Tödliche Rache im Fachwerk - Julian Letsche - E-Book

Tödliche Rache im Fachwerk E-Book

Julian Letsche

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Beschreibung

Auf einer Reutlinger Baustelle wird ein grausam getöteter Zollbeamter gefunden. Musste er sterben, weil er sich von dem skrupellosen Bauunternehmer schmieren ließ und jetzt auspacken wollte? Oder hat er sich mit dem Boss der Firma angelegt, die osteuropäische Arbeiter weit unter Mindestlohn vermietet? Die Kommissare Mertens und Gross ermitteln im mafiösen Umfeld von illegalen Leiharbeitern und Korruption und stoßen dabei auf eine Mauer des Schweigens. Nachdem ein weiterer Mann auf einer Baustelle von „Baur baut“ zu Tode kommt, überschlagen sich die Ereignisse.

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Julian Letsche

wurde Undingen geboren und begann nach der Schule eine Ausbildung als Zimmermann. Getrieben vom Fernweh ging er auf die Walz und machte sich nach der Rückkehr in seinem Heimatort mit einem Holzbaubetrieb selbstständig. Aus einer Laune heraus eröffnete er mit mehreren Kumpels die Musikkneipe »s’Fabrikle«, in der auch die Irish-Folk-Band »Lads go Buskin« entstand, wo Letsche bis heute mitspielt. Nach diesen bewegten Jahren gründete der Autor eine Familie und widmete sich nebenher dem Schreiben. Es entstanden mehrere historische Romane, bevor er sich dem Genre Regionalkrimi widmete. Nach »Tatort Lichtenstein« und »Tod auf der Achalm« folgt mit »Mord im Fachwerk« ein weiterer Krimi mit dem Ermittlerduo Magdalena Mertens und Sascha Gross.

Julian Letsche

TÖDLICHE RACHE IM FACHWERK

Krimi

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2022

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehaltenTitelbild: © Adobe Stock

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Lektorat: Bernd Storz

Korrektorat: Sabine Tochtermann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-96555-145-9

Besuchen Sie unsere Homepage und informierenSie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

Mit unsicheren Schritten betrat er die zugige Baustelle und fragte sich wie häufig in den letzten Tagen, worauf er sich da eingelassen hatte. Trotz der teuren Daunenjacke fröstelte er und hielt sein Handy mit der eingeschalteten Taschenlampe wie ein Schutzschild vor sich.

Weshalb war er hierher bestellt worden? Was man ihm zu sagen hatte, hätte man ihm auch am Telefon mitteilen können. Der Typ musste einsehen, dass es für ihn allmählich zu gefährlich wurde. Bereits mehrere Male hatte er das Gefühl gehabt, dass ihm jemand auf die Schliche gekommen war. Zu seinem Glück hatte sich dieser Worst Case nicht bewahrheitet – noch nicht.

Wenn er in fünf Minuten nicht da ist, dann haue ich ab, ich frier mir doch hier nicht den Arsch ab, dachte der Mann, als er plötzlich ein Geräusch hörte. Es klang, als ob zwei Metallstücke gegeneinanderschlagen würden. Das war bestimmt eine Katze, die hinter einer Maus herjagt und dabei etwas umgeworfen hat, redete er sich ein, als plötzlich wie aus dem Nichts etwas gegen seine Stirn krachte und ihn zu Boden streckte. Benommen spürte er, dass jemand auf ihm kniete und ihm mit einer Hand die Nase zuhielt. Nach Luft schnappend öffnete er seinen Mund, als sich sein Rachenraum auch schon mit einer klebrigen Masse füllte.

1

Wie jedes Jahr am Heiligen Abend hatte sich Friedrich Baur gemeinsam mit seiner Tochter auf den Weg nach Lech am Arlberg gemacht. Sie blieben dann meistens bis Dreikönig in dem Nobelskiort.

Bereits in dem Jahr, als seine Frau einem heimtückischen Krebsleiden zum Opfer gefallen war, hatte er Gianna, sein einziges Kind, gebeten, mit ihm über die Festtage hierher zu fahren. Baur war alles andere als sentimental, trotzdem gingen ihm diese emotionalsten Tage des Jahres an die Nieren und er vermisste seine verstorbene Frau. Natürlich hätte er das niemals zugegeben, nicht einmal seiner Tochter gegenüber. Gefühle zu zeigen, gehörte nicht in seine Welt. Souverän lenkte er den riesigen SUV durch die winterliche Landschaft und auch der hinter dem Dalaaser Tunnel einsetzende Schneefall beeindruckte Baur nicht.

»Ich freue mich schon auf das Abendessen und eine gepflegte Flasche Wein dazu.«

»Darauf freue ich mich auch, aber könntest du nicht ein wenig langsamer fahren? Wenn wir ins Rutschen kommen, nutzt uns der Allradantrieb auch nichts mehr«, gab Gianna zu bedenken und drückte sich wieder ein wenig tiefer in ihren Sitz.

»Keine Angst, ich habe alles im Griff«, antwortete er mit einem überlegenen Lachen, das seine Tochter überhaupt nicht an ihm mochte.

Kurz vor Lech schien sich Giannas Befürchtung doch noch zu bewahrheiten und der schwere Wagen brach aus. Baur versuchte es mit Gegenlenken und vermied es, auf die Bremse zu treten. Er touchierte eine Leitplanke und schlitterte daran entlang.

»Nein!«, schrie Gianna und sah sich schon den Abgrund hinunterfallen, als der Wagen mit einem Mal stand.

»Verdammt, das war knapp«, stieß Baur hervor und stieg aus. Wütend betrachtete er den Schaden an seinem schwarzen Auto und strich mit der Hand über das eingedrückte Blech, bevor er sich wieder hineinsetzte. »Da werde ich mich morgen mal auf der Gemeinde beschweren. Schließlich lassen wir jedes Jahr ein kleines Vermögen an diesem Ort, da kann man doch verlangen, dass die Straßen anständig geräumt werden.«

Mit versteinerter Miene lenkte Baur seinen beschädigten Wagen die Auffahrt zum Eingang des luxuriösen Lecher-Hofs hinauf. Kaum war er zum Stehen gekommen, als auch schon ein Bediensteter, der frierend vor dem Portal stand, herbeieilte.

Wortlos stieg Baur aus und öffnete den geräumigen Kofferraum. Danach drückte er dem südosteuropäisch aussehenden Mitarbeiter die Autoschlüssel in die Hände. Seine Tochter hatte das Auto ebenfalls verlassen, nicht ohne sich vorher noch die Lippen nachzuziehen. Lässig hielt sie das edle Lederhandtäschchen in der einen Hand und hakte sich mit der anderen bei ihrem immer noch erzürnten Vater unter. Den jungen Hotelangestellten, der sie anstarrte, würdigte Gianna keines Blickes.

In der mondänen Hotellobby war reger Verkehr an diesem verschneiten Nachmittag. Neuankömmlinge als auch Gäste, die den Tag auf der Skipiste zugebracht hatten oder wenigstens so aussahen, schwirrten umher. Eine von mehreren Bars, die das Fünfsternehotel unter seinem Dach beherbergte, lag unmittelbar neben der Eingangspforte, und wie Baur aus den Augenwinkeln beobachten konnte, floss der Champagner bereits in Strömen. Diese Bar war offenbar hier im Eingangsbereich platziert worden, damit sich die Gäste nach dem Motto »sehen und gesehen werden« präsentieren konnten.

»Ah, der Herr Baur und seine reizende Tochter!« Sobald der hochgewachsene Concierge die neuen Gäste erblickt hatte, war er dienstfertig hinter seiner Rezeption hervorgekommen.

»Küss die Hand.«

Er nahm die Hand Giannas, verbeugte sich und deutete einen Kuss an. Danach begrüßte er Baur mit einem Handschlag.

»Ich hoffe, Sie hatten eine entspannte Anfahrt und können Ihren Aufenthalt in unserem Haus in vollen Zügen genießen.«

»Die Fahrt war so lange entspannt, bis wir Lech erreichten, Herr Huber. Aber aufgrund des miserablen Schneeräumdienstes hier bei Ihnen kam mein neuer Wagen ins Schleudern und wir haben mit einer Leitplanke Bekanntschaft gemacht.« Baur funkelte den Concierge mit seinen wasserblauen Augen an und stellte sich an die Empfangstheke.

»Das tut mir aber leid«, meinte der für schwierige Gäste geschulte Mann mitfühlend. »Ich werde mich sofort beim Bürgermeister beschweren und selbstverständlich überführen wir Ihr beschädigtes Fahrzeug zu einer Werkstatt. Derweil bekommen Sie ein adäquates Auto auf Kosten des Hauses.«

Huber vermutete, dass der Typ einfach zu schnell gefahren war, doch bei einem Hotel dieser Preisklasse war Kulanz ein eisernes Gesetz. Zudem war Baur ein gern gesehener Gast, den der langjährige Mitarbeiter ungern an die Konkurrenz verlieren wollte.

»Hm«, brummte Baur und seine Miene hellte sich allmählich auf.

»Wie ich sehe, haben Sie wieder die Arlberg-Suite gebucht. Hier gibt es eine kleine Neuerung.«

Er machte eine kurze Pause.

»Sie brauchen keinen Schlüssel mehr. Es genügt, wenn Sie jetzt Ihre Fingerabdrücke hier abgeben, und sobald Sie Ihre Fingerkuppe an den Scanner an der Wand vor Ihrem Zimmer drücken, öffnet sich die Tür. Das ist jetzt beinahe wie bei der Polizei, ha, ha. Sie müssen lediglich den Zimmerservice morgens hereinlassen, selbstverständlich nur, wenn Sie es wünschen.«

Vater und Tochter gaben ihre Fingerabdrücke wie verlangt ab.

