Mit Stock und Hut - Julian Letsche - E-Book

Mit Stock und Hut E-Book

Julian Letsche

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Beschreibung

1520. Der Zimmermann Hannes Fritz befindet sich auf der Walz. Unglückliche Umstände verschlagen ihn in die mächtige Seestadt Amsterdam, wo er Opfer einer Intrige wird, die sein Leben bedroht. Zur selben Zeit wird seine Jugendliebe, die Kaufmannstochter Anna Neumann, von skrupellosen Landsknechten verschleppt und als Geisel festgehalten. Bald muss sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass ihr als Mörder gesuchter Noch-Ehemann Kaspar hinter ihrer Entführung steckt. Eine atemberaubende Geschichte um Leben, Liebe und Tod nimmt ihren Lauf …

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Julian Letsche

Mit Stock und Hut

Historischer Kriminalroman

Impressum

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www.gmeiner-verlag.de

© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes »Der Kaufmann Georg Gisze« von Hans Holbein dem Jüngeren 1532;

http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Holbein,_Hans_-_Georg_Gisze,_a_German_merchant_in_London.jpg

ISBN 978-3-8392-4244-5

Kapitel 1

Das Hauen und Stechen, begleitet von grimmigen Schreien, war weithin zu hören und übertönte den fröhlichen Gesang der Vögel. Bunt gekleidete, schwitzende Männer drangen mit zweischneidigen Schwertern sowie langen Spießen aufeinander ein.

Es mussten mehrere Hundert Kämpfer sein, die sich entschlossen gegenüberstanden, manche von ihnen trugen schwere, in der Sonne glänzende Brustpanzer. Auf einer bewaldeten Anhöhe standen zwei etwas feiner gewandete Soldaten und beobachteten das Geschehen mit interessierter Miene.

»Und was ist Euer Eindruck von den Neuen, Herr Kapitän?«

Der groß gewachsene Mann mit dem üppig wuchernden, grau durchwirkten Bart winkte verächtlich ab, er hatte als ranghöchster Offizier schon so manches Fähnlein befehligt.

»Es ist wie jedes Mal, kaum halten die Grünschnäbel eine Waffe in der Hand, fühlen sie sich unbesiegbar. Glaubt mir, Locotenent Becker, es liegt noch ein dornenreicher Weg vor uns, bis wir diesen kümmerlichen Haufen dem Obristen zuführen können.«

»Ähem«, der nur unwesentlich kleinere Mann zupfte an seinen aufgebauschten geschlitzten Wamsärmeln.

»Erlaubt mir eine kurze Frage, Herr Vogler, entspricht es den Tatsachen, dass wir gegen den ruhmreichen Ritter Franz zu Felde ziehen?«

»Ja, es ist wohl wahr«, erwiderte der Kapitän mit einem tiefen Seufzer.

»Es ist ein Kreuz mit diesem Sickingen. Ich kenne und schätze ihn sehr, ja, habe schon an mehreren von ihm geführten erfolgreichen Kriegszügen teilgenommen.

Beim besten Willen will mir nicht einleuchten, was plötzlich in diesen tapferen Mann gefahren ist, dass er sich mit einem der mächtigsten und einflussreichsten Herren des Reichs anlegt. Weißt du, wie sie den gewaltigen Helden schon nennen? Den Afterkaiser, so wie sie den Wittenberger Mönch, diesen Luther, den Afterpapst nennen.«

Der offenbar gut unterrichtete Vogler legte seinem Stellvertreter die derzeitige Sachlage dar und berichtete in groben Zügen von Sickingens erfolgloser Belagerung der Stadt Trier. Er mutmaßte, dass Ritter Franz sich wohl auf seine Ebernburg bei Kreuznach zurückgezogen hatte, um sich auf seiner schier uneinnehmbaren Feste die Wunden zu lecken.

»Aber ich muss dir sagen, dass ich gern unter dem Herrn von Sickingen gedient habe, er war ein gerechter Obrist. Selbst beim Verteilen der Beute kam keiner zu kurz, so wie das bei manch anderen Herren der Fall war. Jetzt, so scheint mir, hat der gute Mann vollkommen den Sinn für die Realität verloren. Deswegen wollen ihm die hohen Herren eine Lektion erteilen und wir als käufliche Söldner sind das Mittel zum Zweck. So, genug geredet, lass uns das Ganze einmal aus der Nähe betrachten.«

Würdevoll schritt der Kapitän, gefolgt von seinem Adjutanten, bergab und trat zu den Kämpfenden.

Die beiden Männer, vor denen Vogler stehen blieb, hieben mit ihren kurzen Schwertern heftig aufeinander ein.

»Das, was ihr da in den Fäusten haltet, sind keine Knüppel zum Schweinetreiben.«

Der ehrfurchtgebietende Offizier riss den schwach protestierenden Rekruten die Waffen aus der Hand, behielt ein Schwert für sich und reichte eines seinem Stellvertreter.

»Jetzt schaut mal genau zu, ihr Bauernlümmel!«

Die zwei erfahrenen Kämpfer umkreisten einander und fochten scheinbar spielerisch mit den beidseitig geschliffenen sogenannten Katzbalgern.

Der schon in die Jahre gekommene Kapitän konnte seinem deutlich jüngeren Gegner in puncto Wendigkeit und Ausdauer nicht mehr das Wasser reichen. Der kluge Locotenent ließ es jedoch so aussehen, als ob die beiden sich auf Augenhöhe duellierten.

Einem kurzen Geplänkel folgte ein harter Schlagabtausch, bei dem die erstaunten Rekruten dachten, es gehe um Leben und Tod. Becker vermied den entscheidenden Schlag, damit sein Vorgesetzter vor den immer zahlreicher werdenden Zuschauern das Gesicht nicht verlor.

»So«, der Kapitän war außer Atem und Schweiß bedeckte seine hohe Stirn.

»Die Vorstellung ist beendet. Genau so will ich euch kämpfen sehen. Eure künftigen Gegner halten nicht still, sondern trachten euch nach dem Wertvollsten, das ihr habt, nach eurem Leben.«

Bei seinen letzten Worten riss sich Vogler das buntgefärbte Leinenhemd vom Leib und zeigte mit den Fingern auf riesige vernarbte Wunden, die kunstvoll vernäht worden waren.

»Seht her, das stammt von einem meiner ersten Kämpfe, damals war ich so unerfahren und draufgängerisch wie ihr und habe es beinahe mit dem Leben bezahlt. Ein Schweizer Reisläufer hat mir mit einem kurzen Dolch den Bauch aufgeschlitzt, sodass Teile meiner Gedärme herausgequollen sind. Nur der Anwesenheit eines sehr geschickten jüdischen Medicus habe ich es zu verdanken, dass ich mit dem Leben davongekommen bin und euch Befehle erteilen kann.«

Sprachlos und sichtlich ergriffen glotzten die Männer auf die schlimmen Blessuren ihres Kapitäns, ohne allerdings zu wissen, dass diese Zurschaustellung ein Teil der Ausbildung war.

»Denkt deshalb in jedem Kampf an den alten Vogler. Vor allem übt recht fleißig, damit euch solch ein Schicksal erspart bleibt.«

Nachdem er sich wieder angezogen hatte, spazierten die Offiziere weiter und begutachteten die einzelnen Kämpfer auf ihrem Weg. Bei einem besonders ungleichen Paar machten sie halt und der Locotenent konnte sich eine kritische Bemerkung nicht verkneifen.

»Verzeiht mir, wenn ich Eure Zusammenstellung tadle, aber findet Ihr nicht, dass der erfahrene Doppelsöldner zu rabiat auf den Neuling, der offenbar noch nie eine Hellebarde in Händen gehalten hat, eindrischt?«

Skeptisch beäugte Becker den jungen, gut aussehenden Mann, der unter den martialischen Schlägen des muskelbepackten Landsknechts erzitterte.

»Das ist mein spezieller Freund, dem ich eine besonders gute Ausbildung angedeihen lassen will, deswegen darf er mit unserem Waibel, dem langen Manfred, üben.«

Vogler verschwieg seinem Adjutanten, dass der Rekrut mit den einnehmenden Gesichtszügen ein gesuchter Mörder war, den er in Frankfurt höchstselbst vor dem Galgen gerettet hatte.

In seiner Not wich der in Bedrängnis geratene Anfänger immer mehr vor dem Hünen zurück und konnte nur unter Aufbietung seiner letzten Reserven den mächtigen Schlägen Paroli bieten.

Als er des Kapitäns gewahr wurde, schickte er ihm einen Hilfe suchenden Blick, aber just in diesem Moment traf der Stiel der gefährlichen Waffe den Kopf des unerfahrenen Kämpfers und schickte ihn zu Boden.

»Ich glaube, das reicht für heute, Manfred.«

Der Waibel, dessen hauptsächliche Aufgabe die Ausbildung und Disziplin der Rekruten war, hob nur kurz die Schultern und wandte sich einem anderen Paar zu.

Becker bückte sich zu dem am Kopf blutenden Mann hinunter und half ihm wieder auf die Beine.

»Wie ich erkennen kann, gefällt Euch der Anblick, mich im Dreck liegen zu sehen, Herr Kapitän.«

Herausfordernd schaute der Rekrut den überlegen grinsenden Officiarius an, doch Vogler erwiderte den Blick mit seinen zwingenden Augen so lange, bis der Jüngere sich wegdrehte.

»Ich erwarte dich nachher in meinem Zelt, Kaspar Neumann, und es gefällt mir durchaus, wenn jemand vor mir im Dreck liegt. Allerdings nicht im Kriegsfall, wenn es sich um einen meiner Leute handelt.«

Die beiden Officianten ließen den Verletzten stehen und führten ihren Rundgang fort.

Einige Zeit später ging Neumann durch das von Lärm erfüllte Lager, vorbei an emsigen Frauen, die an verschiedenen Kochstellen in riesigen, über dem offenen Feuer baumelnden Töpfen rührten und von hungrigen Kämpfern umlagert wurden.

