raus.«
Der Advocatus erhob sich von der harten Bank und wünschte allen eine gute Nacht.
Es war kaum eine Stunde her, seit er sein Zimmer aufgesucht hatte, als sich jemand an der Türe zu schaffen machte.
In dem flackernden Licht, das von der Talgkerze herrührte, die die Person in Händen hielt, erkannte er Marie. Die junge Frau stellte die Lampe behutsam auf den Boden und blies sie aus. Schemenhaft konnte Gregor die Konturen ihres Körpers erkennen, nachdem sie das Nachthemd ausgezogen hatte. Er schlug die Decke zurück und Marie legte sich zu ihm. Das dunkelblonde Mädchen begann sofort, Gregor überall zu liebkosen, was ihn in höchstem Maße erregte.
Wenig später bot sie ihm ihren feuchten Schoß an. Mit wohligem Gefühl bewegte er sich in ihr und Marie stieß dabei spitze Schreie aus.
Durch ein daumennagelgroßes Guckloch beobachteten vom Nebenraum aus abwechselnd zwei Männer das Geschehen. Sie blickten sich süffisant an und verließen danach das Haus.
»Nun hoffe ich natürlich, dass Ihr nicht glaubt, mir mache solch eine Beobachtung Spaß. Doch wenn es dazu dient, den sauberen Advocatus an meine Marie, die ganz vernarrt in den Burschen ist, zu binden, ist mir jedes Mittel recht.«
Sein unauffällig gekleideter Gast nickte nur stumm und verschwand.
Als Hannes wieder zu sich kam, lag er, an Armen und Beinen gebunden, in einer kleinen Hütte auf dem nackten Boden. Verzweifelt versuchte er sich aufzurichten und schaffte es letztlich auch so weit, dass er sich an eine Bretterwand lehnen konnte.
Just in diesem Moment kam der Bauer, der sich am gestrigen Abend als Thomas vorgestellt hatte, zu der windschiefen Tür herein. In seiner Rechten hielt er einen kurzen Dolch umklammert.
»Bitte tu mir nichts, ich bin doch nur ein armer Handwerksbursche und das wenige Geld, das ich dabeihabe, gebe ich dir gern, doch lass mich um der Gnade Gottes willen am Leben!«, bettelte Hannes.
Thomas schien von dem Flehen unbeeindruckt und beugte sich über den Gefangenen. Das Messer war jetzt dicht vor Hannes’ schreckgeweiteten Augen.
»Halt das Maul, du Waschweib, und hör auf zu greinen!«
Mit einem schnellen Schnitt durchtrennte er das Hanfseil, das um Hannes’ Füße gebunden war.
»Steh auf!«, befahl Thomas und half dem Gesellen dabei, wieder auf die Beine zu kommen.
Er führte den jungen Mann in einen anderen Raum, in dem sich mehrere Personen aufhielten. Ängstlich blickte Hannes in die entschlossenen Gesichter der Männer, während er auf eine harte Holzbank gestoßen wurde.
»Was wollt ihr von mir!«, schrie der Handwerker mit dem Mut der Verzweiflung. »Ich habe euch nichts getan! Ein einfacher Zimmermann auf dem Weg nach Freiburg bin ich, also lasst mich meiner Wege ziehen.«
»Wieso fragst du nach Jos Fritz?«, wollte ein falkengesichtiger Mann wissen, dessen übler Atem Hannes beinahe um das Bewusstsein brachte. »Nenn mir die Namen der Halunken, die dich fürs Spionieren bezahlen. Und wage es nicht, mich anzulügen, sonst schneide ich dir zuerst deine Ohren und danach die Nase ab«, meinte der Kerl mit einem bösartigen Lächeln und Hannes war sich sicher, dass er seine Drohung wahrmachen würde.
»Ich, äh, ich suche Jos Fritz, weil ich verwandt mit ihm bin«, beeilte sich der Geselle zu sagen und bekam als Antwort im nächsten Moment einen Faustschlag ins Gesicht.
Hannes schmeckte das Blut, das ihm aus der Nase troff, während sein Peiniger ihm ein scharfes Messer ans linke Ohr hielt.
»Dein Zungenschlag erinnert nicht im Entferntesten an den von Jos Fritz, also wie willst du mit ihm verwandt sein? Ich gebe dir eine letzte Chance, die Wahrheit zu sagen.«
Voller Entsetzen blickte der Geselle aus den Augenwinkeln auf den Dolch und spürte den feinen Schnitt an seinem Ohrläppchen.
»Das reicht, Siegfried.«
Ein hochgewachsener Mann, der sich bisher bedeckt gehalten hatte, löste sich aus der Gruppe. Ohne Widerspruch nahm der Angesprochene sein Messer weg und trat zur Seite.
»Du behauptest, mit mir verwandt zu sein.«
Das ist er, dachte Hannes aufatmend, als er in die unergründlichen Augen schaute.
»Mein Vater hatte recht, als er mir dich beschrieb«, sprudelte es aus Hannes heraus. »Dein Blick geht hinab bis auf den Grund der Seele deines Gegenübers, desgleichen beschrieb er mir das große, schwarze Muttermal auf dem Rücken deiner linken Hand.«
»Wie heißt dein Vater, der mich angeblich so gut kennt, Bursche?«
»Martin Fritz wird er genannt und er ist dein leiblicher Bruder.«
Die Hand des unheimlichen Mannes schnellte hervor und umfasste das Kinn des Gesellen. Im ansonsten so unbewegten Gesicht des Unbekannten zuckte es leicht und sein Kopf fing an zu nicken.
»Erzähl mir von meinem vermeintlichen Bruder!«, befahl er schneidend.
»Gerne, Onkel, doch könnte ich zuerst ein wenig zu trinken haben?«
Es genügte, dass Jos Fritz einen Mann anschaute. Sofort verließ dieser kurz den Raum und kam mit einem Becher verdünnten Weines zurück.