»Dankeschön. Ihre Sachen werden in zehn Minuten in der Suite sein und danach wird der neue Code aktiviert. Wenn ich Sie derweil auf einen Begrüßungscocktail einladen dürfte?«

Kerzengerade, als ob er einen Stock verschluckt hätte, schritt der Empfangschef in Richtung Hirschbar vorneweg. Wie alle anderen männlichen Mitarbeiter trug er eine echte Wildlederhose, die knapp übers Knie reichte, ein kariertes Hemd sowie einen dezenten Trachtenjanker. Die Wollsocken steckten in glänzenden Haferlschuhen, das Ganze war wohl als kleine Reminiszenz an die alpine Vergangenheit des Traditionshotels gedacht.

»Machst du den Herrschaften bitte einen Drink ihrer Wahl, Susi? Natürlich auf Kosten des Hauses«, fügte er dezent hinzu und verabschiedete sich von seinen Gästen. Seine Art hatte etwas Einschmeichelndes, ohne schleimig zu wirken, was bei den meisten wohlhabenden Gästen sehr gut ankam. Außerdem war sein organisatorisches Geschick beinahe legendär.

Während er genüsslich an seinem Tequila Sunrise nippte, betrachtete Baur unauffällig das bunte, mitunter affektierte Treiben, das ihm gehörig gegen den Strich ging. In diesen Luxusschuppen ging er eigentlich nur seiner Tochter zuliebe, die eher ein Faible dafür hatte. Ihm selber hätte auch eine einfache Pension genügt. Zudem fühlte er beinahe körperlich die Blicke, die jeden Neuankömmling taxierten und in die Kategorie neureicher Emporkömmling oder alter Geldadel einordneten.

Im Gegensatz zu den meisten Anwesenden kannte Baur auch die Schattenseiten des Lebens wie etwa bittere Armut. Bei seiner Geburt hatte jedenfalls nichts darauf hingedeutet, dass er sich einmal solch einen Luxus würde leisten können. Seine Mutter war mit Friedrich Baurs älteren Halbschwestern aus Ostpreußen geflohen, wo sich die einstmals große und wohlhabende Familie komplett aus den Augen verloren hatte. Was seiner Mutter am meisten wehgetan hatte, war, dass ihr geliebter Bruder vermutlich in den Wirren der letzten Kriegstage umgekommen war. Nach einer langen Odyssee landete die kleine Familie schließlich völlig mittellos in einem Dorf auf der Alb. Auf dem Land schlug den Flüchtlingen manchmal blanker Hass entgegen und nicht wenige der Alteingesessenen betrachteten die Neuankömmlinge als nutzlose Parasiten. Zuerst kam die Familie im Armenhaus des Dorfes unter, wo die drei sich ein winziges Zimmerchen teilen mussten. In ihrer Verzweiflung fing die hübsche Frau ein Techtelmechtel mit einem der wenigen alleinstehenden Männer an, die es kriegsbedingt noch gab und heiratete ihn schließlich. Am Anfang war noch alles in Ordnung, als sie in das Bauernhaus ihres neuen Ehemanns Ernst zog. Und als kurz darauf der kleine Friedrich auf die Welt kam, schien das Glück perfekt. Doch mit der Zeit wurde aus ihrem Anfangsverdacht immer mehr Gewissheit, der gelernte Maurer war ein schwerer Säufer und seine Frau sowie die älteren Kinder wurden häufig Opfer seiner Gewaltausbrüche.

Lediglich Friedrich kam in seinen Anfangsjahren noch ungeschoren davon. Ernst hatte sich anfangs der Fünfzigerjahre selbstständig gemacht und wollte so von dem beginnenden Wirtschaftswunder profitieren. Seine Trinkerei und die daraus resultierende Unzuverlässigkeit verpassten ihm allerdings sehr schnell einen schlechten Ruf, was zur Folge hatte, dass das Geld immer knapp war. Bereits im zarten Alter von sechs Jahren musste Friedrich den Vater auf Baustellen begleiten und kleinere Hilfsarbeiten ausführen. So wuchs er von klein auf in dieses Metier hinein, und der aufgeweckte Junge lernte anhand des schlechten Beispiels vor allem, wie man es besser nicht machen sollte. Die beiden Arbeiter, die Ernst Baur im Laufe der Zeit eingestellt hatte, waren keine hellen Leuchten, doch ihrem Chef bei Trinkgelagen eine große Hilfe. Das Unternehmen steuerte unweigerlich auf die Katastrophe zu, auch weil Ernst Baur sehr widerwillig und zeitverzögert Rechnungen schrieb, die laufenden Kosten, wie Materialrechnungen oder Löhne jedoch sofort fällig waren. Die Hausbank sperrte das Konto und Ernst bekam von den Händlern Baumaterial nur noch gegen Bargeld. Sobald die Arbeiter die Schwierigkeiten ihres Chefs in Form von rückständigen Gehaltszahlungen mitbekamen, verließen sie das sinkende Schiff. Als sich das Ende der Baufirma abzeichnete, war Friedrich gerade einmal fünfzehn. Sämtliche Lehrer hatten sich in den letzten Jahren dafür eingesetzt, dass der intelligente Junge eine höhere Schule besuchen solle, doch die Mutter war zu schwach, um dies gegen ihren aggressiven Mann durchzusetzen. Andererseits machte ihm die Arbeit, in die er von klein auf hineingewachsen war, durchaus Spaß, bei seinem renitenten Vater jedoch wollte er auf keinen Fall eine Ausbildung beginnen. Je mehr er zu einem kräftigen Jungen, der seinen Vater um einen Kopf überragte, herangewachsen war, desto weniger ließ er sich von dem Alten sagen, und nicht wenige Augenzeugen prognostizierten eine schlimme Eskalation dieser unhaltbaren Situation.

Just in dieser schwierigen Phase seines Lebens kam eine entscheidende Wende. An einem Sonntag kurz nach dem Mittagessen klingelte es und ein gut gekleideter Mann stand vor der Haustür. Friedrich sah zum Fenster hinaus und betrachtete fasziniert das rot glänzende Porsche Cabriolet. Im selben Moment ertönte ein lauter Schrei und der Junge stürzte hinaus, um seiner Mutter, die geschrien hatte, zu Hilfe zu eilen. Selbst sein Vater, der auf dem Sofa lag und die Folgen des Frühschoppens verdaute, erhob sich langsam. Doch als Friedrich den Hausflur erreichte, sah er seine Mutter eng umschlungen mit dem Fremden.

»Stell dir vor, Friedrich, das ist mein Bruder Josef, den man für tot erklärt hat«, rief sie mit tränenerstickter Stimme.

Der hochgewachsene Mann löste sich langsam und gab dem Jungen die Hand. Danach begrüßte er auch den mittlerweile herangeschlurften Hausherrn. Bei Kaffee und Kuchen berichtete Josef von seiner Fahnenflucht kurz vor Ende des Kriegs und von seiner abenteuerlichen Flucht quer durch Deutschland. In den Gründerjahren der neuen Republik hatte er sich durchgeboxt und war in Stuttgart gemeinsam mit einem solventen Partner zu einem bedeutenden Immobilienhändler aufgestiegen. Nachdem er seine Existenz gesichert hatte, machte er sich auf die Suche nach seiner versprengten Familie und war schließlich hier auf der Alb gelandet. Die Besuche von Josef Lenzer häuften sich und recht bald fand er heraus, dass sein Schwager das Leben nicht so richtig auf die Reihe brachte. Als er von seiner Schwester erfuhr, dass das Haus, in dem die Familie wohnte, zwangsversteigert werden sollte, nahm der harte Mann sich den schwachen Ernst zur Brust. Es kam nie ans Tageslicht, was genau besprochen wurde, doch Fakt war, dass der Maurer von diesem Tag an keinen Alkohol mehr anrührte und sich danach seiner Familie als komplett anderer Mensch präsentierte. Dank Josefs finanzieller Unterstützung konnte die drohende Insolvenz abgewendet werden und nach einiger Zeit stellte Ernst sogar wieder Leute ein. Der Sohn seiner Schwester gefiel Josef ausnehmend gut, und da er keine eigenen Kinder hatte, sah er in Friedrich so etwas wie seinen Ersatzstammhalter. Friedrich machte nun zwar doch eine Ausbildung als Maurer bei seinem Vater, doch es gab wohl eine stille Übereinkunft, denn an sehr vielen Tagen war der junge Mann in der Immobilienfirma seines Onkels tätig und bekam dadurch einen sehr guten Einblick in dieses lukrative Metier.

Die Spätfolgen seiner unmäßigen Trinkerei traten nun zutage, und Ernst konnte den auf mittlerweile fünfzig Mann angewachsenen Betrieb nur noch unter größten Mühen führen. Als Friedrich fünfundzwanzig Jahre alt war, starb sein Vater und er übernahm, ohne lange zu überlegen, das Unternehmen. Von da an wurde die aufstrebende Baufirma zur Erfolgsgeschichte, denn dank seines reichen Onkels konnte Friedrich als Generalunternehmer auch größere Objekte realisieren. Er hatte dadurch kaum Verpflichtungen bei den Banken und sparte auf diese Weise eine Menge Geld.