Angewidert von dem Schmutz und dem Gestank, rümpfte der Rekrut die wohlgeformte Nase und blieb schließlich vor einem geräumigen, von einem grimmig dreinschauenden Söldner bewachten Zelt stehen.

»Seid gegrüßt, Kamerad, der ehrbare Herr Kapitän hat mich herbefohlen.«

Abschätzig blickte der bewaffnete Landsknecht auf den jungen Mann.

»Ist schon gut, Johann, lass ihn passieren!«, dröhnte eine Stimme aus dem Inneren.

Kaspar betrat die Behausung und staunte nicht schlecht, denn im Gegensatz zu den einfachen Zelten der gewöhnlichen Soldaten stand hier ein großer runder Tisch, um den mehrere Scherenstühle gruppiert waren, außerdem besaß der Kapitän ein bequemes Federbett und eine schwere, kunstvoll bemalte Truhe.

Auf dem massiven Tisch standen bereits eine bis an den Rand mit Wein gefüllte Kanne sowie ein knusprig gebratenes Hähnchen, das einen unwiderstehlichen Duft verbreitete.

»Setz dich, mein Freund.«

Mit einer einladenden Geste bedeutete Vogler seinem Gast, sich von dem kühlen Wein einzuschenken, und fuhr damit fort, sich mit genüsslichem Schmatzen über das gebratene Geflügel herzumachen.

»Hmmm, das ist köstlich, willst du auch ein Stück?«

Neumann lehnte dankend ab, er hatte Mühe, seine Abscheu zu verbergen, und dachte sehnsüchtig zurück an sein früheres Leben, als er noch in weit vornehmeren Kreisen verkehrte. Diese Zeiten waren leider vorbei und würden nur schwerlich wiederkehren. Dafür musste er sich nun bei einem rülpsenden, geldgierigen Totschläger anbiedern.

»Habe ich dir schon von dem Gemetzel in der schönen Stadt Marigniano erzählt, als ich beim Franzosenkönig gedient habe? An die 100 Schweizer Reisläufer habe ich damals erschlagen …«

Irgendwann hörte Kaspar der unglaublichen Geschichte, deren Wahrheitsgehalt er stark anzweifelte, nur noch mit halbem Ohr zu und dachte stattdessen zurück an seine abenteuerliche Flucht aus Frankfurt am Main.

Nachdem er zuvor unglücklicherweise einen ihm eigentlich treu ergebenen Handwerksgesellen erstochen hatte, wurde er von Vogler, der den Rang eines Kapitäns bekleidete, gegen ein sehr hohes Entgelt vor dem Galgen gerettet und in dessen neu gegründetes Fähnlein aufgenommen.

»Ja, ja, das waren noch Zeiten damals.«

Mit einem gewaltigen Rülpser beendete der hohe Offizier seine Mahlzeit.

»Jetzt zu dir, mein Junge. Du glaubst wahrscheinlich, dass ich dich, böswillig, wie ich bin, einfach nur schikanieren will, indem ich dich immer mit dem gewaltigen Manfred üben lasse. Das ist weit gefehlt, ich lasse dir dadurch nur die bestmögliche Ausbildung zukommen, denn glaube mir, ich habe noch Großes mit dir im Sinn.«

Voglers Stimme bekam einen verschwörerischen Unterton.

»Ich lehre dich die Grundlagen des vortrefflichen Kriegshandwerks und im Gegenzug bringst du mir gute Manieren und Tischsitten bei.«

Neumann musste an sich halten, um nicht lauthals loszulachen.

»Mein erklärtes Ziel ist es – aber das bleibt unter uns – «, meinte Vogler mit erhobenem Zeigefinger, »als Obrist ein Regiment zu führen, und du wirst mir dabei helfen. Trotz deines ansprechenden Äußeren bist du gewissenlos und hast bestimmt keine Skrupel, jemanden, der dir im Weg steht, beiseitezuräumen.«

Kaspar wollte ob dieser Unterstellung protestieren, der wuchtige Kapitän tat dies jedoch mit einer wegwerfenden Handbewegung ab und beugte sich vor.

»In meinen zahlreichen Lebensjahren habe ich mir eine hervorragende Menschenkenntnis angeeignet und deshalb glaube ich, auch dich richtig einzuschätzen.

Also noch einmal, wenn du auf meinen Vorschlag eingehst, biete ich dir hervorragende Aufstiegsmöglichkeiten an.«

»Mit Verlaub, wie wollt Ihr diesen märchenhaften Aufstieg finanzieren? Ein erfolgreicher Obrist muss oftmals den Sold für Tausende von Landsknechten monatelang vorstrecken und an diesem schwierigen Unterfangen sind schon weitaus berühmtere Männer als Ihr gescheitert,« warf Kaspar kritisch ein.

»Du hast recht, und deine stichhaltigen Argumente zeigen mir, dass du der richtige Mann für mich bist. Ich kann dich beruhigen, in den Kriegszügen, an denen ich teilnahm, habe ich immer gute Beute gemacht. Das meiste Geld für unser Unterfangen habe ich beisammen. Doch jetzt will ich von dir klipp und klar wissen: Unterstützt du mein Vorhaben oder willst du als einfacher Landsknecht dein Dasein mit einer scharfen Klinge im Bauch beenden?«

In seinem früheren Leben war Kaspar ein reicher Kaufherr gewesen und so wog er Für und Wider sorgfältig ab.

»Was bleibt mir anderes übrig?«

Kapitel 2

Den herrlichen Spätsommertag in vollen Zügen genießend, wanderte der junge, mittelgroße Handwerksgeselle vergnügt an dem blauen Main entlang und pfiff dazu eine fröhliche Weise. Seit seiner Abreise aus Frankfurt fühlte sich Hannes so frei wie einer der vielen Vögel, die in den ausladenden Baumkronen entlang des Weges zwitscherten. Zuerst war ihm der Abschied aus der großen Messestadt schwergefallen, doch das lag hauptsächlich daran, dass er seinen treuen Kameraden Rudolf dort zurücklassen musste. Wollte doch dieser noch eine Zeit lang in Frankfurt verweilen, um mitzuhelfen, die Gesellenbruderschaft aus ihrer derzeitigen Misere zu befreien.

Hannes musste nach all den Turbulenzen, die er an seinem letzten Aufenthaltsort erlebt hatte, etwas Abstand gewinnen und hatte sich entschieden, erst einmal allein loszuziehen. Sein nächstes Ziel war die Stadt Freiburg, weit im Süden gelegen, wo er den geheimnisvollen Bruder seines Vaters aufsuchen wollte.

Um dorthin zu gelangen, hatte der erfahrene Rudolf ihm geraten, dem gemächlich dahinfließenden Main zu folgen, bis dieser in den weitaus größeren Rhein mündete, sodann flussaufwärts zu wandern, bis der Bestimmungsort erreicht war.

Aber nach allem, was Hannes über seinen Onkel Joß Fritz gehört hatte, würde es kein leichtes Unterfangen sein, diesen ausfindig zu machen, denn der beinahe sagenumwobene Mann musste sich verstecken, da er schon mehrmals die Kühnheit besessen hatte, die von Gott eingesetzte Obrigkeit herauszufordern.

Die aufregende Lebensgeschichte seines legendären Oheims kannte Hannes von dem weithin bekannten Humanisten Ulrich von Hutten, den der Zimmermannsgeselle zu Beginn seiner Wanderschaft zufällig kennengelernt hatte.

Dieser gebildete Mann hatte ihm damals viel aus dem abenteuerlichen Leben von Joß Fritz erzählt, etwa, dass der Bruder von Hannes’ Vater zweimal als Anführer den Bundschuh ausgerufen hatte. Beide Male jedoch wurde der geplante Aufruhr bereits im Vorfeld von zweifelhaften Gesinnungsgenossen schmählich verraten. Trotz massiver Verfolgung konnte Fritz indes jedes Mal den blutrünstigen Schergen der Herrschenden wie durch ein Wunder entkommen.

Die einzigen Anhaltspunkte für Hannes waren die genaue Personenbeschreibung, die der Geselle von seinem Vater bekommen hatte, sowie der mutmaßliche Aufenthaltsort seines Onkels.

Was soll ich mir darüber jetzt schon den Kopf zerbrechen, es wird sich ohnehin alles finden, dachte der junge Mann mit den regelmäßigen Gesichtszügen bei sich und stieg eine kleine Anhöhe hinauf.

Da erblickten seine graublauen Augen zum allerersten Mal den mächtigen Rheinstrom und er erschrak ob der schieren Größe.

Am jenseitigen Ufer sah er eine gewaltige Kirche mit mehreren hohen Türmen inmitten einer großen Stadt aufragen.

Das musste das vielbesungene goldene Mainz sein.

Es war ein faszinierender Anblick, der sich dem jungen Zimmermann bot, und andächtig setzte sich Hannes in die von zahllosen umherschwirrenden Insekten bevölkerte Blumenwiese. Irgendwann kam ihm zu Bewusstsein, dass es schon früher Abend war, und er versuchte nun, anhand des Laufs der Sonne zu errechnen, wann die Dämmerung einsetzen würde. In zwei Stunden ungefähr dürfte die Nacht hereinbrechen, deshalb beschloss Hannes weiterzuwandern, damit er an einem der Stadttore anlangte, bevor diese für die Nacht verrammelt wurden. Danach wollte er die Herberge der hiesigen Zimmergesellenbruderschaft ausfindig machen, um dort zu logieren.

Er war gerade im Begriff, die mächtige Steinbrücke zu überqueren, als sich ihm ein mittelgroßer, sehniger Mann mit einem wettergegerbten Gesicht in den Weg stellte.

