Tod auf der Achalm - Julian Letsche - E-Book

Tod auf der Achalm E-Book

Julian Letsche

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Beschreibung

Magdalena Mertens wird gemeinsam mit ihrem Kollegen Sascha Gross zu einem großen Reutlinger Entsorgungsbetrieb gerufen. Eine übel zugerichtete Leiche liegt in einem Müllberg. Schnell stellt sich heraus, dass es sich bei dem Toten um den stell vertretenden Geschäftsführer des Unternehmens handelt. Die Frau des Ermordeten ist die Umweltstaatssekretärin Gruibinger-Hess, designierte Nachfolgerin des Ministerpräsidenten. In einem Interview gibt sie bekannt, Beweise zu haben, dass ihr Mann einem beispiellosen Giftmüllskandal auf der Spur war und deshalb sterben musste. Ein fesselndes Ermittlungsszenario der Kommissare Mertens und Gross, interessant und mit viel Lokalkolorit.

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Julian Letsche

wurde in Undingen geboren und begann nach der Schule eine Ausbildung als Zimmermann. Getrieben vom Fernweh ging er auf die Walz und machte sich nach der Rückkehr in seinem Heimatort mit einem Holzbaubetrieb selbstständig. Aus einer Laune heraus eröffnete er mit mehreren Kumpels die Musikkneipe »s’Fabrikle«, in der auch die Irish Folk Band »Lads go Buskin« entstand, wo Letsche bis heute mitspielt. Nach diesen bewegten Jahren gründete der Autor eine Familie und widmete sich nebenher dem Schreiben. Es entstanden mehrere historische Romane, bevor sich Letsche dem Genre Regionalkrimi widmete. Nach dem »Tatort Lichtenstein« folgt nun »Tod auf der Achalm« mit der Reutlinger Kommissarin Magdalena Mertens und ihrem jungen Kollegen Sascha Gross.

Julian Letsche

Tod auf der Achalm

Ein Schwabenkrimi

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2019

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehalten.Titelbild: Manfred Grohe

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Lektorat: Elga Lehari-Reichling

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-96555-061-2

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

Der Mann mit dem übel riechenden Atem kam immer näher und drängte sie zur Absturzkante. Verzweifelt hielt sie Ausschau nach jemandem, der ihr zu Hilfe eilen könnte, doch ihre Begleiter schienen wie paralysiert zu sein.

Wie hatte sich aus einer scheinbar harmlosen Begegnung solch eine gefährliche Situation entwickeln können, fragte sie sich und noch dazu an einem so herrlichen Tag. Wie bei einem Vorspann für einen Kinofilm lief der bisherige Tagesverlauf vor ihrem geistigen Auge ab.

Nach einem ausgiebigen Frühstück hatten sie sich entschieden, einen Ausflug in die nähere Umgebung zu machen, und waren durch Zufall bei dieser spektakulären Schlucht gelandet. Sie fotografierten wie wild dieses beeindruckende Naturwunder, das außer einem verlassenen Parkplatz keinerlei touristische Infrastruktur aufwies.

Umso mehr waren sie von den Dimensionen dieses Canyons überrascht und hatten gerade beschlossen, wenn es irgendwie möglich wäre, zu dem Fluss hinunterzusteigen, der sich über Jahrmillionen in den Berg hineingefräst hatte. Sie konnten sich nicht sattsehen an diesem grandios schaurigen Blick in die Tiefe und wunderten sich, dass sie die einzigen Touristen hier waren. Gerade als sie sich hinunterbegeben wollten, schlenderte ein Mann heran, den sie zuerst auch für einen Besucher hielten. Sie plauderten mit ihm über allerlei belanglose Dinge, als er urplötzlich seine anfänglich höfliche Art änderte und zudringlich wurde.

Schnell verscheuchte sie die düsteren Gedanken und konzentrierte sich darauf, in dem unwegsamen Gelände nicht zu stürzen. Das Raubtierlächeln des Verfolgers hingegen wurde angesichts der sicheren Beute immer breiter und der lüsterne Blick ließ keine Zweifel an seinen Absichten. Ansatzlos preschte er nach vorne und warf sich auf sein Opfer.

Wie jedes Mal, wenn sie für den Urlaub packte, war Miriam völlig aufgelöst und wie jedes Mal schien ihr die Zeit davonzulaufen. Eigentlich hatte sie sich dieses Jahr vorgenommen, eine Liste mit allen Dingen, die sie mitnehmen wollte, zu erstellen und diese akribisch abzuarbeiten. Aber trotz des festen Vorsatzes war es bei dem Plan geblieben. Wieder einmal war ihr ihre chaotische Art in die Quere gekommen.

»Mami, wann fahren wir endlich?«, fragten ihre beiden Töchter zum wiederholten Male.

»Sobald ich fertig gepackt habe«, fauchte Miriam.

Als dann auch noch ihre Freundin Susi Schuster samt Familie vor der Tür stand, hätte sie am liebsten alles hingeschmissen und abgesagt.

Dabei hatte sie sich auf diesen Urlaub gefreut wie selten zuvor, denn es waren die ersten Ferien, die sie mit Sascha gemeinsam verbringen wollte und dazu auch noch im Ferienhaus ihres verstorbenen Vaters. Rudi Neuburg hatte das alte Bauernhaus in der Provence, Mas genannt, zu einer Zeit gekauft, als solche Häuser den Interessenten beinahe hinterhergeworfen wurden. Eine Verwandte von Rudi, die in der Gegend um Bagnols-sur-Cèze wohnte, hatte dem französisch-stämmigen Weinhändler den Tipp gegeben. Jedes Jahr ihrer Kindheit hatte Miriam dort die Ferien zugebracht, wobei sie die meiste Zeit bei Lucy, der Cousine Rudis, weilte, während ihr Vater und ihre Mutter das halbverfallene Gebäude aus dem siebzehnten Jahrhundert herrichteten.

Es musste bestimmt zwölf Jahre her sein, dass Miriam nicht mehr in Südfrankreich gewesen war, und seit dem Tod ihres Vaters hatte Gerda Neuburg, ihre Mutter, das Anwesen auch nicht mehr aufgesucht.

Miriams Töchter Anne und Sylvie kannten das Haus daher nur von Erzählungen und Bildern. Doch dieses Jahr, da ihr Leben wieder einigermaßen in geregelten Bahnen verlief, hatte Miriam beschlossen, alles daranzusetzen, wieder in die wunderschöne Gegend zu reisen, um ihren Kindern das Traumhaus ihrer eigenen Kindheit nahezubringen.

»Hallo Miri, sollen wir schon mal was raustragen, damit wir früher wegkommen?«

Jetzt platze ich gleich, dachte die junge Frau, versuchte jedoch gute Miene zum bösen Spiel zu machen, um ihrer besten Freundin und deren Familie den Urlaub nicht schon vor Reiseantritt zu vermiesen.

»Grüß dich, Susi, das ist nett von euch, dass ihr mir helfen wollt. Tragt doch schon mal die beiden Reisetaschen raus und ihr beiden«, sie wandte sich an ihre Töchter, »könnt eure kleinen Koffer mit den Spielsachen und Büchern selbstständig packen und zum Auto bringen. Stapelt das Zeug aber so, dass Saschas Sachen auch noch reinpassen.«

Als endlich alles verstaut war und Miriam fix und fertig auf dem Fahrersitz des Lieferwagens saß, bemerkte Sylvie, das jüngere der beiden Kinder, dass sie ihr Lieblingskuscheltier vergessen hatte. Miriam stellte das Auto wieder ab und versuchte, sie mit der letzten Freundlichkeit, die ihr noch geblieben war, zu bitten, dass sie sich beeilen solle. Just in dem Moment, als das Mädchen wieder einsteigen wollte, kam Gerda Neuburg herangefahren.

»Hallo ihr Lieben, ich wollte mich noch von euch verabschieden.«

Sie herzte die zwei Mädchen, die es sich mehr oder weniger stoisch gefallen ließen, obwohl sie ihre Oma eigentlich sehr gern hatten. Dieses Verhalten war dem Umstand geschuldet, dass Anne und Sylvie zum einen furchtbar aufgeregt waren und zum anderen die zwei Jungs von Susi, die ungefähr im selben Alter waren, zum Autofenster herausschauten.

»Müssen wir eigentlich noch etwas Besonderes beachten da unten?«

»Gestern habe ich mit Lucy telefoniert und sie gefragt, ob alles in Ordnung ist. Sie meinte, dass im Haus alles okay sei und lediglich die Straße sich in einem erbärmlichen Zustand befinden soll. Auf ihre Nachfrage hin haben ihr die Gemeindearbeiter jedoch versichert, dass der Weg noch vor eurer Ankunft gerichtet werden wird. Mit der Weinhandlung haben wir ja alles besprochen und du kannst dich wie immer auf mich verlassen. Hier hab ich dir noch eine Kleinigkeit.«

Gerda Neuburg drückte ihrer Tochter ein paar Scheine in die Hand, bevor sie sich mit einer Umarmung verabschiedete. Miriam kannte ihre Mutter gut genug, um zu spüren, dass sie den Platz in Südfrankreich, den sie und Rudi immer als ihre zweite Heimat bezeichnet hatten, sehr vermisste und am liebsten mitgefahren wäre.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Susis Mann Björn abfahrbereit war, gab sie Gas und war von einem Augenblick auf den anderen völlig gelöst.

Der Stress der letzten Woche war mit einem Mal von ihr abgefallen und sie fühlte sich fast schon euphorisch. Trotz ihrer Hochstimmung vergewisserte sich Miriam während der Fahrt, dass Björn hinter ihr herfuhr, und kurze Zeit später standen sie unweit von Saschas Altbauwohnung.