Die Kombination von Bautätigkeit und anschließendem Immobilienverkauf war der Schlüssel zu Friedrichs Erfolg. Lediglich die Rekrutierung von ausreichend Personal gestaltete sich etwas schwierig, da zu jener Zeit nahezu Vollbeschäftigung herrschte. Kurzerhand klapperte Friedrich mit einigen seiner Leute die Baustellen der anderen Firmen ab und köderte sowohl Fach- als auch Hilfsarbeiter mit deutlichen Lohnzuwächsen. Der ehrgeizige Firmenchef machte sich dabei viele Feinde, doch das war ihm ziemlich egal. Auf diese Weise und auch weil es sich herumgesprochen hatte, dass er im Gegensatz zur Konkurrenz sehr gut zahlte, wuchs sein Unternehmen, das sämtliche Gewerke am Bau durchführte, in den siebziger Jahren auf mehr als fünfhundert Mitarbeiter an. Neben Neubauten kamen immer mehr Sanierungsobjekte in ganz Süddeutschland hinzu und sämtliche Bauvorhaben wurden von der Immobilienfirma seines Onkels finanziert, die nach dessen Tod gleichfalls in Friedrichs Besitz überging.

»Trinken wir noch was oder gehen wir aufs Zimmer?«

Gianna holte ihren Vater wieder in die Wirklichkeit.

»Wie du möchtest.«

»Na schön, dann bestelle ich uns noch zwei.«

Baur betrachtete seine Tochter mit väterlichem Stolz, aber auch mit einer Prise Melancholie, weil sie seiner verstorbenen Frau so ähnelte. Die olivfarbene Haut und die pechschwarzen Haare standen in deutlichem Kontrast zu den tiefblauen Augen, die das einzige äußerliche Merkmal waren, das sie von ihm geerbt hatte. Auch die Nase war deutlich feiner modelliert als Baurs Adlernase. Wo er breitschulterig und grob wirkte, war sie schlank und schmal. Mit ihren High Heels reichte sie jedoch beinahe an ihren Vater heran.

Lange Jahre schien es, als ob der gut aussehende Friedrich mit seinem Unternehmen verheiratet war, und außer gelegentlichen kurzen Affären oder Besuchen bei Prostituierten keinen Kontakt zum weiblichen Geschlecht zu suchen schien. Das änderte sich, als er eines Tages mit Emilio, einem seiner Vorarbeiter, in dessen Heimatdorf nach Venetien reiste, um dort neue Angestellte für sein Unternehmen anzuwerben. Bereits als er die toughe Hotelchefin beim Einchecken das erste Mal sah, spürte er eine Art Blitzschlag und wusste von diesem Moment an, dass diese schöne Frau seine künftige Ehefrau werden würde. Obwohl Antonella verlobt war, machte er ihr heftig den Hof und fuhr beinahe jedes Wochenende nach Italien. Eines Nachts, als er spät ankam, lauerte ihm Antonellas Verlobter mit ein paar Kumpanen am Parkplatz auf. Sie prügelten wie wild auf Friedrich ein und ließen den Schwerverletzten in der eiskalten Nacht liegen. Zu seinem Glück stolperte ein betrunkener Gast auf der Suche nach seinem Auto über ihn und alarmierte die Hotelchefin. Antonella und der Betrunkene schleppten Friedrich ins Hotel und die junge Frau kümmerte sich rührend um den Tedesco. Ihr war natürlich sofort klar gewesen, dass es sich bei den Schlägern nur um ihren Freund und dessen Kumpane handeln konnte, denn Friedrich war nichts gestohlen worden. Nach diesem einschneidenden Ereignis entwickelte sich alles sehr schnell, und schon wenig später waren die beiden ein Paar. Ein Jahr nach der Schlägerei fand die Hochzeit statt und Friedrich überzeugte seine frisch angetraute Frau davon, zu ihm nach Deutschland zu kommen.

»Wollen wir uns dann vor dem Abendessen noch ein wenig frisch machen?«, fragte Gianna nach dem zweiten Cocktail.

Gemeinsam gingen sie zum Fahrstuhl und ließen sich in das dritte Stockwerk bringen, wo ihre Suite war. Obwohl er auch durchaus ohne Luxus auskommen konnte, war es doch immer wieder ein phänomenaler Augenblick, hier einzutreten und dabei zu wissen, dass er sich diese Pracht ohne Weiteres leisten konnte. Sein geräumiges Zweifamilienhaus in seinem Heimatdorf verriet gediegenen Wohlstand, ohne protzig zu sein, und auch das Ferienhaus, das er am Gardasee unweit der Heimat seiner Frau besaß, war beileibe nicht spartanisch eingerichtet. Doch dieses Appartement stellte alles in den Schatten.

Bereits die Eingangstür war aus hochwertigem Spiegelahorn, der auch beim Geigenbau eingesetzt wurde, gefertigt und konnte so verriegelt werden, dass sie jeden potenziellen Dieb in den Wahnsinn treiben würde. Aufwendige Schnitzereien zierten die im alpenländischen Stil gefertigte Kassettendecke, und auch der Bodenbelag aus hellem Granit fügte sich in diesen Baustil ein. Ein wiederaufgebauter Kachelofen, den der Architekt in einem alten Schloss in der Nähe von Innsbruck gefunden hatte, sorgte neben der Fußbodenheizung für eine behagliche Wärme. Baur hatte die anderen Suiten ebenfalls besichtigt, doch die in Glas-Stein-Stahlarchitektur gehaltenen Appartements waren ihm zu kalt erschienen. Diesen Stil hatte er schon bei seinen eigenen Objekten vermieden, wenn es sich irgendwie einrichten ließ. Friedrich hielt dies für austauschbar, auch wenn er dadurch mit einigen Planern schon aneinandergerasselt war. Er war in der glücklichen Lage, sich im Urlaub für eine andere Variante entscheiden zu können.

Eine frei stehende weiße Badewanne, die auf vier nachgebildeten Löwentatzen stand sowie WC und Waschbecken im gleichen Stil, rundeten das Ganze ab. Seine Tochter hingegen hätte liebend gerne in einer topmodernen Wohnung eingecheckt, fügte sich aber ihrem Vater in dieser Beziehung. Jemand, der Gianna nur oberflächlich kannte, sah in ihr die verwöhnte Tochter eines reichen Mannes, unnahbar und oberflächlich und dabei immer top gestylt. Ihre Mutter hatte sich heftig dagegen gewehrt, das Kind in ein Internat zu geben, doch nach deren tragischem Tod hatte Baur bei der damals Vierzehnjährigen keinen Ausweg mehr gewusst, als sie in eine teure Schule am Bodensee zu stecken. Inzwischen studierte sie in München Architektur und Baur war davon überzeugt, dass seine Tochter das Zeug hatte, in seine Fußstapfen zu treten. Klar genoss sie das Studentenleben, besuchte die angesagten Clubs der Stadt und traf sich hin und wieder mit Kommilitonen. Doch der Ehrgeiz, das Studium mit summa cum laude abzuschließen und ihrem Vater damit zu beweisen, dass seine Tochter die Beste war, stand eindeutig im Vordergrund. Friedrich Baur wunderte sich lediglich darüber, dass die ausgesprochen hübsche Gianna ihm bisher noch keinen männlichen Begleiter vorgestellt hatte. Dasselbe fragten sich natürlich auch die Mitstudenten, von denen einige bei ihr schon sauber abgeblitzt waren. Ihre Unnahbarkeit hatte auch mit ihrem großen Selbstbewusstsein zu tun, das sie von ihrem Vater geerbt hatte und dass sie dazu verleitete, auf andere hinabzusehen. Hier in Lech in diesem Sammelsurium aus wohlhabenden und erfolgreichen Menschen jedoch fühlte sich Gianna deshalb ausgesprochen wohl.

Nach dem turbulenten Ende ihrer Herfahrt erholten sich die beiden auf unterschiedliche Weise. Während sich Baur an der Zimmerbar schadlos hielt, ging seine Tochter in die Bäder- und Wellnesslandschaft. Gemeinsam betraten sie am Abend das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Hotelrestaurant, wobei Gianna mit ihrem rückenfreien Kleid und ihrem würdevollen Gang die Blicke der meisten Männer auf sich zog.

»Bestimmt denken die, die uns nicht kennen, dass du dir mit deinem Geld eine junge Gespielin hältst, Papa«, meinte Gianna mit einem leichten Grinsen, als der aufmerksame Kellner sie zu ihrem Tisch führte, den Baur für die Zeit ihres Aufenthaltes reserviert hatte.

»Dann lassen wir sie einfach in dem Glauben, meinst du nicht?«, entgegnete Baur und nippte an seinem Weißwein, der vom Sommelier zur ersten Vorspeise empfohlen worden war. Wie immer in den letzten Jahren war die Zusammenstellung des fünfgängigen Menüs stimmig und jeder Gang für sich war ein lukullisches Highlight. Die Mischung aus bodenständiger alpenländischer Küche mit exotischen Einsprengseln kam bei den Gästen hervorragend an und es wurde gemunkelt, dass der einfallsreiche Koch demnächst mit dem zweiten Stern rechnen durfte.

»Kommst du mit der Sanierung dieser historischen Häuserzeile in Reutlingen gut voran?«

Wie meistens drehten sich ihre Gespräche um den väterlichen Betrieb und Baur wusste, dass das Interesse Giannas an seiner Arbeit nicht geheuchelt war. Wie einst er bei seinem Onkel, schnupperte seine Tochter in ihren Semesterferien bei ihm rein und lernte das Geschäft somit von der Pike auf.

»Im Prinzip ja, aber das Denkmalamt legt uns immer wieder Steine in den Weg, statt dass die Kerle froh wären, dass jemand diesen alten Schrott saniert.«

Sie redeten auch noch offen über die zu erwartende Rendite und Sonderabschreibungen, und da erwies sich der »alte Schrott« dann plötzlich als weitaus lukrativer als das hartumkämpfte Geschäft mit den Neubauten.