»Gott zum Gruße, wackerer Handwerksgeselle, hast du Lust auf ein frisches Bier? Ich würde dich gern dazu einladen, denn heute habe ich meinen Glückstag.«

»Ich danke Euch für das freundliche Angebot, mein Herr, nur muss ich zusehen, dass ich in die Stadt hineinkomme, bevor die Wächter alle Tore schließen.«

Hannes wand sich, sein erster Begleiter auf der Walz hatte ihm eingeschärft, niemals ein Angebot für ein freies Mahl oder einen Trunk abzulehnen aus Rücksicht auf die nachfolgenden Wandergesellen. »Aber, aber, das ist noch weit hin, in Mainz wird im Sommer nicht vor der achten Stunde verriegelt.«

Der Mann mit der für Hannes fremdartigen Aussprache war offenbar keinen Widerspruch gewohnt, und mit sanfter Gewalt drängte er den jungen Zimmermann zum Rheinufer, wo zahlreiche Schankwirte auf die vorbeikommenden Zecher warteten.

»Ah, der ›Goldene Schwan‹, das ist eine weithin bekannte Schenke, hier wollen wir einkehren und es uns gut gehen lassen.«

Skeptisch schaute Hannes auf die heruntergekommene Fassade der Wirtschaft, die ihn in seinem Entschluss bestärkte, mit dem aufdringlichen Mann eine Kanne Bier zu trinken und hernach schnell zu verschwinden.

»Seid willkommen, edle Herren.«

Der feiste Wirt, über dessen voluminösen Bauch sich eine speckige Lederschürze spannte, dirigierte seine neuen Gäste zu einem kleinen Tisch, auf dem noch halb volle Becher mit schalem Bier und schmutzige, knochenbeladene Teller standen. Auf seinen Wink hin wuselte ein üppiges Mädchen heran und trug das Geschirr ab.

»Bringe uns eine Kanne von deinem wohlschmeckenden Bier und zwei ausreichende Portionen der köstlichen Rippchen, der junge Geselle ist mein Gast.«

Der Wirt bedankte sich wortreich für die Bestellung und eilte geschäftig davon. Nach kurzer Zeit, während der sich die Männer angeregt unterhielten, kam das schäumende Bier, und auch das herrlich duftende, mit Brotscheiben garnierte Fleisch ließ nicht lange auf sich warten. Während er genüsslich Fleischfetzen von den Knochen riss, lauschte Hannes gebannt den spannenden Erzählungen des hageren Mannes, der sich als sehr angenehmer Gesprächspartner entpuppte.

Es stellte sich heraus, dass Hannes’ neuer Bekannter aus den spanischen Niederlanden stammte und mit seinem Boot voller Handelswaren den Rhein befuhr. Sein Heimatort befand sich nicht weit entfernt von der Stelle, an der sich der riesige Strom ins unendliche Nordmeer ergoss.

Die Zeit verging wie im Flug, doch nachdem der Holländer den dritten Humpen bestellt hatte, wollte sich Hannes verabschieden. Irgendwie gehorchte ihm seine Zunge nicht mehr und er brachte nur noch ein unverständliches Lallen zustande. Nun hielt er sich mit aller Kraft an dem kleinen Tisch fest, stand auf und wollte zum Ausgang gehen, als ihm die schweren Beine wegknickten und er der Länge nach hinschlug. Hannes bekam noch wie durch einen Schleier mit, wie zwei Männer ihn aufhoben, danach wurde alles dunkel.

Kapitel 3

Erhobenen Hauptes führte die junge Frau mit dem nach der neuesten Mode gearbeiteten Kleid den hochgewachsenen Handwerker durch die zahlreichen Zimmer des weitläufigen Hauses.

»Nun, Meister Heinrich, wie ist Eure Meinung zum Zustand des Gebäudes?«, fragte sie nach dem Ende des ausgiebigen Rundgangs.

»Nicht so schlecht, dass sich ein Abriss rechtfertigen ließe, Anna, natürlich sind einige Balken morsch und gehören ausgewechselt, das Lehmflechtwerk muss ebenfalls an mehreren Stellen ausgebessert werden, insgesamt betrachtet hat Euch der alte Neumann jedoch kein schlechtes Erbe hinterlassen.«

Nachdem ihr Schwiegervater einem Herzschlag zum Opfer gefallen war und ihr Ehegatte als gesuchter Totschläger auf der Flucht war, musste sich Anna Neumann um die Belange der Familie kümmern.

»Von wegen Erbe!«

Das hübsche, von braunen Locken umrahmte Gesicht nahm einen wütenden Ausdruck an und aufgrund einer heftigen Kopfbewegung drohte die weiße Haube zu verrutschen.

»Kaum war ich aus Frankfurt zurück, standen schon die erzürnten Gläubiger vor der Tür, und nur dem ausgezeichneten Ruf meines Vaters ist es zu verdanken, dass nicht Haus und Hof gepfändet wurden. Die dringendsten Verbindlichkeiten konnte ich mit seiner Hilfe begleichen, ich warte jedoch tagtäglich auf neue Schuldeneintreiber, denn nach Durchsicht des gesamten Schriftverkehrs der Neumanns sind wir zu der ernüchternden Erkenntnis gelangt, dass das angeblich so blühende Imperium meines Schwiegervaters auf tönernen Füßen stand. Die großen Augsburger Kaufleute, mit denen sich Balthasar Neumann auf Augenhöhe sah, stehen schon bereit, um das marode Unternehmen zu schlucken, aber trotz all dieser widrigen Umstände habe ich mich entschlossen, das Geschäft weiterzuführen.«

Heinrich schaute die junge Frau überrascht an.

»Entschuldigt, wenn ich mich einmische, aber wie soll das gehen? Versteht mich nicht falsch, in keiner unserer Zünfte sind Frauen als Mitglieder erlaubt.«

»Mein einziger Nachteil gegenüber einem männlichen Kaufmann ist das Geschlecht. Es interessiert niemanden, ob ich genauso trefflich rechnen und Geschäfte machen kann wie etwa mein geflohener Gatte.«

Anna hatte sich in Rage geredet.

»Es ist eine Schande, dass man uns Weiber an das Herdfeuer verbannt hat. Bedenkt nur, welche Talente dadurch brachliegen, oder wollt Ihr mir ernsthaft erzählen, dass Frauen dümmer sind als Männer?«

Sie funkelte den verdutzten Handwerksmeister mit ihren blauen Augen an, hatte sich dann aber schnell wieder in der Gewalt.

»Entschuldigt meine Aufregung, Heinrich. Ich weiß, dass Ihr eine andere Meinung zu diesem Thema habt. Ihr müsst meine Entrüstung verstehen, denn andauernd versuchen die ehrbaren Herren, mir Steine in den Weg zu legen. Wäre nicht mein Vater selbst ein einflussreicher Kaufmann, so wäre mein Scheitern unausweichlich. Mittlerweile haben wir uns mit der Kramerzunft arrangiert und mein Tuch- und Wollwarenhandel ist als seine Filiale etabliert.«

Ein leicht belustigter Zug umspielte die Lippen des breitschultrigen Mannes und seine erste Begegnung mit Anna kam ihm in den Sinn.

Es war heiß gewesen damals in jenem Sommer, als Heinrich zusammen mit anderen Arbeitern das Haus von Annas Vater umbaute. Entgegen der strikten Anweisung von Gotthelf Burgwart brachte seine Tochter den Gesellen und dem Lehrjungen täglich eine Brotzeit vorbei.

Schon damals wohnte in dem Mädchen ein wacher und aufrührerischer Geist.

»Es ist wohl wahr, dass manche Frau ein Geschäft besser führen würde als ihr unfähiger Gemahl. Leider ist die Zeit offenbar noch nicht reif für derlei Veränderungen, geschätzte Frau Neumann. Ich hoffe dennoch, dass Ihr in Eurem Handel über die Maßen erfolgreich sein werdet. Um nun wieder zum eigentlichen Grund meines Besuchs, den Umbaumaßnahmen, zu kommen, meine Leute und ich könnten in zwei Wochen beginnen.«

»Und was würden mich die Arbeiten kosten?«

Anna war jetzt wieder die emotionslose, kühle Rechnerin.

»40 bis 50 Gulden werdet Ihr bestimmt investieren müssen, aber danach wird Euch Euer Anwesen wieder Freude bereiten«, sagte Heinrich mit einer umspannenden Handbewegung.

»45 Gulden, und Ihr beginnt in einer Woche.«

Sie reichte ihm die Hand und nach kurzem Zögern ergriff der Handwerker Annas Rechte.

»Abgemacht, darf ich Euch noch auf einen Trunk einladen, um das Geschäft zu besiegeln?«

»Gern, die Schenke jedoch müssen wir mit Bedacht auswählen, Ihr seid schließlich ein verheirateter Mann, und mein Ruf in der Stadt soll, aus welchen Gründen auch immer, nicht der beste sein.«

»Das lasst nur meine Sorge sein.«

Die beiden schlenderten in die benachbarte Metzgergasse und betraten ein unscheinbares Gasthaus, von dessen Existenz Anna vorher noch nicht gewusst hatte. Ein kleiner Tisch in einer dunklen Nische war noch frei und nach einem kurzen Blickkontakt Heinrichs mit dem Wirt setzten sie sich.

Mit durchdringender Stimme bestellte der Zimmermann einen Krug Wein sowie zwei Becher und es entwickelte sich eine rege Unterhaltung, in deren Verlauf die beiden sich viel zu berichten hatten.

Die turbulenten Geschehnisse in Frankfurt interessierten Heinrich besonders, aber auch die hiesigen Begebenheiten kamen zur Sprache.

»Das ist doch die Dirne, die meinen Vetter verhext und meinen ehrbaren Onkel in den Tod getrieben hat!«

Ohne Vorwarnung war ein Mann an ihren Tisch getreten und blickte die junge Frau mit einem hasserfüllten Gesichtsausdruck an, sodass Anna zusammenschrak.

»Ich fürchte, du hast dich im Ton vergriffen, mein Freund. So spricht man nicht mit einer ehrbaren Bürgerin und jetzt mach, dass du fortkommst, bevor ich dir Beine mache.«

Ruhig wählte Heinrich seine Worte, einzig seine Augen funkelten gefährlich.