»Ich habe schon gedacht, ihr hättet mich vergessen«, frotzelte Sascha mit einem Blick auf eine imaginäre Uhr an seinem Handgelenk.

»Bitte, jetzt du nicht auch noch, ich habe mich gerade ein wenig von dem Packstress erholt«, entgegnete Miriam mit einem eindeutigen Augenrollen. »Lass uns stattdessen gleich weiter zu deinem Freund nach Erpfingen fahren«, fügte sie versöhnlich klingend hinzu.

Grinsend schnappte Sascha seine schwere Reisetasche und verstaute sie in Miriams Wagen.

Bei den Planungen zu diesem Urlaub, die sie gemeinsam mit Sascha durchgeführt hatte, war die Frage aufgekommen, ob man nicht noch ein oder zwei befreundete Familien mitnehmen könnte, da das Haus sehr viel Platz bot. Sofort hatte Miriam diesen interessanten Gedanken aufgenommen und ihre Freundin Susi nebst Familie ins Spiel gebracht.

Der eingefleischte Junggeselle Sascha hingegen hatte bisher noch keine Familien mit halbwüchsigen Kindern in seinem näheren Bekanntenkreis. Doch als er den Familienurlaub im großen Stil bereits ad acta gelegt hatte, war ihm sein früherer Kumpel Karl Mader in den Sinn gekommen. Bei einem mysteriösen Mordfall, den er gemeinsam mit seiner Kollegin Mertens vor zwei Jahren gelöst hatte, war der junge Kommissar im Zuge seiner Ermittlungen durch Zufall auf eben jenen Karl Mader getroffen. Nachdem er bei Karl, der mittlerweile Filialleiter der örtlichen Volksbank geworden war, Einsicht in die Konten eines Hauptverdächtigen bekommen hatte, tauschten die beiden Schulfreunde ihre Handynummern aus und versprachen sich gegenseitig hoch und heilig, nicht nochmals so viele Jahre bis zu einem Wiedersehen verstreichen zu lassen. Mit Sicherheit hätte dieses Versprechen wie so viele davor eine kurze Halbwertszeit gehabt, wenn Sascha während der Urlaubsplanungen nicht verzweifelt nach jemandem mit Familie in seinem persönlichen Umfeld gesucht hätte. Anfänglich war Miriam ziemlich skeptisch gewesen, weil ihr sowohl Karl als auch seine Frau wildfremd gewesen waren, doch Sascha hatte darauf bestanden, sich wenigstens einmal mit ihnen zu treffen, da er seinerseits Miriams Freundin und deren Familie ebenso wenig kannte.

Dem ersten Treffen in Karls Haus in Erpfingen folgten weitere und Miriam war sowohl von dem bedächtigen Karl als auch seiner quirligen Ehefrau Gabi angetan, die als Krankenschwester halbtags in einer Tübinger Klinik arbeitete. Die beiden hatten drei angenehme Kinder, wobei der ältere Sohn bereits sechzehn und die zwei Töchter etwas jünger als die Miriams waren. Hinzu gekommen war, dass sowohl Susi und Björn als auch Karl und seine Familie alljährlich an Pfingsten verreisten und sich für dieses Jahr noch nichts Besonderes vorgenommen hatten. Dass die Ferientage in den Juni fielen, machte das Ganze noch attraktiver und sie mussten nicht lange überlegen, bevor sie zusagten.

Der VW-Bus der Maders stand fertig gepackt in der Einfahrt des Zweifamilienhauses, das sie vor fünf Jahren in der Neubausiedlung errichtet hatten. Etwas neidisch blickte Sascha auf das Familienidyll, das sich der gleichaltrige Karl erschaffen hatte. Doch sofort schalt er sich einen Narren und gönnte seinem Freund das vermeintliche Glück. Schließlich hatte er jetzt ja auch so etwas wie eine Familie, mit Miriam und ihren Kindern, in der er sich sehr wohl fühlte.

Nach einer kurzen Begrüßung beschlossen sie, auch aufgrund des anhaltenden Regens sich sofort auf ihre mehrstündige Fahrt zu begeben, und Miriam mit ihrem Citroën-Kastenwagen setzte sich als langsamstes Gefährt an die Spitze. Sie hatten sich für die landschaftlich reizvollere Route durch die Schweiz entschieden, mussten dafür aber auch den Umstand in Kauf nehmen, dass es sehr viele Baustellen und Staus bei den Eidgenossen gab.

»Ich wäre ja über Mülhausen gefahren«, gab Sascha zu bedenken, als sie bei der Umfahrung von Zürich nur im Schneckentempo vorankamen. »Aber dafür ist es jetzt wohl zu spät.«

»Da hast du vollkommen recht, mein Schatz, ich verspreche dir jedoch, dass dich die schönen Gegenden, die wir passieren, für die nervtötende Warterei entschädigen werden.«

Sobald sie Bern hinter sich gelassen hatten und die ersten Alpengipfel in Sicht kamen, bestätigte sich Miriams Vorhersage und auch das Wetter besserte sich langsam.

Sascha konnte sich nicht sattsehen an den schönen Seen wie etwa dem Lac de Neuchâtel oder natürlich später dem von teilweise schneebedeckten Bergen halb eingerahmten Genfer See. Früher war er mit seinen Kumpels ein paar Mal nach Frankreich und Italien gefahren, doch die letzten Jahre immer in den Urlaub geflogen und seine Ziele waren dabei meistens irgendwelche Partyhochburgen in Spanien gewesen, wo die Landschaft eher nebensächlich war.

Lediglich die seiner Ansicht nach immer gleichen Kinderhörspiele gingen ihm ein wenig auf den Geist und nach der gefühlt zwanzigsten Räuber-Hotzenplotz- und Bibi-Blocksberg-CD schlug er vor, eine Pause zu machen.

»Lass uns noch die Grenze nach Frankreich passieren, in etwa einer Stunde treffen wir auf einen See, der dir den Atem rauben wird«, versprach Miriam, die als Beifahrerin immer wieder eingenickt war, mit Blick auf ihre ebenfalls schlafenden Kinder.

Im Gegensatz zu ihrem Freund kannte sie zwar alle CDs auswendig, hatte sich jedoch im Laufe der Jahre an diese Art der Kinderberuhigung gewöhnt. Sascha nickte und fügte sich in sein Schicksal, während Miriam den beiden anderen Frauen eine kurze SMS schickte, um sie auf die baldige Rast hinzuweisen. Bis auf die Staus und zwei kurze Pinkelpausen waren sie bisher gut vorangekommen, und wenn es so weiterlief, würden sie vor Einbruch der Dämmerung ihr Ziel erreicht haben.

Wie zuvor in der Schweiz war die Autobahn durchsetzt mit Tunnels, auf der französischen Seite wirkten allerdings manche wenig vertrauenerweckend.

»Da vorne musst du rechts abbiegen.«

»Lac d’Aiguebelette, oder so ähnlich. Ist das dein Traumsee?«, fragte Sascha und Miriam musste anerkennen, dass seine Aussprache gar nicht mal so schlecht war.

Sascha hatte auf dem Weg zum Abitur eine Zeitlang Französisch als Hauptfach, seit dieser Zeit jedoch nie wieder die Gelegenheit gehabt, das Gelernte anzuwenden.

»Das heißt so viel wie schönes Wasser, hat mir mein Vater einmal erklärt.«

Viele Jahre war sie nicht mehr an diesem See gewesen, doch sofort kehrten die Erinnerungen wieder und Miriam dirigierte ihren Fahrer sicher zu dem Badeplatz, wo sie früher mit ihren Eltern auch haltgemacht hatte.

Auf dem gut gefüllten Parkplatz gab es gerade noch drei Lücken. Sobald die Autos standen, hüpften die Kinder hinaus.

»Ich bin die lange Fahrerei nicht mehr gewohnt«, stöhnte Sascha und dehnte und streckte sich.

»Mir geht es kein bisschen besser, alter Kumpel«, ergänzte Karl und hieb seinem Schulfreund spielerisch mit der flachen Hand auf den Rücken.

Das andere Pärchen war jetzt ebenfalls ausgestiegen und gesellte sich zu seinen Urlaubspartnern, wobei die Frauen sich untereinander unterhielten und die Männer ein eigenes Grüppchen bildeten. Susi, die seit geraumer Zeit Tai Chi praktizierte, zeigte den anderen einige Dehnungsübungen, um den Körper nach der langen Fahrt ein wenig zu entspannen.

»Ich denke, wir sollten unsere Badesachen schnappen und vor zum See gehen, bevor unsere Kleinen ohne Aufsicht reinhopsen«, drängte Miriam, deren zwei Mädchen zwar sehr gut schwimmen konnten, die sie aber trotzdem nicht unbeaufsichtigt lassen wollte.

»Du hast recht, ich bin da auch eher der ängstliche Typ«, pflichtete Susi bei.

Einzig Gabi machte einen gelassenen Eindruck, was sicherlich an ihrem sechzehnjährigen Jungen lag, der in der Regel auf seine jüngeren Geschwister aufpasste.

»Fantastisch!«

»Traumhaft!«

»So was Schönes habe ich selten zuvor gesehen!«

»Na, habe ich euch zu viel versprochen?«, fragte Miriam strahlend in die Runde, als die drei Familien am Badestrand angekommen waren.

Das glasklare, in einem unwirklichen türkisfarbenen Ton gehaltene Wasser kam durch die mächtige Felswand, die am jenseitigen Ufer aufragte, erst so richtig zur Geltung und lud geradezu zum Schwimmen und Planschen ein.

Es war natürlich nicht so warm wie im heimischen Freibad, doch keiner der deutschen Urlauber konnte sich der Faszination dieses Sees entziehen.