»Ich würde vorschlagen, dass wir uns jetzt schlafen legen«, meinte Gianna nach einem kurzen Blick auf eine Wetter-App auf ihrem Handy, die für den kommenden Tag traumhafte Bedingungen vorhersagte.

»Na, ich hätte mich jetzt im Hinblick auf mein fortgeschrittenes Alter sowieso bald verabschiedet, aber du gehst doch in der Regel noch in die hauseigene Disco, wenn wir hier sind.«

»Da hast du natürlich recht und bestimmt wäre mir dort heute der Mann meines Lebens über den Weg gelaufen, aber der muss dann bis morgen warten. Ich bin jetzt einfach zu müde.«

Nach dem Dessert, einer Kombination aus selbst gefertigtem Eis, wofür der Küchenchef extra einen italienischen Gelato-Spezialisten angeheuert hatte, gingen die beiden auf ihre Zimmer.

Die Wettervorhersage hatte sich absolut bewahrheitet, in der Nacht hatte es heftig geschneit und der Tag begrüßte sie mit strahlend blauem Himmel und Sonnenschein. Bei dem für das kulinarische Wohlergehen der Gäste zuständigen Angestellten bestellte Baur ein opulentes Frühstück aufs Zimmer.

»Papa, denk an deinen Bluthochdruck«, schalt Gianna, die sich lediglich ein Croissant zum Kaffee gönnte und bereits fertig angezogen und gestylt war.

»Ich weiß nicht, was du willst, schließlich wollen wir heute ausgiebig Sport treiben und dazu gehört für mich zuallererst ein gutes Frühstück«, verteidigte sich Baur und schob sich eine gehäufte Gabel des raffiniert zubereiten Omeletts in den Mund. Er wollte seine Tochter jedoch nicht bereits am ersten Tag verärgern und beeilte sich mit dem Essen. Gemeinsam gingen sie in den angegliederten Sportshop, in dem Hotelgäste ihr Equipment ausleihen konnten. Hier konnte man natürlich auch den Privatskilehrer buchen.

»Wollen wir morgen den Toni mitnehmen und ein wenig ins Gelände gehen?«, fragte Gianna, als sie die passgenauen Stiefel von Strolz anprobierte.

»Du kannst gerne mit dem Burschen heizen, aber ich glaube, ich bleibe dieses Jahr lieber auf der Piste.«

Baur entschied sich für breite Carver, während seine Tochter sich ein paar Freeride-Rocker unter den Arm klemmte.

»Mit deinen Spezialskiern willst du bestimmt nicht auf einen alten Mann warten, ich würde vorschlagen wir treffen uns um eins im Seekopfrestaurant.«

»Das ist eine gute Idee, ich mache eine kleine Tour nach Stuben und bin dann wahrscheinlich rechtzeitig dort. Wie mir scheint, ist heute nicht allzu viel los«, stellte Gianna fest, als sie an der Rüfikopfbahn standen und auf die Gondel warteten.

Die junge Frau in ihrem Edeloutfit zog viele Blicke auf sich, begehrliche von den zumeist älteren Männern und neidische von deren Ehefrauen. Ihr Vater beobachtete das Ganze mit einem Schmunzeln und Gianna blickte durch ihre Gucci-Sonnenbrille völlig desinteressiert aus dem Fenster. An der Bergstation blieb Baur erst mal stehen, um die grandiose Alpenwelt zu bewundern. Hier oben herrschten kalte fünfzehn Grad Minus, was ihn allerdings nicht störte. Seine Tochter wollte offenbar so schnell wie möglich abfahren und er sah ihr sehnsüchtig nach ob dieser jugendlichen Energie. Nach weiteren Minuten der stillen Bewunderung schnallte er seine Skier ebenfalls an und carvte davon.

Wie beinahe jedes Jahr war an den Weihnachtstagen wenig los und Baur konnte bei sämtlichen Liftstationen sofort den Sessel besteigen. Bereits nach einer Stunde Fahrt stellte er fest, dass er sich nichts mehr beweisen musste und kehrte in die nächstbeste Hütte auf einen Kaffee ein. Danach wiederholte er dieses Ritual und kam gerade noch rechtzeitig um ein Uhr an der urigen Hütte an. Er hatte sich kaum gesetzt, als seine Tochter hereinkam, im Schlepptau einen hochgewachsenen, braun gebrannten Mann.

»Schau mal, wen ich getroffen habe«, rief Gianna lachend und zeigte dabei ihre makellosen Zahnreihen.

»Ah, sieh an, Axel von Bose ist dieses Jahr auch wieder hier.« Baur erhob sich und schüttelte dem Industriellensohn die Hand. Sofort eilte eine Bedienung heran und fragte nach den Wünschen der Herrschaften. Nach kurzem Verhandeln bestellte Baur für alle einen Jagatee und Tiroler Gröstl, eine deftige Spezialität des Hauses.

»Normalerweise esse ich ja so etwas nicht«, stellte von Bose etwas pikiert fest. »Aber ich muss zugeben, dass das richtig gut schmeckt.«

Mit leichtem Kopfschütteln, das dieser jedoch nicht bemerkte, betrachtete Baur den jungen Mann. Der versnobte Typ hat noch nie einen Tag in seinem Leben Hunger gelitten, dachte der Bauunternehmer und ordnete ihn in die Gruppe derjenigen ein, die mit einem goldenen Löffel im Mund auf die Welt gekommen waren. Trotzdem hätte er gegen eine Verbindung seiner Tochter mit diesem künftigen Erben eines riesigen Vermögens nichts einzuwenden. Sie gönnten sich noch einen Espresso zur Verdauung, bevor Gianna und Axel wieder auf die Piste gingen. Baur blieb noch eine Weile auf der sonnigen Terrasse sitzen und ließ seinen Blick umherschweifen. Er genoss es, hinter seiner Sonnenbrille versteckt die anderen Leute zu beobachten wie etwa die schon ziemlich betrunkene russische Gesellschaft an einem Nebentisch, auf dem sich die Champagnerflaschen aneinanderreihten. Der genervte Kellner, der für diesen Tisch verantwortlich war, war beim Versuch abzuräumen rüde beschimpft worden. Es schien beinahe so, als ob die leeren Pullen für die offenbar ziemlich reichen Osteuropäer eine Art Trophäensammlung war. Als die besoffene Truppe dann anfing, lautstark irgendwelche melancholischen Heimatlieder in ihrer Sprache zu grölen, ohne dass jemand vom Personal dem Treiben Einhalt gebot, erhob sich Baur genervt und ging an den Tresen, um zu zahlen. Er nahm sich vor, noch ein wenig Ski zu laufen und dann ins Hotel zu gehen. Dort würden derlei Gäste höchstens einmal so unangenehm auffallen und dann diskret hinausgebeten werden. Ein Fünf-Sterne-Haus war nicht darauf angewiesen, ein Hüttenwirt hingegen, dem die Meute an einem Nachmittag den Großteil seines Monatsumsatzes bescherte, überlegte es sich dreimal, ob er sie an die frische Luft setzte.

Nachdem er mehrmals ziemlich unsanft kopfüber in einem Schneehaufen gelandet war, beschloss Baur es für diesen Tag sein zu lassen. Diesen Gedanken hatten offensichtlich noch mehrere Leute, denn als er mit seinen schweren Skistiefeln zum Hotel stakste, wimmelte es in den Après-Ski-Tempeln bereits von ausgelassen feiernden Menschen. Im hoteleigenen Shop gab er Ski und Schuhe zum Service ab und ging danach in die Bar unweit der Hotellobby. Zu seiner Überraschung saßen seine Tochter und Axel von Bose bereits am Tresen und schienen sich prächtig zu unterhalten.

»Hallo, ich hätte nicht gedacht, euch hier anzutreffen und dazu noch so früh.«

»Ihre Tochter hat mir heute deutlich meine Grenzen aufgezeigt und das kann ein von Bose sich nicht lange gefallen lassen«, entgegnete Axel und Baur erkannte, dass das Schmunzeln aufgesetzt wirkte, denn bestimmt hatte es ihn persönlich getroffen, sich von einer Frau ausstechen zu lassen. Mehrere Cocktails später löste sich die kleine Gesellschaft auf und Gianna verabredete sich nach mehreren Abschiedsküsschen mit von Bose nach dem Dinner in der Hoteldisco.

»Offenbar findet der junge Herr von Bose Gefallen an dir, mein Kind«, stellte Baur fest, als sie den Hauptgang, einen Loup de Mer, verspeisten.

»Tja, das mag ja sein, trotzdem gehören da immer zwei dazu«, antwortete die junge Frau schnippisch.

»Ich möchte mich ja ungern in deine Angelegenheiten einmischen, aber vorhin in der Bar hatte ich den Eindruck, dass du den Burschen auch nicht ganz unattraktiv findest.«

»Es ist ja nicht zu glauben, was dir alles so auffällt, Papa. Aber lass uns doch lieber über was Belangloseres reden.«

Sie begruben das Thema fürs Erste und ließen stattdessen den heutigen Tag Revue passieren.

Gianna schlug vor, den nächsten Morgen gemeinsam zu verbringen, bevor sie dann die kommenden Tage mit Toni ein wenig extremer fahren wollte. Statt des Desserts entschieden sich die beiden für einen Digestif und danach trennten sich ihre Wege. Mit schweren Schritten ging Baur zum Aufzug, während seine Tochter trotz der Anstrengung leichtfüßig den Weg in die Katakomben des Hotels nahm, wo sich der Tanzschuppen befand.