»Von dir lasse ich mich nicht einschüchtern und dich, meine Liebe, möchte ich warnen!« Der säuerliche Weinatem des Mannes stach Anna in die Nase.

»Mein Vetter wird eines Tages zurückkommen und sein Erbe antreten, dann bekommst du Hure deine gerechte Strafe!«

Der mittelgroße, zur Fülle neigende Mann hatte kaum ausgesprochen, als ihm Heinrichs riesige Faust in die Zähne fuhr. Er ruderte mit seinen Armen und krachte gegen den Nebentisch. Mit Mühe rappelte er sich wieder auf, aus seiner fleischigen Nase troff das Blut, und ehe er einen weiteren Versuch machen konnte, den Handwerker und die junge Frau zu stören, war auch schon der entschlossene Wirt bei ihm und schob den betrunkenen Randalierer mit Nachdruck zur Tür.

»Mein Herr, kommt wieder, wenn Ihr nüchtern seid.«

»Das werdet Ihr mir büßen, so wahr ich Christoph Späth heiße!«

Mit drohend erhobener Hand wankte er schließlich von dannen, der Schenkenbesitzer ließ ihn bereitwillig ziehen und ließ die Sache auf sich beruhen, er kannte Heinrich gut genug, um zu wissen, dass dieser nicht ohne Grund von seinen harten Fäusten Gebrauch machte.

»Ich danke Euch von Herzen, Meister Heinrich, dass Ihr mir so tatkräftig zur Seite gestanden seid.«

Anna wirkte noch ein wenig verwirrt und war ziemlich erregt.

»Habt Ihr diesen Mistkerl gekannt, Frau Neumann?«

»Sollte er tatsächlich Kaspars Vetter sein, so muss ich ihm zwangsläufig an unserer Hochzeit begegnet sein, kann mich jedoch beim besten Willen nicht mehr an ihn erinnern.«

»Mit Verlaub, meine Herrschaften!«

Ein dunkelhaariger, gut aussehender Mann, der eigentlich mit seinem pelzverbrämten Wams und seiner schönen schwarzen Kappe nicht in diese einfache Schenke passte, stand urplötzlich vor ihnen.

»Ich möchte mich für meinen ungestümen Begleiter entschuldigen, er ist manchmal, besonders nach dem Genuss einiger Becher Wein, ziemlich aufbrausend.«

Heinrich blickte den elegant gekleideten Mann skeptisch an.

»Wenn ich mich kurz vorstellen darf, Gregor von Auenfeld, Advocatus zu Tübingen«, meinte der geschmeidige junge Herr mit einer angedeuteten Verbeugung.

Vielleicht hat sich unser kleiner Ausflug nach Reutlingen ja doch noch gelohnt, dachte er beim Blick in Annas strahlende Augen.

»Darf ich mich kurz zu Euch setzen, schöne Frau, um Euch den Grund meines Aufenthalts zu erklären?«

Der grimmig dreinschauende Handwerksmeister wurde von dem Juristen keines Blickes gewürdigt.

»Äh, ja, bitte.«

Anna fühlte sich ein wenig überrumpelt. Auenfeld beeilte sich, seinen Becher sowie den restlichen Wein zu holen, und setzte sich zu den beiden.

»Mein etwas angeschlagener Mandant, also der Cousin Eures Ehegatten, wollte noch einige Dinge wegen Eures verstorbenen Schwiegervaters – Gott hab ihn selig – mit Euch klären. Herr Späth hat mir erzählt, dass sein Onkel ihm zu Lebzeiten einige bewegliche Sachen für den Fall seines Todes versprochen hat.«

Das entsprach allerdings nicht ganz der Wahrheit. Um vor dem Reutlinger Nachlassgericht zu bestehen, hatte Christoph Späth sich an den Juristen gewandt, den er in einer Weinschenke kennengelernt hatte, und diesem erklärt, dass er und seine Schwester Katrin die nächsten Erben des alten Kaufmanns waren, da die Ehefrau Kaspars kinderlos und spurlos verschwunden war. Beim Bericht über den immensen Reichtum der Neumanns war dem Advocatus ob der zu erwartenden Provision beinahe schwindelig geworden und nicht nur Späth hatte sich seine Zukunft in den schönsten Farben ausgemalt.

So war auch der unvermittelte Zornesausbruch des dicklichen Mannes zu erklären, denn sobald er die junge Gattin seines vogelfreien Cousins sah, wurde ihm sofort klar, dass seine sämtlichen Erbansprüche verfallen waren.

»Ihr könnt dem unverschämten Kerl ausrichten, dass ich ihm die Sachen aushändigen werde, wenn er sich mir in geziemender Weise nähert!«

Anna hatte ihre Contenance wiedergefunden und scherzte mit dem jungen Adeligen, dessen Charme bei der Kaufmannsgattin offenbar verfing, wogegen Heinrich deutlich spürte, dass er jetzt wohl überflüssig war.

»Ihr erlaubt, dass ich mich dann verabschiede, Anna, und sollte Euch dieser Herr«, er nickte in Auenfelds Richtung, »auch noch Scherereien bereiten, so wendet Euch an den Wirt, der ebenfalls ein handfester Bursche ist.«

»Ich danke Euch für die nützlichen Ratschläge bezüglich meines Hauses und ganz besonders für den ritterlichen Beistand vorhin, den Auftrag für die Ausbesserungsarbeiten habe ich Euch ja bereits erteilt.«

Die junge Frau war so in ihr Gespräch mit Auenfeld vertieft gewesen, dass sie den Handwerksmeister völlig vergessen hatte.

»Gehabt Euch wohl, meine Herrschaften.«

Heinrich tippte sich an die Kappe und begab sich zum Wirt, um die Zeche zu begleichen. Er flüsterte dem gedrungenen Mann noch etwas ins Ohr, wobei er unmerklich in Annas Richtung deutete, und verließ die Schenke.

»Wisst Ihr zufällig, welche Dinge genau dieser Christoph aus dem Nachlass bekommen sollte?«

Anna musterte den eloquenten Advocatus aufmerksam. »Darüber wurde ich leider nicht in Kenntnis gesetzt, sein ungebührliches Verhalten Euch gegenüber hat mich jedoch in meinem Urteil über den ungehobelten Kerl bestärkt und ich werde deshalb mein Mandat mit sofortiger Wirkung niederlegen.«

Auenfeld dachte kurz an Katrin Späth, die Schwester Christophs, der er angefangen hatte, den Hof zu machen. Das Mädchen war wohlgestaltet und ausgesprochen hübsch, wenngleich auch ein wenig naiv. Selbst ihr Vater, der hoch angesehene Weingärtnermeister Ulrich Späth, sah es mit Wohlwollen, dass seine Tochter sich mit einem Mann von noblem Geblüt traf. Dass es sich jedoch bei diesem um einen Sprössling aus armem Adel handelte, wusste niemand aus seinem Tübinger Bekanntenkreis. Gregors Vater war ein sogenannter Ministerialer, also ein adeliger Gefolgsmann weltlicher Fürsten.

Das Lehen, das der Ritter von Herzog Ulrich bekommen hatte, reichte allerdings kaum zum Überleben. Die Stammburg derer von Auenfeld befand sich im Hohenlohischen und war eine zugige Ruine, da Justus von Auenfeld sowohl seine ganze Energie als auch nicht unbeträchtliches Kapital in die großspurigen Unternehmungen des Württemberger Herzogs gesteckt hatte. Als dessen Stern im Sinken begriffen war, wechselte Auenfeld pragmatisch die Seiten und rettete so den Rest seines Besitzes.

Gregor sollte ebenfalls in die Fußstapfen seines Erzeugers treten und zuerst als Knappe dienen, um dann irgendwann den Ritterschlag zu erhalten, doch zu seinem großen Glück hatte er einen älteren Bruder, der diese Laufbahn bereits erfolglos eingeschlagen hatte. Da er außerdem der Liebling seiner resoluten Mutter war, die im Gegensatz zu ihrem recht einfach gestrickten und rückwärtsgewandten Gatten erkannt hatte, dass einem Rechtsgelehrten auf alle Fälle eine rosigere Zukunft blühte als einem verarmten Ritter, kam Gregor um die Karriere als Krieger herum. Die stolze Frau hatte einen nicht unbeträchtlichen Teil der Mitgift vor ihrem Mann versteckt und ermöglichte dem zweitgeborenen Sohn damit ein Studium in Tübingen, das dieser überaus intelligente Mann sodann alsbald mit Bravour abschloss.

Seither schlug er sich mehr schlecht als recht durch, denn in der Stadt am Neckar gab es viel mehr Juristen als Streitigkeiten und so war es für Gregor eine glückliche Fügung des Schicksals, den jungen Späth kennenzulernen. Natürlich hatte er sich für seine Zukunft weit mehr erhofft, als die Tochter eines Handwerksmeisters zu ehelichen, aber pragmatisch, wie er dachte, war der sprichwörtliche Spatz in der Hand allemal besser als die Taube auf dem Dach, und als dann noch die Aussicht auf ein reiches Erbe im nahen Reutlingen hinzukam, verstärkte er seine Bemühungen um die hübsche Katrin.

Doch nun war diese schöne Seifenblase geplatzt und Auenfeld musste sich rasch umorientieren. Was aus dem renitenten Späth geworden war, interessierte ihn herzlich wenig. Vielleicht würde er in Tübingen wieder Kontakt mit dem jungen Weingärtner aufnehmen. Zuallererst musste Gregor nun seine eigenen Interessen wahren. Dieser Charakterzug war ihm womöglich durch seine Mutter anerzogen worden, die ihren Nachzügler von frühester Kindheit an gehätschelt und immer wieder gegen den cholerischen Vater verteidigt hatte.

Hier bot sich ihm vielleicht die Möglichkeit zu einem ganz großen Coup und außerdem war Gregor sehr angetan von der anmutigen Frau. Ihr ausgesprochen selbstsicheres Auftreten stellte eine zusätzliche Herausforderung für ihn dar.