»Leider können wir nur maximal eine Stunde hier verweilen, da wir sonst in die Nacht reinkommen«, gab Miriam zu bedenken, während sie sich abtrocknete. »Wie ich euch erzählt habe, liegt das Haus mitten in der Pampa und den Waldweg, der dorthin führt, habe ich in denkbar schlechter Erinnerung. Die Gemeindearbeiter dort wollten ihn zwar vor unserer Ankunft noch ein wenig befestigen, aber darauf verlassen möchte ich mich nicht unbedingt. Ich würde deshalb vorschlagen, dass wir unsere Brotzeit herrichten und kurz was essen, bevor wir uns auf die Weiterfahrt machen.«

»Was schätzt du, wie lange wir noch brauchen?«, wollte Susi mit einem leicht genervten Unterton wissen und fuhr mit der Hand durch ihre langen blonden Haare. »Meine Jungs fangen langsam an zu quengeln und fragen mich alle paar Minuten, wann wir endlich da sind.«

»Rechnet mal mit fünf Stunden, dann wären wir um acht dort.«

»Wie wäre es, wenn wir die Kinder ein wenig durchmischen, diese Maßnahme hält sie bestimmt eine Zeitlang bei Laune«, schlug Gabi vor.

»Das ist eine Superidee«, rief Susi begeistert aus und dieser Vorschlag stieß auch bei den anderen Eltern auf Zustimmung.

Vom Lac d’Aiguebelette aus ging es sehr zügig und entspannt voran, da die Autobahnen bis Valence ungewöhnlich leer waren. Erst als sie auf die berüchtigte A 7, die Autoroute du Soleil, trafen, wurde es anstrengend, denn diese mehrspurige Straße war eine der verkehrsreichsten in ganz Frankreich. Alle drei Fahrer waren froh, als endlich die langersehnte Abfahrt Pont-Saint-Esprit in Sicht kam. Seit dem Halt an dem spektakulären See hatte sich die Landschaft sichtlich verändert und zeigte das, was Miriam südliches Flair nannte. Schön anzuschauende Lavendelfelder wechselten sich mit dem niedrigen Gestrüpp der sogenannten Garrigue, einer Art Heidelandschaft, ab. Anstelle von Buchen und Fichten dominierten jetzt Pinien, Feigenbäume und Zypressen. Auch die Architektur hatte sich auffallend verändert. Die vielen alten Häuser waren unverputzt und trugen stolz ihre schönen Natursteinfassaden zur Schau. Manche mittelalterlich anmutenden Dörfer thronten wie Adlerhorste auf steilen Hügeln.

Inzwischen war die Stimmung in Miriams Auto auf dem Tiefpunkt angelangt und auch die tollsten Hörspiele konnten die zwei Halbwüchsigen nicht mehr bei Laune halten. Sylvie und Anne schrien sich wegen jeder Kleinigkeit an und waren kurz davor, handgreiflich zu werden. Sehnsüchtig erinnerte sich Sascha jetzt an seine Alleinurlaube, sprach dies aber natürlich nicht aus. Miriam wurde ebenfalls immer gereizter und machte ihrem Frust lautstark Luft.

»Was glaubt ihr beiden eigentlich, was Sascha von euch denkt? Er wird bestimmt nie wieder mit uns in Urlaub fahren.«

»Mir doch egal«, lautete die Antwort von Anne, dem älteren der Mädchen.

»Das habe ich jetzt aber nicht gehört«, entgegnete Sascha scheinbar beleidigt und beschloss, seinen letzten Trumpf auszuspielen.

»Auf meinem neuen I-Phone habe ich ein paar tolle Spiele drauf. Wenn ihr mir versprecht, die letzten paar Kilometer friedlich zu sein, gebe ich es euch, vorausgesetzt natürlich, eure Mutter erlaubt es.«

Miriam wollte ihren Freund spontan dafür tadeln, besann sich aber angesichts der Ausnahmesituation eines Besseren.

»Meinetwegen, aber das ist das erste und letzte Mal in diesem Urlaub. Ist das klar?«

Als Antwort kam ein müdes »Ja« und die Kinder schnappten sich das dargebotene Handy. Offenbar hatten sie nicht das erste Mal so ein Ding in der Hand. Miriam fragte sich insgeheim, wie lange sie sich wohl noch dagegen wehren konnte, ihren Kindern ein Smartphone zu kaufen.

Endlich kamen sie in dem beschaulichen Städtchen Bagnols-sur-Cèze an, von wo aus es nur wenige Kilometer bis zu dem Ferienhaus ihrer Eltern waren. Die Gruppe passierte zwei kleine Dörfer, bevor sie in einen winzigen Weiler einfuhren, der aus kaum mehr als fünf Häusern bestand.

»Jetzt müssen wir noch ein paar hundert Meter durch den Wald fahren, dann sind wir da«, beruhigte Miriam und war ein wenig stolz, dass sie den Weg bis hierher nach all den Jahren so gut gefunden hatte.

»Äh, wie kommen wir eigentlich in das Haus rein?«, meldete sich Sascha mit einem skeptischen Unterton.

»Auch daran habe ich gedacht, mein Lieber. Ursprünglich wollte Lucy den Schlüssel vorbeibringen und mit uns einen Willkommenstrunk einnehmen. Leider ist ihr etwas dazwischengekommen und sie hat ihn deshalb unter einem besonderen Stein deponiert.«

»Ist das nicht ein wenig leichtsinnig? Man hört so viel über Wohnungseinbrüche hier im Süden.«

»Haha, aus dir spricht der ewig misstrauische Polizist. Wahrscheinlich wäre es das Beste, das Haus überhaupt nicht abzuschließen, denn außer ein paar antiquierten Möbeln ist nichts zu holen und man hätte keine aufgebrochenen Türen und Fenster.«

Da es bereits nach neun Uhr war, herrschte im Wald eine ziemliche Dunkelheit, die sich noch verstärkte, je weiter sie hineinfuhren.

»Sagtest du vorhin nicht, es wären nur noch einige hundert Meter, Mama?«, fragte Anne ärgerlich, als die drei Autos bereits eine Zeitlang auf der Schotterpiste unterwegs waren.

»Wir sind bestimmt gleich da, mein Schatz.«

Bei Miriam schlichen sich allmählich erste Zweifel ein, ob sich das Ferienhaus auch in diesem Waldstück befand. Dabei hatte sie nicht nur ihre Mutter nochmals eingehend befragt, sondern auch Lucy am Telefon gebeten, ihr markante Anhaltspunkte zu nennen.

»Kannst du bitte mal ganz langsam fahren«, bat die junge Frau und versuchte dabei, sich trotz der fortgeschrittenen Dämmerung an irgendeinem Felsen oder hohen Baum zu orientieren.

»Ich habe Angst«, schluchzte Sylvie und brachte ihre Mutter noch mehr durcheinander.

»Das Haus ist nicht mehr weit, und wenn wir dort sind, dürfen die Kinder es erst mal gehörig auskundschaften. Und dann erwartet euch dort noch eine schöne Überraschung.«

Insgeheim war sie jedoch alles andere als ruhig und schalt sich eine unverantwortliche Närrin, da sie nicht mit Nachdruck darauf bestanden hatte, an diesem Morgen früher loszufahren. Die Insassen der anderen beiden Autos und vermutlich besonders die Kinder waren mit Sicherheit auch am Ende ihrer Nerven. Sollten sie das Haus nicht finden, müssten sie entweder nach Bagnols-sur-Cèze zurückfahren und darauf hoffen, dort noch eine Absteige zu finden, oder im schlimmsten Fall notdürftig im Auto übernachten. Lucy, die Cousine ihres Vaters, war mit ihrem Mann nach Le Grau-du-Roi gefahren und würde erst in zwei Tagen zurückkehren.

Gabi und Karl hatten wenigstens noch den geräumigen VW-Bus. So wie sie ihre Freundin Susi kannte, würde die ihr das nicht so schnell verzeihen und morgen in aller Herrgottsfrühe den Rückweg antreten. Ihr Mann Björn würde sie bestimmt nicht aufhalten, denn er tat im Zweifel immer das, was seine Frau von ihm verlangte.

»Stopp«, schrie Miriam so laut, dass alle im Wagen erschraken. »Da an der Linksabzweigung hängt ein kleines Schild.«

Geistesgegenwärtig war Sascha auf die Bremse getreten und bedeutete dem nachkommenden Karl rückwärtszufahren.

Mit dem Fernlicht beleuchtete er das winzige Täfelchen.

»›Mas de la Source‹, das ist unser Haus«, stellte Miriam triumphierend fest und alle Anspannung fiel von ihr ab.

»Juhu«, schrien ihre drei Mitfahrer unisono.

Bis dahin war der Waldweg noch beinahe zweispurig befahrbar gewesen, in der Abzweigung hingegen wurde es jetzt so eng, dass unter keinen Umständen zwei Autos aneinander vorbeigekommen wären. Zudem wurden die Schlaglöcher zahlreicher und tiefer.

»Seht nur, da vorne ist es«, rief Miriam nach einer kurzen Steigung aus, während Sascha äußerst skeptisch dreinschaute und anhielt.

»Soll ich da jetzt wirklich runterfahren?«

Er öffnete die Wagentür und stieg aus. Der Abhang war beim vorletzten Regen wohl abgerutscht und erforderte eigentlich ein geländegängiges Fahrzeug, wenn nicht sogar einen Traktor. Auch Miriam verließ das Auto und besah sich das, was vom Weg übrig geblieben war.