Ein wummernder Bass begrüßte sie und zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht. Der Raum war riesig und bot bestimmt zweihundert Menschen Platz. Auf einer zentral angeordneten Bühne standen zwei DJs mit ihrem Equipment und heizten den Gästen ein. Aufgestachelt durch den lauten Beat begab sich Gianna sofort auf die Tanzfläche und erregte durch ihre lasziven Bewegungen die Aufmerksamkeit der Männer. Die junge Frau war sich durchaus ihrer Wirkung auf das männliche Geschlecht bewusst, trotzdem ignorierte sie die Blicke. Sie tobte sich so richtig aus, bevor sie sich durstig der Bar zuwandte. Kaum hatte sie die Bestellung ausgesprochen, als sich auch schon mehrere Herren anboten, den Drink zu bezahlen.

»He, Jungs, die Dame gehört zu mir«, bemerkte Axel von Bose und knallte einen 50-Euro-Schein auf den Tresen.

»Stimmt so.«

Besitzergreifend legte er den Arm um sie und führte sie in eine verschwiegene Nische, wo man sich trotz der lauten Musik einigermaßen unterhalten konnte. Von Bose war ein durchaus angenehmer Gesprächspartner, wenn man davon absah, dass sich seine Welt hauptsächlich um ihn selber drehte. Bereits im letzten Skiurlaub hatte Gianna ihn hier getroffen, doch da war er noch mit Bärbel, genannt Babs, einer ihrer Kommilitoninnen, liiert gewesen. Kennengelernt hatten sie sich eigentlich schon in dem Internat am Bodensee, das sie nach dem Tod ihrer Mutter besuchen musste und in das die von Boses bereits seit Generationen ihre Kinder zur Erziehung hinschickten. Aber dort war er in einer Jungs-Clique gewesen, die aus lauter Adelssprösslingen und Söhnen bedeutender alter Familienclans bestand und hatte Gianna nicht beachtet.

Friedrich Baur war es mitnichten schwergefallen, die Schulgebühren zu entrichten, trotzdem wurde in dieser traditionsreichen Institution auf neureiche Emporkömmlinge herabgeschaut. Hier wurden spätere Allianzen geschmiedet und die Beziehungen geknüpft, die für ein erfolgreiches Leben nötig waren. Bei einer von ihm ausgerichteten Party, die standesgemäß in seinem luxuriösen Loft in Schwabing stattfand, hatten sie sich nach Jahren wiedergetroffen. Babs hatte sie dorthin mitgenommen und Gianna in die Gesellschaft eingeführt. Sie hatten getanzt, getrunken und ein wenig gekokst und Gianna hatte schon damals die begehrlichen Blicke von Alex auf ihrem Körper gespürt. Auch beim letztjährigen Skiurlaub hatte er ihr Avancen gemacht, obwohl er offiziell noch mit Babs zusammen gewesen war.

Gianna wusste nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Sie fand Axel ganz nett und war sich durchaus bewusst, dass ein Leben an seiner Seite der reinste Luxus werden würde, doch was, wenn er ihrer gleichfalls überdrüssig würde, wie ihrer Freundin Babs? Insgeheim beschloss sie, ihn ein wenig zappeln zu lassen, wenn er ernsthaft an ihr interessiert war, würde er sein Ziel hartnäckig verfolgen, da war sie sich sicher. Den Arm, den er ihr wie selbstverständlich um die Schulter legte, tolerierte Gianna noch, doch als er nach seinem vierten Daiquiri die Hand auf ihrem Schenkel platzierte, bot sie ihm Einhalt. Nicht etwa, indem sie etwas zu ihm sagte. Gianna machte es subtiler und verabschiedete sich einfach aufs WC. Danach ging sie zur Bar und holte sich ein Mineralwasser. Sie setzte sich nicht mehr neben Axel, nachdem sie zurückgekehrt war, sondern ihm gegenüber, was ihm sichtlich die Laune verdarb. So schnell gab ein von Bose jedoch nicht auf. Jemand, dem in seinem bisherigen Leben kaum ein Wunsch abgeschlagen worden war, kam mit einer Zurückweisung nicht klar. Er änderte seine Taktik und holte sich nun gleichfalls ein antialkoholisches Getränk. Das Gespräch lenkte er in eine andere Richtung, sodass nicht mehr nur von ihm die Rede war. Er fragte Gianna über den Fortschritt ihrer Studienzeit aus und auch über die Firma ihres Vaters. So entspann sich ein munteres Gespräch, das die junge Frau durchaus genoss.

»Wollen wir uns noch ein wenig die Beine vertreten, nach all den Drinks?«, schlug Axel vor, als es bereits zwei Uhr früh war.

»Warum nicht«, willigte Gianna vordergründig ein.

»Da fällt mir ein, dass ich überhaupt keine Jacke dabeihabe und es bestimmt saukalt draußen ist«, gab sie zu bedenken und glaubte auf diese Weise aus der Nummer rauszukommen.

»Überhaupt kein Problem, du nimmst meine derweil, ich friere nicht so schnell.« Mit diesen Worten entfernte er sich kurz und holte seine teure Daunenjacke bei der Garderobiere ab. Schwungvoll legte er die Jacke um Giannas Schultern und nahm sie bei der Gelegenheit fest in die Arme.

Die kalte Bergluft nahm den beiden erst mal den Atem, als sie in den sternenklaren Nachthimmel traten. Sie stapften durch den vom Schnee geräumten Park, in dem aufgrund der nahen Baumgrenze nur wenige winterharte Gehölze wuchsen.

»Brr, ich glaube, das reicht mir jetzt, lass uns ins Hotel zurückgehen, ich bin plötzlich hundemüde und außerdem habe ich meinem Vater versprochen, mit ihm morgen Ski zu laufen.«

Gianna blieb stehen und wollte sich umdrehen.

»Bitte tu mir den Gefallen und geh mit mir noch kurz zu dem orientalischen Pavillon. Wie ich dir vorhin erzählt habe, bin ich ja schon als Kind mit meinen Eltern hierhergekommen, und dort habe ich mich immer versteckt, damit ich nicht ins Bett musste. Es ist wirklich wunderschön und dort drin ist eine unwahrscheinliche Stimmung.«

»Na gut, meinetwegen«, gab Gianna nach und folgte Axel.

Das Häuschen am äußersten Rand des Parks war wirklich außergewöhnlich. Der Gründer dieses Traditionshotels hatte den Pavillon bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Auftrag gegeben. Es wurde gemunkelt, dass er sich bei einem Aufenthalt auf Schloss Linderhof von dem dortigen Teehaus habe inspirieren lassen.

Sie betraten das auf einer Seite offene Häuschen und Gianna, die viel mit älteren Häusern zu tun hatte, betrachtete bewundernd die zahllosen geschnitzten Fresken und die kunstvollen Rundbögen.

»Wie gesagt, habe ich hier die schönste Zeit meiner Kindheit verbracht, und hier möchte ich den Grundstein legen für meine zukünftige Familie.«

Axel kam jetzt ganz nah und legte seinen Mund auf Giannas oder versuchte es wenigstens, denn die junge Frau hatte gespürt, was er vorhatte und zog den Kopf weg. Völlig konsterniert schüttelte Axel den Kopf.

»Aber was ist los mit dir, Gianna, weshalb zierst du dich so«, stieß er schweratmend hervor.

»Ich bitte dich Axel, mir geht das zu schnell.«

Diese Aussage schien den jungen Mann noch mehr anzuspornen.

»Du machst mich den ganzen Tag scharf und dann willst du einen Rückzieher machen? Jetzt stell dich nicht so an, du willst es doch auch«, keuchte er und drückte sie auf eine Bank, die in einer Ecke des Oktagons stand. Gianna versuchte sich mit Händen und Füßen zu wehren, doch gegen die körperliche Überlegenheit Axels kam sie nicht an. Als er ihr hart in den Schritt griff, konnte sie nur noch wimmern und beschloss, sich in ihr unvermeidbares Schicksal zu fügen.

2

Nach dem zwischenzeitlichen Stillstand ihrer Beziehung, an dem ein unverständlicher Eifersuchtsanfall von Sascha schuld gewesen war, hatten sich Miriam und ihr Freund langsam wieder angenähert. Grund dafür war unter anderem, dass Sascha Näheres über den Mord an Rudi Neuburg, Miriams Vater, herausgefunden hatte. Sascha hatte sich immer wieder dafür entschuldigt, dass er während der Ermittlungen zu den als »Tod auf der Achalm« bekannt gewordenen Morden eine krankhafte Eifersucht an den Tag gelegt hatte. Miriam war damals tagelang in einem Keller festgehalten worden und Sascha hatte, beleidigt, geglaubt, sie sei mit einem anderen Mann zusammen. Er war mehrfach zu Kreuze gekrochen, bis Miriam irgendwann der Kragen geplatzt war.

»Hör auf mit dieser Büßernummer, das passt überhaupt nicht zu dir. Ich habe dich als zupackenden Mann kennengelernt und mich in diesen Sascha verliebt. Also bitte verhalte dich wieder so wie früher!«, hatte sie ihn eines Tages angeschrien, als er sich wieder einmal wortreich für sein Fehlverhalten entschuldigen wollte. »Außerdem habe ich dir schon lange verziehen, diese Sache war zwar sehr verletzend für mich, aber sie ist es nicht wert, dass wir dadurch auseinandergerissen werden.«

Diese Liebeserklärung war zu viel für Sascha und ihm standen zum ersten Mal seit langer Zeit Tränen in den Augen.

»Aber nicht, dass du jetzt auch noch weinst«, kommentierte Miriam lächelnd die plötzliche Sentimentalität ihres Freundes.