»Habt Ihr viel zu tun, Herr von Auenfeld?«

»Ihr meint, ob ich viele Klienten habe, Frau …?« Fragend blickte er sie an.

»Anna Neumann, nennt mich ruhig bei meinem Vornamen.«

»Mit dem größten Vergnügen. Also zu Eurer Frage, ich habe durchaus eine gut gehende Kanzlei und zu meinen Klienten gehören einflussreiche Tübinger Persönlichkeiten.«

Ohne rot zu werden, erfand Gregor diverse Gerichtsverhandlungen, bei denen er seine Mandanten aus schier aussichtslosen Situationen befreit hatte.

Anna war von seiner Wortgewandtheit und seinem aristokratischen Auftreten tief beeindruckt, ohne ihn dies spüren zu lassen.

»Ich bräuchte eventuell auch einen versierten Rechtsgelehrten in einer wichtigen Angelegenheit«, meinte die junge Kaufmannsgattin nachdenklich.

»Macht mir doch in den nächsten Tagen in meinem Kontor Eure Aufwartung. Und jetzt entschuldigt mich, da ich noch einen Schneider aufsuchen muss.«

Anna erhob sich langsam von der harten Bank.

»Mit dem größten Vergnügen, es wäre mir eine Ehre, Eure Rechtsgeschäfte zu tätigen. Ich werde einen meiner Angestellten zu Euch schicken, um einen passenden Termin auszumachen.«

Es müsste sich jemand finden, der sich als sein Diener ausgeben würde, dachte Gregor. Jetzt war nur noch das kleine Problem mit der Rechnung für die Getränke zu lösen, da Auenfeld keinen einzigen Heller in der Tasche hatte.

»Lasst mich die Zeche begleichen, mein Herr.«

Anna fasste in ihren am Gürtel hängenden Beutel und fischte ein paar Münzen heraus.

»Das kommt ja überhaupt nicht infrage, Ihr seid selbstverständlich mein Gast«, entgegnete der Jurist, dem winzige Schweißperlen auf der Stirn standen, und ging in Richtung Ausschank, wo ihn der Schankwirt mit grimmiger Miene empfing.

»Hört zu, wackerer Mann, ich habe meine Börse dem …«

»Ist schon alles bezahlt«, unterbrach ihn der untersetzte Mann.

»Meister Heinrich hat so viel dagelassen, dass es für die Schulden von Euch und Eurem verschwundenen Kumpan ebenfalls reicht. Er meinte jedoch, ich solle Euch im Auge behalten. Deswegen werde ich der jungen Frau einen meiner Knechte als Geleitschutz mitgeben.«

»Das wird nicht nötig sein, Herr Wirt, ich glaube kaum, dass mir dieser Mann Gewalt antun wird.«

Anna schenkte den beiden ein strahlendes Lächeln und verließ den dunklen Gastraum.

Kapitel 4

Hannes erwachte, als ihm jemand mit einem feuchten Lappen über das Gesicht fuhr.

»Ich dachte schon, sie hätten dir eine zu hohe Dosis von dem Gift verabreicht.«

»Wo … wo bin ich überhaupt?«

»Du befindest dich im Bauch eines Schiffes, das den Rhein abwärts segelt.«

Die kehlige Aussprache erinnerte Hannes an einen Wandergesellen, den er in Esslingen getroffen hatte.

»Aber ich verstehe nicht, ich war doch in Mainz«, entgegnete er hilflos und entsann sich mühevoll der letzten Stunden vor seinem Zusammenbruch.

»Ich kann dir alles erklären. Genauso wie ich bist du einem skrupellosen Menschenhändler ins Netz gegangen. Mich haben die Schweine in Worms überwältigt, nachdem mir der Wirt einer üblen Spelunke einen Schlaftrunk ins Bier gemischt hatte. Mein Name ist übrigens Urs, ich bin Maurer von Beruf und stamme aus der schönen Stadt Zürich. Seit zwei Jahren bin ich jetzt schon auf der Walz.«

Der Schweizer überragte Hannes um eine Handbreit an Körpergröße und war auch um einiges breiter in den Schultern. In seinem flachen Gesicht stach die kleine, spitze Nase hervor, die Farbe seiner Augen war in dem schlechten Licht der Kajüte nur schwer zu erkennen. Urs hatte zudem einen kräftigen Händedruck und der noch sichtlich geschwächte Hannes musste an sich halten, um nicht laut aufzuschreien. Erst jetzt schien der junge Zimmermann vollständig aufgewacht zu sein und machte sich erst einmal mit seiner neuen Umgebung vertraut.

Der Boden des engen Raumes war mit feuchtem Stroh bedeckt und die einzigen Möbelstücke waren eine ziemlich ramponierte Sitzbank sowie ein Ledereimer für ihre Notdurft. Die Wände und die einzige Türe bestanden aus mehrere Zoll starken, waagerecht angeordneten Bohlen, durch deren Ritzen ein wenig Tageslicht hindurchdrang. Ein leichtes Schaukeln erinnerte Hannes daran, dass er sich auf einem Boot befand.

»Was können die verdammten Kerle mit uns vorhaben, wir sind doch lediglich umherreisende Handwerksgesellen, für die mit Sicherheit niemand Lösegeld zahlen wird.«

Hannes hatte sich von dem stinkenden Boden erhoben, sank aber sofort auf die Bank nieder, weil ihm schwindlig wurde. Urs setzte sich neben ihn.

»Vielleicht wollen sie uns als Rudersklaven verkaufen.«

In diesem Moment hörten sie, wie sich draußen jemand an der Tür zu schaffen machte. Das Schloss wurde entriegelt und mit einem lauten Knarren öffnete sich die Tür.

»Wie ich sehe, ist unser junger Freund endlich zu sich gekommen.«

Der Hagere mit seinem wettergegerbten Gesicht und der herausragenden Raubvogelnase hielt einen gefährlich aussehenden Krummdolch in seiner rechten Hand.

»Hier habt ihr eine kleine Mahlzeit, damit ihr bei Kräften bleibt, aber kommt nicht auf dumme Gedanken. Mein Freund Jan hier«, er deutete mit einer Kopfbewegung zu dem schwerfällig wirkenden, hochgewachsenen Mann, der sich mit zwei tiefen Tellern durch die Tür zwängte, »versteht ebenso wenig Spaß wie ich.«

Behutsam setzte der vierschrötige Gehilfe das Essen auf den von Unrat übersäten Boden, drehte sich dann blitzschnell um, packte den verdutzten Schweizer am Wams und hob ihn scheinbar mühelos, als wäre er ein kleines Kind, vom Boden hoch.

»Er ist stumm wie ein Fisch und mir hündisch ergeben. Wenn ich es ihm befehle, so zerquetscht er euch wie zwei lästige Wanzen.«

Nach dieser eindrucksvollen Demonstration seiner Macht stellte der Kerl mit dem Dolch noch eine Kanne mit brackigem Wasser ab.

»Was habt ihr Halunken mit uns vor? Das, was ihr mit uns macht, ist Freiheitsberaubung!«, stieß Hannes hervor und stellte sich, noch leicht schwankend, vor den bewaffneten Mann, obwohl ihm die Angst beinahe die Kehle zuschnürte.

»Hör mir genau zu, mein Junge.«

Bedrohlich kam der Dolch näher.

»Ich hege keine persönlichen Gefühle gegen euch. Ihr seid für mich eine Ware, genauso wie der Frankenwein, den ich geladen habe, und ich werde den größtmöglichen Profit daraus schlagen. Sowohl aus dem Wein als aus euch beiden.«

Unsanft stieß der sehnige Mann Hannes zur Seite und verließ mit seinem unheimlichen Faktotum das enge Gelass.

»So etwas habe ich ja noch nie erlebt, dass mich einer hochhebt wie einen Sack mit Gänsefedern!«, stieß der Schweizer, der sich offenbar einiges auf seine körperliche Kraft einbildete, erstaunt hervor.

Die nächsten Tage verliefen ziemlich eintönig und die gefangenen Gesellen hatten ausreichend Muße, sich einander ihre Lebensgeschichten zu erzählen. Sie wurden lediglich hin und wieder von dem bärenhaften Mann besucht, der ihnen die wenig schmackhafte Nahrung brachte.

»Los, ihr Faulpelze, steht auf!«

Es musste mitten in der Nacht sein, als die Gesellen jäh aus ihren Träumen gerissen wurden. Durch die Ritzen drang nur fahles Mondlicht.

Ehe sie überhaupt reagieren konnten, waren ihnen bereits die Hände auf den Rücken gebunden, und mit leichten Schlägen wurden die sich sträubenden Männer aus ihrer Kabine getrieben. Hannes und Urs sahen zum ersten Mal die Umrisse des Schiffes.

»So, ihr Burschen, jetzt ist die gemütliche Fahrt zu Ende. Jan wird euch zu eurer künftigen Arbeitsstätte bringen. Und, wie gesagt, er wird nicht zögern, euch beim geringsten Widerstand zu töten.«

Die Worte des wölfisch grinsenden Niederländers waren unmissverständlich.

»Was geschieht mit unseren Werkzeugen und unseren Bündeln?«

Urs hatte sich auf der Bohle, die als Landungssteg diente, umgedreht.

»Da, wo ihr hingeht, werdet ihr das Zeugs nicht mehr brauchen und jetzt macht, dass ihr fortkommt!«, antwortete der Schiffseigner bösartig.

Am sandigen Ufer war Urs ins Straucheln gekommen und hingefallen. Der unweit entfernt stehende Jan hatte ihn mühelos wieder auf die Beine gestellt und zusammen mit Hannes wurde der Schweizer auf die Pritsche eines bereitstehenden Wagens gehievt. Beim Blick ins Gesicht des vierschrötigen Kerls fiel dem Maurergesellen eine Unregelmäßigkeit auf, die er zuerst nicht einordnen konnte.