»Na ja, wenigstens haben wir es gefunden. Am besten lassen wir die Autos hier oben stehen und tragen das Notwendigste einfach runter. Ich bin mir sicher, dass die Gemeindearbeiter am Montag kommen und den Weg reparieren werden. Ein bisschen Bewegung kann uns nach der langen Fahrt bestimmt nicht schaden.«

Nach einer kurzen Lagebesprechung stellten die drei Fahrer ihre Wagen auf den Vorplatz des Nachbargrundstücks und jeder, auch die Kinder, trug etwas zum Haus. Aber selbst zu Fuß war der Abstieg äußerst mühsam und Sascha konnte Sylvie, die ins Rutschen gekommen war, mit einer freien Hand gerade noch festhalten.

»Das ist ja ein Pool«, rief Anne, die als Erste unten angekommen war, verzückt aus und ließ ihre Tasche einfach fallen.

Die anderen Kinder rannten hinter ihr her zu dem kleinen Schwimmbad und wären bestimmt hineingehüpft, wenn es die Wassertemperatur erlaubt hätte. Doch als Anne ihren linken Fuß hineinhielt, entfuhr ihr ein lautes »I, das ist ja eisig!«.

»Die Überraschung ist dir geglückt, Miriam, aber offenbar ist es unseren Kleinen zu kalt in dem Pool«, meinte Susi schmunzelnd.

»Na ja, man kann nicht alles haben, das hier ist ein Naturschwimmbad und wird lediglich mit den beiden Solarmodulen auf dem Dach des Gerätehauses ein wenig erwärmt.«

»Aber das Haus ist jedenfalls der Wahnsinn, so schön habe ich es mir nicht vorgestellt.«

Trotz der einsetzenden Dunkelheit konnten sie die Umrisse des stattlichen Gebäudes erkennen. Die typisch provenzalischen Natursteinfassaden mit den authentischen blauen Klappläden vermittelten von außen den Charakter einer Trutzburg. So wie es aussah, musste es vor einigen hundert Jahren in den Hügel hineingebaut worden sein, was man an der ansteigenden Linie der Giebelseiten links und rechts deutlich erkennen konnte. Das Kellergeschoß wurde von einem wie angeklebt wirkenden Vorbau dominiert, dessen zwei Rundbögen an eine Brücke erinnerten.

Tatsächlich war der Seiteneingang des Obergeschosses nur über diese Arkaden zu erreichen.

»Ich will ja nicht drängen, aber es wäre das Beste, wenn wir die Zimmer verteilen, solange wir noch einigermaßen sehen. Wir können ja danach noch zusammensitzen und morgen in aller Ruhe eine ausgiebige Hausbesichtigung machen«, mahnte Miriam.

»Da hast du vollkommen recht, aber ich würde es gern dir überlassen zu entscheiden, wo wer schläft. Schließlich bist du quasi die Hausherrin und kennst dich am besten aus«, entgegnete Gabi pragmatisch.

»Also gut, wenn niemand etwas dagegen hat, dann würde ich sagen, dass du und Karl mit euren Kindern im Nebenhaus schlaft. Dort gibt es drei Zimmer, zwei Toiletten und ein Bad.«

Da es doch eine lange Zeitspanne her war, seit Miriam zuletzt in diesem Haus Urlaub gemacht hatte, hatte sie sich von ihrer Mutter zu Hause anhand von Bildern die Örtlichkeit genau erklären lassen.

»Ihr könnt mit euren Kindern das gesamte Untergeschoß übernehmen, da gibt es zwei geräumige Zimmer und ebenfalls WC und Dusche«, schlug sie ihrer Freundin Susi vor. »Wobei ein Zimmer eine Besonderheit aufweist, denn dort fließt eine winzige Quelle hindurch, woher auch der Name des Hauses resultiert.«

»Was, durch das Gebäude fließt ein Bach? Ist es da nicht zu feucht?«

»Im Winter kann man diese Räume natürlich nicht bewohnen, aber bei den derzeit herrschenden Außentemperaturen ist es äußerst angenehm, ihr werdet sehen. Und sollte es euch wider Erwarten nicht gefallen, so können wir immer noch tauschen.«

»Jetzt bin ich ja gespannt, wo ich heute mein Haupt betten werde, wenn dieses alte Gemäuer so tolle Überraschungen bereithält.«

»Tja, wir beiden sind mit Anne und Sylvie direkt unter dem Dach und können die Sterne betrachten.«

»Dann hoffen wir mal, dass das Dach dicht ist und wir keinen Wasserfall von oben abbekommen.«

»Keine Angst, die Tonziegel hat mein Vater selbst angebracht.«

»Das beruhigt mich«, erwiderte Sascha grinsend und wartete vor der Eingangstür, während Miriam zielsicher unter einen unscheinbaren Stein langte und einen Schlüssel hervorholte.

Sie öffnete die Tür und betätigte den Lichtschalter. Sofort überkam sie ein wohliges Gefühl von Geborgenheit und Vertrautheit. Doch im nächsten Moment wich dieses Gefühl jenem der Melancholie, weil sie ihren Vater, für den dieses Haus symbolisch stand, nie mehr wiedersehen würde.

»Geht es dir gut?«, fragte Sascha mitfühlend, als er den traurigen Gesichtsausdruck seiner Freundin betrachtete.

»Es ist …, nichts, mich hat lediglich die Erinnerung an glückliche Kindertage übermannt.«

Jetzt kamen auch die anderen Erwachsenen ins Haus und überboten sich gegenseitig mit dem Ausruf von Superlativen.

Rudi Neuburg hatte alles liebevoll restauriert und dem Mas seinen einzigartigen Charakter gelassen. Die uralten Holzbalken waren abgeschliffen und mit Leinöl gestrichen worden, was ihnen eine unvergleichliche Patina verlieh. Gemeinsam mit dem akribisch mit Mörtel ausgefugten Natursteinmauerwerk fühlte man sich um Jahrhunderte zurückversetzt.

Miriam lief einen kurzen Gang entlang und blieb vor einer Garderobe stehen.

»Zu meiner Linken seht ihr die Küche, die verglichen mit den anderen Räumen nach meinem Geschmack etwas winzig ausgefallen ist. Trotzdem hat mein Vater hier wahre Gaumenfreuden gezaubert. Es ist alles vorhanden, sogar ein Geschirrspüler.«

»Hier ist unser Speise- und Frühstücksraum und dahinter ist das legendäre Kaminzimmer, von dem ich euch bereits erzählt habe.«

Das Esszimmer wurde dominiert von einem mächtigen Eichentisch, um den Baststühle gruppiert waren, und von zwei mannshohen alten Schränken, die das Essgeschirr beinhalteten.

Zu Miriams Überraschung standen mehrere Rotweinflaschen auf dem Tisch und auf verschiedenen Tellern waren Wurst, Käse und Baguette angerichtet.

»Das ist eine kleine Aufmerksamkeit von Lucy, die das Haus während unserer Abwesenheit betreut. Ihr werdet die gute Seele bestimmt noch kennenlernen«, erklärte Miriam lächelnd.

Durch einen niedrigen Durchgang ging es eine kurze Treppe hinunter in den Raum mit dem riesigen offenen Kamin. Davor standen im Halbkreis mehrere Chaiselongues sowie ein antikes Sofa, das schon ziemlich niedergedrückt war.

»Ich würde sagen, dass wir uns in etwa einer halben Stunde, wenn die Kinder im Bett sind, hier treffen.«

Nachdem sie jedem der Paare sowie Sascha die Schlafräume gezeigt hatte, ging Miriam zurück zum Kaminzimmer.

Versonnen blickte sie auf das Bücherregal, das gegenüber dem Kamin stand. Plötzlich traten ihr Tränen in die Augen. Schlagartig wurde ihr der schmerzhafte Verlust ihres geliebten Vaters so richtig bewusst und sie fragte sich, ob es richtig gewesen war hierherzukommen, wo alles seine Handschrift trug.

Ein Arm legte sich um sie, und als sie die Wärme von Saschas Körper spürte, wusste sie, dass Rudi Neuburg es gewollt hätte, dass Miriam die Tradition fortführte.

Eng umschlungen standen sie mehrere Minuten da und keiner sprach ein Wort.

»Soll ich ein Feuer anmachen?«, durchbrach Sascha die Stille.

»Ja, das wäre schön.«

Wenig später schlugen die Flammen aus dem aufgeschichteten Holz und nach und nach trudelten die anderen Erwachsenen sowie Miriams Kinder ein.

»Mami, warum ist das Schwimmbad so kalt?«, wollte Sylvie wissen und rieb sich die Augen.

»Wir schauen morgen mal, ob es irgendwo einen Regler für Warmwasser gibt, aber jetzt bringe ich euch auch ins Bett.«

Widerspruchslos folgten die Mädchen ihrer Mutter in das große Dachzimmer, wo sich in der Mitte ein geräumiges Doppelbett befand und in einer Nische verborgen zwei Einzelbetten standen.

Auf ihrem Weg zurück nahm Miriam ein großes Tablett und brachte die Gastgeschenke ins Kaminzimmer.

»Wo ist euer Großer?«

»Dreimal darfst du raten, David beschäftigt sich natürlich mit seinem Handy«, antwortete Karl kopfschüttelnd.

»Ich bin froh, dass er überhaupt noch mal mit uns in den Urlaub gefahren ist, vermutlich das letzte Mal.«

»Na ja, irgendwann werden meine beiden Mädels ebenfalls ihre eigenen Wege gehen, doch bis dahin ist es noch lang.«

Miriam öffnete eine Flasche Rotwein und füllte die Gläser.

»Jetzt wollen wir erst mal auf unsere gute Herfahrt anstoßen und darauf, dass nichts passiert ist. Dieser herrliche Tropfen ist aus der näheren Umgebung, wo die Weingüter bereits Teil der berühmten Qualitätslage Côte du Rhône sind, und wurde von einem Bruder Lucys hergestellt, dem das Château gehört.«

»Da habe ich ja gar nicht mehr dran gedacht, dass wir eine richtige Expertin in Sachen Wein unter uns haben. Ich freue mich schon auf die diversen Verkostungen«, meinte Karl schmunzelnd und bedachte Miriam mit einem anerkennenden Blick.