»Nein, nein, ich muss irgendetwas ins Auge bekommen haben.«

Am selben Abend schliefen sie wieder miteinander und von da an kam Sascha auch wieder regelmäßig vorbei, was besonders die elfjährige Sylvie freute. Das unkomplizierte Mädchen nahm den Kommissar ziemlich in Beschlag und hüpfte die ganze Zeit um ihn herum. Auch für Anne, der älteren von Miriams Töchtern, war Sascha eminent wichtig. Sie befand sich gerade mitten in der Pubertät und brauchte neben ihrer überforderten Mutter dringend eine zweite Bezugsperson. Miriam kam mit den Stimmungsschwankungen und dem Rumgezicke überhaupt nicht zurecht. Zudem stand sie durch das Weihnachtsgeschäft ziemlich unter Strom. Die drei, vier Wochen vor den Festtagen bescherten ihrer Weinhandlung die besten Umsatzzahlen. Sowohl die Leute, die eine Flasche Wein verschenkten, als auch diejenigen, die sich über die Festtage einen guten Tropfen gönnen wollten, rannten ihr in diesem Jahr die Bude ein. Der Grund dafür lag vielleicht daran, dass ein längerer Artikel über Miriam und ihren Laden in einer großen Stuttgarter Zeitung erschienen war. Einer der Journalisten hatte irgendwie davon Wind bekommen, dass Miriam gemeinsam mit ihrer Freundin Susi und deren Mann mehrere Tage Gefangene im eigenen Keller waren. Bei weiteren Recherchen hatte der Reporter dann herausgefunden, dass Rudi Neuburg, der frühere Inhaber des Weinfachgeschäfts, ein Jahr zuvor Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war. Er hatte Miriam kontaktiert und von seinem Vorhaben, einen ausführlichen Bericht über sie zu schreiben, informiert. Zuerst war sie alles andere als begeistert gewesen, doch dann hatte der sympathische Mann ihr den tendenziösen Artikel zur Ansicht gegeben und Miriam von dem unschätzbaren PR-Effekt überzeugt. Dann überschlugen sich die Ereignisse, ein ziemlich erfolgreicher Schriftsteller rief sie an und schlug vor, eine önologische Krimilesung zu veranstalten. Die Veranstaltung wurde ein voller Erfolg, und nach dem Einverständnis des Autorenverlags bedruckte Miriam die süffigen Côte-du-Rhone-Weine aus dem Weingut ihres entfernten Verwandten mit dem Cover des Romans. Gemeinsam mit einem Glas schwarzer Oliven, das gleichfalls das Titelbild des Krimis trug, verkaufte sie den Wein und das handsignierte Buch in einem speziell dafür angefertigten Holzkästchen. Die Form war einem aufgestellten, geöffneten Geigenkasten nachempfunden, in Anlehnung an diverse durch Mafiafilme bekannt gewordene Killer. Bisher war diese Kombination der absolute Renner bei Miriams Kunden, die noch ein Geschenk suchten.

An Heiligabend hatte Miriam am Vormittag wieder geöffnet. Diese Tradition übernahm sie von ihrem Vater, der an diesem besonderen Tag seine treuen Kunden immer eingeladen und mit ihnen ein Gläschen getrunken hatte. Natürlich auf seine Kosten, was sich jedoch im darauffolgenden Jahr mehrfach wieder auszahlte. Sascha hatte sich beim Weinkonsum deutlich zurückgehalten und übernahm es, die angeheiterten Gäste, die noch über die vereinbarte Zeit bleiben wollten, mit sanftem Nachdruck hinauszukomplimentieren.

In dieser Hinsicht hatte er sein Lehrgeld bezahlt, als er bei Miriams erster Weinprobe als neue Chefin einen stadtbekannten Anwalt etwas hart angefasst hatte, der ihn natürlich umgehend mit einer Strafanzeige überzog. Sein Chef Köttmann hatte ihn daraufhin suspendieren wollen, doch da sämtliche anwesenden Gäste der Weinverkostung für Sascha ausgesagt hatten, war die Sache zum Glück für den Kommissar im Sand verlaufen.

Nachmittags wurde dann der Baum geschmückt und Miriam genoss die Harmonie, mit der ihre Töchter mit ihr zusammenarbeiteten. Vergessen war in diesem Augenblick offenbar der Zwist der letzten Wochen und Monate und es war beinahe wie früher, als die Mädchen noch an den Weihnachtsmann glaubten. Die harmonische Stimmung hielt an bis zum gemeinsamen Essen, wozu Miriam seit einigen Jahren den Raclettegrill entstaubte und auf den Tisch stellte. Diese Form des Bratens hatte zwar mit der traditionellen Racletteküche in der Schweiz wenig zu tun, trotzdem war es immer wieder ein Renner sowohl bei den Kindern als auch bei Miriam. Für Sascha war es das erste Mal, dass er sich ein kleines Pfännchen mit Eiern, Pilzen, Shrimps und Kartoffeln auf die runde Platte stellte, um die alle herumsaßen. Der Kommissar hatte, genauso wie die drei anderen, großen Spaß an dieser Art Essen, bei dem jeder sich sein eigenes Menü aus den verschiedensten Zutaten zusammenstellen konnte.

»Kann ich nachher noch ein Weilchen rausgehen?«, kam unvermittelt die Frage von Anne, als alle sich satt den Bauch streichelten.

Miriam schaute ihre Tochter verständnislos an.

»Wie ›rausgehen‹, heute ist doch Heiligabend und wir sitzen doch so gemütlich beieinander. Außerdem ist es jetzt bereits neun Uhr und du bist erst dreizehn.«

»Ich muss mich aber dringend noch mit Bea treffen, das ist sehr wichtig. Du kannst mich doch nicht zu Hause einsperren.«

Der Tonfall war jetzt deutlich lauter geworden und Anne war wie aus dem Nichts sehr wütend.

»Jetzt sage ich dir mal was, mein Fräulein, du gehst heute nirgendwo hin und die nächste Woche auch nicht, wenn du dich nicht eines anderen Tons befleißigst, ist das klar!« Miriam war nun gleichfalls laut geworden und eine Zornesfalte zeigte sich auf ihrer Stirn.

»Halt, jetzt beruhigt euch mal, aber alle beide.« Sascha war aufgesprungen und hielt beschwörend seine Arme in die Höhe. Er hatte eigentlich auch ein eher hitziges Temperament, doch heute erwies er sich als der ruhende Pol. Mit einer theatralischen Geste fasste er Anne um die Schulter.

»Mein kleines, großes Mädchen, ich habe schon lange nicht mehr einen so schönen Heiligabend verbracht, genaugenommen seit meiner Kindheit nicht mehr. Den willst du mir doch nicht vermiesen, oder?« Er blickte das zornige Mädchen mit großen Augen an und Anne konnte nicht umhin, leicht zu schmunzeln.

»Wir könnten es doch folgendermaßen machen, Anne kann sich noch eine halbe Stunde die Füße vertreten und wir anderen machen derweil den Abwasch. Danach könnten wir eine Runde Wizard spielen, wo ihr mich regelmäßig abzockt, bevor wir gemeinsam zur Mitternachtsmette gehen. Na, wie findet ihr meinen Vorschlag?«

Sascha sah fragend in die Runde und sein Blick blieb bei Miriam hängen, der er leicht zuzwinkerte.

»Also gut, meinetwegen, aber nur eine halbe Stunde.«

Anne fiel ihrem Stiefvater in spe kurz um den Hals, bevor sie sich eine Daunenjacke schnappte und verschwand. Die zwei Erwachsenen machten sich danach auf in die Küche, während sich Sylvie ihren Geschenken widmete. Als Anne nach einer guten Stunde wieder zurückkehrte, stellte Miriam ernüchtert fest, dass der Lippenstift ihrer Tochter total verschmiert war. Das war wohl nicht Bea, die das verursacht hatte, sondern eher ein Junge, dachte sie, hielt sich aber mit einem Kommentar zurück.

In der Nacht war das Wetter umgeschlagen. Waren die Temperaturen in der Woche vor Weihnachten wie so oft in den letzten Jahren noch beinahe frühlingshaft, so hatte am Morgen des ersten Feiertags der Winter Einzug gehalten. Selbst in den niederen Lagen war Schnee gefallen und Sascha fluchte angesichts der vielen Autofahrer, die offensichtlich das Geld für ordentliche Winterreifen gespart hatten. Sie brauchten deshalb die doppelte Zeit von Cannstatt bis zum Haus von Miriams Eltern in Hofen, wo sie diesen Tag traditionell verbrachten.

In Erwartung von vielen Geschenken stürmten Anne und Sylvie die kleine Anhöhe hinauf und öffneten die Eingangstür, die noch nie abgeschlossen war, seit Miriam zurückdenken konnte. In der riesigen Gemeinschaftsküche war Kurt, den alle von Anfang an als Chefkoch akzeptiert hatten, bereits dabei, die Gans, die sie bei einem befreundeten Biobauern gekauft hatten, zu zerlegen. Seine Frau Uschi, sowie Lilo und Gerd, das andere Paar, das gemeinsam mit Gerda Neuburg und ihrem verstorbenen Mann Rudi dieses Anwesen vor vielen Jahren erworben hatten, bereiteten die Beilagen zu.

Von Beginn an war es der Anspruch der damals noch jungen Bewohner gewesen, eine richtige Wohngemeinschaft zu etablieren. Jedes Paar hatte ein geräumiges Schlafzimmer und ein eigenes Bad, doch es war ihnen wichtig, sich abends nach dem Essen auf ein Gläschen Wein in dem gemeinsamen Wohnzimmer zu treffen, um so den Tag ausklingen zu lassen. All die Jahre hatte es ausgezeichnet funktioniert und abgesehen von kleineren Meinungsverschiedenheiten harmonierte die Gruppe nach wie vor, was ziemlich ungewöhnlich war.