Nachdem der Stumme ebenfalls auf dem Kutschbock Platz genommen hatte, öffnete der Wagenlenker die Bremse und lockerte die zum Zerreißen gespannten Zügel, worauf die ungeduldigen Pferde munter zu traben begannen.

Für die beiden Gesellen war es alles andere als eine angenehme Fahrt, denn sie wurden kräftig durchgeschüttelt und das einzig Tröstliche war der Umstand, dass ihnen der kräftige Regen nichts anhaben konnte, weil sie durch eine Plane geschützt waren.

Der rundum laufende Verschlag des Wagens war mehrere Ellen hoch und in das oberste Brett waren in regelmäßigen Abständen Löcher gebohrt worden. Ein fingerdicker Strick war durch die Bohrungen und durch das dicht gewalkte Tuch, das als Plane diente, hindurchgeschlungen worden, zusätzlich angebrachte Querträger verhinderten ein Durchhängen des Regenschutzes. Die sehr engen Handfesseln der Gefangenen waren ebenfalls durch zwei der Löcher geführt worden und somit konnten sie nur sitzend ihr Los ertragen. Das Haupt des größeren Schweizers berührte fast das Tuch.

»Warum nur muss mir immer so ein Unglück widerfahren?«

Hannes war den Tränen nahe und haderte ganz furchtbar mit seinem Schicksal.

»Seit ich unterwegs bin, folgt ein Nackenschlag dem anderen, aber in solch einer aussichtslosen Situation habe ich mich noch nie befunden.«

»Jetzt beruhige dich mal, bei mir lief es auch nicht allezeit rund, doch glaube mir, irgendwie hat es sich am Schluss immer zum Guten gewendet«, versuchte Urs, seinen niedergeschlagenen Leidensgenossen aufzumuntern, und trotz der widrigen Bedingungen fanden die beiden noch ein wenig Schlaf.

Als der Morgen graute, hielt der Wagen abrupt an und die Gesellen wurden unsanft geweckt. Es musste sich um eine der zahllosen Zollstationen handeln, denn die Gefangenen hörten, wie der Fuhrmann mit einem anderen Mann um eine Gebühr feilschte. Nach einer weiteren Stunde Fahrt hielt das Gefährt erneut an.

Davor hatten sie offenbar die Hauptstraße verlassen und waren einer Schneise in dem ansonsten dichten Wald gefolgt. Jan hob die schwere Plane an einer Seite hoch, machte sich an Hannes’ Fesseln zu schaffen und bedeutete dem Zimmermann herunterzusteigen. Urs wurde ebenfalls vom Wagen befördert und gemeinsam setzten sich die unglücklichen Handwerker auf einen umgestürzten, bereits halb vermoderten Baumstamm.

Der klein gewachsene Kutscher, dessen hervorstechendsten Merkmale die riesigen Tränensäcke unter den Augen waren, entzündete geschickt ein Feuer.

Er stellte sich als Hein vor und begann ein lockeres Gespräch mit den Festgehaltenen, während der Niederländer sich entfernte. Geraume Zeit später kehrte der vierschrötige Jan zurück und hielt in seinen Armen ein Tuch, in das er zahlreiche Pilze eingewickelt hatte. Der feuchte Spätsommer hatte das Wachstum der Waldfrüchte augenscheinlich begünstigt. Hein hatte bereits mehrere fingerdicke Haselnussäste gesammelt und mit seinem kurzen Dolch angespitzt, den er danach wieder in das Fach unter dem Kutschbock zurücklegte.

Sein stummer Komplize steckte jeweils mehrere Pilze auf die Stöcke und reichte sie den Männern, die sie sogleich übers lodernde Feuer hielten.

»Mmh, das schmeckt ja köstlich«, meinte Hein mit einem genussvollen Schmatzen.

»So etwas Feines werdet ihr in dem dunklen Bergwerk, das euch erwartet, bestimmt nicht bekommen.«

Jetzt war es heraus, entsetzt schauten sich die gefangenen Gesellen an.

Kaum hatte der redselige Wagenlenker die bittere Wahrheit ausgesprochen, traf ihn auch schon die flache Hand des finsteren Niederländers im Gesicht. Reflexartig nutzte Urs die kurze Ablenkung. Er schwenkte blitzschnell seinen Stock und rammte dem Stummen zielsicher die glühende Spitze ins linke Auge. Sofort begann der gepeinigte Mann, gurgelnde Laute von sich zu geben und hüpfte von einem Bein aufs andere. Doch Jans Schwäche hielt nicht lange an, und ohne auf seine grausamen Schmerzen zu achten, kam er wütend näher, wobei er seine gewaltigen Arme wie Dreschflegel schwenkte. Aber irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Urs schaute Hannes eindringlich in die Augen, hielt sich den rechten Zeigefinger vor den Mund und deutete mit der anderen Hand auf den sich eilig entfernenden Kutscher. Behände lief der junge Zimmermann hinter dem deutlich älteren Mann her und erwischte ihn, kurz bevor er seinen Wagen besteigen konnte. Hannes hielt den Haselnussstock noch in seinen gefesselten Händen und drosch damit auf den sich ängstlich duckenden Karcher ein. Seine ganze aufgestaute Wut legte er in die wuchtig ausgeführten Schläge. Als Hannes erschöpft und völlig außer Atem kurz innehielt, ergriff der greinende Mann erneut die Flucht und wurde vom dichten Wald verschluckt.

Urs schien unterdessen mit dem kraftstrotzenden Niederländer Katz und Maus zu spielen. Dabei lockte er den blind umherstolpernden Jan mit kurzen Zurufen von der Kutsche weg. Hannes durchschaute die Strategie des Schweizers. Er ging zum Wagen und begann, an der seitlich abstehenden Bremskurbel zu drehen.

Nach mehreren Umdrehungen, die von knarrenden Geräuschen begleitet wurden, löste sich endlich die Bremse. Die beiden kräftigen Pferde tänzelten nun unruhig umher und Hannes beeilte sich, auf den Kutschbock zu klettern, gleichzeitig ergriff er mit seinen gebundenen Händen die Zügel. Da der Geselle keinerlei Erfahrung hatte und nur hin und wieder die leichte Kutsche seines Vaters bei der Weinernte gelenkt hatte, hatte er jetzt alle Mühe, die Rappen am Loslaufen zu hindern. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass Urs sich leichtfüßig dem Karren näherte, gefolgt von dem in einigem Abstand umherirrenden heranstolpernden Jan.

»Lass sie laufen!«, rief der Schweizer und schwang sich im selben Moment auf den Kutschbock. Hannes tat, wie ihm geheißen, und der Wagen rumpelte los.

»Wie, um alles in der Welt, bringt man die Gäule dazu, in eine andere Richtung zu laufen?«

Der junge Zimmermann blickte Hilfe suchend zu seinem Kameraden.

»Gib mir die Riemen, ein Onkel von mir, der in Luzern wohnt, ist Fuhrmann und hat mir einige Tricks im Umgang mit Pferden verraten.«

Die Tiere spürten sofort, dass nun ein erfahrener Lenker die Zügel in die Hand genommen hatte, und wurden zunehmend ruhiger.

»Schau mal unter dem Sitz nach, Hannes, ich habe gesehen, wie der Kutscher seinen Dolch dort deponiert hat.«

Der Geselle tat, wie ihm geheißen, und fand das scharfe Messer, mit dem sich die beiden sogleich gegenseitig die Fesseln aufschnitten. Bereits wenige Minuten später bogen sie wieder auf die Hauptstraße ein und die immense Anspannung löste sich allmählich von den Handwerkern.

»Was war eigentlich mit diesem Unhold los, Urs, du hast ihm doch nur das eine Auge ausgestochen und trotzdem tappte er umher wie blind?«

Der aufgeweckte Schweizer zeigte trotz der widrigen Umstände ein überlegenes Grinsen.

»Mein Vater hat noch einen Bruder, der in den Bergen am Vierwaldstätter See einen kleinen Bauernhof betreibt. Schon als kleines Kind holte mich der Onkel im Sommer von daheim ab und brachte mich auf die Hochalpe, wo ich seine Kühe und Ziegen hüten musste. Da oben in dieser absoluten Einsamkeit habe ich sehr viel Zeit damit zugebracht, meine Beobachtungsgabe zu schärfen. Frühzeitig lernte ich etwa zu erkennen, wenn ein Tier lahmte oder sonst irgendwelche Verletzungen hatte und natürlich, wenn Gefahr durch hungrige Wölfe und Bären drohte. Bei dem furchterregenden Niederländer jedenfalls ist mir aufgefallen, dass sein rechtes Auge eine sonderbar milchige Eintrübung hatte, was nur bedeuten konnte, dass er damit nur unzureichend oder wahrscheinlich überhaupt nichts sehen konnte. Die ganze Zeit über habe ich mir dann den Kopf zermartert, wie wir uns diesen Umstand zunutze machen könnten, um unsere teure Freiheit wiederzuerlangen. Als uns dieser Dummkopf am Lagerfeuer eine Waffe in die Hand gedrückt hat, wusste ich, dass der Zeitpunkt für einen Befreiungsversuch gekommen war.«

»Das heißt ja, dass dieser arme Tropf nun blind und hilflos im Wald umherirrt!«

Hannes blickte seinen Kameraden bestürzt an.

»Nun werde bloß nicht sentimental, die beiden Halunken wollten uns als Sklaven verkaufen, was einem Todesurteil gleichgekommen wäre. Entweder wären wir krepiert, weil sie uns trotz der schweren Arbeit fast verhungern hätten lassen, oder, was auch sehr häufig passiert, die Grube hätte einstürzen und uns bei lebendigem Leib begraben können,« hielt Urs vehement dagegen. »Ich reagiere ziemlich empfindlich, wenn einer Kreatur ein Leid angetan wird, doch in diesem speziellen Fall muss ich dich zu deiner Tat beglückwünschen.«

Der junge Zimmermann grinste und beobachtete die ruhig trabenden Pferde, die keinen großen Unterschied zu ihrem angestammten Fuhrmann mehr zu spüren schienen.