Nach und nach löste sich bei allen die Anspannung der langen Fahrt und es entwickelte sich ein munteres Gespräch, wozu der Côte du Rhône erheblich beitrug.

»Was wollen wir morgen eigentlich anstellen?«, erkundigte sich Susi, die gerne alles im Voraus plante und nicht gerade für Spontaneität bekannt war.

Alle Augen richteten sich auf Miriam, die als Einzige diese Gegend kannte.

»Wir könnten nach Uzès fahren, das ist eine bezaubernde Stadt, und dort ein wenig bummeln. So wie es aussieht, wird es morgen warm und wir könnten uns danach eine geeignete Badestelle am Fluss suchen.«

»Das hört sich gut an, dann haben sowohl wir als auch unsere lieben Kleinen etwas davon.«

Susi war zufrieden mit diesem Vorschlag und ihr Mann Björn stimmte ihr zu. Miriam hatte noch nie erlebt, dass er sich gegen eine ihrer Entscheidungen gestellt hätte. Gabi und Karl waren gleichfalls einverstanden, doch bei ihnen wurde alles dem Anschein nach im Konsens entschieden.

»Ich füge mich natürlich der Mehrheit«, rundete Sascha das Thema diplomatisch ab.

Als das Gähnen immer mehr zunahm, löste sich die Runde langsam auf und die Paare suchten ihre Zimmer auf. Lediglich Miriam und Sascha wollten abwarten, bis das Feuer heruntergebrannt war, und unterhielten sich noch ein wenig mit gedämpften Stimmen.

»Was hältst du von unserer kleinen Reisegruppe?«

»Och, ich denke, dass wir sehr gut harmonieren werden, sowieso wenn wir das Finanzielle so regeln wie von meinem Freund Karl vorgeschlagen.«

Der Bankangestellte hatte sich für eine gemeinsame Haushaltskasse ausgesprochen, in die jede Familie einen Betrag einzahlte, wobei er anteilig für seinen älteren Sohn mehr einbringen wollte.

»Ja, es wäre schade, wenn es am Geld scheitern und uns dadurch der ganze Urlaub in schlechter Erinnerung bleiben würde. Wenn es hingegen funktioniert, könnte ich mir vorstellen, auch nächstes Jahr in dieser Konstellation wieder hierherzukommen.«

Sascha nickte und nahm ihre Hände zärtlich in seine.

»Wir könnten aber auch mal unterm Jahr für ein paar Tage hierherfahren, nur du und ich. Obwohl ich noch nicht sehr viel sehen konnte, habe ich mich schon in diesen herrlichen Landstrich und besonders in dieses wunderschöne alte Haus verliebt.«

»Das ist gar nicht so abwegig, ich muss sowieso die Zeit hier nutzen, um die Weinproduzenten, die meinen Vater beliefert haben, abzuklappern und eventuell neue hinzuzugewinnen. Wenn das klappt, haben wir einen guten Grund, öfter hierherzufahren, um das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.«

»Hört sich gut an, aber reichen deine Französischkenntnisse aus, um mit den Winzern zu verhandeln?«, gab Sascha zu bedenken.

»Na ja, ich kann mich sehr gut in dieser Sprache unterhalten, aber natürlich fehlen mir die feinen Raffinessen. Deshalb habe ich Lucy gebeten, mich zu den Châteaus zu begleiten.«

Sie unterhielten sich danach noch ein wenig über Miriams Vater und Sascha erfuhr so einiges Neues über den ungewöhnlichen Mann, bevor sie ebenfalls den Gang ins Schlafzimmer antraten.

Ein herrlicher Duft nach frisch gebackenem Brot erfüllte die Luft des Hauses am nächsten Morgen. Miriam war aufgestanden, als alle anderen noch schliefen, und hatte sich leise hinausgeschlichen. Sie war in das nächstgrößere Dorf namens Goudargues gefahren und hatte in einer Boulangerie, die sie noch aus früheren Ausflügen mit ihrem Vater kannte, Baguettes, Croissants und für die Kinder Pains au Chocolat gekauft. Das malerische Städtchen hatte nichts von seinem Charme verloren. Sie parkte ihren Wagen ein wenig außerhalb und flanierte an dem mit Platanen gesäumten Fluss entlang, der die Häuserreihen der Hauptstraße voneinander trennte. Zielsicher überquerte Miriam das Wasser auf einer der alten steinernen Brücken und fand die Bäckerei beinahe unverändert vor.

Zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie sich kein einziges Mal verfahren und auf dem direkten Weg wieder zurückgefunden.

»Da hat sich die lange Anfahrt doch schon mehr als gelohnt«, meinte Karl verschmitzt und biss genussvoll in ein Butterhörnchen. »Unsere Bäcker machen zwar das beste Brot weltweit, aber Croissants und Baguettes muss man einfach in Frankreich essen.«

Die Kinder wirkten erst ein wenig skeptisch, als sie die rechteckigen Pains betrachteten, doch als sie ein Stück des mit Schokolade gefüllten Gebäcks abgebissen hatten, kannte die Begeisterung keine Grenzen mehr.

Miriam heimste viel Lob für ihren Einkauf ein und es wurde beschlossen, dass abwechselnd jeden Morgen jemand zum Bäcker fahren würde.

Der Besuch der historischen Altstadt von Uzès gestaltete sich nicht so einfach wie gedacht, da sich die Parkplatzsuche als äußerst nervenaufreibend erwies. In den Gassen des pittoresken Städtchens fand an diesem Tag ausgerechnet der wöchentliche Markt statt, der wahre Völkerscharen in den Ort spülte.

Nach zehnminütigem Fußmarsch erreichten sie das markante herzogliche Schloss und wenig später dann den von Arkaden gesäumten Place aux Herbes, wo die Marktleute ihre Stände aufgeschlagen hatten.

Allein die verschiedenen Gerüche nach südlichen Gewürzen, frischem Fisch und Meeresfrüchten entschädigten für die Strapazen. Die Reihenfolge der Stände folgte einem erkennbaren System, in einem Carrée waren Händler, die die lukullischen Dinge feilboten, und in einem anderen etwa Schuh- und Bekleidungsstände. Weiter vorne waren die für diese Gegend typischen bunten Töpferwaren aufgereiht.

Schnell bildeten sich wieder geschlechterspezifische Grüppchen, etwa wenn in einer Auslage handgefertigter Schmuck dargeboten wurde. Die drei Männer blickten unterdessen sehnsüchtig auf die Tische der Cafés, die sich unter den Arkaden befanden, wo andere Zeitgenossen sich bereits ein kaltes Bier gönnten, und betrachteten dann voll dunkler Vorahnung die ausgewiesenen Preise der von ihren Frauen favorisierten Schmuckstücke.

Allerdings war es äußerst schwierig, in diesem Getümmel zusammenzubleiben und die Kinder nicht aus den Augen zu verlieren.

Deshalb beschlossen die Herren der Schöpfung einträchtig, sich einen schattigen Platz zu suchen, um etwas Kühles zu trinken und den Kindern dort ein Eis zu kaufen. Dieser Vorschlag besänftigte die Frauen, die somit ungestört über den Markt flanieren konnten, um später zum Treffpunkt zurückzukehren.

Sascha erklärte sich bereit, etwas Proviant für das mittägliche Picknick einzukaufen.

Anfänglich verwechselte er noch Wörter, doch allmählich kehrte das Gelernte zurück und es machte ihm Spaß, sein Schulfranzösisch anzuwenden, zumal er feststellte, dass die Leute viel freundlicher mit ihm umgingen, wenn sie hörten, dass er ihre Sprache ein wenig beherrschte.

Susi hatte sich eine schöne Silberkette gekauft, und während die Händler um die Mittagszeit ihre Stände wieder abbauten, beschlossen die drei Familien, die Stadt zu verlassen und einen Badeplatz aufzusuchen. Sie fanden einen zauberhaften Platz am Flussufer, wo die Strömung nicht zu stark war und sich mitten im Fluss kleine Tümpel gebildet hatten.

Auf einem flachen Felsen drapierte Sascha die Köstlichkeiten, die er eingekauft hatte. Getrocknete Tomaten, eingelegte Oliven sowie die verschiedenen luftgetrockneten Würste waren gemeinsam mit dem krossen Baguette im Nu verzehrt und die Ziegenkäse-Pélardons rundeten das herrliche Mahl ab. Alle fühlten sich rundum wohl.

Auch die nächsten Tage waren angefüllt mit dem Besuch von Sehenswürdigkeiten der Region sowie dem Entdecken neuer Badeorte.

»Heute würde ich gerne mit Lucy zu ein paar Winzern fahren, wenn es euch nichts ausmacht«, sagte Miriam eines Morgens, nachdem sie mit der Cousine ihres Vaters telefoniert hatte.

»Dann könnten wir ja zu der spektakulären Schlucht fahren, von der du schon mehrfach erzählt hast«, schlug Susi vor.

»Hm, ich weiß nicht, hier in Frankreich werden die Sicherheitsmaßnahmen oft etwas lax gehandhabt und so wie ich die Klamm in Erinnerung habe, sind unsere Kinder dafür noch etwas zu klein«, gab Miriam zu bedenken.

»Ich könnte doch mit den Kleinen hierbleiben und mit ihnen eine Poolparty veranstalten.«

Überrascht blickten alle auf Sascha, und nachdem die Kinder lauthals jubelten, war die Tagesplanung klar.