Gerda und Rudi waren das einzige Paar, das ein Kind und deswegen Anspruch auf ein weiteres Zimmer hatte. Die Erziehung von Miriam wurde damals von allen geleistet, was für das Kind sowohl Vor- als auch Nachteile gehabt hatte. Wenngleich die Vorteile bei ihr überwogen, wie sie sich mittlerweile eingestand.

Bei Miriams Kindern setzte sich diese bewährte Tradition fort, sodass sich sämtliche Mitglieder der WG als Großeltern betrachteten und sich auch seit der Geburt der Mädchen bei deren Erziehung einmischten. Miriam war gut damit klargekommen, da sie diesen Zustand von klein auf gewohnt war, doch Harry Kolinski, der Vater der Kinder, war regelmäßig aus der Haut gefahren und hatte seine Frau ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr hierher begleitet.

Auch Sascha hatte so seine Probleme mit den Mitbewohnern von Miriams Mutter gehabt, als einmal die Sprache auf seinen Beruf gekommen war. Es war lediglich Miriams vehementer Fürsprache zu verdanken gewesen, dass sie ihn nicht hochkant wieder rausschmissen. Denn wie Kurt es formuliert hatte, war sein Quadratschädel zu oft die Zielscheibe von willkürlich ausgeführten Schlagstockattacken bei den zahlreichen Demos gewesen, an denen er teilgenommen hatte. Mittlerweile hatten sie sich mit Sascha arrangiert und bei den teilweise heftig ausgetragenen Diskussionen, in denen es hauptsächlich um die haarsträubenden Missstände auf dieser Welt ging und hier im Besonderen um den ungerecht verteilten Reichtum, hielt sich der Kommissar einfach zurück.

»Kann ich dir helfen, Kurt?«, fragte Sascha, als er mit einem schnellen Blick erfasste, wie sich der ältere Mann mit der Gans abmühte.

»Mhm …, ich weiß auch nicht, was heute los ist, ich glaube, ich sollte meine Geflügelschere mal wieder schärfen lassen«, entgegnete dieser kopfschüttelnd und reichte das Küchenwerkzeug widerwillig an Sascha weiter.

In seinen frühen Berufsjahren hatte er auf dem Bau gearbeitet und sich dann als Landschaftsgärtner durchgeschlagen, bevor er seinen alten Kumpel Gerd zufällig wieder traf. Der hatte Sozialpädagogik studiert und war nach seinen Wanderjahren, die ihn bis nach Indien geführt hatten, in einer größeren Einrichtung für geistig Behinderte und psychisch kranke Menschen gelandet. Gerd entdeckte eine ihm bislang völlig fremde Eigenschaft an sich, den Ehrgeiz, und stieg bis zum stellvertretenden Leiter auf. In dieser Eigenschaft vermittelte er seinem Freund einen Job als Arbeitserzieher, den Kurt bis zu seiner Pensionierung ausführte. Mit seiner knorrigen, aber herzhaften Art kam er bei den Klienten sehr gut an.

Umso mehr ärgerte es ihn jetzt, der sich immer mit seiner körperlichen Kraft identifiziert hatte, als er sah, wie scheinbar mühelos die Schere in den Händen des jüngeren Mannes die Knochen des Tieres durchtrennte.

»Na, an der Schärfe kann es ja offenbar nicht gelegen haben, Kurti«, meinte Uschi spöttisch.

»Irgendwie habe ich die Schere wohl falsch angepackt«, murmelte er vor sich hin und drapierte die Geflügelstücke auf die bereitstehenden Teller.

»Das Fleisch schmeckt sagenhaft, Kurt, wie machst du das nur«, lobte Sascha den Koch, als alle sich an dem großen runden Tisch im Wohnzimmer eingefunden hatten.

Der Koch brummte zustimmend und ein stolzes Lächeln trat in sein rundes Gesicht.

»Da muss ich dir zustimmen, mein Lieber, aber die großartigen Beilagen geben dem Gericht erst die besondere Note«, ergänzte Miriam und meinte damit die Knödel, das Blaukraut, das Püree und die mit Käse überbackenen Makkaroni.

»Der Wein, den du rausgesucht hast, ist aber auch nicht schlecht.«

Genießerisch nahm Gerd einen Schluck.

»Diesen vollmundigen Palazzo della Torre aus dem Veronese habe ich neu im Programm und jeder, den ich davon habe kosten lassen, ist begeistert.«

Das Gespräch drehte sich nun in erster Linie um die lukullischen Dinge des Lebens, bevor Gerd, der in der Regel eher asketisch lebte und auch etwas abgezehrt aussah, das Gespräch auf die immer noch anhaltende Flüchtlingsproblematik lenkte. Sascha, der Staatsdiener, hatte seine eigene Meinung dazu, die sich fundamental von der der am Tisch versammelten Leute unterschied, aber um des lieben Friedens willen tat er sie nicht kund.

»Man kann die Leute aus Afrika doch nicht einfach im Mittelmeer ersaufen lassen, das sind doch Menschen wie wir«, echauffierte sich Kurt.

»Ich hätte da eine Idee, die könnten wir doch im Osten unterbringen, wo viele Dörfer durchsetzt sind mit Nazis, dann käme da mal neues Blut rein. Das wäre eine sogenannte Win-win- Situation, die Geflüchteten bekämen eine neue Heimat und die Rechten müssten sich mit der Problematik auseinandersetzen«, schlug Gerd vor.

»Na, ich weiß nicht, dann gibt es vielleicht wieder so ein Pogrom wie in den frühen Neunzigern in Rostock-Lichtenhagen, das wäre dann eher kontraproduktiv«, gab Gerd zu bedenken.

Miriam nahm einen kleinen Schluck des hervorragenden Tropfens und ließ die Flüssigkeit im Mundraum hin und her rollen, bevor auch sie ihre Meinung kundtat.

»Wäre es nicht für alle Beteiligten das Beste, wenn man versuchen würde, die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern, die wir Europäer jahrhundertelang ausgebeutet haben, zu verbessern?«

»Du hast recht, mein Kind, aber da spielen so viele Aspekte eine Rolle, wie etwa wirtschaftliche Interessen und Korruption, um nur zwei zu nennen. Wir müssten unsere Entwicklungshilfe selbst in den jeweiligen Staaten sinnvoll einsetzen, bevor sich irgendwelche Staatsbedienstete oder Politiker die Taschen füllen können, doch damit würden wir die souveränen Staaten wieder einmal bevormunden und das lassen sie sich nirgendwo auf der Welt gefallen.«

Wohlwollend betrachtete Miriam den Sozialpädagogen. In jeder Diskussion, die sie bisher in ihrem Elternhaus erlebt hatte, behielt Gerd einen kühlen Kopf und legte die besten Argumente dar, während Kurt sofort hitzig reagierte und ihr verstorbener Vater ständig versucht hatte, das ganze ins Lächerliche zu ziehen. Erst als Uschi, Lilo und Gerda das Dessert auftischten, verebbte das Streitgespräch.

»Eigentlich bin ich satt, aber bei Vanilleeis mit heißen Himbeeren konnte ich noch nie Nein sagen«, freute sich Sascha und strich sich über den Bauch.

»Das Eis habe ich selbst gemacht und die Himbeeren haben wir im Sommer im Wald gepflückt und eingefroren«, meinte Gerda nicht ohne Stolz und betrachtete den derzeitigen Mann des Lebens ihrer geliebten Tochter mit Wohlwollen. Sie freute sich aufrichtig, dass die beiden nach diversen Querelen verliebter wirkten als jemals zuvor.

»Miriam hat mir kürzlich erzählt, dass es eventuell neue Erkenntnisse um den Mord an meinem Mann gibt.« Gerda hatte zwar leise gesprochen und doch erstarben sämtliche Gespräche und alle Augen richteten sich auf den Kommissar.

»Mhm, ja, im Prinzip schon. Ich muss nur noch meinen Chef von der Dringlichkeit der Angelegenheit überzeugen«, erwiderte Sascha kleinlaut.

»Hä, aber ich denke, das mit der Verhaftung von diesem Typen ist alles längst in die Wege geleitet und es läuft bereits das Auslieferungsverfahren mit Belgien?«, fragte Miriam scharf.

Einer der Gründe für das Einlenken Miriams in ihrem Beziehungskrach war gewesen, dass Sascha die freudige Botschaft dahergebracht hatte, dass der Drahtzieher des Mordes an Miriams Vater in Brüssel ausfindig gemacht worden war. Rudi Neuburg hatte seinen Schwiegersohn Harry Kolinski damals im Affekt getötet und dabei einen Münzschatz von unermesslichem Wert erbeutet.

Bevor Neuburg den Schatz dem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben konnte, hatte Schumann, wie der Mann damals noch hieß, von der Sache Wind bekommen. Als wirkungsvolles Druckmittel ließ er Miriam von seinem Handlanger entführen und hielt die verängstigte Frau in einem Kellerloch gefangen. Beim Showdown in einem aufgelassenen Steinbruch wurde Miriam zwar von der Polizei befreit, doch ihr über alles geliebter Vater wurde kaltblütig abgeknallt. Schumann machte sich mit den wertvollen Münzen aus dem Staub und legte sich eine neue Identität zu.

Durch Zufall war Sascha bei einem seiner letzten Fälle auf einen hiesigen Schmuckhändler gestoßen, der nach wie vor zu diesem Schumann oder wie er sich jetzt nannte, Kontakt pflegte.