»Wohin fahren wir eigentlich?«

Die Frage nach dem Ziel ihrer wilden Flucht war Urs jäh in den Sinn gekommen. »Vor meiner Gefangennahme wollte ich mich eigentlich nach Süden wenden, um mir im Badischen oder im Elsass noch rechtzeitig vor dem nahenden Winter eine Arbeitsstelle zu suchen«, gab Hannes zur Antwort.

»Und du, wo wolltest du hin?«

»Ich hatte vor, mir das schöne Worms anzuschauen und dort ebenfalls Arbeit anzunehmen, aber dann ist ja alles ganz anders gekommen.«

Der Schweizer schüttelte ungläubig den Kopf, als er an das hinter ihnen liegende Abenteuer dachte.

»Bevor wir neue Pläne schmieden, wollen wir uns doch erst einmal ausruhen. Weit genug weg von den Halsabschneidern dürften wir jetzt eigentlich sein. Schau, da vorn ist eine kleine Lichtung, dort werde ich anhalten.«

Es war früher Nachmittag, als die Gesellen total erschöpft vom Kutschbock heruntersprangen. Urs schien sehr gewissenhaft zu sein. Nachdem er die Bremse angezogen hatte, befreite er die schwitzenden Pferde von ihrem engen Geschirr und führte sie zu einem nahen Bachlauf, wo auch die beiden Männer ihren großen Durst löschten. Danach band er die geduldigen Tiere an einen ausreichend dicken Buchenstamm und die müden Gesellen legten sich ins weiche Gras.

Trotz des quälenden Hungers, der sie plagte, sanken sie sehr rasch in einen bleiernen Schlaf.

So bemerkten sie den einsamen Wanderer nicht, der sich ihnen näherte. Der mittelgroße Mann trug eine braune Mönchskutte, die über den Schultern spannte, und seine klugen Augen blickten begehrlich auf die Kutsche. Es hatte ihn vorher schon stutzig gemacht, als das Fuhrwerk ihn überholt hatte, dass die Männer, die ihrer Kleidung nach einfache Handwerksgesellen waren, sich solch ein Gefährt überhaupt leisten konnten.

Leise vor sich hin murmelnd, ging er langsam auf die Pferde, die beim Näherkommen des Fremden unruhig zu tänzeln begonnen hatten, zu und tätschelte einem der Rappen den muskulösen Hals. Es waren gepflegte, kräftige Tiere, die ihn recht zügig an seinen Bestimmungsort bringen würden. Nachdem er die Pferde eingespannt hatte, war der vermeintliche Mönch gerade im Begriff, die knarrende Bremse zu lösen, als einer der Männer sich regte und verschlafen in seine Richtung sah.

»Was macht Ihr da, ehrwürdiger Vater?«

Hannes gähnte lauthals, erhob sich und kam näher.

»Oh, … ähh, Gott zum Gruße, mein Sohn.«

Der Fremde suchte fieberhaft nach einer passenden Ausrede. Bei einem Blick auf das abschüssige Gelände kam ihm die rettende Idee.

»Ich kam zufällig des Wegs und bemerkte, wie eure schöne Kutsche sich selbstständig machen wollte. So sah ich es als meine Christenpflicht an, sie daran zu hindern.«

»Komisch«, Hannes kratzte sich nachdenklich am Kopf, »ich hätte schwören können, dass Urs die Bremse …, na, sei es drum, vielen Dank auf jeden Fall.«

Durch das Gespräch der beiden war der Schweizer Maurergeselle nun ebenfalls aufgewacht.

»Dieser Bruder muss von Gott gesandt sein, Urs. Er hat unseren schönen Wagen davor gerettet, den Hang hinunterzustürzen.«

Der Schweizer blickte skeptisch auf den gut genährten Mönch. Der wiederum spürte, dass der ältere der Männer nicht so leichtgläubig war.

»Auch dich möchte ich im Namen des Herrn grüßen.«

Salbungsvoll hob der Diener Gottes dabei die rechte Hand.

Vor sich hin brummelnd, ging der argwöhnische Maurer zu dem Planwagen und inspizierte die Arretierung. Die Drehkurbel, die mittels einer Gewindestange die Bremsbacken ans eisenbeschlagene Holzrad drückte, schien in Ordnung zu sein.

»Wohin soll der Weg Euch führen, Bruder …?«, fragte Hannes indessen den Mann mit der derben braunen Kutte.

»Bernhard, Bruder Bernhard werde ich seit meiner Novizenzeit genannt. Und um deine Frage zu beantworten, mein Sohn, ich befinde mich auf dem Weg in die Spanischen Niederlande. Dort werde ich mich auf ein Schiff begeben, das mich in die neu entdeckten Länder jenseits des großen Meeres führen wird. Meine Mission besteht darin, die Wilden dort zum rechten Glauben zu führen.«

Ehrfurchtsvoll starrte Hannes auf den heiligen Mann und auch Urs stand das Erstaunen ins Gesicht geschrieben. Die Gesellen hatten schon so manche spannende Geschichte über die Neue Welt und deren sagenhaften Reichtum gehört. Und nun trafen sie hier auf einen Mann, der im Begriff war, genau dorthin zu reisen, um aus den Eingeborenen gute Christenmenschen zu machen.

»Ihr beide beabsichtigt nicht zufällig, nach Holland zu fahren? Es würde Gott bestimmt gefallen, wenn ihr mir bei meiner Mission behilflich wäret. Und sei es nur, indem ihr mich ein Stück Wegs mitnehmt.«

Es hatte schon immer geholfen, wenn man die einfachen Menschen an ihre Christenpflicht erinnerte, dachte der Bruder gefühlvoll. Außerdem musste er sich beeilen. Die hartnäckigen Verfolger hatten seine Fährte bestimmt schon aufgenommen. Sie würden den vom rechten Weg abgekommenen Diener Gottes wohl bald eingefangen haben, um ihn seiner in ihren Augen gerechten Strafe zuzuführen.

Die Handwerker schauten einander fragend an.

»Also, ich habe mir noch keine großen Gedanken über meine Zukunft gemacht. Mir ist es eigentlich nur wichtig, vor dem herannahenden Winter eine Arbeitsstelle zu bekommen«, erwiderte der praktisch denkende Schweizer.

»Dann müsst ihr ja geradezu mit mir nach Holland kommen. Soviel ich gehört habe, ist in dieser Gegend immer genügend Arbeit zu finden. Welchen Beruf übt ihr aus, wenn ich fragen darf?«

Bernhard spürte deutlich, dass es nur noch ein kleiner Schritt war, die beiden in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken.

»Mein Kamerad hier ist Maurergeselle und ich habe das stolze Zimmermannshandwerk erlernt«, gab der Jüngere bereitwillig Auskunft.

»Hast du schon einmal auf einer Schiffswerft gearbeitet?«

Der listige Bruder schaute Hannes durchdringend an.

»Und du«, er wandte sich an Urs, »hast du deine Kunst schon einmal an einem prächtigen Bürgerhaus ausgeübt, das vollständig aus gebrannten Ziegeln besteht?«

Die Gesellen mussten kleinlaut verneinen, aber ihr Interesse war geweckt.

Bernhard schilderte nun die Niederlande so ausführlich, als ob er von dort stammen würde.

»Verzeiht, Vater, woher wisst Ihr so gut Bescheid über diesen Landstrich?«

In der Stimme des Schweizers schwang ein wenig Skepsis mit.

»Ich hatte das Glück, meine bescheidene Zelle mit einem Bruder aus der Gegend um Amsterdam zu teilen.«

Der gelehrte Niederländer hatte Bernhard in der Einsamkeit des Klosters sehr viel über Land und Leute der kaiserlichen Provinz und von dem immensen Reichtum der in der gesamten Welt bekannten Handel treibenden Kaufleute, aber auch von der großen Freiheitsliebe der Landbevölkerung berichtet.

All dies flocht der kluge Mönch in seine Rede ein und scheute sich auch nicht, die Geschichte ein wenig auszuschmücken, um den noch zweifelnden Gesellen die Entscheidung zu erleichtern.

»Also, was mich betrifft, so kann ich auch später noch gen Süden ziehen. Allein schon die Aussicht, auf einer Schiffswerft zu arbeiten, ist mehr als verlockend«, meinte Hannes mit leuchtenden Augen.

Urs schwankte zuerst noch etwas, stimmte aber letztendlich dann doch zu. Kurze Zeit später saßen die Männer auf. Bernhard machte in einem unbeobachteten Moment das Kreuzzeichen und schickte einen Stoßseufzer gen Himmel, um dann selbst rasch das Gefährt zu erklimmen.

Die größtenteils unbefestigte Straße, der sie folgten, war schlecht passierbar. Das lag zum Teil daran, dass der August und auch die ersten Tage des Septembers sehr feucht und ausgesprochen kühl gewesen waren. Der bedächtige Schweizer erwies sich aber weiterhin als passabler Kutscher, sodass die ungewöhnliche Fahrgemeinschaft trotz der Hindernisse gut vorankam.

»Wir müssten bald an einer Zollstation anlangen. Dort endet das Erzbistum Köln und das Herzogtum Berg beginnt.«

Der Mönch behielt recht. Nach einer scharfen Biegung wurde eine von zwei Bewaffneten bewachte Zollschranke sichtbar.

»Brrrrr …!«, rief Urs, und das Fuhrwerk blieb direkt vor den beiden rotgesichtigen Männern stehen. Ohne ein Wort der Begrüßung umrundete der größere der beiden das Gespann. Sein Kollege zog das kurze Schwert aus der Scheide und ging langsam auf den Wagen zu.

»Woher habt ihr Landstreicher dieses Gefährt?«

Der Söldner war nun so nahe herangekommen, dass Hannes seinen starken Alkoholdunst riechen konnte. Offenbar suchten die beiden in ihrer langen Weile im Wein etwas Zerstreuung.