Bevor Miriam nach Bagnols-sur-Cèze zu Lucy aufbrach, erklärte sie Karl, der mit seinem VW-Bus fahren wollte, den Weg zu der Schlucht.

Den Bäcker in Goudargues hatte Miriam auf Anhieb gefunden, doch bei dem Haus ihrer Verwandten musste sie passen. Nachdem sie mehrfach im Kreis gefahren war und einige rote Ampeln überfahren hatte, lenkte sie ihren Wagen in die Innenstadt.

Vor einem kleinen Café blieb sie in bester französischer Manier im absoluten Halteverbot stehen und setzte sich an einen kleinen Tisch.

Sie bestellte sich bei dem unaufdringlichen Garçon einen petit Café und nahm ihr Smartphone aus der Tasche.

»Hallo Lucy, es ist zum Verzweifeln, ich habe jetzt eine halbe Stunde versucht, dein Haus zu finden. Jetzt sitze ich im ›Café du Centre‹, kannst du hierherkommen?«

In der Sprache ihres Vaters zu reden, fiel ihr leichter als gedacht und auch die Antwort von Lucy, die sich bemühte langsam zu sprechen, verstand Miriam sehr gut.

Es dauerte keine zehn Minuten, bis eine attraktive Frau in den Vierzigern mit langen dunkelbraunen Haaren vor ihr stand.

Die beiden umarmten sich stürmisch und gaben sich mehrere Küsschen auf die Wange.

»Wie lange ist das her, seitdem du das letzte Mal mit deinen Eltern hier unten warst?«

Miriam überlegte einige Augenblicke, bevor sie schmunzelnd antwortete.

»Jedenfalls viel zu lange.«

»Du musst mir deine Lebensgeschichte erzählen, ich möchte alles wissen und natürlich besonders die Umstände von Rudis Tod«, forderte Lucy und blickte ihre Verwandte aus fast schwarzen Augen an.

»Ich fürchte, dazu reichen meine Sprachkenntnisse nicht aus, na ja, ich kann es ja mal versuchen. Aber können wir das während der Fahrt machen, denn ich habe leider nicht allzu viel Zeit, da mein Lebensgefährte Sascha heute alleine auf sämtliche Kinder aufpasst? Die vier anderen Erwachsenen sind zu den Concluses de Lussan gefahren und er hat sich bereit erklärt, zu Hause zu bleiben«, erläuterte Miriam.

»Na schön, dann lass uns fahren und ich hoffe stark, dass ich deinen Märchenprinzen in den nächsten Tagen kennenlerne.«

»Komm doch mit Jacques einfach gleich heute Abend vorbei, dann können wir die Früchte unserer heutigen Arbeit ausgiebig genießen.«

Der ausreichend motorisierte VW-Bus schnurrte ohne große Anstrengung den Berg hinauf, während sich die zwei Pärchen angeregt unterhielten. Auf der Anhöhe folgte eine schnurgerade Allee, an der links und rechts der Fahrbahn hohe Pinien Spalier standen.

»Halt an«, rief Gabi, die Beifahrerin, plötzlich.

»Da war ein winziges Hinweisschild und ich meine, darauf den Namen der Schlucht gelesen zu haben.«

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass hinter ihm niemand kam, fuhr Karl rechts ran und stoppte sein Fahrzeug.

Er machte einen U-Turn und fuhr das holprige Sträßchen, das dem Schild folgte, einige Kilometer entlang, bis sie zu einem wenig frequentierten Parkplatz kamen.

Lediglich ein ziemlich verbeulter alter R4 stand verloren herum.

»Für ein Touristenziel ersten Ranges ist hier aber wenig los«, spottete Björn und blickte skeptisch auf den Prospekt in deutscher Sprache, den sie sich im Tourismusbüro in Goudargues geholt hatten.

»Vielleicht hat die gute Miri einfach übertrieben, egal, jetzt sind wir schon mal hier, dann sehen wir es uns auch an, oder nicht?«, fragte Susi in die Runde und die anderen nickten zustimmend.

Skeptisch folgten sie der Tafel mit dem grünen Pfeil und standen plötzlich an einem atemraubenden Abgrund.

»Das gibt es doch nicht«, rief Gabi aus und ihre Augen weiteten sich, als sie in die Tiefe blickte.

»So etwas Schönes wäre bei uns in Deutschland großflächig abgesperrt und die zahllosen Besucher würden sich gegenseitig auf den Füßen stehen. Abgesehen davon, dass man ohne Eintrittsgeld sowieso keinen Zugang bekommen würde.«

Tatsächlich fiel das Gelände an der Stelle, wo sie sich befanden, um wenigstens zweihundert Meter senkrecht ab und in der Tiefe war ein Fluss mit smaragdgrünem Wasser zu erkennen.

»Aber Gott sei Dank haben wir die Kinder nicht mitgenommen, da hätten wir keine ruhige Minute gehabt«, stellte Gabi mit Blick auf die äußerst spärliche Absperrung fest.

Auf der gegenüberliegenden Seite ragte eine Steilwand mindestens genauso hoch auf und man konnte erkennen, dass der Fluss sich irgendwie unten in dem Gestein verlieren musste.

»Das ist ja echt der Hammer, diese imposante Schlucht! Ich schaue mal, ob man hinuntersteigen kann.«

Karl ging voraus und suchte nach einem Pfad.

Er fand einen schmalen Weg, der sich hinunterwand, und folgte ihm, um zu sehen, ob er ins Tal hinabführte. Es war ziemlich beschwerlich und mehrfach lösten sich große Steine aus dem Schotterbelag, die mit lautem Getöse in die Tiefe fielen.

Trotz seines Bürojobs war Karl körperlich in sehr guter Verfassung. Zu Hause hielt er sich mit Fahrradfahren und Wandern fit, wobei er Letzteres in einem Verein ausübte.

In diesem Moment näherte sich ein Mann mit unsicherem Gang der Aussichtsplattform, auf der die Deutschen standen. Zielstrebig ging er auf die blonde Susi zu, die wie gebannt auf den hochgewachsenen Neuankömmling starrte.

Alle drei spürten die Gefahr, die von diesem Kerl ausging.

»Excusez, Madame, voulez vous baiser moi?”

Er machte eine eindeutige Geste dazu und kam dabei immer näher.

»Ich verstehe zwar nicht, was er gesagt hat, aber ich fürchte der Kerl führt nichts Gutes im Schilde«, rief Susi angsterfüllt aus.

»Was fällt Ihnen ein?«

Björn trat heran und blickte den Kerl kampfeslustig an.

»Verschwinden Sie oder ich mache Ihnen …«

Weiter kam er nicht.

Mit einer für seinen betrunkenen Zustand unfassbar schnellen Bewegung hatte er die in seinem Hosenbund steckende Pistole herausgezogen und sie dem überraschten Björn auf den Kopf geschlagen. Susis Ehemann ging mit einem hässlichen Geräusch zu Boden. Danach richtete der Franzose die Waffe auf Gabi und bedeutete ihr, in Richtung Parkplatz zu verschwinden. Susi stand unterdessen mit offenem Mund da und war zu keiner Bewegung fähig.

»Baiser«, stieß der Mann heiser hervor und die junge Frau wusste jetzt, dass er sie vergewaltigen wollte.

Er schmiss die Plastiktasche, die er die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte, auf den Boden und legte die Pistole darauf. Offenbar war er überzeugt davon, dass er sich die Frau auch ohne Waffengewalt gefügig machen konnte.

Sie konnte schon deutlich die blutunterlaufenen, gierigen Augen sehen und der übel riechende Atem raubte ihr beinahe den Verstand. Sie erwachte aus ihrer Erstarrung und ging vorsichtig Schritt für Schritt rückwärts, dabei kam sie ganz dicht an die Absturzkante.

Plötzlich schnellte der Mann nach vorne und warf sich auf sie.

Ungeduldig durchmaß Magdalena Mertens das Foyer im Erdgeschoss des riesigen Uni-Krankenhauses, während Paul Hanser sich im Sprechzimmer eines auf Karzinome spezialisierten Professors aufhielt. Sie war so aufgeregt wie selten zuvor in ihrem Leben und hoffte und bangte um den Mann, mit dem sie ein spätes Glück genießen konnte.

Es hatte lange, zermürbende Gespräche gebraucht, bis sie ihn endlich soweit gehabt hatte, dass er sich einer eingehenden Untersuchung unterzog, und tatsächlich wurden in seinem Darm wuchernde Geschwüre festgestellt. Der Hausarzt hatte ihn dann hierher überwiesen, damit Hanser Gewissheit über die Art seiner Krankheit erlangen sollte. Obwohl ihr Kollege Sascha Gross noch eine Woche in Südfrankreich Urlaub machte und sie eigentlich unabkömmlich war, hatte sie bei ihrem Vorgesetzten Köttmann einen freien Tag durchgesetzt.

Paul war mittlerweile in ihre Jugendstilvilla in Reutlingen, die sie von ihren Eltern geerbt hatte, mehr oder weniger eingezogen, hielt sich jedoch noch mindestens zwei Tage und Nächte in der Woche zu Hause in Erpfingen auf.

Magdalena, die zuvor etwas Bedenken vor diesem Schritt gehabt hatte, musste sich eingestehen, dass ihr der neue Hausgast überaus gut tat.

Lange hatte sie mit sich gerungen, danach aber offenherzig über ihre in den letzten Jahrzehnten der Einsamkeit entstandenen Eigenheiten geredet.

Bisher hatte sie in all den Jahren keinerlei Rücksicht auf irgendjemanden nehmen müssen, umso mehr war sie angenehm überrascht darüber, dass es bisher so reibungslos funktionierte.