»Ja, das dachte ich auch, aber du kannst dir nicht vorstellen, wie langsam die Mühlen der Justiz manchmal mahlen und mein Chef ist froh über jeden Fall, den er zu den Akten legen kann, auch wenn es wie bei dem Mord an deinem Vater noch reichlich Klärungsbedarf gibt. Ich verspreche euch jedoch hoch und heilig, dass ich und meine Kollegin Mertens, der es auch ein ernstes Anliegen ist, ihn nerven werden, bis er endlich mit Nachdruck in Belgien vorstellig wird«, antwortete Sascha ausweichend und sah dabei, wie sich Miriams Gesicht verdüsterte.

»Wenn die Polizei nicht weiterkommt, dann gehe ich selbst nach Brüssel und knöpfe mir diesen sauberen Herrn einmal vor.«

Sascha zweifelte keinen Moment daran, dass Miriam ihre Drohung wahrmachen würde.

3

DONNERSTAG NACH WEIHNACHTEN

Erich Kranzler war schon mit sehr schlechter Laune aus dem Bett gekrochen. Er hasste es, zwischen den Jahren arbeiten zu müssen und noch dazu an einem nasskalten Tag wie heute. Seine Frau wünschte ihm einen schönen Tag und begann beinahe im selben Moment wieder leicht zu schnarchen. Wie jeden Morgen hatte sich der sportliche Mittvierziger ein aus vielen Früchten und Cerealien bestehendes Bircher Müsli zubereitet und dazu einen Smoothie getrunken. Seit er vor zwei Jahren mit dem Rauchen aufgehört und dem Alkoholgenuss abgeschworen hatte, war mit dem exzessiven Radfahren eine neue Droge in sein Leben getreten. Mehrmals im Jahr machte er bei nicht ganz alltäglichen Rennen mit, die ihn in die ganze Welt führten. Dafür trainierte er jeden Abend und am Wochenende sowieso. Selbst im Winter bei Schneetreiben zog es ihn aufs Rad, was nicht nur bei seiner Frau, die auch Sport trieb, ungläubiges Kopfschütteln hervorrief.

Viele Behörden waren in diesen Tagen nur spärlich besetzt und auch Kranzler war beinahe allein in dem riesigen Gebäude. Bis vor ein paar Jahren hatte er noch Personenkontrollen auf den Baustellen des Landes durchgeführt. Dabei war er einige Male in brenzlige Situationen geraten und seine Frau hatte ihn danach inständig gebeten, sich in den Innendienst versetzen zu lassen. Er hatte den Kick gebraucht, der sich beim manchmal filmreifen Anschleichen an eine Baustelle und den dann erfolgten Verfolgungen und Festnahmen einstellte. Trotzdem kam er dem Wunsch seiner Frau nach und meldete sich zu Fortbildungen an, die ihn schließlich für eine Beförderung und zu dem daraus resultierenden Bürojob befähigten. Das war allerdings auch das Ende seiner körperlichen Fitness gewesen, auf die er sich früher etwas eingebildet hatte. Stattdessen hatte er sich gehenlassen und nur dank äußerster Kraftanstrengung und der unverhohlenen Drohung seiner Frau, sich scheiden zu lassen, die Kurve zu einem gesünderen Leben gekriegt.

Jetzt bestand seine Tätigkeit darin, die Anzeigen zu bearbeiten, die ihm seine früheren Kollegen lieferten. Seit sich die EU um die südosteuropäischen Länder erweitert hatte, wimmelte es auf den Großbaustellen des Landes von bulgarischen, rumänischen oder Bauarbeitern anderer sogenannter Billiglohnländer. Bei sehr vielen Projekten trafen die Zollpolizisten kaum jemanden an, der der deutschen Sprache mächtig war. Mittlerweile wurde zwar ein gewisser Mindestlohn bezahlt, doch dieses Geld wurde den Arbeitssklaven wieder für Kost und Logis aus den Taschen gezogen. Es war schwer, aus diesem raffiniert verschachtelten System aus Subunternehmern jemanden dingfest zu machen, der sich mithilfe dieser armen Hunde die Taschen füllte. Diese skrupellosen Kerle erinnerten in gewisser Weise an Zuhälter.

Kranzler waren diese Dinge durchaus bekannt, doch sein Job war es nicht, für eine gerechtere Welt zu sorgen, sondern dafür, dass der Staat seine Sozialabgaben und Steuern bekam. Der Grund für seine Anwesenheit an diesen besonderen Tagen nach Heiligabend war die Nachbearbeitung einer Razzia, die nach einem anonymen Tipp ausgerechnet auf der Baustelle eines Arbeitsamts durchgeführt werden musste. Hier waren die Kollegen auf einen Arbeitstrupp von Bulgaren getroffen, die scheinbar ordentlich angemeldet waren. Bei genauerem Hinsehen jedoch stellte sich heraus, dass die Pässe der Männer gefälscht waren und sie selber gaben irgendwann zu, aus der Ukraine zu stammen. Die Zollbehörde hatte bei dem Generalübernehmer angefragt, ob er die Männer kennen würde, doch der verwies auf seine Verträge mit Subunternehmern, die wiederum Subunternehmer beauftragt hatten und so weiter. Das Ende vom Lied war, dass die Firma, die am Ende der Kette saß und die die Männer mit Touristenvisa nach Deutschland geschleust hatte, schlichtweg nicht mehr existierte. So sehr sich Kranzler und seine Kollegen auch anstrengten, sie erwischten immer nur die kleinen Fische und ab und zu mal wurde ihnen ein unliebsamer Konkurrent auf dem Silbertablett serviert. Oft war sein Job äußerst frustrierend und besonders heute widerte ihn alles an.

Die Vernehmung der Ukrainer verlief trotz des hinzugezogenen Dolmetschers sehr schleppend.

»Fragen Sie die Leute doch einfach mal, von wem sie die gefälschten Pässe erhalten haben und wer ihnen den Lohn zahlt«, wandte sich Kranzler genervt an den Übersetzer und tigerte in dem spartanisch eingerichteten Raum umher. Mit einem Ohr lauschte er den Worten, die der Dolmetscher in der Landessprache sagte. Beinahe synchron zuckten die vier Männer mit den Achseln, bis einer nach einem lauten Räuspern das lange Schweigen brach.

»Der Mann sagt, dass die Pässe wohl an der deutschen Grenze bei Kiefersfelden, wo seit der Flüchtlingskrise wieder Kontrollen durchgeführt werden, vertauscht worden sind. Das Geld für ihre Arbeit wird ihnen zu Hause ausbezahlt, damit sie nicht alles gleich wieder auf den Kopf hauen. Hier bekommen sie lediglich Kost und Logis.«

»Wollen die mich verarschen? Als ob die Kollegen von der Grenze fünf Pässe auf einmal verwechseln würden, wir sind ja schließlich nicht in der Ukraine. Und das mit dem Lohn nehme ich ihnen auch nicht ab. Sagen Sie der Bande, dass ich sie wegen Urkundenfälschung und Schwarzarbeit drankriege, dann gehen sie für mindestens drei Jahre in den Bau, wenn sie nicht mit mir kooperieren und die Namen der Hintermänner nennen.«

Diese Zahl hatte Kranzler natürlich erfunden, trotzdem verfehlte die Aussage nicht ihre Wirkung. Die Männer schienen den Ernst ihrer Lage zu erkennen, nachdem der Dolmetscher die deutlichen Worte unverblümt weitergegeben hatte. Offenbar dachten sie, dass die Verhältnisse in den deutschen Knästen denen in der Ukraine ähnelten. Übereinstimmend stießen sie nun einen Namen hervor, den der Wortführer auf einen Zettel schrieb. Schon als Kranzler ihn las wusste er, dass er wieder nicht weiterkommen würde. Diesen Namen hatte er bereits des Öfteren gehört und wusste daher, dass der Mittelsmann lediglich eine Stufe oberhalb dieser armen Würstchen rangierte. Außerdem würde sich der Kerl, den sie schon ein paarmal vorgeladen hatten, nicht so leicht einschüchtern lassen. Er pflegte stets mit einem gewieften Anwalt hier aufzutauchen, den ihm seine Bosse zur Seite stellten.

Kranzler hatte die Schnauze gestrichen voll und entließ wütend die Ukrainer samt ihrem Übersetzer. Gegen sechzehn Uhr räumte er seinen Schreibtisch auf und verließ kurz darauf die Behörde. Die Stunde Fahrzeit im Zug, die er morgens und abends in Kauf nehmen musste, verlief dank eines spannenden Hörbuchs wie im Fluge. Trotz des feinen Nieselregens schwang er sich auf sein Rennrad, das er am Bahnhof abgestellt hatte, und entschied sich spontan, noch ein wenig durch die festlich geschmückte Reutlinger Altstadt zu flanieren und bei einer Tasse Glühwein den Alltagsstress zu vergessen. Er stellte sein Rad am Marktplatz ab und wandte sich in Richtung Marienkirche. Bestimmt sind auch hier viele der Bedienungen illegal beschäftigt, dachte er und stellte sich vor seinem geistigen Auge bereits vor, wie eine Razzia hier ablaufen würde. Vorsichtig nahm er noch einen kleinen Schluck des heißen Getränks, als sich plötzlich eine Hand den Weg in seine Jackentasche bahnte und seine Rechte umklammerte.

»Du hast mich jetzt aber erschreckt, Tanja«, stieß er beinahe teilnahmslos aus, betrachtete dabei aber wohlwollend die junge Frau, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Sofort wurde ihm dann aber die heikle Situation bewusst und er schob die Hand dezent aus seiner Daunenjacke heraus. Dabei blickte sich Kranzler verstohlen um, ob etwa irgendein Bekannter die vertraute Geste beobachtet hatte.

»Wir wollten uns doch im Hotel treffen. Du weißt doch, dass wir in der Öffentlichkeit nicht zusammen gesehen werden dürfen«, maßregelte er die Frau, die vom Alter her locker seine Tochter hätte sein können.