»Wir, nun, äh …«

Der sonst so schlagfertige Schweizer stammelte und suchte fieberhaft nach einer glaubwürdigen Ausrede. Urs hatte nicht damit gerechnet, sich rechtfertigen zu müssen.

»Wir haben den Planwagen in Köln einem Karcher abgekauft.«

»Das könnt ihr erzählen, wem ihr wollt. Der Mann, dem sowohl diese Kutsche als auch die Pferde gehören, würde sie mit Sicherheit nicht zwei verlausten Gesellen und einem abgerissenen Mönch verkaufen.«

Der kleinere Grenzwächter sprach gedehnt.

»Ihr müsst wissen, dass ich diesen Mann und auch sein Fuhrwerk sehr gut kenne. Er ist mein allseits geachteter Bruder und jetzt macht, dass ihr herunterkommt, ihr Lumpenpack.«

Ängstlich verließen die drei Schicksalsgenossen das Fuhrwerk und blickten geradewegs in die mordlustigen Augen des bewaffneten Söldners.

Kapitel 5

Heinrich hatte die Arbeit am Haus der Neumanns unterschätzt.

Fast täglich traten neue schadhafte Stellen an dem Gebäude zutage und der Meister kam nicht umhin, mit Anna wegen der Kosten nachzuverhandeln. Die energische Frau versuchte auch nicht, den Zimmermann an sein gegebenes Angebot zu ketten. Sie spürte deutlich, dass es ihm äußerst peinlich war, den vereinbarten Preis erhöhen zu müssen. Anna war noch nicht allzu erfahren in geschäftlichen Dingen, merkte aber instinktiv, dass Heinrich sie niemals übervorteilen würde. Außerdem war es seit jeher bekannt, dass schlecht bezahlte Handwerker wenig motiviert waren und meistens Pfusch ablieferten. Während des Umbaus hatte Anna wieder ihre Kammer in dem prächtigen Haus ihres Vaters am Marktplatz bezogen.

Gleichwohl sehnte sie das Ende der Arbeiten herbei, um wieder in ihren eigenen vier Wänden wohnen zu können. Das Warenlager des Woll- und Tuchhandels war ebenfalls bei ihrem Vater untergebracht. Trotz aller Widrigkeiten bewies die junge Frau einen guten Geschäftssinn. Sie hatte schon einige Abschlüsse getätigt, welche einen nicht unerheblichen Gewinn in ihre Schatulle gebracht hatten.

Nach wie vor waren jedoch Neider und Zweifler genug vorhanden, die einer Frau einen solchen Handel nicht zutrauten. So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass dauernd mehr oder weniger seriöse Heiratskandidaten bei ihr vorstellig wurden. Diese wies sie mit der lapidaren Begründung ab, dass sie noch nicht verwitwet war und ihr flüchtiger Mann ja vom Kaiser begnadigt werden könnte. Einzig Gregor von Auenfeld ließ sie zu sich vor. Anna musste sich eingestehen, dass ihr die Besuche alles andere als unangenehm waren.

Nun endlich war ein Ende der Renovierung abzusehen.

»Ich habe eine gute Nachricht für Euch, Anna. Ende nächster Woche werden Maurer und Steinmetze ihre Arbeiten abgeschlossen haben und Ihr könnt Euer Domizil wieder beziehen.«

Heinrich hatte nicht nur seine eigenen Handwerker, sondern auch die der anderen Sparten beaufsichtigt.

»Ich stehe tief in Eurer Schuld, Herr Meister. Ihr habt viel mehr geleistet, als Euer Auftrag war. Beinahe so, als wäre es Euer eigenes Haus.«

Freudig erregt folgte die junge Frau dem Handwerker, der sie durch die bereits vollendeten Räume führte. In der Küche war ein Schmied gerade dabei, den mechanisch drehbaren Grillspieß auf Vordermann zu bringen. Anna blickte den Zimmermann von der Seite an und hatte das Gefühl, dass Heinrich etwas auf dem Herzen hatte.

»Herr Meister, heraus mit der Sprache. Wo drückt Euch der Schuh?«, fragte Anna geradeheraus.

»Nun, es ist so«, druckste Heinrich herum, »es geht mich eigentlich nichts an, aber in der Stadt wird getuschelt, dass dieser ominöse Advocatus Euch in letzter Zeit auffallend oft seine Aufwartung macht.«

Der große Mann spielte nervös mit seinen schrundigen Fingern.

»Normalerweise gebe ich nicht viel auf das Gerede, aber bei diesem Kerl habe auch ich kein gutes Gefühl. Ich bitte Euch daher nur darum, etwas vorsichtig zu sein.«

Annas soeben noch freudestrahlendes Gesicht bekam einen zornigen Ausdruck.

»Ich schätze Euch sehr als verlässlichen Handwerker, die Auswahl meiner Bekannten müsst Ihr aber meine Sorge sein lassen. Und jetzt gehabt Euch wohl.«

Die impulsive Kaufmannsgattin rauschte wutentbrannt aus der Küche und verließ das Haus. Der Schmied schaute erstaunt auf den hilflos mit den Schultern zuckenden Heinrich.

Am Nachmittag desselben Tages war Anna wieder mit dem Doctor der Jurisprudenz verabredet. Sie freute sich schon auf die geistreiche Konversation mit Gregor. Von dem ansprechenden Äußeren des Adelssprosses war die junge Frau gleichfalls mehr als angetan. Auf dem Weg zum Haus ihres Vaters traf sie Elsbeth, ihre ehemalige Magd, die vor einigen Jahren den Handwerksmeister Heinrich geheiratet hatte und zugleich aus Annas Diensten ausgeschieden war. Beim Anblick des stark gewölbten Bauches der jungen Frau verrauchte Annas Wut.

»Grüß dich, Elsbeth.«

Die beiden Frauen umarmten sich herzlich.

»Wann ist deine Niederkunft?«, fragte Anna interessiert.

»Maria, die Hebamme, meinte heute Morgen, dass ich schon überfällig sei.«

Schwer atmend stützte sie sich an einer schiefen Hausmauer ab, um kurz zu verschnaufen. Sie stellte ihren schweren Einkaufskorb ab und begann plötzlich, heftig zu stöhnen.

»Oje, oje. Ich glaube, es geht los.«

Anna unterdrückte die aufkommende Panik und versuchte, nüchtern zu überlegen.

»Was kann ich nur tun?«, sagte sie mehr zu sich selbst.

Elsbeth achtete nicht auf den Schmutz, der sich auf der Straße befand, und setzte sich hin. Die Abstände der Wehen verkürzten sich dramatisch. Anna pochte derweil wie wild an die Eingangstür des nächstgelegenen Hauses.

»Bitte, ihr lieben Leute, öffnet schnell! Es handelt sich um einen Notfall!«

Nachdem keine Antwort ertönte, versuchte sie es an der Nachbarpforte.

Einige verdreckte Kinder schauten interessiert auf die im Straßenschmutz kauernde und stöhnende Frau. Auch etliche Straßenköter sprangen bellend herbei, sonst war niemand zu sehen. Anna war ratlos. Sie konnte sich doch nicht einfach entfernen, um Hilfe zu holen. Da gewahrte sie am anderen Ende der Gasse eine ihr vertraute Gestalt.

»Gregor, kommt schnell!«

Der junge Mann sah kurz auf und eilte sofort herbei.

Mit einem Blick erfasste er die prekäre Lage. Ohne lange Erklärungen abzuwarten, zog er sein gefüttertes Wams aus, hob die Frau kurz an und bettete ihren Kopf auf das Kleidungsstück. Anna tat es ihm nach und deckte Elsbeth mit ihrem Mantel zu.

»Ahhhh …!«

Mittlerweile war aus dem Stöhnen ein lautes Schreien geworden, und jetzt kamen tatsächlich Passanten herbei, um zu gaffen. Gregor achtete nicht darauf.

Er hob den Rock der Gebärenden und war eben im Begriff, die Unterkleider zu entfernen, als mehrere Stimmen laut wurden.

»Was macht Ihr mit der armen Frau?«

»Wisst Ihr überhaupt, was Ihr da tut?«

»Ich habe die Kunst der Medizin ausreichend studiert und jetzt lasst mich in Ruhe arbeiten.«

Trotz seiner zur Schau gestellten Selbstsicherheit erkannte Gregor, dass es eine schwere Geburt werden würde.

»Das Kind liegt in Steißlage.«

Anna schaute ihn verständnislos an.

»Na, es kommt, statt mit dem Kopf, zuerst mit dem Hinterteil auf die Welt.«

Mit fließenden Bewegungen massierte er den gewölbten Bauch der wie wahnsinnig brüllenden Frau und sprach beruhigend auf sie ein. Doch es wollte ihm nicht gelingen, das Kind im Mutterleib zu drehen.

Gregor wurde es abwechselnd heiß und kalt. Sollte ihm die Frau oder das Kind unter den Händen wegsterben, würden die Leute ihn in der Luft zerreißen. Fieberhaft suchte er nach einer Lösung. Er erinnerte sich an die Geschichte eines Studienkollegen. Dieser hatte hinter vorgehaltener Hand von einem Medicus erzählt, der einer Frau den Bauch aufschlitzte. Anschließend hatte der wagemutige Arzt das Kind herausgeholt und die Wunde wieder vernäht.

»Lass meine Frau zufrieden, du Lump!«

Plötzlich war Heinrich hinter ihm aufgetaucht.

»Wenn ihr ein Leid geschieht, bringe ich dich um.«

Blanker Hass schlug Gregor aus den Augen des aufgebrachten Handwerksmeisters entgegen. Der Jurist konnte die körperliche Gewalt, die ihm von dem kraftstrotzenden Mann drohte, förmlich riechen. Immer verzweifelter strich er über den Bauch, und endlich brachten seine Bemühungen den ersehnten Erfolg: Das Kind hatte den Geburtskanal passiert und ein schwarzer Haarschopf zeigte sich. Wenige Augenblicke später glitt auch der restliche kleine Körper aus dem Mutterleib.