Bevor Paul eingezogen war, hatte sie ursprünglich vorgehabt, einen Teil des riesigen Hauses an eine Flüchtlingsfamilie zu vermieten, doch nach einer Baubesichtigung mit einem Behördenvertreter war ihr klargemacht worden, dass hierzu eine größere Sanierung erforderlich gewesen wäre.

Ratlos hatte sie danach Paul, der auf seinem Bauernhof in Erpfingen des Öfteren Umbaumaßnahmen durchgeführt hatte und auch ausreichend praktisch veranlagt war, gebeten, diese selbst in die Tat umzusetzen. Sofort war er Feuer und Flamme gewesen und hatte ihr angeboten, bei befreundeten Handwerkern Kostenvoranschläge einzuholen. Leider waren deren Preisvorstellungen mit ihrem Beamtengehalt nicht zu realisieren und Magdalena musste den Plan mit den Flüchtlingen vorerst begraben. Sie hatte von ihren Eltern zwar zusätzlich zu dem Haus noch Geld geerbt, doch auf diese Rücklagen wollte sie nur im äußersten Notfall zurückgreifen.

Da es aus finanziellen Gründen mit der Aufnahme von Flüchtlingen wohl nicht klappen würde und sie sich in ihrem Alter nicht mehr verschulden wollte, nahm eine andere Idee langsam Gestalt an.

»Wie wäre es eigentlich, wenn du bei mir einziehen würdest?«, hatte sie Paul eines Abends bei einem Gläschen Rotwein gefragt, nachdem sie lange mit sich gerungen hatte.

Der dickschädelige Älbler zierte sich ein wenig und erbat sich ein paar Tage Bedenkzeit. Im Grunde seines Herzens hätte er am liebsten gleich eingewilligt, aber Spontaneität war noch nie sein Ding gewesen.

Er hatte schließlich zugesagt, wollte jedoch unter keinen Umständen mietfrei bei seiner Freundin wohnen.

»Ich will von dir nichts geschenkt, damit das gleich klar ist«, hatte er beinahe erbost gesagt und es wäre darüber beinahe zu einem Zerwürfnis gekommen.

Sie einigten sich schließlich auf einen symbolischen Betrag, den er ihr am Monatsanfang überweisen wollte, und Paul versprach ihr dafür als gewissen Ausgleich zu der sehr geringen Miete, die finanziell machbaren Umbauten auszuführen.

Mit Elan machte sich der Rentner zuerst daran, die in die Jahre gekommenen Bodenbeläge der verschiedenen Terrassen in Magdalenas Garten zu erneuern, und sie konnte beinahe nicht aufhören, ihn dafür zu loben, so sehr gefiel ihr seine Arbeit.

»Aber ich bitte dich, das ist nun wirklich keine Hexerei«, winkte er dann bescheiden ab.

Nachdem Magdalena gesehen hatte, wozu Paul handwerklich in der Lage war, beschloss sie ihn zu fragen, ob er das Bad im Obergeschoß, das sie hauptsächlich nutzte, sanieren könnte.

Dieser Raum, den sie insgeheim als Schandfleck bezeichnete, hatte die Hauptkommissarin schon seit langer Zeit als dringend renovierungsbedürftig betrachtet. Immer wieder hatte sie die Arbeiten hinausgeschoben, weil sie sich nicht damit anfreunden konnte, dass sich wildfremde Menschen in ihrem intimsten Bereich zu schaffen machten.

»Dazu brauche ich allerdings fachliche Unterstützung. Die alten Armaturen und Fliesen rauszureißen und neue zu verlegen, macht mir keine Schwierigkeiten, aber für die sanitäre Installation benötigen wir einen Fachmann.«

Ein Blick auf ihre skeptische Miene reichte ihm, um zu erkennen, dass sie es am liebsten sähe, wenn er alles selbst erledigen würde.

»Ich habe einen Cousin, der gleichfalls im Ruhestand ist und dringend ein wenig Aufbesserung seiner Rente benötigt. Er hat vierzig Jahre als Klempner gearbeitet, den könnte ich fragen«, schlug Paul vor und mit einem feinen Lächeln bemerkte er, dass sich Magdalenas Miene aufhellte.

»Das hört sich gut an. Eigentlich wollte ich meinen Urlaub anders gestalten, aber ich denke, dass ihr ein wenig Unterstützung gebrauchen könnt.«

»Du könntest für unser leibliches Wohl sorgen, damit wäre uns sehr geholfen«, entgegnete er verschmitzt.

Eine Woche später begannen sie mit den Abbrucharbeiten und Magdalena bekam die Aufgabe, den Schutt in Eimern die Treppen runterzutragen, um ihn dann in einen von Paul mitgebrachten Autoanhänger zu schütten.

Sobald die Ladungsobergrenze erreicht war, fuhren sie gemeinsam zur Firma Sturz, einem großen regionalen Müllentsorger. Bei der Einfahrt wurde ihr Gefährt gewogen und ein unfreundlicher Mann erklärte ihnen umständlich, wohin der Bauschutt zu bringen war.

Staunend blickte sich Magdalena auf dem riesigen Gelände um und musste sich eingestehen, dass sie sich bisher keine großen Gedanken über die Entsorgung des täglich anfallenden Mülls in der Region gemacht hatte. Mit zwei Schaufeln entluden sie in schweißtreibender Arbeit den Anhänger, bis Paul bei der dritten Fuhre einen Radladerfahrer bat, mit seinem Gerät den Schutt herunterzuschieben, allerdings nicht ohne dem Mann vorher ein kleines Trinkgeld zuzustecken.

Eines Tages waren sie sehr spät dran und verließen sich beim Abladen auf den freundlichen Mann mit dem Lader, doch der war nirgends zu entdecken. Es blieb den beiden nichts anderes übrig, als wieder von Hand zu entleeren.

»Außer uns ist keiner mehr da.«

Besorgt ließ Magdalena den Blick umherschweifen.

»Hoffentlich machen die nicht dicht und wir müssen die Nacht auf dieser Deponie verbringen.«

»Na und wenn schon, das wäre doch bestimmt romantisch«, sagte Paul lachend.

»Aber im Ernst, das Gelände ist videoüberwacht, und bevor der letzte Mitarbeiter nach Hause geht, schaut er sich die Bildschirme an, damit keine ahnungslosen Leute wie wir auf der Müllhalde übernachten müssen.«

Als der Anhänger leer war, zeigte der Zeiger von Pauls Uhr bereits viertel nach sechs und er ließ den Wagen langsam auf die Waage zurollen.

Die Schranke war heruntergelassen und Paul stieg aus. Er wandte sich dem Häuschen zu, wo vorhin noch ein Mann gesessen war, der abkassierte beziehungsweise Lieferscheine ausstellte.

»Hm, das ist jetzt aber seltsam«, brummte er und sah beim Zurückgehen, dass Magdalena ebenfalls ausgestiegen war.

Sie ging in die entgegengesetzte Richtung auf der Suche nach einem Angestellten, der sie herauslassen konnte.

Doch nirgends war jemand zu finden, und nachdem sie beinahe die ganze Deponie abgesucht hatte, war sie entschlossen, Paul zu bitten, die Schranke zu rammen. Sie ging gerade an einer Werkstatthalle vorbei, als sie jemanden sprechen hörte.

Ihr fiel ein Stein vom Herzen und voller Freude eilte sie in die Richtung, aus der die Stimmen kamen.

»Ich mache da nicht mehr länger mit«, ließ sich jemand entschieden vernehmen und Magdalena stoppte mitten in der Bewegung.

Da ist was faul, dachte sie und ihre berufsbedingte Neugier war geweckt.

»Wenn Sie jetzt aussteigen, wäre das für Ihre Gesundheit bestimmt nicht förderlich«, antwortete ein anderer Mann zynisch. »Und jetzt stellen Sie endlich die Papiere aus, ich habe noch einen weiten Weg vor mir.«

Die unverhüllt ausgesprochene Drohung tat ihre Wirkung und Mertens sah, wie sich der Bedrohte mit hängenden Schultern in Bewegung setzte.

»Hallo, warten Sie kurz«, rief die Hauptkommissarin und beschloss, dem Mann nötigenfalls zu Hilfe zu eilen.

Erschrocken drehte er sich um.

»Äh, was, …, was machen Sie hier? Wir haben geschlossen.«

»Mein Freund und ich haben etwas länger mit dem Abladen gebraucht. Plötzlich war niemand mehr zu finden und die Schranke war heruntergelassen.«

Der Angestellte war mittelgroß und hatte ein fahles Gesicht, in dem die blauen Augen das einzig Auffällige waren.

»Geht es Ihnen gut oder brauchen Sie Hilfe?«, wollte Mertens mit Blick auf den anderen Kerl wissen, dessen brutale Züge zu dem bulligen Körper passten.

»Ich wüsste nicht weshalb und jetzt machen Sie, dass Sie verschwinden«, befahl der Ängstliche mit zittriger Stimme.

»Wenn Sie so freundlich wären und uns rauslassen würden? Außerdem müssen wir noch bezahlen.«

Unschlüssig blickte er zuerst auf Mertens und dann auf den anderen Kerl, der ihm leicht zunickte.

»Na schön, kommen Sie mit und Sie«, bedeutete er dem Bulligen, »warten hier solange.«

Während sie über den Platz liefen, wo Pauls Auto stand, beschloss Magdalena dem Mitarbeiter der Deponie ein wenig auf den Zahn zu fühlen.

»Hören Sie, ich kann Ihnen helfen, wenn Sie bedroht werden, mein Name ist Mertens, Hauptkommissarin bei der Reutlinger Kripo.«

»Lassen Sie mich in Ruhe, ich werde von niemandem bedroht«, entrüstete er sich scheinbar, doch Mertens konnte seine Angst deutlich spüren.

Er betrat das Waaghäuschen und blickte sich darin um, doch es war deutlich zu sehen, dass er sich mit diesen Dingen normalerweise nicht befasste.

»Passen Sie auf, ich kann da jetzt an dem Computer nichts mehr machen«, stieß er genervt hervor und kratzte sich am Kinn.

»Wir machen es jetzt einfach so, dass ich Ihnen handschriftlich etwas aufsetze, mit dem Sie morgen nochmals herkommen und die Rechnung dann bei meinem Kollegen begleichen.«

Hastig kritzelte er etwas auf ein leeres Blatt Papier, setzte seinen Namen darunter und unterschrieb den Wisch. Gleichzeitig betätigte er einen Knopf, um die Schranke zu öffnen.

»Da Sie mit Ihrer letzten Ladung im Computer gelistet sind, würde ich Ihnen raten, so schnell wie möglich wieder herzukommen.«

Er drückte Magdalena das Papier in die Hand und wandte sich grußlos ab.

»Na, da haben wir ja noch mal Glück gehabt, dass du so einen guten Riecher besitzt und diesen seltsamen Menschen aufgespürt hast«, meinte Paul grinsend und fuhr eilig davon.

»Der gute Riecher sagt mir aber auch, dass da etwas überhaupt nicht koscher ist. Ich konnte mit anhören, wie der Typ von einem gefährlich aussehenden Mann bedroht wurde und daraufhin deutliche Anzeichen von nackter Angst zeigte.«

»Das hast du dir bestimmt bloß eingebildet, vielleicht bist du als Polizistin einfach etwas zu feinfühlig in derlei Dingen. Auf jeden Fall fahre ich morgen früh wieder mit einer Fuhre her und bezahle die Zeche.«

Nachdem die Abbrucharbeiten abgeschlossen waren, rückte Pauls Cousin Dieter an und das neue Bad nahm langsam aber sicher Konturen an. Magdalena genoss es, für das leibliche Wohl der beiden Männer zu sorgen, und verwöhnte die Handwerker mit allerlei leckeren Speisen. Das Zusammenleben mit einem anderen Menschen hatte auch Auswirkungen auf ihre Kochkünste, denn im Gegensatz zu früher, als sie noch alleine gelebt und nur sporadisch etwas gekocht hatte, machte es ihr jetzt richtig Spaß, manchmal auch außergewöhnliche Gerichte zuzubereiten.

»Ich glaube, ich muss die Arbeiten noch ein wenig in die Länge ziehen«, meinte Dieter eines Mittags und biss genussvoll von einer der köstlichen Maultaschen ab.

Mehrfach lud sie ihre zwei Arbeiter auch ins »Primafila« ein, wenn sie keine Zeit zum Kochen hatte.

Dieter hatte seine Sanitärtätigkeit schließlich abgeschlossen und Paul konnte die abschließenden Fliesenarbeiten ausführen. Bewundernd stand Magdalena eines Morgens hinter ihm und beobachtete, wie er die Bordüre anklebte, als Paul plötzlich heftig zusammenzuckte und sich schmerzverzerrt den Bauch hielt.

»Ah«, schrie der stattliche Mann und Magdalena erschrak beinahe zu Tode.

»Dieses Mal kommst du mir nicht so davon, Paul«, beharrte sie kurze Zeit später, als die Schmerzen ein wenig erträglicher geworden waren und er auf dem bequemen Sofa lag.

Es folgten weitere heftige Dispute, bevor Hanser endlich eingewilligt und sich von seinem Hausarzt hatte untersuchen lassen.

Wie lange dauert das denn noch, fragte sich Magdalena aufgeregt und sie war drauf und dran, einfach ins Zimmer des Arztes zu stürmen, um endlich Gewissheit über Pauls Gesundheitszustand zu erlangen.

Seit ihre Eltern vor vielen Jahren gestorben waren, hatte sie nicht mehr um einen geliebten Menschen gebangt und ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel und just in diesem Moment öffnete sich die Türe und Paul trat mit ernster Miene heraus.

Mit einer katzengleichen Bewegung trat Susi zur Seite und fasste den linken Unterarm des Kerls. Sie nutzte dabei den Schwung des schweren Mannes ganz so, wie sie es im Tai-Chi-Training gelernt hatte, und warf ihn zu Boden.

Verdutzt glotzte er auf die blonde Frau und wollte sich wieder erheben, als sich plötzlich ganz langsam der Felsbrocken löste, auf dem er lag.

Verzweifelt suchte er nach irgendetwas zum Festhalten, doch das dürre Bäumchen, das er zu fassen bekam, hielt seinem Gewicht nicht stand. Ein gurgelnder Schrei entfuhr seiner Kehle, als er mehrere hundert Meter in die Tiefe stürzte.

Benommen und schwer atmend blickte Susi in den Höllenschlund, in dem der Kerl verschwunden war, und fühlte sich als Teil eines surrealen Schauspiels. Erst allmählich kam ihr zu Bewusstsein, dass sie genauso gut am Grund dieser imposanten Schlucht hätte liegen können wie der Typ, der sie angegriffen hatte.

Von hinten legten sich behutsam zwei Arme um ihren Körper und eine sanfte Stimme sprach ihr Trost zu.

»Schhhh, ganz ruhig, Susi, es ist alles noch mal gut gegangen.«

Sobald sie die Stimme von Gabi vernahm, brach ein Damm und Susi fing lauthals zu heulen an.

»Warum hat mich das Arschloch angegriffen?«, stieß sie unter Tränen hervor.

»Ich musste mich doch wehren und er liegt jetzt tot da unten.«

»Du kannst nichts dafür, er wollte dich vergewaltigen und hatte außerdem eine Waffe bei sich, um den ist es nicht schade. Komm mit, lass uns lieber nach deinem Mann sehen, hoffentlich hat ihm der Kerl nicht den Kopf eingeschlagen.«

Gabi zog die weinende Frau weg vom Abgrund und gemeinsam wandten sie sich dem immer noch regungslos am Boden liegenden Björn zu.

»Er atmet noch«, stieß Gabi hervor, nachdem sie sich zu dem Verletzten hinuntergebeugt hatte, während Susi teilnahmslos in eine andere Richtung blickte.

In diesem Moment kam Karl mit eiligen Schritten die Anhöhe herauf.

»Man kann bis zum Grund der Schlucht …«

Weiter kam er nicht.

Mit einem schnellen Blick erfasste Karl die Situation.

»Was ist mit Björn passiert, ist er hingefallen?«

»Es ist etwas ganz Schreckliches passiert, aber das erzähle ich dir später, ich muss mich erst mal um den Verwundeten kümmern. Du kannst derweil mit Susi zu dem Sitzbänkchen dort drüben gehen und sie ein wenig beruhigen.«

Karl musste seine Frau immer wieder aufs Neue bewundern, jede andere wäre hysterisch zusammengebrochen, doch die pragmatische Gabi rettete die Situation.

Behutsam legte er Susi den Arm um die Schultern und führte sie zu der Sitzgelegenheit, während seine Frau Björn das Blut abtupfte.

An seiner Stirn war eine klaffende Fleischwunde zu erkennen.

Er hatte Glück im Unglück gehabt, wenn ihn der Schuft seitlich oder hinten am Schädel getroffen hätte, wäre er unter Umständen tot liegen geblieben. Während ihn die ausgebildete Krankenschwester umsichtig betreute, kam Björn langsam wieder zu sich.

Seine glasigen Augen suchten nach einem Anhaltspunkt, doch zuerst drehte er sich zur Seite und erbrach sich.

»Ich glaube, du hast eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen. Das Beste wird sein, du bleibst erst mal liegen und ich hole dir derweil eine Decke und ein Kissen aus unserem Auto.«

Björn nickte schwach, ihm gingen so viele Fragen durch den Kopf, er war jedoch zu schwach, um sie zu stellen.

Gabi bat ihren Ehemann um den Autoschlüssel und Karl erhob sich und kramte in seiner Tasche. Mit einem schnellen Schritt trat er auf seine Frau zu und fasste sie an der Schulter.

»Kannst du mir bitte mal in groben Zügen erzählen, was hier eigentlich vorgefallen ist?«

»Ich weiß auch nicht, es ging alles so rasend schnell, plötzlich stand da dieser Typ und wollte Susi an die Wäsche. Er hat mich mit einer Pistole bedroht und gezwungen zu verschwinden. Björn schlug er mit dieser Waffe auf den Kopf, das Ergebnis siehst du ja. Ich rannte davon, bis ich aus dem Blickfeld des Mannes war und schlich wieder zurück. Ich sah gerade noch, wie der Kerl sich auf sie stürzen wollte und Susi dann einen Griff anwandte, den sie wohl in ihrem Selbstverteidigungskurs, von dem sie erzählt hat, gelernt hat. Auf einmal hörte ich diesen Schrei, der mir durch Mark und Bein gegangen ist.«

Ungläubig betrachtete Karl seine Frau.

»Das heißt ja, dass sie ihn umgebracht hat«, stieß Karl ungläubig hervor.

»Sie hat ja wohl in äußerster Notwehr gehandelt, das ist dir doch hoffentlich klar«, echauffierte sich Gabi.

»Sicher, aber das müssen wir der Polizei erst mal beweisen und noch dazu in einer fremden Sprache. Na ja, wir reden nachher drüber, wie wir weiter vorgehen. Bleib du hier bei dem Verletzten und ich hole derweil das Kissen und die Decke.«

Wenig später kam er wieder mit den Sachen zurück und sah, dass Björn seinen Oberkörper aufgerichtet hatte, während Susi nach wie vor apathisch auf der Sitzbank saß.

»Was ist …, wo bin ich … was ist passiert.«

Gabi legte ihm das Kissen unter und drückte ihn behutsam wieder in die Liegestellung.